1. Diese Seite verwendet Cookies. Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies. Weitere Informationen
Mohikanerin

// WHC' Golden Duskk [2]

a.d. Liliada, v. Architekkt | _zw95

// WHC' Golden Duskk [2]
Mohikanerin, 5 Jan. 2022
Zion, peachyes, Stelli und 2 anderen gefällt das.
    • Mohikanerin
      Rennen E zu A | 20. Februar 2022

      Astronaut in the Ocean LDS // WHC’ Golden Duskk // Planetenfrost LDS // Moonwalker LDS // Sturmglokke LDS // Friedensstifter

      Vier Wochen, sechs Pferde und neun Rennen – mit roten Kreuzen hatte ich jede einzelne Veranstaltung angekreuzt auf dem großen Kalender im Büro. Dafür stand Astros Qualifikationsrennen ganz oben auf der Liste. Nur Dustin war für zwei hoch dotierte Rennen angesetzt, was seine Trainingsphasen bis dahin von den anderen Tieren unterschied. Seine sechs Jahre sprachen für sich, machten ihn zu einem erfahrenen Pferd, das Rennen und vor allem Einheiten kannte. Die vierjährigen hingegen lernten noch, besonders Astro mit seinen drei Jahren hatte noch einiges zu begreifen. In Zusammenarbeit mit dem Rennstall in Kalmar, kamen junge Fahrer zu uns auf den Hof, um stetig verschiedene Pferde-Typen kennenzulernen. Alle Rennpferde hatte am Vormittag ein leichtes Konditionstraining in der Führanlage genossen. Hoffnung lag besonders in Moonwalker, der eine erstaunliche Zeit bei seinem Qualifikationsrennen hingelegt hatte und am Wochenende genannt war für Amateure. Die anderen liefen mit Handicap, Plano in einer Außenposition, während Sturmi und Fried innen liefen, alle auf kurzer Distanz.
      Jede Woche kam unsere Tierärztin, um die Gesundheitswerte der Tiere zu dokumentieren und Leistungsstände zu kontrollieren. Fried, die noch nicht lange im Training stand, zeigte keine Verbesserung, stattdessen waren ihre Werte schlechter im Vergleich zur vorherigen Woche. Die Kondition sollte bei ihr bis zum Rennen auf dem Plan stehen, drei Tage vor den Rennen ein einziges Tempotraining und am Renntag. Die anderen Tiere behielten ihren Plan bei, zweimal Tempo in der Woche und zwei mal zwei Langstrecken. Es bewahrheitete sich. Bereits nach einer Woche war die helle Stute besser auf dem Laufband.
      “Welche Platzierung wird sie erreichen?”, fragte mich Harlen, der diese Frage mittlerweile aus Gewohnheit stellte. Ihm überkam nicht das Interesse, was seine Schwester zeigte, aber abgeneigt war er zum Rennsport nicht, im Gegenteil, er spielte sogar mit dem Gedanken ein eigenes Tier zu erwerben und es mit unserer Hilfe in den Sport zu bringen.
      “Dritter vielleicht”, schätzte ich und sah mir noch einmal die Starterliste an, “Dritter, mit viel Glück. Der Hengst vom letzten Mal läuft wieder mit, der sogar aus der äußersten Position alle überholte in der zweiten Kurve.” Er kam dazu, beugte sich über meine Schulter hinweg, um den Plan auf dem Schreibtisch überblicken zu können.
      “Was ist mit dem da?”, fragte Harlen interessiert. Er meinte einen Fuchshengst, der oft in Konkurrenz mit Dustin lief, mit einer starken Quote und einer rekordverdächtigen Zeit. Aber das Architekkt(en) Kind machte sich gut, nach dem Eintragungsproblem mit ihm. Der schwedische Trabsport stand dem Vollblutanteil kritisch gegenüber, aber zeigte sich bezüglich der Entwicklung des Pferdes offen gegenüber. Das Exterieur entsprach den geringen Anforderungen, umso erstaunlicher waren seine Trainingswerte, zu denen uns sogar der Präsident des Zuchtverbandes beglückwünschte, damit stand seiner Karriere nichts im Weg.
      „Den wird er schlagen, davon bin ich überzeugt“, sagte sie ich ihm und legte die Pässe zurecht, damit den Rennen nichts weiter im Weg stand.

      © Mohikanerin // Tyrell Earle // 3128 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel tretton | 21. März 2022

      Schneesturm // Northumbria // Lubumbashi // Maxou // Satz des Pythagoras // HMJ Holy // Girlie // Millennial LDS // WCH’ Golden Duskk // Moonwalker LDS // Friedensstifter // Form Follows Function LDS // Binomialsats
      Minnie Maus // Ready for Life // HMJ Divine


      Vriska
      “Ich habe ein Anliegen”, sagte Tyrell zu mir, als ich mich aus dem Sattel schwang von der langbeinigen Schimmelstute. Schneesturm liebte das kühle und nasse Wetter, was womöglich ihr auch diesen Namen eingehandelt hatte, ich hingehen fühlte mich ungemein unwohl, die nasse Hose an meinen Oberschenkel zu spüren. Der frostige Wind verstärkte das Gefühl nur noch mehr.
      „Na dann schieß mal los“, antwortete ich freundlich, dabei strich ich der Stute über den verschwitzten Hals und kramte mit der anderen Hand ein Leckerli aus der Hosentasche. Vorsichtig sammelte sie es von meinem Handschuh ab.
      “Die neue Rennstute, die du angeschleppt hast, soll erst mal geritten werden. Auf dem letzten Rennen war sie ziemlich hektisch und unkontrolliert, das gefällt mir nicht. Wenn du nicht möchtest, weil ich sehe, wie viel du plötzlich zu tun hast, frage ich Jonina”, erklärte er. Zusammen liefen wir in den Stall hinein und mein Chef erzählte ausführlicher, wie Humbi sich in letzter Zeit am Sulky benahm. Folke verlor immer häufiger die Kontrolle. Selbst der Scheck und Augenklappen stellten keine Lösung dar, weswegen ein ruhiges Abtraining und vielseitige Arbeit den nötigen Ausgleich bringen könnten. Kurz überlegte ich, aber in meinen Fingern kribbelte es sofort. Die große Stute und ich hatten sofort eine Verbindung und hiermit bekam ich Möglichkeit daran weiterzuarbeiten.
      “Ja klar, gern. Lässt sich einrichten”, schmunzelte ich selbstsicher und mit einem Nicken verabschiedete er sich. Nur in Auszügen konnte ich erahnen, was Humbria derart verunsichern könnte, doch ich war mir sicher, dass ich der Aufgabe gewachsen war.
      Prüfend sah ich zur Uhr beim Wegbringen des Sattelszeugs in der Sattelkammer, der Tierarzt kam erst in einer Stunde, somit könnte ich vorher noch mit meiner neuen Aufgabe anfangen. Entschlossen nahm ich das Lederhalfter mit ihrem Namen vom Haken. Schnee hatte bereits aufgefressen und konnte mit ihrer weinroten Weidedecke zurück auf den Paddock.
      “Hallo”, begrüßte ich mit ruhiger Stimme Humbi, die sofort neugierig die Ohren spitzte und mich mit ihrem Kopf anstupste. Aus der Erfahrung heraus bekam sie umgehend ein Leckerli, dass uns dieses Problem heute nicht im Weg stehen würde. Entschlossen, und auf Zehenspitzen, streifte ich das Halfter über ihre riesigen Ohren, die noch immer nach oben ragte. Irgendwas fokussierte sie gespannt an, den Grund dafür, konnte ich allerdings nicht entdecken. Zur Sicherheit zog ich den Strick wie eine Hengstkette über ihre Nase und durch den seitlichen Ring wieder nach unten.
      “Na komm”, sagte ich und setzte mich in Bewegung. Wie angewurzelt stand sie da, bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle, sondern starte weiter zum Horizont. Da entdeckte ich einen kleinen hellen Punkt, der sich dabei langsam veränderte. Nur mit guten Zusprüchen folgte sie schlussendlich. Geduldig nahm ich es hin und im Stall begann ich den Vierbeiner ausreichend Zuwendung zu schenken. Aus der Box an der Seite hörte ich leises Brummen – Lubi versuchte, mit dem Rennpferd Kontakt aufzunehmen. Humbria hingegen ignorierte sie vollkommen, untersuchte lieber den Boden des Stalles, der makellos geputzt war.
      Hufschlag ertönte, während ich den Vorderhuf auf meinem Oberschenkel zu liegen hatte. Mit einem Satz bewegte sie sich nach vorne und trat mir unausweichlich gegen mein Bein. Schmerzerfüllt schrie ich auf, rieb mir die pochende Stelle am Knie.
      Durch das Haupttor führte Erik zusammen mit Trymr die Pony Stute hinein. Sie mussten Ewigkeiten im Wald gewesen sein, denn schon als ich aufstand, war er nicht mehr da.
      “Guten Morgen”, begrüßte ich ihn heiter und humpelte zu ihm. Er grinste breit. Auch Maxou erhob den Kopf, als sie meine Stimme hörte und verlängerte die Schritte. Von ihrem Schweif tropfte das Wasser und auch Erik war nicht verschont worden von dem plötzlichen Regenschauer, der mich beim Ausritt ereilte. Jedoch bereitete er sich darauf vor, trug ein Cap auf dem Kopf, mit einer Kapuze darüber. Ein neckisches Lächeln umspielte seine Lippen, während es sich anfühlte, als würde er mich mit seinen Augen entkleiden. Aber auch in mir regte es sich, jagte ein lustvolles Ziehen durch meinen Unterleib, der mir den Schmerz im Knie vergessen ließ. Wie schaffte er es nur mit der bloßen Anwesenheit und einigen Änderungen seines Standardoutfits mich derartig zu verzaubern? Ich atmete tief durch, versuchte mich darauf zu konzentrieren, dass die dunkle Stute meine vollständige Aufmerksamkeit verlangte.
      Erik kam näher und presste mich fest an seine Hüfte. Wieder stockte mein Atem. Es gab nichts, das uns hinderte. Leidenschaftlich drückte ich meine Lippen auf seine, schloss die Augen und verschwand für viele Sekunden in meinen Gedanken. Es prickelte. An meinem Bauch spürte ich den warmen Druck seiner Lenden, die sich immer näher an mich drückten. Dann stupste mich Maxou über seine Schulter hinweg an. Unsere Lippen löste sich, aber die Sehnsucht blieb, mehr von seiner Haut auf meiner zu spüren. Er lachte und abermals fühlte ich, wie mich eine Hitzewelle durchfuhr.
      “Sie möchte zurück in ihr Bettchen”, nickte ich zum Pony, das hinter seinem Rücken stand und zum wiederholten Male gähnte.
      “Und du musst sicher den Riesen bewegen, der mich verwirrt anblickt”, scherzte Erik. Dabei ließ er mit seinen Händen von mir ab. Das Gefühl, wo sie gerade noch lagen, beglückte weiter meinen Geist.
      “Aber ich wäre lieber mit dir”, sprach ich leise.
      “Verstehe ich, doch auch ich habe noch Aufgaben vor mir”, grinste er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Meine Motivation versagte, wünschte sich ihn zur Hütte zu begleiten, aber sogleich ertönte das Kratzen über den Beton hinter mir. In einer einzigen Bewegung setzte ich mich zu der Stute und drückte meine Hand an ihre Brust. Schockiert riss sie die Augen auf, aber hörte auf mit dem Huf zu scharren.
      Es fehlte nur noch das Sattelzeug, dann waren wir Abflug bereit. Neugierig mustere Humbria Sattel von Lubi, den ich frecherweise auf fast jedem Pferd nutze, dass ich am Hof ritt, allem voran aus Bequemlichkeit. Des Weiteren fühlte es sich wie schweben auf den Wolken mit den Sorgen fernab. Darunter legte ich eine Filzdecke, die ich irgendwann online entdeckt hatte und für Glymur nehmen wollte, aber die Möglichkeit wurde mir genommen. Umso mehr freute ich mich, sie nun zu verwenden. Mithilfe des Tritts legte ich alles auf den Rücken der Stute, setzte meinen Helm wieder auf und trenste. Hektisch kaute sie auf dem Gebiss.
      “Alles gut”, beruhigte ich Humbria mit sanften und lang gezogenen Worten. Sie gehorchte. Im Stall stieg ich bereits auf, entschied erst beim Herausreiten, dass ich Lust auf den Reitplatz davor hatte. Die Stute musterte derweil die Umgebung und mir wehte der Wind unsanft einzelne Strähnen ins Gesicht, die ich mühevoll wieder wegstreichen musste.
      Wie es Tyrell mir beschrieb, schritt Humbria hektisch voran, hörte nicht zu und sah nervös die Gegend an. Schon beim Warmreiten versuchte ich die Stute ruhiger zu bekommen, so bremste ich unverhofft in den Stand, lobte bei schneller Reaktion und versuchte, dass sie aus der Hinterhand nach vorn schob. Je öfter ich es wiederholte, umso durchlässiger wurde sie. Immer mehr Kontakt baute die junge Stute zum Zügel auf. Ihre Ohren richteten sich nach und nach immer mehr zu mir, hörten, was ich von ihr wollte und dann begann Humbria sich zu lösen. Sie streckte den Hals weit nach vorn. Der Kopf wippte und knackte schließlich. Zufrieden lobte ich.
      Vertieft in meinen Gedanken und der Überlegung, wie ich die Stute bestmöglich fördern könnte, bemerkte ich den ungebetenen Gast am niedrigen Zaun des Reitplatzes erst spät. Auch Humbria durchfuhr der Schock durch das Auftauchen eines Menschen, dass sie aus dem Trab einen gewaltigen Sprung zu Seite machte. Nur durch den Wolkensattel gelang es mir, nicht im Dreck zu landen und dabei noch das Pferd zurückzuholen. Das Fluchen verkniff ich mir, beruhigte zunächst die Stute, ehe ich prüfend zur Seite warf, wer nur dem Tier einen solchen Schrecken einjagte. Mir stockte der Atem. Niklas stand mit seinem Fuß auf dem Stein gestellt dar, musterte mich von oben bis unten und schüttelte dabei langsam mit dem Kopf.
      „Du kannst doch nicht einfach wortlos dich dahinstellen“, beschwerte ich mich umgehend und mit einem Schnauben stimmte mir Humbria zu. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, warfen ihm kleine Blitze zu, die ihn zum Teufel schicken sollten.
      „Ich habe was gesagt“, verteidigte er sich und verschränkte die Arme verärgert, „außerdem sollten wir dringend reden.“
      „Nein, sollten wir nicht. Alles, was wir tun sollten, beruht auf einem Arbeitsverhältnis und Distanz“, versuchte ich ihn loszuwerden. Doch es missglückte. Stattdessen breitete sich ein heiteres Lächeln auf seine Lippen, dem ich zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Humbria hielt abrupt vor ihm an und ich wippte unsanft auf ihren Hals.
      „Scheint wohl nicht so gut zu funktionieren mit der Distanz“, sprach ich für meinen Geschmack zu überzeugt. Die Arme stützten nun wieder auf seinem Bein.
      „Geh endlich weg“, fauchte ich, „deine Freundin wartet sicher schon, ansonsten könnte dein Pferd auch Aufmerksamkeit gebrauchen.“
      Auch damit verschwand er nicht. Wie angewurzelt stand Niklas an der Stelle, wodurch Humbria ebenfalls keinen weiteren Schritt durch den Sand setzte.
      „Dann können wir doch jetzt reden“, zog er eine Braue nach oben, strich dem Pferd über das Maul. Amüsiert wippte ihre Unterlippe und die Zügel am Gebiss klapperten dabei.
      Ich seufzte.
      „Niklas, ehrlich gesagt, will ich nicht mit dir reden. Wir sind beide nicht dafür gemacht, normal miteinander umzugehen und ich habe so viel zu verlieren“, versuchte ich ihn mit Ehrlichkeit zu überzeugen, denn er schätzte diese Eigenschaft an mir. Endlich sah ich, dass in seinem Kopf etwas passierte. In Bewegung setzte er sich nicht, wieder seufzte ich. Etwas, das ich in den letzten Tagen eindeutig zu häufig tat.
      „Vriska, du bist nicht in der Position, das beurteilen zu können“, protestierte Niklas. Bitte was? Hatte ich mich gerade verhört? Ich riss meine Augen auf, öffnete den Mund, aber meine Worte verflogen im Wind.
      „Du fehlst mir“, seufzte nun er, „also als eine Freundin. Deswegen möchte ich dich bitten, nicht das Training zu beenden mit mir. Es war immer so ein Licht am Ende des Tunnels, dass mir den Tag erhellte und Hoffnung schenkt.“
      Wow, es schmerzte mich ungemein, das zu hören, aber in meinem Kopf versetzte ich mich in Lina. Sie war nicht in Sicht, aber hätte sie das gehört, wäre wieder eine Welt zusammengestürzt, meinetwegen.
      “Auch mir geht es so, aber nein. Es funktioniert nicht, so reif solltest du sein. Ich möchte nicht mit dir trainieren”, suchend bewegte sich der Blick weg von den Pferdeohren nach rechts, als würde dort meine Rettung warten – Fehlanzeige.
      “Dann sag es mir in die Augen, wenn du es wirklich nicht möchtest.”
      Nur zögerlich bewegte sich mein Kopf in seine Richtung, verunsichert, ob es mein Herzenswunsch war oder nicht. Undefiniert drückte es in meiner Brust, als wolle mir der Körper unter allen Umständen mitteilen, dass es sich um keine gewinnbringende Idee handelte und ich so schnell wie möglich das Weite suchen sollte. Der Vierbeiner stand noch immer wie angewurzelt da und ignorierte jedwede Versuche meinerseits wieder einen Huf vor den anderen zu setzen. Ich sah ihm in die Augen und biss mir stark auf die Zunge, um das aufkommende Gefühl zu unterdrücken. Gleichzeitig wiederholte ich Eriks Namen wie ein Mantra in meinem Kopf. Ihn wollte ich, nur ihn.
      “Ich weiß es nicht und kannst du jetzt bitte gehen? Wir reden, wann anders, nicht so zwischen Tür und Angel”, bat ich Niklas eindringlich. Endlich gab er nach und nickte.
      “Okay, dann reden wir Dienstag”, sagte er noch, setzte sich in Bewegung zum Stall und sogleich ertönte das Geklapper von Eisen an der Holzfront einer Box. Erleichtert atmete ich aus.
      Tatsächlich wurde es mir zum Teil auch wieder Humbria im Schritt anzureiten. Sie schnaubte gelassen haben. Meine Konzentration hingegen hatte sich vollständig verabschiedet, obwohl die Pläne mit ihr einfach waren. Einige Meter konnte ich Humbria zurück in ein ruhiges Tempo holen, gleichmäßig durchparieren und in einer Gebrauchshaltung wieder anreiten. Sie hörte aufmerksam und fragte höflich nach, bevor sie Blödsinn versuchte.
      Nach weiteren Runden ritt ich zurück in den Stall, stieg ab und entfernte das Sattelzeug. Wir kamen an Niklas vorbei, der seine Stute putzte. Mir gelang es tatsächlich keinen weiteren Blick zu ihm zu werfen, sondern brachte das Sattelzeug in die Sattelkammer, holte eine neue Weidedecke und stellte das nasse Pferd unter das Rotlicht. Mit hängender Unterlippe genoss sie die Wärme und ich setzte mich ihr gegenüber auf die Bank, Handyzeit.
      Einen Überblick über die ganzen Nachrichten zu bekommen, stellte sich als eine größere Herausforderung dar, als ich mir vorgestellt hatte. Immer mehr Bots, die mich mit hübschen Bildern beglücken wollten, fanden ebenfalls ihren Weg in mein Nachrichtentab. Die Anzahl meiner Follower hatte sich glücklicherweise bei dreitausend eingependelt und ich wusste nicht einmal etwas damit anzufangen. Aber was soll’s, interessiert tippte ich auf Linas Account, um zu gucken, was Leute normalerweise posten und bemerkte, dass sie einige Beiträge gelöscht hatte und gar nicht mehr abwarten konnte, ihren Schimmel wiederzusehen. Auch in mir wuchs die Vorfreude, das Einhorn hier zu haben, doch mir blieb noch ein Moment darüber nachzudenken, als die Bannerbenachrichtigung mich ablenkte. Ein Wirrwarr aus Buchstaben eröffnete sich vor mir und eine Formel. Ich runzelte die Stirn, aber kopierte beides sofort in meine Notizen, um die Nachricht nicht zu verlieren. Vermutlich musste ich den Schlüssel berechnen, um die Verschiebung des Alphabets herauszufinden. Rätsel waren nicht mein Ding, doch der Unbekannte hatte mich darauf vorbereitet, dass es nicht leicht werden würde.
      „Danke“, schrieb ich und dann schielten meine Augen zu Niklas, der mittlerweile sein Pferd aus der Box führte. Auf seinen wohlgeformten runden Lippen lag ein schelmisches Lächeln.
      „Ich habe ein Problem“, tippte ich dann noch an meine Ablenkung. Sofort antwortete er: „Man erzähle mir von dem schändlichen Anliegen.“
      „Den Typen, den mein Freund nicht mag (hatte vorher was mit dem) lässt mich nicht in Ruhe. Er hatte mich darum gebeten, das Training mit jemand anderes zu machen, dem habe ich widerstandslos zugestimmt. Doch jetzt auf einmal will der Typ das mit mir klären und akzeptiert es nicht. In mir kochen die alten Gefühle hoch, weiß nicht damit umzugehen, weil ich mir so sicher mit meinem Freund bin“, fegten meine Finger in Windeseile über den Bildschirm.
      „Und dennoch möchtest du dich mit mir treffen?“, leuchtete es im Chat, aber noch immer pulsierten die drei Punkte. Eine weitere Nachricht tauchte auf: „Spaß beiseite. Wenn du das mit dem nicht willst, dann tue es nicht. Ansonsten kläre es mit deinem Freund erneut, bitte ihn um Unterstützung. Wichtig ist nur, dass du eine Entscheidung treffen musst, insbesondere in einer emotionalen, instabilen Zeit, wie du sie gerade erlebst.“
      “Das schreibt sich so leicht“, antwortete ich. Im Stall wurde es zunehmend voller und ich entschied zwischen den neugierigen Blicken mein Handy wieder wegzustecken; Schluss mit den Spielchen.
      Das rote Licht verglühte und Humbrias müden Augen öffneten sich langsam. Von beiden Seiten am Halfter öffnete ich die Haken und führte sie zurück auf den Paddock, auf dem eine beträchtliche Ruhe herrschte. Die Pferde dösten, bemerkten kaum, dass die Stute wieder zurückkam. Sie hingegen trottete langsam zum Unterstand, steckte den Hals durch die Gitter und begann mit den Lippen Halme zu inhalieren. Das Halfter hängte ich in den Zwischengang und starrte auf die Uhr. In wenigen Minuten würde der Tierarzt eintreffen. Beeindruckend schnell kam ich an der Hütte an, in der Erik sich bereits anzog.
      “Ich muss dich noch etwas fragen”, sagte er sanft auf dem Weg zum Stall. Vorsichtig sah ich an ihm hoch, ohne die Hand loszulassen, die ich fest umschlossen in meiner hatte. Ich nickte.
      “Was hat es mit Kiel auf sich?”
      Natürlich musste diese Frage kommen, aber von Lina konnte er es nicht wissen. Wir hatten beim Essen das Thema totgeschwiegen und auch, dass Niklas zur gleichen Zeit mit einigen Auserwählten nach Stockholm fahren würde. Mir stockte für einen Augenblick der Atem, ehe ich stark ausatmete und darauf gefasst war, ihm mehr zu erzählen.
      “Woher weißt du das?”, drängte sich jedoch als erste Frage aus meinem Mund.
      “Dein Handy hat in der Nacht aufgeleuchtet und den Termin angezeigt. Im Zuge meiner unstillbaren Neugier habe ich die Benachrichtigung geöffnet und versucht mehr zu finden”, gab er wehmütig zu. Wieder blieb mir der Atem weg, doch jetzt stich es unsanft in meiner Lunge. Als wäre es ein Zeichen, hielt er mir eine Schalter Zigaretten hin, aus der ich sogleich eine herauszog und aus der Innentasche der Jacke ein Feuerzeug nahm. Das Stechen ließ nach, aber dafür drückte es nun. Deutlich angenehmer, wie ich es fand. Mir wurde klar, dass er vermutlich noch mehr gesehen haben könnte, wenn er versuchte, mehr Informationen zu finden.
      “Dann weißt du von?”, deutete ich mit stotternden Worten meinen unbekannten Verehrer an. Es musste so weit kommen, wenn auch etwas früh.
      Erik nickte, aber sein Gesicht blieb wenig berührt davon.
      “Aber”, sprach er und zog an dem Glimmstummel, “du hättest darauf kein Geheimnis machen müssen. Ich kann deinen Reiz nachvollziehen und wenn du dich ernsthaft einmal mit ihm treffen möchtest, will ich dieser Erfahrung nicht im Wege stehen.” Auf seinen Lippen bildete sich ein kurzes Lächeln, dass bei dem nächsten Zug wieder weichte.
      “Danke dir, aber ich weiß es noch nicht. Ich bin froh dich zu haben und möchte mit dir Erfahrungen machen”, versuchte ich zuversichtlich zu bleiben. Seine Hand drückte fest meine. Ich wusste aus unerklärlichen Gründen sofort, dass es die richtige Entscheidung mit ihm war. Noch bevor wir im Stall ankamen, erzählte ich ihm von der Auktion in Kiel und dass wir dort eine Art Lehrgang haben würden, um unsere reiterlichen Fähigkeiten zu verschärfen. Interessiert hörte er zu, aber gab kein Kommentar dazu ab.
      Vor dem Gebäude stand bereits der Transporter unseres Tierarztes. Aus der Seitentür kramte er seine Tasche und begrüßte uns freundlich, als er uns bemerkte. Zusammen liefen wir zur Paddock Box, in der Maxou beinah leblos stand. Die Späne lagen fein vor der Kante ins Freie. Nicht mal einen prüfenden Blick schien sie nach draußen gesetzt zu haben. Umso mehr setzten die Zweifel ein. Ich hatte daran setzt ein Pferd haben zu wollen, dass ich mir nicht die Zeit ließ, mir darüber Gedanken zu machen, was ich mit meinem Pferd überhaupt anstellen wollte. Nein, stattdessen ging es nur darum eins zu haben und nun stand dieses arme Tier verängstigt da, wie eine versteinerte Statur. Erst, als Erik sie ansprach, regte sich eins der Ohren. Ihr Kopf erhob sich langsam und ich wusste wieder, zumindest kurz, wieso ich ihr die Chance gab, sich zu beweisen. Ich drückte meinen Freund, dachte ich das gerade wirklich?, ein Halfter in die Hand, dass ich ursprünglich für Glymur gekauft hatte. Es war violett und reflektierte im Licht in schönen Fuchsia Tönen. Getragen hatte er es bisher nur einmal, doch Maxou stand er vorzüglich. Er führte die Stute hinaus und folgte mir in den hinteren Teil des Stalles. Dort waren die Putzbuchten und deutlich besseres Licht. Außerdem konnte man das Pferd problemlos an beiden Seiten befestigen. Das Abnehmen der Decke übernahm ich. Sie sah mich kurz an und beschnupperte meine Hand, aber Erik erschien ihr so viel interessanter, was ich ihr nicht verübeln konnte.
      Doktor Linqvist begann mit seiner Arbeit, hörte die Stute als erstes Ab, betrachtete die Augen mit einer Lampe und sah sich die Zähne an. Dabei bestätigte sich Linas Annahme. Dabei stellte die ungleiche Abnutzung der Zähne, das geringste Problem dar. An einigen Stellen hatte sie Karies, dass er aber noch heute beseitigen würde. Was ihn ebenfalls Zahnschmerzen bereitete, war eine Fraktur an den vorderen Zahnreihe und zwei hinten. Wohl möglich durch Tritt eines anderen Pferdes oder schlimmeres, dass er nicht mehr aufführen wollte. Suchend blickte ich mich im Stall um, hoffte, Lina zu sehen oder zumindest ihren überheblichen Liebhaber. Vergeblich.
      „Möchtest du gehen?“, vergewisserte sich Erik, als der Tierarzt der Stute die erste Sedierung verpasste.
      „Nein, ich hoffe nur darauf, dass Lina mir helfen kann, ob das alles normal ist“, wimmerte ich und blickte mit glasigen Augen zu dem Zwerg. Ihr Kopf wurde schwer, hielt sich dennoch gut in den beiden Stricken.
      „Wir schaffen das zusammen, ich übersetze und du“, er stockte und kratzte sich an dem mit Stoppeln übersäten Kinn, „kennst dich mit Pferden aus.“
      „Ich verstehe genug, aber danke“, rollte ich beleidigt mit den Augen und erhob mich von der Bank. Erik hingegen lehnte sich zurück, beobachtete inständig jeden meiner Schritte.
      Der Kopf der Stute wurde immer schwerer und zur Unterstützung hielt ich ihn fest. Laut schnaubte sie aus, dabei knatterte das Geräusch. Meine Hand fuhr langsam über ihren Hals.
      > Rör henne inte så ofta. Hon har en svampsjukdom i huden.
      „Fass sie nicht so oft an. Sie hat einen Hautpilzkrankheit“, mahnte der Tierarzt und sofort schreckte ich zurück. Mit einem kläglichen Versuch drückte Maxou ihren Kopf ein Zentimeter nach oben, aber genoss wieder, dass ihr Halt gab.
      > Är det smittsamt?
      „Ist der ansteckend?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, sagte aber, dass genaueres erst vom Labor geklärt werden kann. Dann spannte Doktor Linqvist das Maul des Tieres in ein Gestell, das vermutlich auch als Folterinstrument herhalten konnte. Erik wurde damit beauftragt einen Eimer mit warmem Wasser zu holen, während ich weiter assistierte. Zugegeben, bisher gehörte so was nicht in mein Aufgabenfeld. Unser Tierarzt sah dem nach und erklärte mir alles äußerst genau. Zeigte mir sogar die einzelnen Schritte.
      Interessierte hörte ich zu, hielt den Kopf, bis Maxou endlich fertig war nach fast einer Stunde. Ein Zahn wurde gezogen und weitere behandelt. Ihr Gebiss erstrahlt nun gleichmäßig wieder im Glanze, solle aber in den nächsten Stunden nur in der Box stehen unter Beobachtung. Dafür waren wir ausgerüstet. Also schaltete ich direkt die Kamera ein, die sonst nur nachts aktiv war und konnte nun jederzeit nachsehen, was sie trieb. Sobald Maxou aktiver sei, war führen angesagt, dem Erik sich glücklich opferte.
      Gegen den Hautpilz bekamen wir eine Salbe, die täglich zweimal aufgetragen werden sollte und das Fell musste umgehend verschwinden. Eine Winterdecke mit Halsteil stand dann somit als Nächstes auf der Einkaufsliste.
      So sehr vertieft das schlafende, und aus dem Maul blutende, Pony zu beobachten, bemerkte ich nicht wie sich eine Hand auf meine Schulter ableckte. Mit einem großen Satz sprang ich zur Seite. Erneut wippte der Kopf der Stute kurz nach oben. Lina stand neben mir und grinste.
      „Das kannst du nicht machen“, stammelte ich außer Atem und sorgte damit für reichlich Gelächter bei den anderen. Vermutlich lag ihre Hand schon einige Sekunden auf meiner Schulter, bis mein Körper es für voll nahm.
      “Folke hat gesagt, dass Holy auch untersucht werden soll”, erklärte sie und vermittelte mir indirekt, dass ich den Terrortinker bitte holen solle. Seufzend trennte ich den Blick von meinem Pony, sagte Erik Bescheid und lief über den Vorplatz zum Paddock. Friedlich zupfte sie an den restlichen Heuhaufen in dem Unterstand. Girlie stand neben ihr und auf der anderen Seite Mill, die interessiert zum Tor getrottet kam. Die Stute war stets bereit zu arbeiten, doch befand sich derzeit noch im Mutterschutz. Zwischendurch durfte sie Dampf ablassen, aber wurde ansonsten in Ruhe gelassen. Ihre Tochter inszenierte derzeit die Standfestigkeit des Zauns. Unbeachtet legte ich das Halfter um den plüschigen Kopf der gescheckten Stute und führte sie hinüber. Sie ließ sich Zeit, wollte nicht so recht in das große Gebäude hinein, als wusste sie, dass dort der Tierarzt wartete.
      Niklas' Gesicht sprach Bände und dass er nervös die Stallgasse auf und ab lief, ebenfalls. Lina versuchte ihn aufzumuntern, doch vollständig in den Gedanken verloren, reagierte er nicht auf ihre Annäherungsversuche. Seine Stute schien demnach das Fohlen verloren zu haben.
      “Muss ich fragen?”, flüsterte ich Lina zu.
      Sie schüttelte den Kopf.
      Damit war alles gesagt. In großen Schritten brachte Lina den Schimmel zurück in die Box und ich band stattdessen Holy an. Ihr Baby war wirklich groß, als wäre sie bereits im siebten Monat trächtig und somit bei der Übergabe an den Tierschutz bestiegen worden. Innerlich entbrannte ein Muttergefühl, die Freude ein außergewöhnliches Fohlen hier zu haben. Um, hoffentlich, Papiere zu bekommen, mussten Linas und meine Fähigkeiten herhalten, den Vater des Fohlens zu ermitteln. Sie bekam von den freudigen Nachrichten nicht viel mit, sondern beruhigte ihren Freund mit allen Kräften.

      So schnell wie Niklas erschien, verschwand er auch wieder und Lina blieb wie ein begossener Pudel am Rolltor stehen, sah dem Auto am Horizont hinterher. Ich konnte seinen Schmerz nachvollziehen und auch, dass sie zu gleichen Teilen an sich band. Der kurze Moment der Wehmut wurde durch ein lautes Scheppern unterbrochen, das von der anderen Seite des Stalls kam. Zusammen joggten wir durch die Stallgasse und vor uns eröffnete sich ein riesiger Lkw, beladen mit Absperrungen und dahinter folgte ein Bagger.
      “Was zur Hölle ist hier los?”, fragte ich rhetorisch und auch Lina konnte nur mit Erstaunen die Arbeiter betrachten. Von der Seite kam Tyrell dazu, die Arme breit in der Hüfte gestützt und einem Lächeln auf den Lippen. Zufrieden atmete er aus.
      “Es geht los”, lachte er. Lina und ich sahen uns weiter verwundert an.
      “Was genau?”, versuchte ich mehr Informationen, ans Tageslicht zu bekommen.
      “Oh, dann habe ich es euch vergessen zu sagen”, seufzte er, “somit wisst ihr auch noch nicht, dass bis heute Abend eure Sachen gepackt sein sollen.”
      Schockiert riss ich Augen auf, hielt mich an Lina fest.
      “Was? Nein, wissen wir nicht!”, sprach Lina gleichermaßen verwirrt wie erschüttert, “Wieso sollen wir unsere Sachen packen?”
      “Wir bauen den Hof um und eure Hütten werden abgerissen”, fasste er sich kurz. Ein erschütternder Schmerz fuhr durch den Körper. Die kleine Hütte wurde zu so viel mehr als einem einfachen Haus. Sie war mein Rückzugsort, ein Zuhause mehr als Erik es mir war.
      “Das ist nicht dein Ernst”, schimpfte ich verzweifelt.
      “Und ihr habt jetzt sechs Stunden euren Kram in den Konferenzraum vier zu bringen”, zeigte er in die Halle, “Am Abend erzähle ich euch dann in Ruhe alles.”
      “Aber wir haben doch die Ferienhütten?”, versuchte ich meinen Gedanken zu verdrängen und dem Unausweichlichen zu entgehen.
      “Die sind an die Vorarbeiter vermietet”, zuckte Tyrell mit den Schultern und verließ uns. Sein Abgang wirkte von so viel Missgunst, dass es eine gute Erklärung sein musste, damit ich meine Sachen auch wieder auspacken würde.
      “Das ist nicht sein Ernst, oder?”, fragte mich Lina, die es wohl nicht ganz glauben konnte, was unser Chef uns gerade eröffnete.
      “Offenbar schon”, seufzte ich, “dann sollten wir wohl mal unser Zimmer beziehen.”

      Lina
      “Ja, dann sehen wir uns wohl gleich”, nahm ich diese Tatsache resigniert hin und verschwand bevor Vriska noch etwas hätte sagen können. Schwer lag mir das Herz in der Brust. Falls es so etwas wie einen Gott geben sollte, war dieser heute nicht sonderlich gnädig gestimmt. Unangenehm drang das Geräusch des Kieses an meine Ohren, der bei jedem Schritt unter meinen Sohlen, leise knirschte, bis es abgelöst wurde durch das dumpfe Klopfen, welches meine Füße auf den Stufen erzeugten. Melancholie überkam mich als ich in den Raum eintrat. Willkürlich begann ich Dinge in eine Kiste zu werfen, die sich mir in den Weg gestellt hatte. Es sollte mich nicht so hart treffen, einen Ort, an dem ich gerade einmal knappe eineinhalb Monate wohnte, wieder zu verlassen, aber genau das tat es. Was es so beschwerlich machte, war nicht die Sache an sich. Klar, ich begann gerade erst, mich an mein kleines Reich zu gewöhnen, hatte gestern erst überlegt, wie man es behaglicher gestalten konnte, aber letztlich war es auch nur ein Raum, den ich noch nicht mein Zuhause nannte. Es hätte auch schlimmer kommen könne. Immerhin war Tyrell so gnädig gewesen, uns nicht nur ein Zelt oder Ähnliches hinzustellen oder gar uns ganz auf die Straße zu setzen. Darüber hinaus könnte ich mir schlimmeres vorstellen, als mit Vriska zusammenzuwohnen, wenn es auch bedeute deutliche Einschränkungen in der Privatsphäre zu haben. In vergangenen Zeiten hatte ich mir schon mit Leuten ein Zimmer geteilt, die mir deutlich unsympathischer waren. Nein, es war schlichtweg einfach der falsche Zeitpunkt für eine solche Nachricht. Gedanklich hing ich noch immer bei der schlechten Neuigkeit, die der Tierarzt mit sich brachte. Die Information an sich erweckte bereits großen Kummer in mir, lag doch so viel Hoffnung darin, dass die Trächtigkeit gut verlief, aber diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Es würde kein Fohlen für Smoothie und Niklas geben.
      Meinen Freund schließlich so bestürzt zu sehen weckte noch mehr Trauer in mir und spürte seinen Schmerz beinahe so deutlich, als sei es mein eigener. Ich hatte für Niklas da sein wollen, ihm Trost spenden, doch er hörte mir nicht zu, distanzierte sich. Selbst meine größten Bemühungen hatten nicht ausgereicht, um vollständig zu ihm durchzudringen. Es erschloss sich mit bisher nicht, was es war, dass er sich dermaßen vor mir verschloss, aber ich hatte dem nichts entgegenzusetzen, konnte nur abwarten, ob ich seine Beweggründe eines Tages besser verstehen würde. Wirklich wohl war mir nicht bei dem Gedanken, dass er in einem solchen emotionalen Zustand fuhr, aber mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass er in seinem Wahn nichts Dummes anstellte.
      Seufzend stellte ich die Kiste, in der sich mittlerweile ein buntes Sammelsurium an Dingen befand, beiseite und ließ mich auf die nächste Sitzgelegenheit sinken, die leise unter der Belastung knarzte. Langsam ließ ich meinen Blick über den Inhalt des Kartons gleiten. Die Auswahl an Gegenstände war chaotisch und in keinster Weise nachvollziehbar. Neben einem Buch glitzerte mir ein Kugelschreiber entgegen. Daneben hatten drei Paar Socken, eine Tafel Schokolade, Kopfhörer und ein Paar Reithandschuhe ihren Weg in die Kiste gefunden. Das Laptopkabel schlängelte sich wie eine Schlange um alles herum und verband es auf eine befremdliche Weise miteinander. Ganz oben darauf thronte der kleine helle Plüsch-Ivy wie ein Drache, der seinen Schatz hütet. Würde man das innere meines Kopfes visualisieren sähe es sicher ähnlich widersinnig aus. Bilder, Gedanken, Gefühle, … Träume, Erinnerungen und Gegenwärtiges … Wichtiges und Belangloses, alles auf einem großen Haufen.
      Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. So würde, dass hier nichts werden, ich musste erst ein wenig Klarheit in meine Gedanken bringen, um das hier mit ein wenig System anzugehen. Ruhelos griffen meine Finger zu dem Handy, welches ich beim Hineinkommen auf den kleinen Tisch niedergelegt hatte. Kühl und schwer lag das Metall in meinen Fingern, einzig das Bild meines Hengstes, welches den Sperrbildschirm zierte, strahlte mir entgegen. Was hatte ich denn auch erwartet? Dass mir das Gerät auf magische Weise zeigte, dass meine Sorgen unbegründet seien? Das war wohl kaum möglich. Selbst für eine Nachricht von Niklas wäre es noch zu früh gewesen, unmöglich könnte er bereits Zuhause sein, hinzu kam noch, dass er selbstverständlich keine Gedanken lesen konnte. Ich seufzte, schüttelte den Kopf erneut. Sicherlich machte ich mir mal wieder zu viele Gedanken. Einen Moment lang betrachtete ich den Bildschirm. Hals und Ohren aufmerksam aufgerichtet blickte Divine mir aus dem Glas entgegen. Seine dunklen Augen leuchten sanftmütig und hoben sich deutlich von dem hellen Fell ab und selbst auf dem Bild ging seine magische Ausstrahlung nicht verloren. Er wirkte so einladend, als wollte er sagen: „Alles wird gut, mach dir nicht so viele Sorgen.“
      Doch so einfach war das nicht. Gedanken lösten sich nicht einfach in Luft auf. So wischte mein Daumen über die glatte Oberfläche, woraufhin sich die Darstellung veränderte, kurz mein Homescreen zeigte, bevor mein Finger wie von selbst auf dem Messenger-Dienst tippte. Erst als sie den Chat geöffnet hatten, der „Niki“, als Überschrift trug, hielten sie inne. Neben dem Wort prangte zwei rosafarbene Herzen, ein großes und ein kleines. Ein eher kläglicher Versuch diesen Kontakt von den anderen abzuheben, denn Herzen in den unterschiedlichsten Variationen kam auch anderen Menschen zu, die mir wichtig waren. Nachdenklich starrte ich auf den Cursor, der in regelmäßigem Rhythmus in dem hellen Schreibfeld aufblinkte. Auf einmal fühlte es sich an, als bewege sich rein gar nichts mehr in meinem Kopf, als wäre dort irgendetwas eingefroren, was mich daran hinderte auch nur ein Wort zu schreiben. Dennoch waren die Sorgen nicht fort, nur die Fähigkeit diesen Ausdruck zu verleihen schien verschwunden. Nach gefühlten Minuten erlosch der Bildschirm, aufgrund von Inaktivität und ich blickte in meine eigenen mit Sorge gefüllten Augen.
      Ich atmete tief durch, lehnte mich zurück und versuchte meine Gedankenströme in eine Richtung zu lenken, die sich mehr auf das hier und jetzt konzentrierten und nicht auf Ereignisse, die nur eingeschränkt in meinem Einwirkungsbereich lagen. Mit jedem Atemzug rückte die Sorge um meinen Freund ein wenig in den Hintergrund und machte Platz für andere Gedanken.
      Meine Augen wanderten durch den Raum, bis sie schließlich wieder an der Kiste hängen blieben, auf der das Plüschtier thronte. Gerade jetzt, wo ich Ivys moralischen Beistand gebrauchen könnte, fehlte er mir umso mehr. Zu wissen, dass mein er allein in einer völlig unbekannten Umgebung bereite mir mindestens genau so viel Kummer.
      Von dem einen auf den anderen Tag musste er sich an eine neue Bezugsperson gewöhnen, weil ich einfach weg war und dann nach Monaten wurde er erneut mit einem dieser riesigen, unheimlichen, lauten Dinger durch die Gegend geflogen. Vermutlich verstand das arme Pferd die Welt nicht mehr, war er mit seinen fünf Jahren doch praktisch noch ein Baby.
      Bald, ziemlich bald würde ich ihn wieder bei mir haben, sein weiches Fell unter meinen Finger spüren und auch sein freundliches gebrummelt würde wieder ertönen, wenn ich morgen den Stall betrat. Dieser Gedanke motivierte mich tatsächlich ein wenig jetzt endlich an die Arbeit zu gehen, denn vom Trübsal blasen, würde die Zeit wohl auch nicht schneller vergehen.
      „Okay Mini-Ivy“, sprach ich entscheiden zu dem plüschigen Einhorn ”der Kerl kann sicher auf sich aufzupassen, schließlich ist er alt genug dafür.” Hoffentlich. Die Worte klangen deutlich optimistischer als ich mit tatsächlich fühlte, aber die Wohnung würde sich wohl nicht von selbst zusammenzupacken. Obgleich der einleuchtenden Erkenntnis fühlte ich mich noch immer ein wenig bedrückt und leicht irre kam ich mir allmählich auch vor. Mit echten Tieren reden war sicher schon nicht ganz normal, aber dies mit Plüschtieren zu tun, grenzte, nein war eindeutig ein Zeichen für den Verlust meiner geistigen Fähigkeiten.
      Mein Blick schweifte durch das Zimmer. Auf den Regalen stapelten sich gleichermaßen Romane und Erzählungen wie Skizzenbücher, überall dazwischen hingen, standen und lagen Erinnerungsstücke an vergangene Zeiten. Wie konnte man eigentlich so viel Zeug sammeln?
      Über mich selbst den Kopf schüttelnd, begann ich nun endlich damit den Inhalt dieses Raumes zusammenzupacken. Diesmal allerdings mit ein wenig mehr System. Als Erstes landetet sämtlicher Kleinkram in den Kisten. Zwischen Fotos, Lichterketten und dem ein oder anderen Plüschtier, landeten auch Souvenirs und andere Erinnerungsstücke darin. Mitunter einige Dinge, die diesen Raum hier eindeutig als Zimmer eines Pferdemenschen kennzeichneten. Einzig glitzern Pokale und seidig schillernde Schleifen würde man in keinem der Kartons finden könne, denn diese gab es nicht. Noch nie betrat ich einen Turnierplatz mit der Absicht mich selbst zu präsentieren. Ich war immer nur stummer Bewunderer derer, die den Mut aufbrachten, sich den kritischen Blicken von Richtern und Zuschauern zu stellen, denn mir selbst war es bereits unbehaglich, wenn mir Leute beim Training zusahen. Besonders dann, wenn ich sie nicht kannte.
      Als ich indessen auch die Bücher einpackte, fiel mir ein Exemplar in die Hand, welches bereits die Spuren jahrelanger Nutzung mit sich trug. Pikku prinssi stand in geschwungenen Buchstaben auf dem weißen Einband. Darunter eine Illustration der Titelfigur auf ihrem kleinen grauen Planeten. Eine Geschichte, die nicht nur weltweite Bekanntheit errang, sondern deren Aussage bis heute gültig ist.
      > Vain sydämellään näkee hyvin. Tärkeimpiä asioita ei näe silmillä.
      „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, kam mir sofort der vermutlich am häufigsten zitiere Satz aus dem Buch in den Sinn. Eine Aussage von der sich die heutige von Schein und Konsum geprägte Welt durchaus etwas abschneiden könnte. Dass, was hinter der Fassade eines Menschen steckt, bleib vielen verborgen, weil sie sich vom äußeren Schein blenden lassen und ihnen lieber einen Stempel aufdrückten, anstatt sich die Zeit zu nehmen, diesen näher kennenzulernen. Behutsam legte ich das alte Buch zu den anderen und setzte mit meiner Tätigkeit fort.
      Das Zimmer war nahezu leer, einzig einige Skizzenbücher und Zeichenmappen lagen noch auf dem Tisch, die noch einen Platz in einem der Kartons suchten. Im Arm die Bücher, in der freien Hand die Mappe, stiefelte ich hinüber zu den Kisten. Die Mappe allerdings war nicht korrekt verschlossen, sodass sich ihr gesamter Inhalt auf den Boden ergoss. Gut gemacht, Lina, dachte ich und legte erst einmal die Bücher aus der Hand. Auf den Blättern zeichnet sich überwiegend Motive ab, die schon vor einigen Jahren entstanden waren, meiner Meinung nach keine wirklichen Meisterwerke, auch wenn Samu steht etwas anderes behauptete. Zwischen all den Bleistiftskizzen stach ein Blatt besonders hervor, weil es das einzige war, welches Farbe trug, ziemlich viel Farbe. Darauf zu sehen war ein leicht deformiertes Pony auf einer ziemlich bunten Blumenwiese. Links oben in der Ecke standen in der krakeligen Schrift eines Kindes „Für Lina“ geschrieben. In mir lebte eine Erinnerung auf, bunt und lebendig trat sie vor mein inneres Auge.
      Es war ein warmer Frühlingsmorgen, angenehm strich mir der Wind über die Haut und trug den Duft von Bratfett und Ketchup hinüber. Leise dudelte ein mir entfernt bekannter Song, sicher aus den Charts stammend, aus den Lautsprechern am Rande des Platzes. Auf dem Sand vor mir tummelten sich überwiegend junge Kinder mit Ponys oder auch kleineren zierlichen Pferden. Einzig ein bereits jugendlich aussehendes Mädchen ritt einen großen, eleganten Dunkelfuchs, der lustlos durch den Sand schlurfte.
      “Liiiiina, Minnie möchte nicht richtig anhalten”, quengelte das kleine blonde Mädchen und lenkt damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Rappstute mit der schiefen Blesse reckte den weiß bemützten Kopf nach vorn und zog der Kleinen damit die Zügel aus der Hand.
      “Mach dich mal richtig schwer, Ally und versuche es dann noch mal”, rief ich ihr zu. Folgsam führte Alison die Anweisungen aus und das Pony ließ sich widerwillig nach einigen Schritten anhalten, zog dem Kind aber erneut die Zügel aus der Hand, bevor sie die Ohren anlegte und das Pony neben ihr angiftete. Schon seit das dunkle Pony aus dem Hänger gestiegen war, war es ziemlich unleidlich. Minnie Maus hatte nicht stillstehen wollen und unwillig nach mir geschnappt beim Putzen. Sicherheitshalber beschloss ich sie zuerst selbst abzureiten.
      Dieses Vorgehen erwies sich als kluge Entscheidung. Kaum hatten Minnies Hufe den Sand berührt, schoss sie auch schon quietschend los und obwohl ich damit gerechnet hatte, rette mich nur ein beherzter Griff in den Aufsteigriemen, um nicht in dem hellen Sand zu landen. Immer wieder testete die Stute meine Sattelfestigkeit, bis sie schließlich den Großteil der überschüssigen Energie abgebaut hatte.
      Bis auf Klauen der Zügel klappte das Aufwärmen des Ponys und Ally relativ gut. Minnie wählte fast immer direkt die richtige Gangart und unterließ jegliche Versuche ihren Reiter auf den Boden zu befördern, sodass ich darüber nachdachte, die Stute nicht doch auszubinden, um es dem Kind einfacher zu machen. Schließlich war dies hier keine klassische Dressurprüfung, sondern ein Reiterwettbewerb. Nachdenklich warf ich einen Blick auf das Pony-Reiter-Paar, die sich damit abkämpften, jeweils ihren Willen durchzusetzen. Von Mitgefühl erfüllt sammelte ich die Dreieckszügel aus dem Haufen mit der Abschwitzdecke und rief Ally zu mir heran. Dank Minnies Kooperationsbereitschaft waren diese schnell verschnallt und die beiden konnten, ihre Wege fortsetzen. Ally sah bereits nach wenigen Tritten deutlich glücklicher aus, als das Pony ihr nicht mehr im Minutentakt die Zügel aus den Fingern zog und auch die Geschwindigkeit somit kontrollierter wurde.
      Alison, die normalerweise plapperte wie ein Wasserfall, war ziemlich still geworden als ihre Gruppe aufgerufen wurde und wir vor dem Tor auf den Einlass wartetet. Nervös spielte sie mit den Zügelenden in ihren kleinen Fingerchen.
      “Ich kann das nicht”, sprach Ally entmutigt, als sie einen Blick über das Hallentor fallen ließ, wo gerade eine E-Dressur stattfand. Natürlich sahen die beiden Jugendlich deutlich besser auf ihren Pferden aus als die Reiter ihrer Altersklasse. Sanft legte ich dem Mädchen die Hand auf das Bein, woraufhin sie mich mit ihren ängstlichen blauen Augen anblickte.
      “Ally, schau mal da rüber”, ich deutete mit der freien Hand in Richtung der Zuschauertribüne, “dort sitzen schon deine Eltern und warten auf deinen Auftritt. Außerdem denk daran, wir haben das alles schon ganz oft geübt. Es ist genau dasselbe wie Zuhause.” Schüchtern nickte das Kind bei meinen Worten und warf erneut einen Blick in die Halle.
      “Um Minnie brauchst du dir keine Sorge machen, die macht das mit links. Konzentriere dich allein darauf, wie du reitest. Ich warte hier die ganze Zeit auf dich und hab alles im Auge, ja. Und Vergleich dich nicht mit denen da drinnen, die machen diese Sache schon deutlich länger als du.” Kaum hatte ich den Satz beendet, erklang verhaltender Applaus in der Halle, bevor sich das Tor öffnete und die beiden Reiter die Halle verließen. Das war der Moment für Ally und die vier weiteren Reiter unter der Ansage des Kommentators den Sand zu betreten. Gesittet folgte Minnie dem kleinen Palomino in die Halle, nun ganz das brave Pony, welches man von Zuhause kannte.
      An die eigentliche Kür erinnerte ich mich nur noch sehr schwammig, sie war nicht sonderlich spektakulär gewesen, einzig Schritt, Trab, Galopp mit sehr simplen Bahnfiguren.
      Dem entgegengesetzt erinnerte ich mich umso besser an das strahlende Gesicht der Kleinen, als die Richter die silbern glänzende Schleife an Trense von Minnie Maus befestigten. Vordergründig ging es hierbei um den Spaß, dennoch zersprang mein Herz beinahe von Stolz erfüllt. Ally hatte ihre Sache ziemlich gut gemacht und ich hatte es tatsächlich geschafft einen meiner Schützlinge zum Erfolg zu führen, wenn auch nur bei einem Reiterwettbewerb.
      Die Erinnerung verglühte, wie ein Funke, der tanzend in den Nachthimmel emporsteigt, bis er endgültig erlosch, doch das Gefühl von Stolz und Glückseligkeit hingegen hallte noch einen Augenblick in mir nach. Achtsam legte ich die Zeichnungen zurück in die Mappe. Ganz oben auf, legte ich mit einem lächelnd auf den Lippen die Zeichnung von Ally.
      Jetzt hieß es nur noch die Kisten rüberzubringen. Glücklicherweise war es nicht allzu viele, sodass dies wohl möglich schneller vonstattenging als das Packen gedauert hatte.

      Vriska
      Für einen Augenblick sah ich Lina nach, wie sie wirr ums Haar zwischen den Paddocks hindurch eierte und schließlich hinter den Gebäuden verschwand in Richtung der Wohnhäuser. Anstelle ihr nachzulaufen, und ebenfalls meine Habseligkeiten zu verstauen, drehte ich mich auf der Ferse um und lief zurück zu meinem Pony. Erik saß ihr gegenüber auf der Bank, starrte abwesend auf sein Handy und bemerkte mich erst, als ich direkt vor ihm stand. Langsam hob er seinen Kopf. Auf den Lippen lag ein müdes Lächeln, was vermutlich der langen Nacht geschuldet war, in der Fredna kaum Schlaf fand, wie hypnotisiert durch die Hütte lief und immer wieder zwischen uns ins Bett kletterte. Auch Trymr fühlte sich dadurch motiviert, ihr zu folgen und jeden ihrer Schritte genau zu untersuchen. Irgendwann hörte ich auf, die Uhrzeit zu prüfen, wenn ich, durch einen kleinen Arm oder felligen Kopf in meinem Gesicht, wach wurde. Umso stärker dröhnte der Wecker in meinen Ohren um kurz vor acht.
      „Was beschäftigt dich?“, fragte ich zuversichtlich und strich ihm über die Schulter. Sofort änderte sich sein Blick. In seinen hellen Augen lag ein glühendes Funkeln, das mir wie vom Blitz getroffen durch den Körper fuhr und eine Welle aus prickelnden Gefühlen flutete jede noch so kleine leblose Zelle. Unbewusst begann ich zu grinsen.
      „Ich habe euer Gespräch gehört“, seufzte Erik und griff nach meiner Hand. Umgehend löste sich die nächste Flut, die diesmal in meinem Unterbauch drückte. Das Ziehen durchzog sogar meine Oberschenkel, alles kribbelte.
      „Und was sind deine Bedenken?“, versuchte ich meine Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, schließlich fühlte ich mich ebenfalls nicht ganz wohl bei dem Gedanken für sechs Monate mit Lina das Zimmer zu teilen. Dafür standen zu viele unbeantwortete Fragen im Raum und unausgesprochene Worte, die wir im Alltag bedenkenlos ignorieren konnten.
      „Dass wir einander kaum noch zu Gesicht bekommen“, erneut trafen sich unsere Blicke, „und das wäre furchtbar schade. Schließlich konnten wir …“
      Erik stoppte sofort. Wollte er, dass ich formulierte, warum sich unsere Situation derartig entwickelte? Ich ließ ihm Zeit, aber er schwieg. Immer häufiger wanderten seine Augen über meine Schulter hinweg zum Pony, das langsam, aber sicher wieder aufwachte.
      „Du meinst, ich konnte mich endlich dem öffnen, was uns von Anfang an auf der Seele lag?“, rutschte es mir beinah versehentlich über die Lippen.
      „Uns?“, grinste Erik verlegen und erhob sich von der hölzernen Bank, dabei knackte sie verdächtig laut.
      „Es tut mir leid. Dann halt, was mir auf der Seele lag“, seufzte ich.
      „Engelchen“, lachte er und kam einen Schritt näher an mich heran, „dir muss es doch nicht leidtun. Natürlich, uns. Sonst hätte ich mir wohl kaum den ganzen Kram mit den Pferden angetan. Meine Zeit hätte ich deutlich … sauberer verbringen können.“
      Kurz schnellte meine Puls nach oben, dass Erik die Abende als Zeitverschwendung ansehen würde, doch genauso schnell normalisierte er sich. Zumindest so normal, wie er in seiner Anwesenheit sein konnte. Mittlerweile hoffte ich darauf, dass der ständige Schwall an Hitze in den Hintergrund geraten würde, stattdessen gehörten diese Anfälle mittlerweile zum Alltag, wie das Gefühl noch immer in der Pubertät festzustecken. Verlegen senkte ich meinen Kopf. Mit seiner Hand strich er mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht, bevor er mein Kinn wieder sanft nach oben drückte, damit ich abermals in seine Augen blickte.
      “Du brauchst dich nicht dafür schämen. Es ist alles in Ordnung”, fügte Erik noch hinzu und drehte sich von mir weg. Als er an mir vorbeilief, berührten sich für einen kurzen Augenblick unsere Hände. Hoffnungsvoll schnappte ich nach Luft und folgte ihm zur Box. Erik lehnte die Unterarme auf dem kalten, schwarzen Metall ab, beobachtete, wie Maxou vorsichtig die Heulage knabberte, die ich vor ihrer Behandlung in der Ecke platzierte.
      “Vielleicht sollten wir sie nun einige Runden führen”, schlug ich vor und griff nach dem Strick, der um einige Gitterstäbe herumhing. Die Stute hob den Kopf. Ihre Ohren bewegten sich verunsichert in alle Richtungen, als gäbe es ein Problem, wenn ich sie führe. Auch in ihren Augen funkelte es misstrauisch. Ich drückte Erik wortlos den Strick in die Hand und drehte mich weg. Wie ein Messer stach mir sein Blick in den Rücken, als ich stumm verschwand zur Sattelkammer. Maxou hatte geschwitzt, sollte sich keinesfalls auch noch erkälten. Es würde noch genügend Kosten entstehen mit der Gurke.
      Leer richteten sich meine Augen zu dem Deckenhalter, der leblos an der Wand hing mit so vielen Decken, dass ich sie nicht zu zählen vermag. Wahllos blätterte ich die einzelnen Stangen durch wie die Seiten eines Buchs, dass man zwar lesen möchte, aber sich nicht bewusst war, dass man dafür die Worte verstehen sollte. Von vorn bis hinten sah ich Decken in allen Farben, Größen und Formen, wusste allerdings nicht genau, was ich suchte oder mir überhaupt dabei dachte. Unentschlossen ließ ich mich auf das Sitzpolster in der Mitte des Raumes fallen, überlegte, wie ich das alles heute verarbeiten sollte. Obwohl es kurz nach Mittag war, prasselte so viel Neues auf mich ein und wurde das Gefühl nicht los, dass ich wieder einmal alles allein auf den Schultern trug. Zugegeben, ich machte mir schon immer das Leben schwerer, als es notwendig war.
      Wie lange ich die Decken anstarrte und mich tief in meiner Gedankenwelt verlor, einem Teufelskreis aus falschen und überstürzten Entscheidungen, konnte ich nicht beurteilen. Jedoch musste die Zeit geflogen sein, wie Gänse auf ihrer Reise in wärmere Gefilde. Schritte nährten sich und auch ein dumpfes Kratzen auf dem Dielenfußboden. Meine Hände zitterten und Kälte durchzog mich wie ein kühles Lüftchen, dass sich unter meine Kleidung verlief. Ich atmete tief ein, drückte mich nach oben aus dem Sessel. Die Geräusche wurden erst lauter, bis sie plötzlich verstummten. Wer auch immer da war, musste angehalten sein und mich vermutlich beobachten, wie ich den Stoff anstarrte.
      “Entscheidungen treffen, lag dir noch nie”, lachte mein Bruder, der den Hund von Bruce im Schlepptau hatte. Elsa wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und schnupperte interessiert den Boden ab, sowie die Kisten am Rand. Meine Augen folgten dem Schäferhund.
      “Danke”, rollte ich mit den Augen und drehte mich zurück zu den Decken, die unverändert über die Stangen hingen.
      “Aber bei Pferden scheinst du ziemlich schnell zu sein?”, kam Harlen näher, stützte den Arm auf meiner Schulter ab. Skeptisch zog ich meine Braue nach oben, während meine Augen zu ihm hoch schielten.
      “Sie konnte nicht in dem Drecksloch bleiben”, zuckte ich mit den Schultern, “also haben wir sie mitgenommen und ich schaue, wo es hinführt. Wenn es nicht passt, wird Maxou ein schönes Zuhause finden.”
      “Ich denke nicht, dass du dieses Pferd wieder abgibst”, sprach er ernst zu mir.
      “Wie kommst du auf solche Ideen?”, hackte ich nach. Wirklich die Zeit darüber nachzudenken, hatte ich bisher nicht, aber mein Bruder wusste mehr über mich, als ich es je könnte.
      Ich seufzte.
      „Das Pferd steht auf dein Typen und das sagt doch alles, oder denkst du nicht?“, kicherte Harlen.
      „Eins nach dem anderen“, hob ich demonstrativ meinen Zeigefinger in die Luft, „Maxou braucht eine Decke.“
      „Und dabei brauchst du meine Hilfe?“, wunderte er sich.
      „Nein, aber ja. Irgendwie schon. Hier ist sonst niemand, der mir helfen kann und Erik wartet sicher schon“, stammelte ich. Meine Hände hatten sich wieder zu den Stangen begeben und blätterten abermals durch die riesige Auswahl, als wären wir in einem Reitfachhandel unterwegs. Bis ich entschlossen ein dickeres Stück Stoff herunterzog, beinah erschlagen von den Verschlüssen, duckte ich mich weg und knüllte es in meinen Armen zusammen.
      „Na dann los“, schmunzelte mein Bruder, der noch immer bei den Sitzmöglichkeiten stand und dem Hund hinter den Ohren kraulte. Elsa saß entspannt vor seinen Beinen.
      „Was wolltest du eigentlich in der Sattelkammer?“, musterte ich Harlen, als wir entlang des Flurs liefen, nacheinander erhellte das Licht unseren Weg. Noch bevor eine Antwort kam, stoppte er plötzlich und wie versteinert sah mein Bruder mich an. Deutlich intensiver blickte ich in seine Augen, die sich im nächsten Moment zu Boden senkten, ehe er wieder hochsah.
      „Der Hund ist aus dem Büro gelaufen und dann bin ich ihr nach“, antwortete er klar und deutlich. Langsam nickte ich einmal.
      „Und warum hast du sie nicht gerufen?“, wunderte ich mich.
      „Weil“, kurz überlegte Harlen, „ich ihren Namen vergessen hatte.“
      Erneut erhob ich das Kinn.
      In seinem Gesicht breitete sich eine sanfte Röte aus, die Wangen bis zu den Ohren reichte. Dann kratzte er sich am Kinn, ehe sich die Beine wieder in Bewegung setzten. Entschlossen griff ich nach seinem Arm und lehnte mich zu ihm.
      „Das mit dem Lügen üben wir aber noch mal“, flüsterte ich, bevor Harlen sich aus meinen Fängen befreite und wortlos hinunter die Treppen lief. Elsa folgte ihm treu, als würden die Tiere genau spüren, dass wir nie einen Hund haben durften. Unsere Eltern waren stets davon überzeugt, dass keiner von uns in der Lage war, diese Verantwortung übernehmen zu können. Heute stellt sich mir dabei die Frage, ob das Versagen für diese fehlende Eigenschaft nicht vielmehr an ihnen liegen würde.
      „Was machst du jetzt noch?“, hielt ich meinen Bruder erneut auf, als wir bei Erik ankamen. Er hielt das Pony am Strick. Ihre Augen waren geschlossen und uns beide schien sie nicht einmal bemerkt zu haben.
      „Sachen packen, ich muss schließlich auch raus“, motzte Harlen und verließ uns. Er war anders als gewohnt, umso mehr breitete sich Sorge über seinen Gemütszustand in mir aus. Ideen, was die Ursachen dafür sein könnten, hatte ich viele, aber ohne mehr zu erfahren, würde ich mir unnötigerweise Flausen in den Kopf setzen. Deswegen konzentrierte ich mich auf das vor mir liegende, oder viel mehr stehende.
      Ich legte die Decke auf Maxou und befestigte die Gurte am Bauch sowie an der Brust. Eine Nummer kleiner wäre passender gewesen, denn so hing der Stoff ziemlich weit über ihren Po. Aber der Wind vor dem Stall wirbelte kleine Steine auf, fegte von der einen Seite zur anderen und ich wurde etwas neidisch auf ihren Schutz. Durch den Reißverschluss schlich bei jedem Windzug kalte Luft hinein, was mich schaudern ließ.
      „Ich werde auch die Sachen packen gehen“, sagte ich zu Erik, nachdem wir wieder am Tor der Halle angekommen waren. Die eine Runde drumherum hatte gereicht, dass alles an mir zitterte, denn so schnell trocknete die Kleidung nicht in der Sattelkammer an meinem Körper. Er hatte sich zumindest nach dem Spaziergang umgezogen.
      „Fahre ich dann heute wieder nach Hause?“, fragte Erik, leicht stotternd in der Stimme.
      „Gute Frage“, seufzte ich, „das habe auch schon überlegt. Eigentlich hätte ich euch gern weiter bei mir, aber ich denke, dass Lina damit Schwierigkeiten hat.“
      Zustimmend nickte er und setzte sich wieder mit Maxou in Bewegung, die langsam wach wurde und gezielter die Hufe nacheinander abfußte. Für einen Flügelschlag beobachtete ich die Beiden, wie sie vertraut den Schotterweg entlangliefen, als wären sie seit Jahren ein Team. Innerlich erwärmte es mich, aber die schlottrigen Beine erinnerten zeigten mir, dass es nur eine Vorstellung war. Großen Schrittes hüpfte ich zur kleinen Hütte, die beinah malerisch zwischen den anderen im Kreis stand. Mein Garten war verblüht, kein einziges grüne Blatt hing noch an den Streichern, nur mein winterharter Lavendel schien durch das Braun hervorzustechen. Doch die Pflanzen konnte ich nicht mitnehmen, also würden sie wie die Wohnhäuser den Erdboden gleichgemacht werden.
      Ernüchternden blickte ich noch einmal aus der Tür heraus, bevor ich sie schloss. Sogleich sprang mit Trymr entgegen, der aus dem Schlafzimmer angerannt kam. Laut jaulte er auf und umkreiste meine Beine. Dieser Hund bellte nicht, oder eher ziemlich selten, stattdessen stieß er wimmerndes Heulen aus seiner Kehle heraus, als würde der Rüde minütliches Leid ertragen müssen. Mitleidig sah der Rüde hoch. Ich strich ihm über den Kopf und kniete mich herunter, als er sich auf den Boden warf, um am Bauch gestreichelt zu werden. Der Schwanz wischte über die Holzdielen.
      “Ich muss mich umziehen”, erklärte ich ihm einige Minuten später und lief hinüber zum Badezimmer. Die nasse Kleidung hing ich an der Handtuchheizung auf. Aus dem Kleiderschrank griff ich nach einem komplett sauberen und vor allem trockenen Outfit, dass auch Balsam für meine Seele war. Ich sah mich im Zimmer um, entschied mir erst einmal einen Kaffee zu kochen, bevor ich mir eine Strategie überlegte, wie ich am klügsten vorgehen sollte.
      Dampfend stand das Heißgetränk auf dem Tisch und kühlte ab, also holte ich vom Schrank die leeren Umzugskisten herunter. Seit Jahren lagerten sie dort oben und warteten auf ihren Moment. Eigentlich hoffte ich, dass sie irgendwann an einen neuen Besitzer übergeben werden würde, doch falsch gedacht. Nur mit einem Stuhl war es mir möglich ansatzweise die Pappe greifen zu können und dass Trymr neugierig neben mir stand, breitete noch mehr Sorge aus, dass ich auf ihn fallen könnte. Es blieb bei der Vorstellung daran, auch wenn mir die verbeulten Kartons herunterfielen. Einen nach dem anderen faltete ich auf und begann die Gegenstände einzupacken, die ich in nächste Zeit eher weniger benötigen würde. Dazu zählte vordergründig meine Dekoration, die es zwar wohnlicher machte, aber keinen hohen Stellenwert mitbrachte. Auch vieles vom Geschirr legte ich in Zeitungspapier ein und legte es in den Kartons ab. Handtücher fanden ebenfalls ihren Platz darin. Bindend von Minuten waren die ersten Kisten voll und langsam lichtete sich alles. Natürlich blieb mir auch der Gedanke nicht fern, wohin mit den normalen Möbeln, aber da diese zur festen Einrichtung gehörte, sollte es nicht meine Sorge sein.
      “Ich bin gleich wieder da”, sagte ich zum Hund und griff mir eine Jacke, um mir aus dem Büro den Schlüssel vom Radlader zu holen. Einen Teufel würde ich tun und alles einzeln hinüberzuschleppen! Eine Kiste nach der landete in dem geräumigen Konferenzzimmer, das Tyrell in den vergangenen Tagen unbemerkt zu einem Schlaf- und Wohnraum umgebaut haben muss. Die anderen Zimmer dem Flur entlang waren auch umgestaltet worden, sodass alle Angestellten ihren Platz fanden und auch Lagerraum zur Verfügung stand.
      Als ich aus der Schaufel des Laders die letzte Kiste nahm, saß plötzlich Lina verloren auf dem linken Bett, zuvor hatte dort ein Einhorn-Plüschtier gesessen. Möglichst auffällig versuchte neben ihr den schweren Karton mit den Küchenutensilien an meinem Bett abzustellen. Laut klimperten die Konserven an den Töpfen, aber nicht mal ein Auge zuckte. Aber ich versuchte ihr noch etwas Ruhe zu geben und den Radlader an seinen Platz zurückzubringen. Entlang des Flurs folgte ich der Notausgangbeschilderung, stampfte die Holzstufen herunter und startete das Fahrzeug. Knatternd lief der Motor an. Ungewöhnlich leer traf ich die Wege des Hofes vor, nicht einmal ein Einsteller hatte sein Auto auf Parkplatz. Einsam stand dort nur das Coupé meines Freundes, und er daneben. Warte? Wieso stand Erik bei seinem Auto? Mitleidig saß Trymr bei ihm und sah in meine Richtung, als ich aus dem Sitz des Radladers sprang. Laut knirschte der steinige Weg unter meinen Füßen und verstummte erst, als bei Erik stehen blieb.
      “Wo willst du hin?”, wunderte ich mich. Seine Hand griff nach meiner und führte sie hoch zu seinem Mund, umgehend gab er ihr einen Kuss. Die Verwunderung klang nicht ab, viel mehr wurde sie stärker. Auf meiner Stirn bildeten sich tiefe Furchen, denen es nur an Wasser mangelte und dann könnten sie dem Suezkanal eine ernsthafte Konkurrenz darstellen.
      “Eigentlich wollte ich dich überraschen”, sprach er selbstsicher und löste sich von meiner warmen Hand, die zuvor noch in den dicken Handschuhen steckten, “Chris hatte angerufen und mir gesagt, dass Fredna abgeholt werden will. Also wollte ich das rasch machen und dann mit euch beiden etwas Essen gehen.”
      “Dann muss ich mich entschuldigen, ich möchte nicht”, seufzte ich und zog mir die schwarzen Fäustlinge wieder über. Der Wind tobte eisig über den Parkplatz. Es gab keine Bäume oder andere Widerstände, die ihm Einhalt bieten konnten. Stattdessen zische er ein Windhund an mir vorbei, auch das Trymr unregelmäßig in die Leere schnappte, untermalte diese Metapher. Lächelnd zuckten meine Lippen.
      “Soll ich was von Unterwegs mitbringen?”, schlug Erik als Nächstes vor, was ich ebenfalls verneinte und schließlich beließen wir es dabei, dass er seine Tochter abholte und dann erst einmal unterwegs sei. Ich nahm den Höllenhund zu mir, drehte um und er folgte. Nach einem prüfenden Blick über die Schulter, liefen wir durch das Tor wieder in die Halle, zurück zu Lina. Vor mir fand ich sie noch immer erstarrt auf dem Bett. Entgegen allen menschlichen Sitten rannte Trymr schwanzwedelnd zu ihr und machte vor ihr Yoga. War er damit der nach vorn schauendem Hund? Belustigt von dem Gedanken verließ Luft meine Nase und ich schüttelte mich. Er konnte sie nicht aufhören zum Spielen aufzufordern, schien zu überlegen nach ihrem Kuscheltier zu schnappen, aber entschied sich doch aus einem meiner Kartons einen Pullover. Wie mit einer Trophäe im Maul bot er ihr mein Kleidungsstück an, wobei der Schwanz unaufhörlich wedelte.
      “Oh, wo kommt ihr den auf einmal her?”, fragte Lina irritiert, “Ich habe euch ja gar nicht kommen gehört.” Sie wirkte ein wenig benommen, wie, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht und blinzelte einige Male, bevor sie wieder ganz in der Gegenwart angekommen zu sein schien.
      “Aus der Tür”, sagte ich und zeigte dabei auf die mit Milchglas besetzte Holztür, die halb offenstand, “ansonsten war ich vor ungefähr zehn Minuten schon mal da, wollte dich nur nicht stören b-bei … dem, was auch immer du gerade tust.” Erneut drang ein Laut der Verwunderung aus ihrem Mund, bevor sie mit etwas Verzögerung eine Antwort murmelte: “Ähm, du störst nicht … ich war gerade nur in Gedanken.” Beiläufig zupften ihre Finger an den winzigen Flügeln ihres Plüschtiers herum, womit sie auch die Aufmerksamkeit des grauen Monsters bekam, welches ihre Finger genaustens beobachtete. Nicht, dass sie nun doch mit ihm spielen wollte.
      “Hier ist es auch wirklich trist”, sah ich mich weit in dem Zimmer um und sprach viel mehr zu mir als zu ihr. Die Betten waren bestimmt Queensize, aber auf jeden Fall für zwei Personen gedacht. Zumindest würde Trymr ausreichend Platz haben. Gegenüber der Tür hing ein großer Fernseher und darunter eine große Kommode. Hier und da standen kleine Regale sowie ein Tisch mit vier Stühlen, kein Vergleich zu den Zimmern an der Privatschule in London. Lina schwieg. Zustimmend nickte ich noch ziemlich unbewusst und zog meine Schuhe aus. Dann begann ich interessiert, die Schubladen der Kommode zu durchsuchen, als suche ich etwas Bestimmtes. Alle waren leer, nicht anders als erwartet.
      “Vielleicht sollten wir noch einige Pferde bewegen und nicht noch mehr Zeit verschwenden”, sah ich nachdenklich zu ihr hinüber. Ich hatte mich mittlerweile ins Bett gelegt und zuvor einige Kleidungsteile in das Regal einsortiert. Trymr lag neben mir, den Kopf auf meinem Brustkorb abgelegt. Leise schnaubte er.
      “Ja, das ist sicherlich eine gute Idee. Die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein”, stimmte Lina mir zu, die, nachdem sie durch das Zimmer gewuselt war, ein wenig lebendiger wirkte. Das Plüschtier, welches beim Betreten noch in ihren Händen gelegen hatte, thronte mittlerweile zwischen ihren Kissen und auch sonst hatte sie einige wenige persönliche Dinge im Raum platziert. Aus der Hosentasche zog ich mein Handy hervor, öffnete die Verwaltungsapp des Hofes und scrollte durch die Liste unserer Pferde. Schnell fand ich den richtigen Kandidaten.
      “Wollen wir zusammen in den Wald?”, fragte ich vorher, bevor ich die endgültige Entscheidung traf.
      “Ja, klingt gut”, entgegnete Lina und unterstütze die Aussage mit einem Nicken.
      “Ich werde mit Dustin fahren. Der ist entspannt. Du bist sicher nicht dafür zu begeistern, oder?”, bestätigte ich in meinem Menü und stand auf. Aus dem obersten Karton leuchtete die dicke graue Reithose mir entgegen. Entschlossen nahm ich sie und wechselte meine Jogginghose ein. Trymr spitze gespannt die Ohren, sprang aus dem Bett heraus und wartete geduldig an der Tür.
      “Da denkst du ganz richtig. Auf die Gefährte kann ich gerne verzichten”, antwortete sie, ohne dass eine Regung auf ihrem Gesicht zu erkennen war.
      “Na gut”, zuckten meine Schultern. Wie ich bereits vermutete, lag Spannung in der Luft. Die nicht ausgesprochen Worte schwebten um uns, wie die Mückenplage im Sommer es nach unserem Blut durstete. War es falsch, dass ich in dem Augenblick Angst bekam vor den kommenden sechs Monaten? Etwas sagte mir, dass es nur der Anfang des Wahnsinns sein würde, der nicht so schnellenden würde. Am Haken neben der Tür wartete der dicke Wintermantel von Erik, als würde nach mir schreien, lief ich zu ihm, klemmte ihn mir unter dem Arm und sah zu Lina, die hektisch in den Kartons wühlte. Bis sie schließlich einen scheußlich rosafarbenen Pullover in die Luft hielt und darüber hinweg zur mir schielte. Peinlich berührt schluckte ich. Warum es mir peinlich war? Jahre, beinah Jahrhunderte konnte man Wetten abschließen, dass ich immer ein solches Oberteil trug in der Kombination zu einer engen schwarzen Leggings und links einem Thermobecher in der Hand. An schlechten Tagen trug ich noch eine Sonnenbrille – also jeden Tag.
      “Komm Prinzesschen, die Sonne steht nicht ewig am Himmel”, fauchte ich ungeduldig.
      “Ist ja gut, ich komm ja schon”, entgegnete sie beschwichtigend, während sie sich den Pulli überwarf, bevor sie sich noch eine blaue Winterjacke von ihrem Bett schnappte.
      Einen klaren Vorteil musste man dem Konferenzzimmer zusprechen. Der Weg war so kurz wie nie zuvor zu den Pferden, denn im riesigen Gebäude war nicht nur die Reithalle zu finden, sondern auch die beiden Häuser mit den Sattelkammern und Zimmern. Aufgeregt ragten einige Pferdeköpfe durch die Öffnungen der Boxen, nur Maxou und Redo schienen nicht sonderlich viel von dem Durchgangsverkehr zu halten. Als hätte es Dusty bereits geahnt, wieherte er fröhlich uns an. Seine Laute schallten bis nach draußen, wo er prompt mehrere Antworten erhielt. Lina hingegen sah sich unsicher um, drehte und wendete sich, als gäbe es kein einziges Pferd auf dem astronomischen Gestüt.
      “Nimm Walker”, drückte ich ihr willkürlich ein Halfter in die Hand, das zufällig auf einer Bank neben uns lag. Sie nickte und lief zu dem schneeweißen Hengst, der in der Box neben Dusty stand. Interessiert beäugte den Zwerg, aber folgte willig aus der Unterbringung. Ich hatte natürlich kein Halfter, was im Bedacht der Umstände jedoch relativ gut sein würde. Entgegen meinen Sinnen legte ich nur meinen Arm um seinen Kopf und er folgte. Dusty war der Tophengst auf unserem Gestüt, und nein, es war kein Wunder, dass ich ihn mir einfach nehmen durfte, wie es mir gefiel. Nicht der nur der Tatsache geschuldet, dass ich hier arbeitete, gab es, bis auf wenige Ausnahmen, kein Pferd, dass nicht jeder bewegen durfte. Natürlich hatte jeder seine Lieblinge, worauf wir Acht nahmen.
      Der Hengst war blütig, voll blütig, zumindest halb. Seine Mutter zählte bereits in jungen Jahren zu den Geheimtipps in den Wettbüros, wie Tyrell gerne erzählte an langen Abenden, und sein Vater war ein geschätzter Traberhengst, der internationale Erfolge erzielte. So führte Dusty die Bilanz seines Papiers fort. Vermutlich vermutete man nun, dass der braune Hengst mit dem hellen Bauch nervös in der Putzgasse trat und dabei ständig den Kopf hochriss, doch dem war nicht so. Bereits in Deutschland hatte sich Tyrell das Pferd zugelegt, damals noch als Jährling und für teures Geld aus Kanada importiert. So lernte er von Anfang an die Ruhe kennen, wie es ein großer Teil unserer Pferde war. Ja, ich gebe zu, die Pferde im Reitverein kennenzulernen war ein Kulturschock. Überall hampelten sie herum, konnten nicht einmal für zwei Minuten ruhig in einer Stallgasse stehen. Genauso hektisch wurden sie auf dem Reitplatz und egal was, hysterisch sprangen sie weg.
      “Kannst du mir kurz helfen?”, fragte ich Lina, die Walker bereits gesattelt hatte und nur noch auf mich wartete. Dusty hatte schon das Geschirr um mit einer einseitigen Scheuklappe und an den Beinen trug er Bandagen, die ich viel mehr zu Übungszwecken gewickelt hatte. Freundlicherweise griff sie da bereits ein, als ich ein reines Chaos mit den Fleece-Bändern verursachte. Natürlich sorgte ich damit für Unterhaltungsstoff und ich würde mich nicht wundern, wenn Lina meine Idiotie auf Bildern festhielt. In dem Augenblick benötigte sie allerdings dafür den Sulky gleichzeitig durch Schlaufen zu ziehen. Dusty konnte dabei unruhig werden, deshalb wollte ich es lieber nicht machen. Von der Seite hatte ich bereits meinen eigenen hervorgeholt, ja, ich hatte einen eigenen Sulky, aus dem sogar mein Name stand, mein ganzer Name. Fragt lieber nicht.
      “Natürlich”, antworte sie hilfsbereit, wenn sie auch den Bruchteil einer Sekunde zögerte, “Was genau soll ich tun?”
      “Du musst das hier”, zeigte ich auf die Schnalle am Gurt, “hier durchziehen, dann klickt es und zum Schluss noch hier befestigen”, demontierte ich weiter. Ein zweites Mal erklärte ich es langsamer, dann begriff sie es. Der Sulky war leicht, sogar noch leichter als die Standardmodelle, denn wie man mittlerweile schon von mir wusste – Mit Standard gab ich mich nie zufrieden. Tyrell rollte damals mit den Augen, als ich ihm den Bestellschein gab und eine horrende Summe am Ende stand. Nacheinander klackten die Verschlüsse ein, dabei zuckte Dusty kurz, aber schenkte mir das nötige Vertrauen, um nicht einen Sprung nach vorn zu machen. Freundlich bedankte ich mich bei Lina, die Walker vorsorglich aus der Gasse führte und vor dem Gebäude wartete. Von dem Stuhl nahm ich mir noch die Decke, die ich mir aus der Sattelkammer mitgenommen hatte und prüfte die Gurte wohlweislich. Lina hatte alles richtig gemacht und auch die restlichen Schnallen warn fest. Also schwang ich einmal die Leinen und Dusty lief fröhlich voraus. Das hole Geräusch der Hufeisen auf dem Beton wandelte sich zu einem kurzen und knirschenden, dabei setzte ich mich auf den Sitz und sortierte erst einmal meine Führung. Erst danach umwickelte ich mich mit der gefütterten Decke. Nur noch ein Kaffee fehlte, dachte ich und ließ den Hengst selbstbestimmt vorlaufen. Eins meiner Beine hatte ich mit auf dem Sitz, während das andere mich stützte. Im selben Tempo ritt Lina neben uns her.
      “Wie kommt es eigentlich dazu, dass ich dich das erste Mal auf dem Ding da sehe, obwohl das offensichtlich dein schickes Gefährt ist?”, fragte sie neugierig nach einer ausgiebigen Betrachtung des Gespanns.
      “Das?”, fragte ich scheinheilig und strich mit einer Hand über das Gestellt. Dann bremste ich Dusty urplötzlich ab. Lina konnte nicht so schnell auf meinen Halt reagierten und drehte den hellen Hengst wieder um.
      “Wir haben Trymr vergessen”, sprach ich entsetzt und pfiff zweimal sehr laut, so wie Erik es mir gezeigt hatte. Da der Hof nur einige Minuten hinter uns lag, sollte das Tier ohne Weiteres meiner Aufforderung nachkommen. Tatsächlich bog er an den Bäumen entlang ab und kam in Windhundmanier angezischt. Seine Zunge schlackerte dabei, amüsiert lachte ich.
      > Bra gjort
      “Gut gemacht”, lobte ich ihn und gab ihm eins der Pferdeleckerlis. Grundsätzlich verschlang das Ungetüm alles, auch die Bananebricks. Dann setzte ich Dusty wieder in Bewegung und setzte das Gespräch mit Lina fort: “Also wo waren wir? Ach ja”, unentschlossen atmete ich aus, “offensichtlich ist das meins, wie du schon festgestellt hast und ich besitze ihn, weil ich noch bis ungefähr Mai, oder es könnte auch Juni gewesen sein, Rennen gefahren bin.”
      Mit einem Kopfnicken nahm Lina dies zur Kenntnis und setzte zu einer weiteren Frage an: “Warum fährst du mittlerweile keine Rennen mehr?” Der helle Hengst unter ihrem Sattel kaute entspannt auf seinem Gebiss und pustete kräftig die Luft aus seinen Nüstern.
      “Ist das nicht offensichtlich?”, schielte ich zu Trymr hinüber, der aufgestellte Schwanz nebenher trabte. Lina zuckte mit den Schultern.
      “Ich kann schlecht auf tausenden Hochzeiten tanzen und als die Einladung nach der Musterung kam, stand für klar fest, dass Reiten mehr Zukunft hat als Rennen fahren”, setzte ich mit melancholischem Unterton fort.
      “Verstehe. Also die Art von Lebensentscheidung, die wohl für jeden früher oder später ansteht”, entgegnete Lina, “Vermisst du es manchmal oder macht es dir nicht aus, nur noch im Sattel zu sitzen?”
      “Du stellst schwierige Fragen”, murmelte ich und schwieg. In meinem Kopf entbrannte ein Feuer. Gefolgt in der Bahn der Nervenstränge schnappte die imaginäre Hand verschiedene Zettel, die aus den Wochen stammten, als ich Tyrell mitteilte, dem Reitverein beizutreten. Ein anderer stellte eine wirre Zeichnung dar, die nicht genauer beschreiben konnte als viele Kreise und Striche, die im ersten Moment keinen Sinn ergaben. Lange schwieg ich noch, bis Dusty es nicht abwarten konnte, die nächsthöhere Gangart einzuschlagen. Locker trabte der Hengst an und auch Lina folgte uns mit Trymr. Einige Schritte bot er im Tölt an, aber streckte den Kopf etwas weiter nach unten und trabte aus. Vor mir lag nur der Sand, während auf beiden Seiten die Bäume vorbeizogen. An meinen Ohren vibrierte kalt der Wind. Gezielt atmete ich ein und wieder aus, zählte im Kopf die Sekunden und versuchte mich nur auf das Pferd zu konzentrieren. Zwischendurch sah ich nach links, um zu schauen, ob Trymr hinterherkam, aber klar. Dem Windhund lag das Laufen im Blut, so wie unseren beiden Pferden. Zur vor der Küste parierten wir wieder durch in den Schritt. Das Meer war rau und wild schlugen die Wellen gegen den Granit tief unten. Dusty drehte die Ohren und wippte mit dem Kopf.
      “Ich denke, es war eine Frage der Aufmerksamkeit”, seufzte ich leise, aber noch hörbar für Lina, “die Rennen waren die reinste Hölle und provozierten förmlich, dass etwas Dramatisches passiert. Aber jetzt, ein entspanntes Training oder generell, das Training machten Spaß. Wenn ich mit der Dressur fertig bin, spricht aber auch nichts dagegen eine Runde zu drehen.”
      Schmunzelnd sah ich zu ihr hinüber. In ihren glasigen Augen funkelte es friedlich, gerichtet auf die wogende See. Es wirkte beinah so, als würde das Wasser in allen Zügen ihren Gemütszustand widerspiegeln. Ich versuchte aber für den einen Tag nicht nachzufragen, sofern sie das Gespräch nicht selbst anbot. Dafür hatte ich selbst genug zu verarbeiten, um mir noch die Last anderer aufzunehmen. Lina antwortete nicht sofort, sodass nichts weiter zu hören war als das Rauschen unter uns und der Wind, der an unserer Kleidung zerrte.
      “Das glaub ich dir, dass das wahnsinnig anstrengend und risikoreich ist”, sprach sie schließlich, die Augen noch immer auf die hellen Schaumkronen geheftet, “das ist die Dressur schon ein wenig berechenbarer.”
      “Und, wie denkst du, wird es für dich weitergehen? Möchtest du dich weiterhin im Hintergrund aufhalten?”, überlegte ich laut, um einige der irrealen Mücken um uns zu verscheuchen.
      “Ich denke, der ganze Turnierkram ist nichts für mich. Aber so wirklich weiß ich nicht, wie es weitergehen soll”, antwortete sie nachdenklich, “Ich habe doch nie etwas anderes gemacht als das hier.” Sanft strich sie Walker bei den letzten Worten über den Hals, der kurz die Ohren zu ihr richte, bevor sie sich wieder in alle möglichen Richtungen drehten.
      “Es zwingt dich auch keiner eine Entscheidung zu treffen, aber wenn das Gestüt nun umgebaut wird, eröffnen sich vielleicht mehr Möglichkeiten für dich”, nickte ich zustimmend, vertraute darauf, sie ihrem Bauchgefühl folgen wird. Für sie und Ivy gab es noch viele Jahre, aber wenn ich ehrlich war, für mich nicht. Irgendetwas in meiner Magenregion drückte unsanft auf die Atmung, ja, die Zeit rannte.
      “Ja, mal sehen, was sich so ergibt”, entgegnet sie und ein sanftmütiges Lächeln huschte über ihre Lippen, “und du bleibst jetzt bei der Dressur oder testest du wohl möglich noch, ob Springen nicht auch was wäre, denn du scheinst ja schon ziemliche viele Sparten des Pferdesports getestet zu haben?”
      “Ziemlich viele”, wiederholte ich lachend. Dann verstummte ich schulterzuckend. Mein Blick schweifte von der See wieder zu Dusty, der weiterhin ruhig im Schritt vorwärtslief. Auch bei dem Hund hatte sich nichts geändert, noch immer trabte er nebenher, zwischendurch senkte sich der Kopf in den Sand. Seine Nase und einige der Haare an der Schnauze hatten den Dreck an sich genommen. Dann antwortete ich Lina weiter: “Viele waren das nicht, außerdem ist Abwechselung wichtig. Meine Tante besitzt einen Isländer, auf dem ich reiten gelernt habe, mit dem ich alles getan habe. Aber ich muss zugeben, der Reiz für Turniere bestand schon lange. Die Gangturniere sind jedoch nicht durch ihre Preisgelder oder Herausforderung bekannt, deswegen taste ich mich langsam an die höheren Dressurlektionen an und ja, das tue ich jetzt wohl. Ich lasse es mir nicht nehmen, weiter so viel wie möglich auszuprobieren.”
      “Ich finde es ziemlich cool, dass du so konkrete Ziele hast, so überzeugt wäre ich selbst auch mal gerne”, sprach Lina anerkennend,” Hast du mit Maxou eigentlich vor in Zukunft Turniere zu gehen?
      Über die Tatsache, dass meinem Leben ein konkretes Ziel sprach, konnte ich nur bestürzt lachen. Seufzend sortierte ich die Leinen in der Hand, die locker über Dusty hingen und dabei schon schaumige Schweißflecke verursachen, vielleicht hätte ich ihm eine Ausreitdecke darunterlegen sollen, überlegte ich mitfühlend.
      Die Küste ließen wir zunehmend hinter uns und kehrten wieder, nach einem Stück auf der Trainingsbahn, auf den Hauptweg in den Wald. Willkürlich knirschte und knarrte es aus dem Unterholz um uns. Aufmerksam untersuchte der Hund den Wald, rannte vor und wartete auf uns. Unruhig begann auch Dusty die Schritte zu verkürzen und schwingenden Kopf sich auf das Gebiss zu legen. Der Genosse neben uns blieb ruhig, obwohl Walker für gewöhnlich ein wildes Durcheinander verursachten. Wieder knackte es laut, doch dieses Mal sehr laut neben uns. Trymr bellte laut auf und ein Knurren erwiderte sich. Entschlossen hielt ich. Die Leinen behielt ich in der Hand, aber stieg vom Sulky, um das Dickicht überblicken zu können. Zwischen dem Moos und einem umgefallenen Baum lag ein verletzter Hund, eingeklemmt unter einem Stein. Vielleicht vier Monate alt, oder jünger, viel hatte er, oder sie, zumindest nicht auf den Rippen. Sein Fell nass und die Pfoten ebenso dreckig. Hilfesuchend starken mich zwei trübe braun-orange Augen, Trymr verstummte und ich hörte das Wimmern des Tieres.
      “L-Lina”, stammelte ich und versuchte mit meinem Blicken zu deuten, dass sie herkommen sollte. Fragend blickte sie mich an, glitt dennoch aus dem Sattel, nachdem sie keine weitere Erklärung bekam. Mit Walker im Schlepptau trat sie neben mich und folgte meinem Blick. Entsetzt weiteten sich ihre Augen, als sie das mitleidig aussehende Tier erblickt und das herzzerreißende Fiepen wurde lauter.
      “Oh, das arme Tierchen. Wir müssen ihm irgendwie helfen”, sprach sie und blickte mich an. Ach, man, das hätte ich gar nicht vermutet, sprach die böse Stimme in meinem Kopf. Kurz zischte ich mich selbst an und versuchte eine Lösung zu finden, was ich mit Dusty machen würde.
      “Ja, hier”, sagte ich und gab ihr die Decke von meinem Sitz im Tauschen gegen Walkers Zügel. Vorsichtig kämpfte sich Lina durch das Dickicht hindurch, bis sie schließlich bei dem Welpen angelangt war, dessen Laute immer lauter wurden.
      “Hallo kleiner Freund”, hörte ich sie ruhig und sanft zu dem Tier reden, während die sich langsam hinhockte und die Hand nach ihm ausstreckte. Eingeschüchtert schnupperte er daran, machte aber keinerlei Anstalten nach Lina zu schnappen.
      “Dann wollen wir mal sehen, wie wir dich hier herausbekommen”, drang ihre Stimme halblaut durch das Dickicht. Von meiner Position aus sah ich nicht genau, was sie tat, aber wenig später stand sie dort, das kleine, nasse Fellbündel, welches in die Decke eingewickelt war, auf dem Arm. Das Wimmer war verstummt, dafür sah ich selbst auf die kurze Distanz wie sehr der kleine Hund zitterte. Ob vor Kälte oder vor Angst, war nicht eindeutig, aber vermutlich war beides der Fall.
      “Am besten nehmen wir jetzt den kürzesten Weg zurück, der Kleine hier sollte ins Warme und hungrig ist er sicher auch”, sagte Lina, als sie wieder neben mir auf dem Weg stand. Trymr stand schwanzwedelnd vor ihr und beschnupperte neugierig das Bündel auf ihrem Arm, aus dem sich ihm eine im Vergleich recht kleine Schnauze entgegenstreckte. Verwirrt trat der Rüde zurück und versteckte sich zwischen meinen Beinen.
      > Dat här är ett barn.
      “Das ist ein Baby”, flüsterte ich ihm zu und strich ihm über den Kopf. Dusty hinter mir scharrte bereits mit dem Huf, aber ich konnte ihn nicht daran hindern.
      “Ich nehme ihn mit auf den Sitz, wird am einfachsten sein”, gab ich Lina ihre Zügel zurück. Dann setzte ich mich richtig hin, weich polsterte der Wagen mein Fliegengewicht ab. Das Knäuel legte sie mir auf den Schoß und durch den Schutz zwischen meinen Beinen, konnte er auch nicht verrutschen. Hell leuchteten mich wieder seine Augen an, die eindeutig ängstlich wirkten. An einem seiner dunklen Ohren fehlte ein Stück, das sich entzündet haben wird. Die Haut wirkte gerötet und leicht verkrustet, aber an sich sah es so aus, als wäre die Wunde schon älter. Zwischen all dem Dreck auf der Nase sah ich kleine schwarzen Flecken, die zur Musterung des Fells gehörten, denn bis hoch zu den Ohren war er weiß. Mittlerweile hatte ich nachgeschaut, welchem Geschlecht er angehörte. Fred, ich denke, dass könnte der richtige Name für ihn sein.
      Nach einem weiteren Stück im Trab kamen wir flott am Hof an. Langsam, aber sicher verabschiedete sich die Sonne am Horizont hinter den Bäumen und auf dem Parkplatz vermehrten sich wieder die Fahrzeuge, nur von Eriks war nichts zu sehen. Teils erleichtert, teils bestürzt, seufzte ich und stieg vor dem Stall aus dem Sitz. Während Fred den Luxus meiner Decke genoss, fror ich trotz des dicken Wintermantels.
      “Da seid ihr ja”, nickte und Tyrell zu, der Fried an ihrem Blumen Halfter führte.
      “Schau mal”, hielt ich ihm glücklich die Decke hin. Sofort sprang auch unser Chef auf das niedliche Tier an, ließ ihn direkt die Hand beschnuppern. Trymr neben mir, empfand die Situation weiterhin als unseriös und trabte an uns vorbei in den Stall, suchte sich vermutlich seine Decke, die immer wieder woanders im Gang lag. Nun kam auch Friedi interessiert mit dem Maul näher. Laut prustete die helle Stute aus, worauf sich Fred tiefer im Stoff verhüllte. Umgehend verlor das Pferd sein Interesse und Tyrell brachte sie weg. Die Hengste wurden erst aufmerksam, als sie einige Meter entfernt lief.
      Im Stall legte ich das Knäuel neben Trymr ab, der sofort die Flucht ergriff und offenbar nichts mit dem kleinen Wesen zu tun haben wollte. Dieses lag zittrig an Ort und Stelle, was mich zumindest beruhigt das Pferd abspannen ließ. Dabei half Lina mir wieder die Stangen zu entfernen.
      “Ich würde Dusty gern als Erstes ins Rotlicht stellen”, sagte ich beim Betrachten seines triefend nassen Fells. Sie nickte nur beiläufig und lief los, um eine Abschwitzdecke zu holen. Ich konnte mich gar nicht auf eine Sache konzentrieren. Dusty leckte immer wieder an dem Holz herum, während Walker versuchte seinen Kollegen zum Spielen aufzufordern. Trymr lief unruhig die Gasse auf und ab, während der Kleine nun doch versuchte aus seiner gebauten Höhle zu fliehen. Und dann war doch Maxou einige Meter entfernt, die unaufhörlich am Gitter herum biss und damit furchtbaren Lärm verursachte. Ach, nicht zu vernachlässigen war Jonina, die zusammen mit vier Reitschülern unseren Platz besetzte. All diese Geräusche lösten einen dröhnenden Kopfschmerz aus und als noch mein Handy in der Hose begann zu vibrieren, wollte ich hier weg. Weg von der Belastung, zurück in meine Hütte, die inzwischen nicht mehr mein war. Genervt hob ich ab.
      “Hallo?”, ächzte ich genervt in den Hörer, aber wurde umgehend freundlicher, als ich Eriks Stimme hörte. In der Brust wurde es wieder leichter und ich konnte tief durchatmen.
      “Freut mich, dass du dich bester Laune erfreust”, scherzte er.
      “Ist gerade viel los”, überblickte ich erneut die Situation und begleitete Dusty zum Solarium.
      “Hast du schon mit Lina gesprochen?”, fragte er direkt.
      “Nein, ergab sich bisher nicht. Wieso?”, stammelte ich unsicher. Ehrlich gesagt, hatte ich daran auch gar nicht mehr gedacht und versuchte den einfachsten Weg, außerdem erschien es mir noch immer unangemessen zu sein, sie danach zu fragen.
      “Okay, ich bin so in”, stoppte er, während mehrfach ein notdürftiges Piepen ertönte, “dreißig Minuten da. Also bis gleich.” Dann verstummte mein Telefon. Welch ein unnötiges Telefonat, stellte die böse Stimme in meinem Kopf fest, die wieder von mir angezischt wurde. Trymr setzte sich zu dem Hengst unter die roten Lampen und genoss ebenfalls die kleine Wellnesseinheit.
      “Was genau ist eigentlich dein Plan mit dem Kleinen? Ich meine, man kann ihn ja schlecht einfach behalten. Vielleicht wird er ja vermisst oder so etwas. Ein Welpe kommt sicher nicht von allein in den Wald”, wand sich Lina an mich, die den schneeweißen Hengst gerade in eine Decke hüllte. So weit wie sie wieder dachte, hatte ich die Situation noch gar nicht überdacht. Außerdem waren auch für mich die Grundlagen des Landes unbekannt.
      “Gute Frage, erst mal bleibt er, denke ich”, dann überlegte ich noch, wie ich es Erik erklären sollte, aber dass wir einem hilflosen Tier halfen, sollte ihn wohl kaum stören, “aber vielleicht kann mein Kerl das besser beurteilen. Schließlich habe ich erst gestern den anderen Pflegefall organisiert”, schielte ich zu Maxou hinüber, die die unbeteiligten Stangen wieder in Ruhe ließ.
      “Wenn das so weitergeht, kannst du bald ein Tierheim eröffnen”, witzelte Lina und schob Walker ein Leckerli zwischen die Lippen, der es sogleich genüsslich verschlang.
      “Du bist gemein”, rollte ich beiläufig mit den Augen, suchte nach einer passenden Ausrede, um dem Gerücht entgegenzuwirken, aber nein. Es gab keine.
      “Entschuldigung, sollte doch nur ein Scherz sein”, nuschelt sie bevor sie sich auf den Weg zu Futterkammer machte, um dem Hengst sein Abendbrot zu holen. Er starrte ihr aufmerksam nach und auch Dusty spitzte die Ohren, als hintergründig der Ton von dem Müsli auf Gummischüssel traf. Ich bremste ihn ab, bevor er einen Schritt nach vorn setzte. Als mir plötzlich ein wichtiger Gedanke durch den Kopf schoss, setzte ich an zum Sprechen, verstummte allerdings wieder, unter dem Vorbehalt, dass Lina noch immer beschäftigt war. Nachträglich setzte ich einen Fuß nach dem anderen, die mich zu Maxou an die Box trugen. Die Stute drehte sich langsam um, legte die Ohren leicht nach hinten und musterte das Wesen, das die Frechheit besaß, sie beim Fressen zu stören. Dennoch blieb sie stehen und starrte mich an. Ihre großen Augen glänzten im indirekten Licht der Boxen, die um diese Uhrzeit noch eingeschaltet waren. Der Schweif pendelte langsam unter der Stalldecke, die ich ihr noch umgelegt hatte vor dem Ausritt. Je länger ich das Pony betrachtete, umso mehr bekam ich das Gefühl, dass mein Bruder recht behalten würde, auch, wenn sich das grundlegende Interesse an ihr in Grenzen hielt. Im Hinterkopf blieb der Gedanke, dass ich wohl möglich nicht mit ihr klarkam bei der Arbeit oder auch keine vollwertige Verbindung aufgebaut werden würde.
      “Da bist du ja”, stürmte ich erleichtert zu Lina, die überrascht vor mir stand, schließlich war sie nur für einen Augenblick verschwunden. Für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.
      Mit etwas zwischen Irritation und Belustigung in ihrem Ausdruck blickte sie mich an: “Wieso so ungestüm, ich war nicht mal zwei Minuten weg?”
      “Nein, das waren viel mehr”, hielt ich mich fest an ihren Schultern fest, als würde einer von uns sonst umfallen. In ihrem Gesicht spiegelte sich unverändert ihre Verwirrtheit. “Denkst du”, zog ich die Vokale unnötig lang, “dass Erik bleiben kann?” Ehrlich gesagt, wollte ich das gar nicht von ihr, denn viel wichtiger war es mir, wie sehr es an Absurdität grenzte, dass an dem Tag so viel passiert war. Außerdem fühlte es sich seltsam an mit meinem Pony, ich hätte gedacht, dass man deutlich mehr Glücksgefühle verspürt. Stattdessen war da nichts.
      “Ähhm … mir fällt jetzt nicht an, was dagegenspricht, also ja”, überlegte sie laut, ”Und das war jetzt so wichtig, dass du mich überfallen musstest?” Das Geräusch von Eisen, welches über den Boden kratze, erklang aus der Richtung der beiden Hengste. Lina ging auf den hellen Hengst zu, der ungeduldig scharrte und wies ihn zur recht, bevor sie ihm die Gummischüssel vor die Füße stellte.
      “Sicher?”, hakte ich ordnungshalber nach und stand, wie bestellt und nicht abgeholt in der Gasse herum. Förmlich sichtbar setzte ein Denkprozess bei ihr ein, der allerdings nur von kurzer Dauer war. Verunsichert, setzte sie schließlich zu einer Antwort an: “Ja? Das war doch schließlich keine Anfrage für die nächsten 6 Monate, oder doch?”
      “Sechs Monate am Stück? Nein”, lachte ich und überlegte, wie viele Tage dazwischen als Pause galten, um den Timer zurückzusetzen.
      “Na, dann kann er erst einmal bleiben”, lächelte sie großmütig.
      “Danke”, lächelte ich fröhlich und warf einen Blick auf unseren Jungspund, der mit seinen langen Beinen auf der Decke stand. Langsam begann sein Schwanz zu wedeln, als Trymr sind von der Rotlichtlampe zu ihm bewegte. Kurz schnupperte er an dem Zwerg. Freundlich quietschte er, suchte an der Bauchleiste des Rüden nach Zitzen. Daraufhin tippte ich Lina an, die sich gerade nach der Schale gebückt hatte, um sie dem Hengst wieder hinzuschieben. Sie wand sie zu mir um und als ich mit einer Geste zu den beiden Hunden zeigte, folgte ihr Blick meinem Finger.
      “Sieht danach aus, als hätte unser Findelkind Hunger”, äußerte sie eine Vermutung, die recht logisch erschien.
      “Was braucht es?”, sah ich mich Hilfe suchend im Stall um, “Stutenmilch, oder eher Fleisch?”
      “Ich bin jetzt kein Experte auf dem Gebiet, aber er sieht bereits alt genug aus, als dass er Fleisch fressen könnte”, beantworte sie meine Frage nachdenklich.
      Wieder nickte ich, nahm das getrocknete Rennpferd aus dem Licht und brachte ihn schnellstmöglich in seine Box zurück. Darin legte ich ihm wieder die Stalldecke um und schnappte mir von der Decke den kleinen Racker. Auf meinem Arm legte er sich auf den Rücken und wedelte mit seinem Schwänzchen, als ich den Bauch kraulte. Trymr folgte uns mit Abstand, wollte aber nicht ohne mich im Stall bleiben. Dumpf knarrten die Holzstufen hinauf zur Tribüne, über die man zu den Räumen kam.
      In der Küche standen schon alle wichtigen Gegenstände, darunter auch einige Notfallhundedosen, die ich vor geraumer Zeit gekauft hatte. Aus dem Oberschrank nahm ich einen kleinen Teller und betrachtete die beiden Hunde, die mir verliebt um die Beine strichen. Der Augenblick wirkte so unrealistisch. Ich stand mit einem Welpen und einem Höllenhund in der Küche. Hunden, denen ich für gewöhnlich aus dem Weg ging, berührten mich sehr nah und hatten sich sogar verdoppelt seit August. Dasselbe Phänomen, das mir mit Pferden passierte. Kopfschüttelnd grinste ich und machte dem Tier eine kleine Portion. Aus dem Krankenhaus wusste ich, dass man nach einem langen Hungern am besten klein anfangen sollte, da wir keinerlei über Fred hatten, musste ich davon erst einmal ausgehen. Für Trymr machte ich auch eine Portion, damit er ihn nicht anfallen würde, wer weiß schon, was in dem Kopf des Ungetüms ablief. Er bekam zuerst und wartete friedlich, bis ich ihm erlaubte an den Napf zu gehen. Fred hingegen stürzte sich direkt auf seinen Teller und bindend weniger Sekunden, waren sie fertig. Vertieft in den Zwerg, bemerkte ich die Schritte hinter mir nicht. Dass etwas vor sich ging, verspürte ich erst, als Trymr nicht mehr in Reichweite war. Noch bevor ich mich verzweifelt umdrehen konnte, verspürte ich zwei sehr kalte Hände an meinem Hals. Ich überlegte, ob mein Herz noch schlug, denn meine Atmung stockte. Sanft drückten sich zwei Daumen gegen meine Kehle und unbewusst wurde mir klar, dass von der Person nichts Böses ausging, auch, wenn vermutlich sonst keiner wie ich dachte. Langsam bewegte ich mich aus meiner Hocke nach oben, vernahm die kleinen Pfoten des Tieres an meinem Schienbein durch den dicken Stoff der Reithose. Erst dann drehte ich mich zu meinem Verehrer um, offensichtlich ohne Kind zurückkam. Vertieft in seine leuchtenden Augen schlug mein Herz in hochfrequentierten Intervallen, die aus zweierlei herkamen.
      „Wo hast du dein Mini gelassen?“, fragte ich mit kratzigem Tönen.
      „Die ist bei Lina und dem hellen Pferd, das im Gang stand. Vermisst da etwa jemand Fredna?“, schmunzelte Erik über beide Ohren.
      „Nein, aber dann haben wir einen Augenblick für uns?“, tastete ich mich langsam meinen Händen an seinem Oberkörper entlang und verspürte wieder eine wohlige Wärme im Unterleib, die sich durch einen leichten Druck noch mehr verstärkte. Seine Kleidung hingegen war angenehm kühl, auch wenn er für meinen Geschmack noch zu viel davontrug.
      „Grundsätzlich hätte ich nichts dagegen einzuwenden“, flüsterte er in mein Ohr. Der Atem kitzelte an meinen Ohren, wodurch sich das Gefühl im Unterleib verstärkte.
      „Allerdings“, setzte er fort und unterbrach seinen Satz mit einem Kuss auf meine Wange, „du musst mir noch erklären, was du da angeschleppt hast Niedliches.“ Urplötzlich ließen seine Hände von mir ab und kniete sich zu dem Zwerg hinunter, der tapsig angerannt kam und dabei so stark mit dem Schwanz wedelte, dass der ganze Hintern wackelte. Erleichtert, dass er mir über das kleine Kerlchen keinen Vortrag hielt, atmete ich aus, verlor allerdings auch die Lust auf alles Weitere.
      „Wir haben ihn eingeklemmt im Wald gefunden“, erklärte ich, setzte mich dazu auf den gefliesten Fußboden, der mich mit der integrierten Fußbodenheizung wärmte.
      „Deswegen bist du so dreckig“, tuschelte er quietschend dem Tier zu, das vor Freude wohl gleich platzen würde.
      „Ja und Lina gesagt, dass du bleiben darfst“, versuchte ich wieder die Aufmerksamkeit zu bekommen, doch Erik sah mich nicht einmal an, handelte meine Aussage mit einem kurzen Nicken ab und sagte: „Weiß ich schon.“
      „Zwingt dich keiner, hierzubleiben“, zischte ich eingeschnappt und erhob mich, um den Raum zu verlassen. Er stand ebenfalls auf mit dem Hund auf dem Arm.
      „Du meinst das nicht ernst, dass du eifersüchtig auf einen Welpen bist“, sah er mich eindringlich an. Dabei lächelte ich aufgesetzt kurz auf und setzte meinen Weg fort. Hinter mir hörte ich noch seine Schritte, drehte mich jedoch nicht um. Nacheinander leuchteten die Lampen des Flures auf, bis ich mein Zimmer erreichte und deutlich zu laut die Tür hinter mir schloss. Seinen Mantel warf ich in die Ecke und ließ mich auf das Bett fallen, ohne die Schuhe ausgezogen zu haben. Im Raum war es bis auf das indirekte Licht in den Fußleisten dunkel und von dem riesigen Fernseher strahlte eine kleine rote Lampe an die Decke. In meinem Kopf zirkulierte es, als hätte ich ein Glas Wein zu viel getrunken. In meiner Brust schlug das Herz noch immer wie wild und als sich die Tür öffnete, ich eine männliche Silhouette erkannt, warf ich meine Handschuhe ich seine Richtung.
      „Geh weg, ich will allein sein“, jammerte ich weinerlich und hörte nur ein tieferes Lachen, als ich erwartet. Die Deckenbeleuchtung glimmte und sah, dass Tyrell den Raum betrat.
      „T-Tut mir leid“, stammelte ich beschämt und richtete ich aus dem Bett auf.
      „Schon wieder Stress im Paradies?“, scherzte er.
      Ich schüttelte den Kopf.
      „Na gut, wo ist denn Lina?“, fragte Tyrell ernster und schob sich einen der Stühle vom Tisch weg, um Platz zu nehmen.
      „Die kommt bestimmt gleich, Walker muss nur noch in die Box zurück“, erklärte ich wahrheitsgemäß, sofern meine Informationen noch aktuell waren.
      Während wir auf die warteten, fragte er mich über die Runde im Wald aus. Dass es auch schön war, wieder auf dem Sulky zu sitzen, vergaß ich nicht zu sagen. Als das Schweigen einsetzte, kam auch Lina dazu, mit Fredna an der Hand. Irritiert musste unser Chef das Kind, aber flott erklärte ich, dass es zu Erik gehörte. Er wirkte erleichtert, aber gleichermaßen noch irritiert.
      „Lina, setzt dich bitte“, sagte er zu ihr und zog den Stuhl neben sich zur Seite. Zögerlich trat sie zum Tisch. Stillschweigend und möglichst leise, legte sie ihre Jacke ab. Tyrell begann damit den Fernseher anzuschalten, um uns darauf die Entwürfe von dem neuen Gestüt zu zeigen. Überall musste gebaut werden und sogar ein Teil des Waldes für eine Ferienlandschaft gepfählt werden. Mit den Arbeiten sollte es beginnen. Bei den Isländern an der kleinen Reithalle wird ein riesiges Reitstadion erbaut mit einem noch größeren Reitplatz, als wir ohnehin schon haben. In Zukunft werden dort auch Fahrturniere stattfinden. Außerdem verblieb unser Stall für uns, während rundherum weitere Paddockanlagen und Boxen errichtet werden, sodass noch mehr Platz für Einsteller sei. Es besteht auch die Überlegung, dass die Trainingsbahn umgebaut wird zu einer vollwertigen Rennbahn, da es um das Gelände in Kalmar schlecht steht. Nervös kratzte ich an meinem Bein herum, solange bis es blutete. Ich spürte, wie meine Kehle trockener wurde und nur heiser fragte: “Wenn es um Kalmar schlecht steht, bedeutet das dann, dass der Verein umzieht?”
      Lina drehte sich zu mir um, dabei begannen ihre Augen so hell zu strahlen, dass ich kurz anzweifelte, dass ich recht behalten würde.
      “Richtig”, nickte Tyrell und vor Freude sprang sie vom Stuhl.
      “Das klingt wie Musik in meinen Ohren”, trällerte sie und ein Lächeln, so glückselig wie ich es den ganzen Tag noch nicht zu sehen bekam, erstrahlte auf ihrem Gesicht. Für sie war es vermutlich genau das, was sie hören wollte, um möglichst häufig Niklas zu treffen. Doch für mich stellte es das Gegenteil dar, besonders, wenn ich das morgendliche Gespräch im Kopf behielt.
      Tyrell erzählte weiter, davon, dass ein Bildungszentrum errichtet werden würde, dazu gehörte neben der Planung von verschiedenen Lehrgängen uns Seminaren, so etwas wie eine Privatschule, die allerdings nur am Wochenende und Ferien stattfinden soll, als eine Art intensiv Beschulung. Schon an den Plänen konnte man genau erkennen, welches Klientel damit angesprochen werden würde. Je mehr er uns präsentierte, umso weniger schien ich von der Sache überzeugt, nur die Tatsache, dass das nicht uns betreffe, erleichterte mich zutiefst. Hauptsächlich würden wir seine Pferde machen und die anderen Teile des neuen Gestüts wurden von anderen verwaltet. Außerdem stand die Planung ebenfalls nicht in seiner Hand, nur die Übergabe der Informationen an uns.
      Noch eine geschlagene Stunde verging, in der auch Erik mit dem Welpen wiederkehrte, bis alles uns genau gezeigt wurde. Meine Lider lagen schwer über meinen Augen und ich war vermutlich sogar mehrfach eingeschlafen, aber der kleine Zeiger rückte der Zehn auch immer näher. Lina grinste noch immer.
      “Ich finde, du könntest ein klein wenig mehr Begeisterung zeigen”, sprach sie munter, “Für dich hat es doch auch seine Vorteile, wenn du mit Lubi nicht mehr so viel durch die Gegend gurken musst.”
      “Ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, Nachteile”, seufzte ich entmutigt.

      © Mohikanerin // 99.351 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel tretton | 21. März 2022

      Schneesturm // Northumbria // Lubumbashi // Maxou // Satz des Pythagoras // HMJ Holy // Girlie // Millennial LDS // WCH’ Golden Duskk // Moonwalker LDS // Friedensstifter // Form Follows Function LDS // Binomialsats
      Minnie Maus // Ready for Life // HMJ Divine


      Niklas
      Zittrig schwebte mein Finger über den Kontakt, während ich in meinem Auto saß mit Chris, der bereits allerhand Arbeit darin investierte, dass ich auf keinen Fall auf den Hörer klicken würde. Aber mein Schmerz, die Enttäuschung und alles Schlechte kochte in mir, viel mehr fühlte es sich an, als würde mein Gehirn tausende Stromschläge bekommen und es gab nur diese eine Bewegung, um den Schmerz zu entfliehen. Es half nichts, ich musste dieses Gefühl loswerden. Chris griff nach meiner Hand.
      > Är du säker?
      „Bist du dir sicher?“, sprach er sanft, wie auf Wolken spürten sich seine Worte in meinen Ohren an, als läge ihm alles daran.
      Ich nickte, womit ich die Freiheit bekam.
      Für eine gefühlte Ewigkeit tutete es, bis eine unfreundliche Abhob und umgehend fragte:
      > Har du pengar?
      „Haben Sie das Geld?“
      Natürlich bejahte ich die absurde Frage und konnte auch direkt losfahren. Chris und ich stiegen in den Transporter um, doch ehe ich mich auf den Fahrersitz setzen konnte, nahm er mir die Schlüssel ab und stieg selbst auf der Seite ein. Also öffnete ich die Beifahrertür und nahm neben ihm Platz. Teilnahmslos blickt Chris zur Straße, schweigend. Seine Meinung zu dem Thema kannte ich bereits, äußerst ausführlich sogar.
      Bino war Smoothies erstes Fohlen, eins, das Opa noch gezogen hatte und geboren wurde, als ich mich auf einem anderen Kontinent befand. Von Bildern kannte ich den kleinen Hitzkopf, doch real sah ich ihn nie. Umso aufgeregter war ich, als ihn auf der Starterliste im März fand, allerdings nicht vor Gesicht bekam. Weitere Auftritte wurden mir verwehrt und er geriet meinerseits in Vergessenheit. Wie vom Blitz getroffen, erhellte er einen Traum in der Nacht. Natürlich kannte ich meine Stute gut genug, um bereits das Gefühl verspürt zu haben, dass sie nicht trächtig sei, die Bestätigung durch den Tierarzt brachte die schlechte Nachricht. Bis zum letzten Augenblick schwebte ein kleiner Funken Hoffnung vor dem inneren Auge, versuchte mich im Glauben zu belassen, dass alles gut sei. Dem war nicht so. Smoothie bekam kein weiteres Fohlen, zumindest nicht im nächsten Jahr.
      > Varför måste du ta hästen ifrån henne så brådskande?
      „Warum musst du ihr das Pferd unbedingt wegnehmen?“, fragte Chris. Seiner Tonlage zu Folge stellte er die Frage zum wiederholten Male. Ich überlegte. Es gab viele Antworten dafür, nur keine, die Sinn ergeben würde. Plötzlich wurden meine Hände schwitzig und in dem Fleece Pullover setzte Hitze ein.
      > Jag kan göra det, så jag köper Bino.
      „Ich kann es, also kaufe ich Bino“, antworte ich mit trockener Kehle und zog den Pulli aus.
      Viele hundert Kilometer lagen vor uns, die im Schweigen gehüllt waren. Natürlich erlangten die Zweifel ihre Vormacht in meiner Gedankenwelt. Bisher war es nicht an die Öffentlichkeit geraten, dass meine Erfolgsstute durch Arthrose den Ring verließ, ebenso versuchte ich es so lang wie möglich hinauszuzögern, dass es mit uns beiden vorbei war. Ein Funken bestand noch immer, dass alle Ärzte sich geirrt hatten und Smoothie dasselbe Pferd war, das mich vom ersten Tag an, in seinen Bann gezogen hatte. Natürlich, Form war weder ein hässliches Pferd noch untalentiert. Die Rappstute zeigte sich bemüht und motiviert, an manchen Tagen als zu perfekt. Sie wollte gefallen, strampelte sich einen ab, ohne dabei Widerstand zu leisten. Ich mochte sie, so viel war gesagt, aber Form konnte meinen Ansprüchen von einem Partner nur schwer entsprechen. Man könnte sagen, dass sie mir zu nett war. Mir wurde es zum Teil, die Herausforderung zu suchen und daran jeden Tag zu knuspern, eine Lösung für das Problem zu finden. So sorgte Form dafür, dass es keins gab oder ich viel mehr eins erschaffen musste. Seit einigen Tagen war ich nicht auf dem Hof, hoffte darauf, dass mehr Rennpferd aus ihr herauskommen würde, wenn ich in zwei Tagen wieder zum Training erschien.
      Leider hatte ich auch Gedanken daran verschwendet, Form wieder zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurückzugeben, jemand, der Freude an dem eifrigen Tier hatte und es genoss, Lektionen ohne Widerstand abzurufen. Andererseits mochte sie mich, wieherte mir im Stall zu, wenn meine Stimme ertönte und konnte genauso aufgeregt tänzeln wie Smoothie. Ebenso gut zeigte die Stute ihr Talent auf Sand. Die Versammlungen saßen punktgenau, aber in der Verstärkung konnte sie hektisch werden anstelle der gewünschten Rahmenerweiterung. Doch, war es das, was ich mir wünschte? Nein. Der Rappe entpuppte sich schon nach einigen Tagen als sehr untalentiert mit Hindernissen, kam im Gelände schnell ins Rutschen, verweigerte und fühlte sich nicht wohl mit Stangen. Mehrfach versuchte ich ihr die Natursprünge und auch normalen auf dem Platz näherzubringen, aber anders als für die Rasse typisch, scheute sie, zuckte zurück. Die sonst so nervenstarke und mutige Stute verwandelte sich von einer auf die nächste Sekunde in ein schwarzes Biest, das nicht einmal ich kontrollieren konnte. Somit stand die Entscheidung, dass sich Form nicht als Eventingpferd eignen würde.
      Noch lange wägte ich ab, ob ich überhaupt die Zeit hätte für drei Pferde, wovon eins bestens auf dem Lindö Dalen versorgt war. Ich entschied, dass ich es versuchen sollte. So gern ich meinen Beruf als Polizist ausübte, umso wichtiger waren mir meine Tiere und im schlimmsten Szenario würde ich kündigen. Meine Angst wandelte sich zur Vorfreude den jungen Hengst endlich persönlich kennenzulernen, als auf dem kleinen Monitor nur noch ein einstellige Kilometerzahl angezeigt wurde. Chris hatte sich auch mit der Situation abgefunden, wusste, dass er mich ohnehin nicht von meinem Plan abbringen könnte. Kurz warf ich einen Blick auf mein Handy, überlegte, Lina Bescheid zu sagen. Aber ich zögerte. Wortlos verschwand ich, hatte ihr keinerlei Chance gegeben mich zu unterstützen. Ich schämte mich und steckte es wieder zurück in die Hosentasche.
      Im gemäßigten Tempo fuhren wir eine Allee aus jungen Bäumen entlang und die Lichter, die zuvor so fern am Horizont glühten, wurden immer einladender und begrüßten uns förmlich. Es war stockdüster geworden, aber der Hof leuchtete im warmen Licht. Wenige Autos standen auf dem Parkplatz, doch menschenleer war es nicht. Chris hielt.
      > Kommer du?
      „Kommst du mit?“, fragte ich sehnsüchtig, doch stur schüttelte er den Kopf. Mit einem tiefen durchatmen sprang ich vom Beifahrersitz auf den befestigten Gehweg, folgte der Beleuchtung und kam bei einem gepflegten Stallgebäude an. Freundlich blickten mich einige Pferdeköpfe an. Ungefähr in der Mitte stand eine Dame, mit der wohl telefoniert hatte. Ein braunes Pferd mit großen Abzeichen stand hinter ihr, wippte müde mit dem Kopf und die Augen fielen immer wieder langsam zu.
      > Vi ska göra det här kort och gott, eller vill ni sitta på den igen?
      „Wir machen das kurz und schmerzlos, oder wollen Sie sich noch einmal draufsetzen?“, sagte sie. Ihre Tonart verriet mir bereits, dass sie mich so schnell wie möglich wieder loswerden wollte, sogar der Hengst schien nur wenig motiviert für irgendwas zu sein. Er hatte seinen Hinterhuf aufgestellt und der Kopf hing fest in den beidseitig befestigten Stricken.
      > Nej, jag tar honom direkt.
      „Nein, ich nehme ihn direkt mit“, stammelte ich, eher untypisch. Doch auf eine gewisse Weise kam ich mir nicht nur fehl am Platz vor, sondern auch ziemlich kindisch. Sie nickte und löste die Haken dabei. Unsanft kippte Bino nach vorn, fing sich jedoch rechtzeitig auf. Die Ohren drehte er nach hinten. Am unteren Ring befestigte die Dame einen Strick und drückte ihn mir umgehend in die Hand. Sie wollte mich wirklich loswerden.
      Zusammen liefen wir zum Auto. Aus der Sattelkammer hatte sie seinen Sattel und Trense geholt, packte es im Transporter auf die Befestigung, ehe ich aus meiner Hosentasche die dreihundertsechzigtausend Kronen herauszog. Die bunten Scheine waren zerknüllt und teilweise angerissen, wie Geld nun einmal aussah, wenn es Tagein, Tagaus mit der Hose getragen wurde. Schockiert sah sie an mir hoch, aber packte das Bündel in ihre Jacke.
      Bino stand im Transporter und zupfte vergnügt an dem Heunetz, während wir im Inneren den Vertrag fertig machten und ich die Papiere überreicht bekomme. Der Impfstatus erscheint auf den ersten Blick vollständig. Kurz angebunden verabschiedete die Dame sich und verschwand im Dunkeln. Verwirrt blickte ihr nach, konnte nur schwer verstehen, welches Problem sie mit mir hatte.
      Endlich hatte ich Zeit mein, wohlgemerkt drittes, Pferd genauer anzusehen. Obwohl sein Blick nur zum Netz gerichtet war, bemerkte er mich. Die Ohren bewegten sich in meine Richtung und lang spielten sie im Sound des Streu unter den Schuhen. Leise knisterte es. Dazu ertönten in der Stille die kauenden Geräusche des Pferdes und seine Atmung. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich zurück in den Moment versetzt, in dem mit seiner Mutter zu dem Turnier fuhr, das zwar in der reinsten Katastrophe endete, aber solch positive Gefühlsausbrüche auslöste, die ich kaum in Worte zu verfassen wusste. Wir hatten nicht einmal den M-Parcours beendet, da endete für uns die Reise bereits mit der zweiten Verweigerung bei dem vorletzten Hindernis. Für mich war es keine große Sache. Smoothie kannte vorher Turniere nicht und hatte einen ihrer typischen Anfälle vom Vollblutanteil im Blut. Der Schweif stand dauerhaft in der Luft und sie kam aus dem Gucken nicht heraus, wobei die Menschenmassen auch für mich noch eine ziemliche Belastungsprobe darstellten.
      > Kan vi åka? Jag skulle vilja vara hemma före morgondagen.
      „Können wir los? Ich würde gern vor morgen Zuhause sein“, hetzte Chris. Sanft strich ich dem Hengst über den Hals und schloss die große Klappe, damit wir abfahren konnten. Wie bereits auf der Hinfahrt tauchte sich die Fahrerkabine in einen Schleier aus Schweigen. Mir war jedoch auch nicht danach ein Gespräch zu beginnen. Wir hatten beide einen langen Tag und noch eine kürzere Nacht zum Schlafen vor uns.
      Leise schloss ich die Eingangpforte auf, versuchte möglichst unauffällig in den Keller zu kommen. Es leuchtete kein Licht mehr von der großen Treppe im Eingang, aber stürmte Tova heulend zu mir. Bösartig rief mein Vater den Hund zurück, doch die Hündin interessierte sich kein Stück dafür. Stattdessen wurde das Getobe lauter. Mama stand auf, zog sie am Halsband zurück aber kam noch hinunter. Sie folgte mir bis ins Badzimmer. Müde lehnte sie neben dem Waschbecken, konnte sich nur müßig halten.
      „Warum bist du jetzt erst da?“, fragte sie liebevoll und rieb mit einer Hand sich den Schlaf aus den Augen.
      Erst zuckte ich mit den Schultern, aber sie blieb hartnäckig. Stellte die Frage erneut und immer wieder, bis ich begann zu erzählen von dem Ausflug mit Chris.
      „Ich habe ein Pferd gekauft“, erzählte ich beiläufig bei dem Umziehen. Meine Hose landete im Wäschehaufen, sowie die restliche Kleidung, die ich am Körper hatte. Nur noch bekleidet im Handtuch schaltete ich das Wasser der Dusche an, um der Wärme einen Vorlauf zu geben.
      „Könntest du bitte gehen, ich möchte nicht darüber reden“, wiederholte ich, nach der Mama mehrfach versuchte mehr über Bino zu erfahren. Tatsächlich wollte ich nicht über das Pferd reden, zu beschämt war ich darüber, dass Lina noch nichts wusste. Unter den Strahlen des Duschkopfes flossen einige Zweifel von mir, hinunter des Abflusses.
      Befreit fühlte ich mich nicht nach der langen Dusche, aber auf jeden Fall besser. Im Haus war es still geworden, umso deutlicher drangen die immer lauter werdenden Gedanken in den Vordergrund, vor mein inneres Auge. Unaufhörlich sah ich Linas Gesicht vor mir, die schmerzerfüllt zur mir hochblickte, den Tränen nah, aber nicht darüber sprach. Sie schien es für selbstverständlich zu halten, nicht über das negative Gefühl zu sprechen, das sie tief im Inneren versteckte und versuchte, bloß nicht mir zu zeigen. Oder gar ehrlich zu sein. Es gab keine Grenze, sosehr ich auch danach strebte, eine zu finden. Auf dem Nachttisch leuchtete der Bildschirm meines Handys auf, verglimm, ehe es sich mit einer Vibration erneut meldete. Genervt griff ich es.
      Zwei verschiedene Benachrichtigungen dominierten auf dem Sperrbildschirm: Lina hatte mir bereits vor einer Stunde eine Nachricht gesendet und vor wenigen Sekunden postete Vriska etwas in ihrer Instagram Story. In Millisekunden glühten die Nerven in meinem Gehirn auf, überdachten, welche es mehr Wert war, als Erstes angeschaut zu werden. Gewissenhaft antwortete ich meiner Freundin, entschuldigte mich sogar für mein Schweigen und erklärte, dass ich Zeit brauchte zum Nachdenken über meinen Schimmel. Beim Betrachten der Uhrzeit wusste ich auch, dass eine Antwort wohl erst in mehreren Stunden, beim Aufstehen, zu erwarten war. Doch, der Benachrichtigung zur Folge, war Vriska noch unter den Wachenden. Ich tippte auf die Meldung und das Handy wechselte zu Instagram. Ein kurzer Bumerang erschien. Vom Boden bewegte sich das Video nach rechts, zu ihrem neuen Pferd, dass sie über den Kies führte. In der Wegbeleuchtung tanzten kleine Schneeflocken und je öfter ich mir die sechs Sekunden ansah, umso besser sah ich, dass auch schon eine schmale Schicht den Boden bedeckte. Unerwartet kam noch ein Bild, ein ziemlich schräges Selfie, verwackelt und unscharf. Ihre langen, weißen Haare lagen durch den Wind in ihrem Gesicht und die dunkle Mütze hielt sie nicht an Ort und Stelle. Willkürlich entwickelte sich der Gedanken sie anzurufen, ihr mitzuteilen, dass ich sie vermisste und da sie es nicht verneinte … Sie mich auch? Ich sollte den Gedanken verschieben, direkt so weit weg, dass ich keinen Zugriff mehr darauf haben würde. Vorbeugend legte ich das Handy wieder weg, rollte mich über die riesige Matratze, aber es stand fest: Ich war nicht müde.
      Konnte es eine blöde Idee sein, eine enge Freundin mitten in der Nacht anzurufen, weil man nicht mehr klarkam? Jeder würde diese Frage verneinen, außer es ginge dabei um Vriska, dem Kampfdackel des Lindö Dalen Stuteri. Ich fackelte nicht lang, da drehte ich mich hinüber, machte einen langen Arm und hatte wieder mein mobiles Gerät in der Hand. Mit wenigen Klicks piepte es aus den Lautsprechern. In der Innenkamera betrachte ich die großen Augenringe, die tagtäglich größer wurden und versuchte mit einer Handbewegung meine Frisur zu richten. Dann überraschte mich Vriska im leichten Schneesturm ums Gesicht.
      “Warum zur Hölle rufst du mich”, stoppte sie und fummelte mit einem Finger vor der Kamera herum, “um drei Uhr fünfzehn an?” Ihre Stimme klang dafür ziemlich wach und aufmerksam, um selbst noch auf den Beinen zu sein. Leise klammerten die Steine unter den Hufen ihrer Stute, untermalt von dem tiefen Schaben ihrer Schuhe über den Kiesweg. Der Wind rauschte unruhig über den Lautsprecher, verschleierte dabei einige Töne aus dem Hintergrund, dennoch hörte ich andere Pferde über den gefrorenen Sandboden laufen.
      “Du postest doch fröhlich in deiner Story um die Zeit, also wieso nicht?”, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
      “Wenn du alles gesehen hättest, wüsstest du es”, rollte ihre Augen auffällig in die Kamera. Ich zuckte nur mit den Schultern. Dachte sie ernsthaft, dass sie so interessant sei? Unweigerlich erinnerte mich mein Körper daran, dass sie es war.
      “Gut, dann auch noch mal für die ganz Dummen”, sagte sie und wechselte zur Außenkamera. Ihre Ponystute lief matt neben ihr her. Die Ohren hingen beinah leblos zur Seite und der Hals war vollkommen verschwitzt. In dem kleinen Fenster sah ich mein Ebenbild, das unvorteilhaft nah an der Kamera hing und das Tier betrachtete.
      “Also, wie du siehst, es ist fast tot. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, habe die Aufnahmen geprüft und da stand Maxou in ihrer Box, trat sich unruhig gegen die Box und legte sich hin. Deswegen führe ich sie jetzt und warte auf den Tierarzt”, erklärte Vriska gewählt. In ihren glasigen Augen erkannt ich den Schreck, den sie erlebt haben musste.
      “Wann wird er da sein?”, versuchte ich neutral zu bleiben. Ich konnte mir kaum vorstellen, was ich tun würde, wenn Bino plötzlich an einer Kolik litt und die Nachtschicht dies nicht mitbekommt. Schwer lag mir ein undefiniertes Gefühl im Magen, drehte sich dabei wie ein Seil um meine Eingeweide, an dem jemand zog.
      “Zehn bis dreißig Minuten, ich weiß es nicht”, wurde der Ton zerrender und ihre Kamera setzt für einen Augenblick aus.
      “Soll ich vorbeikommen?”, sagte ich und stand gleichzeitig aus dem Bett auf, saß nun oberkörperfrei vor ihr. Sie begann automatisch zu grinsen, was ansteckend wirkte. Biss mir dabei auf die Unterlippe, um mir die schelmischen Worte in den Gedanken zu verklemmen.
      “Nein, ich schaffe das allein”, obwohl Vriska wirklich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, kullerte eine einzige über ihre Wange.
      “Wirklich? Ich würde direkt los und”, tief holte ich Luft, “und bei Missachtung der Geschwindigkeiten wäre ich in einer Viertelstunde da.”
      “Auf gar keinen Fall, für deinen Tod möchte ich nicht verantwortlich sein. Also deck dich wieder zu, leg das Handy beiseite und schlafe.”
      “Na gut, aber wenn er in zwanzig Minuten nicht da ist, rufst du an, okay?”, vergewisserte ich mich. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie sich dafür bedankt und auflegt. Stattdessen hielt die ihr Handy weiter in der Hand, mit der eingeschalteten Innenkamera und ihre Augen schielten im Wechsel vom Pferd und wieder zurück zu mir.
      “Danke dir, aber warum hast du angerufen?”, setzte Vriska lächelnd fort.
      “Was möchtest du denn hören?”, hoffte ich eigentlich nach der Bombe mit der Stute, das Gespräch sein zu lassen.
      “Die Wahrheit, das wäre der richtige Schritt in die richtige Richtung”, sprach sie. Sanft schnaubte das Pferd neben ihr ab, hustete und schnaubte erneut. Neugierig versuchte ich auf dem Bildschirm mehr zu sehen, ausnahmsweise war Vriska klug genug, meine Bewegung zu deuten und zeigte mir das Maxou. Die Ohren standen wieder am Genick und der Schweif pendelte. Sie hatte noch rechtzeitig reagiert, vermutlich würde der Tierarzt Entwarnung geben. Mindestens genauso interessant war der gefallene Schnee, der im kalten Licht ihres Handys blau leuchtete, fünf Zentimeter müssten mittlerweile liegen.
      “Ich wollte deine Stimme hören”, seufzte ich bestürzt. Direkt wechselte sie wieder die Ansicht, schaute mich verdutzt an und drückte sich fast das Handy gegen die Wange. Ernst blickten ihre Augen in die Kamera. Dann lachte sie.
      “Mach’ dich bitte nicht lächerlich”, sagte Vriska, aber grinste. Ob die Kälte oder Scham ihre Wangen rot färbte, fiel außerhalb meines Geltungsbereichs.
      “Das ist mein Ernst und”, dann holte ich erneut tief Luft, “außerdem, habe ich vermutlich einen riesigen Fehler gemacht.”
      “Einen Fehler? Man erzähle mir mehr”, kam sie aus dem Scherzen nicht mehr heraus.
      “Ich habe ein Pferd gekauft, aber nicht irgendeines, sondern Bino, das erste Fohlen von Smoothie”, dann dachte ich nach, wie ich es am elegantesten formulierte, dass ich ganz offensichtlich mich wie ein herzloser Idiot verhielt und einem jungen Mädchen ihr Turnierpferd abgekauft hatte, das nicht zur Abgabe stand.
      “Aber?”, hakte sie in der Stille nach.
      “Aber, das Pferd stand nicht zum Verkauf, deshalb -”
      “Deshalb hast du mit den Scheinchen gewedelt und urplötzlich stand das Pferd auf dem Hänger”, schüttelte Vriska den Kopf, nach dem sie mir glücklicherweise die Worte aus dem Mund stahl.
      “Im Transporter, aber ja”, korrigierte ich.
      “Ich vergaß, ihr reichen fahrt nur mit Transporter. Bestimmt wurdest du sogar gefahren, anstelle selbst die Arbeit in die Hand zu nehmen”, setzte Vriska ihre Hetze scherzhaft fort. Aber ich wusste wie sie es meinte und ich nichts zu befürchten hatte.
      “Allerdings traue ich mich nicht, es Lina zu sagen”, formulierte ich mit zittriger Stimme.
      “Dann sammele dich erst mal, oder spring über deinen Schatten, schließlich erschien sie mir heute wie der glücklichste Mensch auf dem Planeten.”
      “Ach ja, wie konnte das passieren?”, wunderte ich mich. Also wirklich, wovon sprach der Dackel? Kam Ivy heute, hatte ich es vergessen? Eigentlich nicht, zumindest müsste ich auch zugeben, dass ich den Gesprächen, das eine oder andere Mal aufmerksamer zuhören sollte. Ja, auch wenn ich optisch dem Ideal eines Traumprinzen erschien, kam ich allen anderen Posten dieser Behauptung nicht nach. Die Hintergründe dazu näher zu erläutern, waren nicht nötig, oder?
      “Du weißt es nicht?”, stoppte sie und erschien eine Antwort zu erwarten, die nicht von mir kam, also setzte sie fort, “Der Verein wird zu uns kommen, zumindest, wenn dann das Gebäude ausgebaut ist.”
      Mir steckte ein Kloß im Hals. Jeden Tag auf diesem Hof zu sein, erschien zumindest eine Erlösung zu sein, nicht mehr zwischen so vielen zu pendeln, bedeutete jedoch auch, stets unter Beobachtung zu stehen. Ich brauchte meinen Freiraum, der nicht nur dazu da war, um mir Appetit zu holen, viel mehr bedeutete es, meinen Gedanken freien Lauf lassen zu können. Lang und breit erzählte mir Vriska von den kommenden Veränderungen und eine Sache ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Würde ich bei den Weltreiterspielen mitreiten können?

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 20.949 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      Dressur E zu A | 06. Mai 2022

      Planetenfrost LDS / Astronaut in the Ocean LDS / WHC‘ Golden Duskk / Harlem Shaker LDS / Raleigh / Ruvik / Úlrik

      An einem kühlen Herbsttag hatte ich Plano und Astronaut bereits in der Führanlage, während Raleigh von seiner Besitzerin in der Halle geritten wurde und Bruce Úlrik bewegte. Bevor die Traber an der Reihe waren, stand Ruvik auf der To-do. Mit ihm war bis heute nicht gut Kirschen essen, aber er akzeptierte meine Anwesenheit und an guten Tagen arbeitete er sogar mit. Ich hoffte, dass auch heute so einer war. Allein stand in seiner Paddockbox und zupfte am Heu in der Raufe. Mich hatte er schon früh bemerkt. Die Begrüßung startete mit angelegten Ohren und unfreundlichem Raunen aus den Nüstern, wie weit aufgebläht in meine Richtung prusteten.
      „Alles gut, wir wollen nur in die Halle“, versuchte ihm die Arbeit schmackhaft zu machen, doch der Hengst blieb in seiner Haltung mit gegenüber unverändert. Glücklicherweise wusste ich, worauf ich mich eingelassen habe und verharrte in meiner Position, bis Ruvik entschloss, auf mich zuzulaufen. Sofort bekam er ein Leckerli und akzeptierte das Halfter. Unsere nächste Herausforderung kam erst in der Halle. Ruvik mochte andere Pferde nicht, was er durch lautstarkes Wiehern und Quietschen untermalte. Eve nahm mit Raleigh Abstand und Bruce stieg ohnehin gerade von dem Isländer Hengst ab.
      „Wie war's?“, erkundigte ich mich, ohne dem Schecken neben mir besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Mein Bruder erzählte mir von den Fortschritten des Pferdes. Úlrik hatte er vor längerer Zeit aus Island importiert und bemerkte, dass dieser nicht ansatzweise das zeigte, was versprochen wurde. Daher begann er, mit ihm die Grundlagen zu wiederholen. Damit hatte Bruce den Hengst innerhalb kurzer Zeit auf einem sicheren Anfängerniveau in der Dressur, als Vorbereitung auf die Gangprüfungen.
      „Und du versuchst was genau mit dem?“, dabei zeigte Bruce auf Ruvik, der noch immer neben mir prustete.
      „Mal sehen. Geplant war Doppellonge, damit er hoffentlich dieses Jahr zur Körung kann, aber ich sehe schwarz“, erklärte ich mit abfälligem Blick zu dem Chaoten.
      Als Eve fertig wurde, setzte sich der Hengst endlich in Bewegung. Er schielte noch immer dem Kaltblut nach, aber kam Runde für Runde besser an die Doppellonge heran. Wir übten das Grundsätzliche, angefangen mit klaren Übergängen und Biegungen. Er kannte das alles, aber hatte es viele Jahre als Zwang empfunden, seitdem wir ihn aus einem tschechischen Zirkus übernahmen. Bis heute ist Ruvik Tag tägliche eine Herausforderung, ein Pferd, das sein Dasein bei uns Fristet und meistens nicht gearbeitet wird. Für die Körung jedoch war es notwendig, denn es gab Anfragen ohne Ende.
      Nach zwanzig Minuten beendete ich die Einheit, auch, weil noch die beiden Rennpferde auf dem Plan standen zum Reiten. Auch mit ihnen ritt ich in der Halle, achtete genau auf die Schritte durch den Sand. Besonders feurig war Dustin, der nicht ohne Grund im nächsten Jahr in Frankreich rennen sollte. Plano sollte weiterhin in Schweden bleiben und hier Siege holen. Mit dem ausgeglichenen Training zwischen Dressur und Rennen stand dem auch nichts im Wege. Die Hengste lernten schnell, konnten durch die Gymnastizierung auf allen Ebenen eine bessere Koordination entwickeln und damit Glänzen. Auch Shaker, unser Zuchthengst aus Vintage, setzte sich als Reitpferd immer mehr durch, obwohl seine Zucht-Rennen-Zeit deutlich unter dem Durchschnitt war.

      © Mohikanerin // Tyrell Earle // 3322 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      Hufschmiedarbeiten


      Planetenfrost LDS / WHC' Golden Duskk / Einheitssprache

      „Ich dachte dein Vater will das Eisen wieder ran machen?“, fragte Vriska mit gezogener Braue, als ich an dem Falbhengst Plano hantierte. Leicht wippte er mit dem Kopf und versuchte den Huf von meinem Bein wegzuziehen.
      „Ja, aber nein“, erklärte ich undefiniert. Aus der Seitentasche holte ich fünf neue Nägel, um das abgefallene Aluminiumeisen wieder zu befestigen.
      „Sehr gesprächig heute“, stellte sie nüchtern fest. „Aber hier, noch mehr Arbeit.“
      Vriska wedelte mit einem großen Hufeisen in der Luft, das keinesfalls von einem der Traber stammte.
      „Wunderbar, als gäbe es sonst nichts“, stöhnte ich, schließlich wollte ich noch Dustin den Beschlag abnehmen. Aktuell lief er mit Eisen an den Vorderhufen, aber ich hoffte, dass er Hengst ruhiger werden würde.
      „Kannst du wenigstens auch das Pferd herbringen und nicht nur den Verlust?“ Sie nickte und setzte sich umgehend in Bewegung.
      Mehrmals schlug ich kräftig zu und vernietete die Nägel, damit hatte Planetenfrost wieder sein Beschlag vollständig. Den Strick löste ich am Halfter, um ihn zurück in die Box zu bringen. Plano sträubte sich aber mit einem weiteren kräftigen Zug, folgte er. Derweil kam bereits Vriska mit einem Kaltblüter zurück, den ich schon mehrmals unter Lina gesehen. Wenn er sich leichtfüßiger bewegen würde, hätte ihn als Kaltbluttraber kategorisiert.
      „Ist der lieb?“, fragte ich vorsichtshalber, was sie allerdings auch nicht wusste. Entschlossen zog ich den Vorderhuf hoch, doch Rambi streckte diesen sofort wieder ab und traf mich ungeschickt am Bein. Genervt sollte ich die Augen und drückte ihn etwas zur Seite. Mehrmals machten wir das Spiel, bis es ihm zu anstrengend wurde und ich endlich den Huf auf meinem Bein ablegte. Mit der Raspel entfernte ich die spitzen Hornteile. Dann gab mir Vriska das Eisen und Sechs Nägel später, war auch der Kandidat fertig. Sie brachte das Pferd wieder auf den Paddock und ich widmete mich Dustin, der in seiner Box stand. Am Halfter lief er mir bereitwillig nach.
      Das erste Eisen war bereits ab, da kam Vriska zurück.
      „Hast du sonst nichts zu tun?“, schmunzelte ich, als ich ihre eindringen Blicke bemerkte.
      „Doch, dich beobachten“, erwiderte sie belustigt.
      „Dann kannst du auch was tun. Komm her“, sagte ich. Ohne Widerspruch kam sie die fehlenden Meter und ich zeigte ihr, wie man vorgehen würde, um das Eisen zu entfernen. Zunächst löste man die Vernietung, dafür holte ich den Huf nach Vorn auf mein Bein und gab ihr das passende Werkzeug. Sie brauchte einige Schläge mehr, bis der Nagel gelöst war. Ich wechselte die Postion und hielt ihr weiter den Huf. Mit der Zange nahm sie das Aluminium ab und sammelte vorbildlich die Nägel in die Tasche auf.
      An den anderen drei Beinen zeigte ich ihr, wie viel man vom Huf abnahm, mit dem Messer und schließlich raspelte. Den letzten übernahm Vriska allein. Nicht einmal den Huf musste ich halt. Ich korrigierte zum Schluss noch einige Stellen, dann konnte auch Dustin in die Box.
      „In den Wald?“, fragte ich.
      „In den Wald!“, wiederholte sie motiviert.

      © Mohikanerin // 18. Mai 2022 // 3026 Zeichen
    • Wolfszeit
      [​IMG]
      Routineuntersuchung | 07. Juni 2022
      Einheitssprache | WHC' Golden Duskk | Iridium | Otra
      Heute war ich mal wieder auf dem Lindö Dalen Stuterie, denn für einige Pferde stand die alljährliche Routineuntersuchung an. Darunter auch der Freiberger Einheitssprache, mit dem Lina bereits im Stall auf mich wartete. Ungeduldig zappelte das kräftige Tier umher, obwohl die junge Dame sich alle Mühe gab, den Hengst im Zaum zu halten. So dauerte es eine ganze Weile, bis die Untersuchung abgeschlossen war. Obwohl der nächste Patient deutlich höher im Blut stand, als der schwere Warmblüter, war er deutlich gelassener. Golden Duskk schlief beinahe ein bei der Untersuchung. Die beiden Gangpferde Otra und Iridium waren ebenso unkompliziert. Nach einem halben Tag waren, alle Patienten untersucht und es ging zurück in die Klinik.
      © Wolfszeit | Dr. Ecklund | 890 Zeichen
      Mohikanerin gefällt das.
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel tjugotvå | 9. Juli 2022

      Maxou / Caja / HMJ Divine / Legolas / Planetenfrost LDS / Lotti Boulevard/ Nachtschatten/ Lu‘lu‘a / Wunderkind / WHC‘ Golden Duskk / Eifellust / Lubumbashi / Fahrenheit LDS / Úlrik / Spök / Narcissa

      Lina
      Sehr unsanft durchdrang der Weckerton meine Träume. Verworrene Träume, die düster durch mein Unterbewusstsein waberten. Nicht gerade der Start, den man sich für den Weihnachtsmorgen wünschte, aber nicht ungewöhnlich. Jegliche Ereignisse, die man für gewöhnlich mit seiner Familie verbrachte, neigen dazu, mir das vor Augen zu führen, wogegen ich verzweifelt ankämpfte.
      Anlässlich des bevorstehenden Festest hatte ich mit nur meine Schwester eingeladen, nein, auch Jyrki erhielt eine Einladung. Sogar an meinen Vater dachte ich einen wahnwitzigen Moment lang, verwarf diese Idee aber schnell wieder. Wer über Jahre hinweg nicht einmal versucht Kontakt zu seinem Kind aufzunehmen, würde wohl kaum zu Weihnachten plötzlich seine Meinung ändern. Zumal nicht mal mein Bruder es für notwendig hielt, mir wenigstens eine Absagte zu schicken. Kaputt war sie, meine Familie. Langsam zerbrochen an der Last des Lebens. Langsam drang die Luft aus meinen Lungen. Eine normale Familie würde wohl für immer ein Traum bleiben.
      Langsam schob ich einen Arm unter der warmen Decke hervor. Die kühle Luft im Zimmer jagte mir augenblicklich ein Schauer über die Haut, unter dem sich die kleinen Härchen darauf aufstellten. Unglaublich, wie kalt so ein Raum werden konnte. Ein wisch über den Bildschirm und das Gerät schwieg endlich. Müde ließ ich den Kopf zurück auf das Kissen sinken. Der gestrige Abend war dann doch noch länger geworden als geplant, angesichts der Tatsache, dass die Vierbeiner natürlich auch heute versorgt werden wollten. Zumindest mit dem nötigsten. Die Stille war nur von kurzer Dauer, denn mit einem leisen Ping, wurde der Erhalt einer Nachricht angekündigt. Erneut griff ich nah dem Handy. Urheber der Störung war Enya, sie wollte in einer Stunde da sein damit wir noch einmal dem keinen Auftritt, üben konnte. Meine Güte, warum war sie denn schon so früh wach? Immerhin hatte sie keine hungrigen Vierbeiner vor der Tür sitzen. Aber ihr Tatendrang sprach zwangsläufig dafür, dass ich jetzt tatsächlich aufstehen musste. Doch vorher musste noch etwas anderes erledigt werden. Zielsicher tippe ich auf den obersten Chat, eine Morgenroutine, die innerhalb der vergangen zwei Monate beinahe in Vergessenheit geriet. Schließlich muss man niemandem schreiben, der unmittelbar neben einem lag. Mit flinken Fingern verfasste ich einen morgendlichen Gruß an meinen Liebsten, natürlich nicht mit dem Erwarten direkt eine Antwort zu erhalten. Niklas war sicherlich nicht an einem freien Tag bereits am frühen Morgen durch die Gegend springen. Dennoch gab es mir den nötigen Motivationsschub, um aus dem Bett zu kommen. Die Kleidungswahl fiel heute schlicht aus, schließlich würde ich schon den ganzen Abend ordentlich herumlaufen. So griff ich zu einer grauen Thermoreithose und stahl mir einen der Sweater, die mein Freund hiergelassen hatte. Wenn er schon nicht da war, mussten halt seine Klamotten herhalten.
      Ein schwaches Klopfen erklang vom Sofa als ich die Tür öffnet. Vollkommen fertig lag der gefleckte Welpe auf dem Sofa, denn er zusammen mit Nivi noch ziemlich lange die Hütte unsicher gemacht. Vriska hingegen saß bereits mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch und tippte munter etwas in ihren Laptop.
      “Guten Morgen”, sprach ich freundlich, wollte eigentlich noch etwas hinzufügen, doch hielt inne. Etwas an ihr sah anders aus, und zwar nicht nur die Brille, die mir bereits gestern aufgefallen war. Eindringlich betrachte ich sie. Ihre Haare waren am Ansatz deutlich dunkler und einige der langen Strähnen waren zu Dreadlocks zusammengeklebt.
      “Oh, du bist wach”, bemerkte sie mich offenbar erst jetzt und nahm die Kopfhörer aus den Ohren, “das Wasser müsste noch warm genug sein. Eine Tasse steht auch schon da.”
      “Danke”, entgegnete ich und lief zur Küchenzeile, um besagtes Angebot entgegenzunehmen.
      “Was machst du da, so früh am Morgen?”, fragte ich neugierig, als ich im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf ihren Bildschirm erhaschen konnte. Für gewöhnlich war sie nicht der Typ Mensch gewesen, der so früh bereits voller Tatendrang war, wenn man sie denn überhaupt so früh zu Gesicht bekam.
      “Ähm. Nichts”, stammelte sie mit zittriger Stimme und klappte das Gerät sofort zu. Eine leichte Röte überkam ihr Gesicht, dabei grinste Vriska schief und unkontrolliert.
      “Okay”, schmunzelte ich. Das Nichts war offenbar geheim, doch für das Erste beschäftigte mich etwas anderes.
      “Sonst alles in Ordnung bei dir? Lars war ja gestern noch ganz schön lange bei dir”, kam ich auf das zu sprechen, was mir seit gestern auf der Seele brannte. Nachdem wie nah, sich die beiden bereits vor ihrem Verschwinden gekommen waren, würde es mich wirklich interessieren, was die beiden dort drinnen gemacht haben.
      „Mehr oder weniger, ja. Er hatte ein paar Fragen und wollte mich dann unbedingt von der Stute überzeugen, aber na ja“, sie seufzte resignierte, „ich weiß noch nicht ganz. Und danach haben wir uns unterhalten über dies und das.“ Ein zartes Lächeln zuckte über ihre Lippen, dass sie sofort hinter ihrer Tasse versteckte. Sie fühlte sich offenbar immer noch ziemlich von ihm angesprochen. Kein Wunder, er war auch wirklich ein Hübscher.
      “Das mit dir und den Pferden bekommen wir schon wieder hin, nur nicht verzagen”, blieb ich positiv. Es war zwar nicht gänzlich vergleichbar, aber ich konnte es nachfühlen, denn auch meine Beziehung zu den Tieren war schon schwer erschüttert worden und ich hatte viel Zeit und Hilfe gebraucht, um zu ihnen zurückzufinden. Umso mehr Anerkennung hatte ich für Vriska, dass sie überhaupt hier war.
      “Wir werden sehen, aber ich muss gleich los”, sagte sie nach einem Blick zur Uhr hinter ihr an der Wand.
      “Wohin los?”, fragte ich ein wenig schwer von Begriff, “Aber solltest du dir dann vor allem nicht noch etwas anziehen.” Bisher saß Vriska nämlich in nicht viel mehr als einer Boxershorts und einem viel zu großen, viel zu teuer erscheinenden Hemd am Tisch.
      “Ach, so kalt ist es gar nicht”, Vriska lachte, “natürlich ziehe ich zum Arbeiten was anderes an. Die Pferde füttern und bewegen sich nicht von allein.” Dafür, dass sie immer wieder die Uhrzeit überprüfte, saß sie ruhig auf dem Stuhl ohne die Tasse aus der Hand zu stellen.
      “Du willst arbeiten? Bist du dir sicher?”, erstaunt blickte ich sie an. Dass sie sich so schnell ihrer Angst stellen wollte, hätte ich nicht mal bei ihr erwartet.
      “Von Wollen kann nicht die Rede sein, aber Lars möchte, dass ich was tue. Außerdem bin ich krankgeschrieben, also”, erklärte sie.
      “Daher weht also der Wind”, grinste ich leicht, “Na, dann hoffe ich, dass er weiß, was er tut.”
      Intensiv musterten mich ihre Augen, als würden tausende Dinge durch ihren Verstand schweben und nicht den Ausgang finden. Vriska wirkte sehr in sich gekehrt, verändert im Vergleich zu ihrer Abfahrt. Das hatte nicht nur mit ihrem äußeren Auftreten zu tun, eher das gesamte Konstrukt ihrer Selbstdarstellung.
      “Gibst es da etwas, was du mir mitteilen willst?”, kam sie zurück aufs Thema. Kurz musste ich überlegen, die richtigen Ausdrücke finden. Ich freute mich für sie, dass sie trotz der ganzen Geschichte Interesse an jemanden zeigte, aber gleichermaßen sorgte ich mich darum, dass sie sich zu schnell in etwas hineinstürzen könnte, was außerhalb ihrer Kontrolle lag. Und das sagte gerade ich, was eine Ironie.
      “Hab deinen Spaß, aber pass auf dich auf, das will ich dir sagen. Wenn du spurlos verschwindest, bekomme ich sicher einen Herzinfarkt”, sprach ich schließlich offen aus, was mir durch den Kopf ging. Verwirrt kippte sie den Kopf zur Seite.
      “Unwahrscheinlich und das liegt nicht nur daran, dass Mama keine Lust mehr auf mich hat”, scherzte sie. Okay, irgendwas hatte sich wirklich dramatisch verändert, schließlich wäre sie sonst verärgert abgehauen.
      Prüfend blickte ich sie an: “Was ist mit dir passiert da drüben? Du bist so … anders.”
      “Wie viel willst du hören?”, allein die Andeutung zeigte mir, dass es nicht offenbar nicht ihre Familie war, die sie in eine andere Richtung lenkten. Doch bevor ich ihr auf die Frage antworten konnte, öffnete sich die Terrassentür. Mit lautem Bellen stürmten die Hunde zu Lars, der sofort in die Knie ging und die Tiere herzlich begrüßte. Dog, wie Harlen Fred neuerdings benannte, sprang auf seinem Schoß und wollte am liebsten in ihn hereinkriechen für eine optimale Begrüßung. Vriska pfiff den Rüden zurück, der erstaunlicherweise auf sie reagierte.
      “Vivi, ziehst du dich dann an?”, hakte Lars noch nach, als er sich einen Augenblick später mit an den Tisch gesetzt hatte und von Vriska einen kleinen Kaffee bekam.
      “Alles?! Ich würde gerne verstehen, wer oder was so viel Einfluss hat, dass du innerhalb von zwei Monaten so eine Entwicklung machst”, kam ich auf ihre Frage zurück. Vielleicht war sie heimlich von Aliens gegen einen Doppelgänger ausgetauscht worden oder es gab eine deutlich realistischere Erklärung für ihren positiven Sinneswandel.
      „Du bist aber heute auch neugierig“, schüttelte sie amüsiert den Kopf und verließ dabei den Raum. Erst nach dem mehrmals sie die Türen ihres Schrankes geöffnet hatte, kam ihre Erklärung.
      „Im Großen und Ganzen habe ich mich alter Gewohnheiten gewidmet, war eigentlich die meiste Zeit feiern, habe mich mit einigen Typen getroffen“, dann verstummte sie. Lars hob eine Augenbraue und lehnte sich dabei tiefer in den Stuhl. Seine Arme lagen verschränkt auf der breiten Brust, die immer wieder zuckte bei ihrer Erzählung. Obwohl, von seinem Sitzplatz aus hatte man die volle Sicht in ihr Zimmer.
      „Und? Das kann doch nicht alles gewesen sein?“, hakte ich weiter nach. Nur ein wenig feiern zu gehen und dabei vielleicht auch einigen anderen Trieben nachzugehen, schien mir keine ausreichende Erklärung.
      „Schon klar, dass du direkt möchtest, dass Lars abhaut“, scherzte sie, wenn auch mit Verwunderung meinerseits. Er neigte leicht seinen Kopf zu mir, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken. „Mama hat mich wieder zur Therapie geschliffen und da mussten einige Sachen geradegerückt werden. Deshalb habe ich mich auch wieder alten Hobbys gewidmet.“ Vriska kam mit einem äußerst freizügigen Outfit wieder aus den Zimmern heraus, was angesichts der Temperaturen keine gute Wahl war. Sie zupfte am Shirt herum und kehrte auf der Stelle um. Mit einem dicken, rosafarbenen Pullover stand sie nun vor uns. Lars nippte an seiner Tasse, die kaum an Flüssigkeit verloren hatte. Eilig hatten die beiden es offenbar nicht.
      „Ohhh, jetzt ergibt alles Sinn“, dachte ich laut. Tatsächlich war es ziemlich einleuchtend, denn das erklärte sowohl die Stimmungsschwankungen als auch die impulsive Handlungsweise, die vor ihrer Abreise an den Tag legte. War das dann also auch der Grund für das, was in Kanada geschehen war und für alles, was danach folgte? Oder hatte irgendwas davon auch die echte Vriska zu verantworten? Ihre Antwort warfen in etwa genauso viele Fragen auf, wie sie beantworteten. Es würde sicher Tage dauern, dem allem auf den Grund zu gehen. Unter der Masse der Gedanken begann sich alles in meinem Kopf zu drehen.
      „Tut mir auch leid, dass ich dir nicht geschrieben hatte, aber Mama hat mein Telefon und mein Laptop eine Internetsperre. Ich fühle mich wie zwölf Jahre, ganz ehrlich“, fügte Vriska nach kurzem Schweigen hinzu. „Meine Schwester überreichte mir ihr Handy nur kurz, deshalb musste ich die Zeit nutzen für“, sie seufzte wieder, „um einige Dinge zu klären, die aber auch jetzt nicht mehr relevant sind. Er soll zur Hölle fahren mit seinen Lügen.“ Also hatte sie es rausgefunden, all das, was zwischen Schein und Sein gelegen hatte und vielleicht noch mehr. Wer wusste das schon?
      “Es tut mir wirklich leid, wie das zwischen euch beiden gelaufen ist”, murmelte ich und klammerte mich an meine Tasse. Vriskas Worte hatten den kleinen Teufel erweckt, der sich nicht davon lossagen wollte, dass es hätte anders laufen können, hätte ich mich nicht dermaßen in dieses Trugspiel verwickeln lassen.
      “Ach, was im Nachhinein passiert ist, weißt du noch gar nicht”, zuckte Vriska vollkommen losgelöst von dem Thema, als wäre es schon mehr als ein Jahr später.
      “Im Nachhinein? Was ist denn noch geschehen?”, fragte ich verwirrt, sowohl von ihren Worten als auch ihrer Reaktion.
      “Lars, hör mal kurz weg”, lachte sie und hielt ihm die Ohren zu. Sein Kopf hob sich langsam in ihren Fängen. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. War sie sich sicher, dass er ihr gut ging? Sie hätte ich auch einfach herausschicken können. Wunderlicher hatte sie sich wohl noch nie verhalten.
      “Die paar Minuten an Madlys Handy nutzte ich, um mit ihm zu telefonieren. Es war schön, keine Frage, aber immer wieder erklärte er, dass er mich noch lieben würde und das alles nur für Fredna tue. Ich glaube ihm das, keine Frage, aber was erhofft er sich bitte? Das ich jetzt warte, bis er wieder Zeit für mich hat? Deswegen denke ich einfach, dass der ganz schlimme Komplexe hat. Ach, und er hatte auch noch ein paar andere Weiber, also nein danke”, überkam es mich in einem Wasserfall an Worten, dann ließ sie wieder von seinen Ohren los. Ein breites Grinsen lag auf seinen Lippe und seine Hand hielt sich an ihrem Bein. Hatte ich was verpasst?
      Auf einen Schlag löste sich das ungute Gefühl in Luft auf, denn gegen diese Fakten schienen nicht mal meine inneren Dämonen anzukommen. Viel mehr bekam ich das Gefühl, dass es sogar besser war, dass es endete, denn offensichtlich war es so nerven schonender für uns alle. Nur eins passte nicht in dieses Bild, die beiden vor mir.
      “Irgendwas verheimlicht ihr zwei doch”, stelle ich nach hinreichender Betrachtung fest. Er grinste schief und zog sie noch näher an sich heran, dass sie ins Stolpern kam und auf seinem Schoß landete. Ihr Gesicht färbte sich abermals rot. Nun hielt er ihr die Ohren zu.
      “Zugegeben, ich finde sie gut und bin froh, dass sie den Kerl auch losgeworden ist. Ich hatte schon so ein Gefühl”, erzählte Lars mit ruhigen Worten und senkte die Hände wieder.
      “Dir ist schon klar, dass ich das gehört habe? Ich bin zwar blond, aber nicht blöd”, fauchte Vriska spielerisch und gab ihm erneut einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dass sie gestern nur geredet hätten, schloss ich mittlerweile kategorisch aus. Er erwiderte ihre Liebkose, aber am Hals und hörbar atmete sie aus.
      “Ich glaube, ich gehe dann mal”, lachte ich und erhob mich vom Tisch, “Viel Spaß euch noch.” Ich freute mich für die sie, doch hatte ich noch Besseres zu tun, als den beiden bei ihren Liebelein zuzusehen.
      “Wir kommen auch direkt mit”, kam es von Lars, der Vriska einen kleinen Stoß gab. Sie rannte zur Anrichte, griff ihre Reithandschuhe, die da schon vorbereitet lagen, nahm sich eine dicke Winterjacke. Im Laufen zog sie ihre Schuhe an und stürmte zusammen mit den jungen Hunden heraus, die ihre schnellen Bewegungen, direkt als Spiel ansahen. Wir beide hingegen standen noch immer im Wohnzimmer, erst dann nahm auch ich mir meine Sachen.
      “Was auch immer du ihr versprochen hast, es scheint ziemlich motivierend zu sein”, stellte ich lachend fest und zog den Reißverschluss der Jacke zu. Über Nacht hatte erneut ein kräftiger Schneefall eingesetzt, weswegen ich lieber auch noch nach einem Stirnband griff. Sicherlich war es kalt draußen.
      “Scheint so, dabei war es nur ein Kuss”, grinste er mich an. Er trug ohnehin noch seine Sachen, zog also auch nur den Reißverschluss zu. Wow, dann musste er das wohl ziemlich gut können, wenn ein Versprechen solche Auswirkungen entfalte.
      In einem gemäßigteren Tempo folgten wir, Vriska durch den Schnee. Sie war so zielstrebig unterwegs, dass sie sogar vor den Hunden dort ankam.
      “Kommt ihr endlich? Das Wetter ist so schön und ihr trödelt nur, anstatt euch ein Pferd zu schnappen”, jubelte sie euphorisch. Hatte sie wirklich Angst vor den Tieren? Ihr Verhalten erweckte nicht gerade den Eindruck dafür.
      “Wir kommen doch schon”, rief ich ihr zu, doch neben Vriska fühlten sich auch die beiden Fellknäuel angesprochen, die augenblicklich kehrt, machten und in vollen Tempo auf uns zu rannten. Während Nivi in letzter Sekunde einen Haken schlug und so nur leicht an Lars vorbeischrammte, schoss der Rüde voll in mich hinein. Ich geriet ins Straucheln, fand auf dem rutschigen Schnee nicht den Halt und fiel. Dann entsprach vermutlich nicht Vriskas Vorstellung von schneller. Lars reichte mir seine Hand und klopfte mich ab. Sie hatte das natürlich mitbekommen, lachte herzlich. An neue Vriska musste ich mich noch gewöhnen, denn mir schwebte Böses im Kopf, dass ihr attraktiver Schwarm nett zu mir war.
      „Du bist in die falsche Richtung gerutscht, mehr wie ein Pinguin“, schlug sie vor und machte dabei eine Bewegung, die eher einer bleiernen Ente glich.
      “Und du bist ein Exemplar der selten Gattung Spaßvogel?”, scherzte ich und setzte meinen Weg zu ihr fort.
      “Wer weiß, vielleicht sollte das näher untersucht werden”, hielt sie ihre gute Laune. Wir hatten Vriska schon eingeholt, da sprang sie auf Lars Rücken und ließ sich die letzten Meter tragen.
      “Du wiegst einfach nichts”, merkte er an und drehte sich beinah erwartungsvoll zu ihr um. Sofort gab sie ihm einen zarten Kuss und trieb ihn wie ein Pferd voraus.
      “Du hast dein Pferdchen ja offenbar schon gefunden”, lachte ich und folgte den beiden in den Stall. Ein leises Wiehern erklang und ein heller Ponykopf reckte sich über die Boxentür, zur Abwechslung sogar mal gut gelaunt. Den kompletten Kontrast dazu bildete Caja, meine Berittstute, ein paar Boxen weiter. Kaum hatte sie Lars erblickt, legten sich ihre Ohren komplett flach an ihren Hals, ihre Augen verdrehten sich und sie brachte schnell größtmöglichen Abstand zu Stallgasse auf. Vriska rutschte wieder herunter. Keinen Schritt weiter setzte sie, obwohl sie offenbar einen Deal hatte, den er umgehend ansprach.
      „I-Ich habe es mir anders überlegt“, stammelte sie aus heiterem Himmel im kompletten Verlust ihrer Selbstsicherheit. Vorsorglich setzte sie einige Schritte zurück, während Maxou versuchte durch die große Öffnung zu klettern. Das Pony regte sich immer mehr auf und stieg, bis sich das erste Bein dazwischen verfing und sie in Panik verfiel. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da sprang Lars bereits zur Stute, drückte ihre Huf zurück und öffnete kurzerhand die Box. Aufgeregt trabte das Tier heraus, aber stoppte bei Vriska, die in Schockstarre verfallen war. Mit lauten Prusten stand Maxou vor ihr, wölbte elegant den Hals und schnupperte an ihrem unordentlichen Dutt. Immer wieder drückte sie ihr Maul in Vriskas Gesicht, bis sie erwachte und sehr vorsichtig ihr Pferd über die Nase strich, als hätte sie noch nie eins berührt. Langsam, um das Pony nicht doch noch in die Flucht zu treiben, näherte ich, mit einem Strick in der Hand, begab mich neben Vriska, die zaghaft über das helle Fell strich.
      “Sehr gut, damit hast du den ersten Schritt schon gemacht”, lächelte ich ermunternd und beobachtete einen Moment, wie ruhig das Pony unter ihren Berührungen wurde. Offenbar hatte nicht nur ich meine Mitbewohnerin vermisst. “Möchtest du dein Pony selbst zurückbringen oder lieber nicht?”
      Freundlich bot ich ihr das Ende des Strickes an, den ich mittlerweile an dem Pony befestigt hatte. Über ihre Wange liefen mehrere Tränen, bis sie sich um den Hals ihrer Stute warf und kaum noch zu trennen war. Sie warf den Kopf nach oben bei der schlagartigen Bewegung, aber beruhigte sich sofort, als sie die Nähe ihrer Besitzerin spürte. Behutsam fummelte die Stute an Vriskas Kapuze als würde sie beginnen mit der Fellpflege.
      “Mein Plan war ein anderer, aber ähnlich”, sagte Lars plötzlich neben mir und grinste zuversichtlich.
      “Maxous eigener Plan hat offenbar auch funktioniert”, lächelte ich erleichtert. Ich hatte erwartet, dass es deutlich schwieriger und vor allem langwieriger werden würde, Vriska überhaupt nur in die Nähe ihres Ponys zu bekommen. Doch wenn ich sah, wie glücklich Besitzerin und Pony auf einmal wirkten, war die Hoffnung groß, dass mit dieser Wiedervereinigung nicht nur Maxous Laune besser wurde, sondern ebenso ihre Lebensgeister zurückkehrten. An der Schulter tippte mich jemand an, Enya war da. Lars verabschiedete sich auch in Vriskas Namen bei uns, dann liefen sie zusammen zur Box, um die Stute zurückzustellen. Sie folgten dem langen Gang zum Hauptausgang und tasteten sich dabei aneinander heran, wollten wohl gern Händchen halten, aber etwas hielt sie davon ab.
      “Passieren hier jeden Tag so niedliche Dinge?”, wollte die Schwedin sogleich neugierig wissen, “Wenn ja, muss ich eindeutig öfter vorbeikommen.”
      “Nein, leider nicht, das ist eher die Ausnahme”, entgegnete ich, “Aber du bist dennoch jederzeit willkommen.” Erst jetzt bemerkte ich, dass neben Lars und Vriska noch etwas fehlte, der Hund. Treudoof wie so ein Welpe war, musste Nivi mit den beiden und Dog verschwunden sein. Darum hätte ich mir im Normalfall auch recht wenig Gedanken gemacht, doch ich schätzte, meine Schwester wäre mit dankbar, wenn ich nicht gleich ihren Hund verlor. Ich pfiff einmal und tatsächlich kam wenig später ein zimtbraunes Hundebaby mit wehenden Ohren angerannt.
      “Oh, wer ist denn die kleine Maus, ist es deine? ”, sprach Enya erfreut und hockte sich zu dem Hund, der aufgeregt mit dem Hinterteil wackelte.
      “Nein, Nivi gehört meiner Schwester”, erklärte ich lächelnd, “zwei Pferde sind fürs Erste genug Haustiere.” Der Welpe war mittlerweile unter ihren Händen umgefallen und bot genüsslich den kleinen rosa Bauch dar.
      „Ja, gut, da magst du wohl recht haben, zumal hier auch ausreichend Hunde umherspringen", nickte sie verständnisvoll. Einen Augenblick lang kraulte sie noch den Hund, bevor wir uns schließlich aufmachten, die beiden Hengste vom Paddock zu holen.
      „Deine Schwester ist also schon da, nehme ich an?", regte die große Blonde interessiert ein Gespräch an, während wir durch den hohen Schnee stiefelten.
      „Genau, gestern angekommen. Hat dein Freund das etwa nicht erzählt?“, fragte ich leicht verwundert nach. Für gewöhnlich kommuniziert Samu recht viel und scheute nur selten davor Informationen nicht für sich zu behalten, sofern man ihn nicht anderweitig instruiert.
      Enya lachte herzlich: „Nein, den müsst ihr ganz schön gefordert haben. Samu kam nach Hause und ist gewissermaßen sofort ins Bett gefallen. Richtig niedlich, wie ein Teenie, der das erste Mal lange aus war.“ Niedlich, es war gestern zwar noch ziemlich spät geworden, aber etwas wirklich Anstrengendes hatten wir nicht gemacht. Dafür war mit bereits gestern früh aufgefallen, dass mein bester Freund ziemlich müder wirkte, aber mit der Sprache rausrücken, wollte, was er des Nächsten getrieben hatte.
      „Ich glaube, nicht, dass der gestrige Abend daran schuld ist", feixte ich und griff nach dem Halfter, die an einem Haken neben dem Tor hingen. Enya schmunzelte nur verschwiegen, ein Zeichen, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Suchend glitten meine Augen über die Pferdeleiber, die gegen die Kälte zusammen gedrängt zusammenstanden. Legolas entdeckte ich schnell. Entspannt dösen stand er zwischen zwei braunen, doch mein Hengst schien unsichtbar. Nein, Stopp …
      „Na, der sieht wieder großartig aus", seufzte ich, als ich ihn schließlich doch entdeckte. Natürlich war der eigentliche weiße Hengst, mal wieder der dreckigste von allen. Einzig die Stirnseite seines Kopfes war nicht mit Schlamm bedeckt und ließ die eigentliche Farbe erahnen.
      “Wie gut, dass ich Zeit mitgebracht habe”, grinste meine Begleitung, “zusammen bekommen wir den schon wieder sauber.” Ihn sauber zu bekommen stand weniger infrage, immerhin funktionierte der Wasserschlauch auch im Winter, aber Ivy würde bis morgen doch niemals sauber bleiben.
      “Danke, dafür wird Lego sicher schnell gehen mit seiner Decke”, bedankte ich mich für das Hilfsangebot und schlüpfte durch den Zaun in das Gatter. Treudoof kam das Schlammmonster bereits an getrottet und drückte mir freundlich die Schnauze ins Gesicht. Während ich warte, bis auch Enya den Hengst ihres Freundes geholt hatte, versuchte Ivy sich einige Leckerlis zu erschleichen, indem er sämtliche Tricks, die er könnte, unaufgefordert vorführte. Natürlich erreichte er damit nicht sein Ziel. Denn auch wenn er niedlich war, hatte er in den letzten Wochen doch ein wenig Speck angesetzt, weshalb ich ein wenig genauer darauf achtete, wie viel er zu fressen bekam.
      „Du kannst Lego erst einmal in die freie Box stellen, dann muss er nicht die ganze Zeit auf dem Putzplatz warten, bis Ivy sauber ist", sprach ich zu Enya, als wir im Stall ankamen. Sie nickte und entließ den Hengst, der sich unmittelbar seinem Boxennachbarn widmete. Brummeln erklang, ein kurzes Quietschen und dann kehrte wieder Ruhe ein. Meinen Freiberger hingegen stellte ich direkt in die Waschbucht. Mit einer Bürste brauchte ich in seinem Zustand gar nicht erst anzufangen. Jacke und Pulli legte ich in weiser Voraussicht zur Seite und wies auch Enya an, sicherheitshalber etwas Abstand zu bewahren. Divine besaß das meistens eher unerwünschte Talent alles binnen Sekunden zu überfluten und dabei war es egal, ob das Wasser aus einem Eimer oder einem Schlauch stammte.
      Wie immer genehmigte der Hengst sich zuallererst einen ausgiebigen Schluck Wasser aus dem Schlauch, dabei biss er in den Strahl und schüttelte mit dem Kopf, wodurch die Wassertropfen in alle Richtungen flogen. Erst danach durfte ich das Wasser auf sein Fell richten. Schlammige Wassermassen, ähnlich denen in Afrikas Regenzeit, rannen durch das dichte Fell und legten allmählich die darunterliegende Farbe frei.
      “Enya, könntest du mir bitte etwas aus der Sattelkammer holen? Irgendwo im Schrank müsste eine Flasche Schimmelshampoo stehen”, bat ich Enya, die an die Wand gelehnt auf ihrem Handy herumtippte. Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, würde ich sagen, ihr Freund war mittlerweile erwacht.
      “Na klar, bin gleich zurück”, entgegnete sie und tippte im Gehen weiterhin fleißig in ihr Handy. Es wirkte beinahe so intensiv, wie Vriska, als sie noch mit dem Unbekannten alias Erik schrieb. Was Samu wohl für offenbar hochinteressante Nachrichten senden mochte? Niedliche Morgengrüße oder doch eher Nachrichten der anderen Art?
      Noch bevor ich mir die Inhalte genauer ausmalen konnte, kehrt die große Blondine mit dem Wundermittel zurück.
      “Du hast ja ganz schön teures Zeug für dein Pferd”, stellte sie fest und reichte mir die Flasche. Neugierig schnupperte Ivy an dem Plastik, schnappte in den Deckel, ließ aber relativ schnell, davon ab, als er feststellte, dass es nicht essbar war.
      “Wie auch immer er das anstellte, findet er immer den hartnäckigsten Dreck, da ist das leider notwendig”, erklärte ich und verteilte die lila Flüssigkeit auf Ivys Rücken, “Aber wenn man es genau nimmt ist das auch eigentlich Smoothies.”
      “Ah, verstehe, das ist dann natürlich ziemlich Geldbeutel schonend”, lachte sie und begann hilfsbereit die andere Seite einzureiben. Bereits nach wenigen Minuten schloss der Freiberger genüsslich die Augen und begann zu dösen, das Wellenessprogramm war offenbar zufriedenstellend. Mit ihrer Hilfe war Divine recht schnell komplett eingeseift und auch wieder ausgewaschen.
      „Dann muss er jetzt nur noch trocken, dann können wir loslegen", sagte ich erfreut. Mähne und Schweif fielen seidig und das Fell erstrahlte wieder in schneeweißen Pracht. Während Enya sich nun daran machte Legolas zu putzen, fette ich meine Hengst auch gleich noch die Hufe. Wenn Beauty-Tag: dann richtig!
      Eine halbe Stunde später stand Divine schließlich trocken und frisiert auf dem Hallensand. Damit ich ihn morgen nicht gleich wieder waschen musste, hatte ich Mähne und Schweif eingeflochten und letzteren ausnahmsweise sogar mal bandagiert. So ordentlich hatte der Hengst, glaube ich, noch nie ausgesehen. Legolas gab ein ähnlich elegantes Bild ab, nur dass er in seiner natürlichen Pracht glänzte. Um den Welpen, der während der ganzen Waschprozedur auf Dogs Decke Platz genommen hatte, im Augen behalten zu können, platzierte ich Nivi samt Decke in der vordere Ecke, wo sie hoffentlich auch sitzen bleiben würde. In aller Ruhe wärmten wir die Pferde auf und bekamen sogar ein paar neugierige Zuschauer. Allerdings schickte ich meine Schwester mit sämtlichen anderen Zuschauen hinfort, bevor wir begannen, den eigentlich Auftritt durchzugehen. Es würde schon unerträglich genug werden, wenn sie am morgigen Tage den Vergleich herstellen konnten, wie plump und ungelenk der junge Freiberger neben dem deutlich erfahrenen Warmblut wirkte. Eventuell hätte ich mich doch für Redo entscheiden sollen, aber für einen Pferdewechsel war es nun auch zu spät. Aktiv und aufmerksam folgte Ivy meinen Anweisungen und, bis auf ein paar Verhaspler, die entstanden, weil ich die Reihenfolge durcheinanderbrachte, lief dieses letzte Training gut. Blieb nur zu hoffen, dass mir morgen nicht dasselbe passierte.

      Drei Stunden später

      Vriska
      „Deine Familie ist da, oder?“, fragte Lars, nach dem ich mit dem Traktor einen neuen Heuballen für die Hengste geholt hatte. Obwohl ich nicht viel mehr tat, als obendrauf zu sitzen, schwitzte ich wie ein Leistungssportler und bereute es kurzzeitig, mit dem Rauchen vor Jahren angefangen zu haben.
      „Ja, wieso?“, versuchte den Zweck seiner Frage zu hinterfragen, aber bekam nicht mehr, als ein verschmitztes Lächeln. Meine Vermutung, dass Madly ihn ausgefragt hatte, verstärkte sich. Ich erzählte ihr indirekt von ihm, nannte nur keinen Namen. Allerdings gab es nicht so viele hübsche Herren auf dem Hof, sodass meine Schwester womöglich schnell herausfand, wen ich meinte. Er verschwand, um das Werkzeug zurückzubringen und ich schwang mich aus dem gepolsterten Sitz des Fahrzeugs.
      Wir hatten alle grundlegenden Aufgaben erledigt und für meine Begleitung standen noch drei Pferde auf dem Trainingsplan. Also lief ich ihm nach, weiterhin zerrissen von kleinen Gewissensbissen. Maxou hatte mich vermisst, so sehr, dass sie sich beinah das Bein brach. Dennoch lag schwer mein Versagen im Magen.
      Nur zwei Einsteller traf ich bei der Arbeit, die mich mit ihren eindringenden Blicken komplett aus dem Konzept brachten. Reiten wurde immer mehr meine Leidenschaft. Dass ich aus so hoher Selbstüberschätzung mich wörtlich aufs falsche Pferde setzte und einfaches Training vergeigte, nagte an mir.
      „Vivi, wird wohl Zeit für den nächsten Schritt“, sagte Lars und drückte mir ein Halfter in die Hand. Instinktiv nahm ich es entgegen, bevor ich überhaupt begriff, was er wollte.
      „Was für ein nächster Schritt? Tut mir leid, aber ich möchte dich nicht Heiraten“, schmunzelte ich. „Zudem ist ein Halfter wahrlich kein guter Ring.“
      „Wie es mir scheint, hatte Lina recht. Du bist ein Scherzvogel“, spiegelte er meine Stimmung, aber entschied sich für einen weiteren Schritt. Langsam kam er näher, so nah, dass der markante Geruch seines Parfüms in meiner Nase kitzelte. Es fühlte sich an, als könnte ich den warmen Atem durch meine Kleidung spüren, aber es war viel mehr mein Blut. Kräftig donnerte das Herz in meiner Brust, wie der Bombenschlag im Kriegsgebiet, das sich Emotionen nannte.
      „Und du bist mir ziemlich aufdringlich heute, oder planst du etwas anderes zu reiten?“, stieg in sein kleines Spiel ein, das ihn nur noch mehr befeuert. Ohne mich zu berühren, schob mich Lars immer dichter an die Wand, um schließlich seine Hand nahe an meinem Kopf abzustürzen. Nur schwer konnte ich den Blick von seinen grünen Augen lösen, die mich lüstern anblitzten.
      „Eigentlich wollte ich mit dir fahren, aber Reiten klingt nach einem Plan.“ Von einem auf den anderen Moment unterbrach sich die Spannung zwischen uns beiden, nur sein freches Grinsen lag noch auf den Lippen. Er hatte seine Hand von der Wand genommen und griff nach meiner, die noch immer das Halfter umklammerte.
      „Was denn jetzt los?“, hakte verunsichert nach.
      „Habe ich doch gesagt, wir gehen Fahren“, wiederholte er, aber ich verstand gar nichts mehr. Widerrede war zwecklos. Dennoch folgte ich ihm flink zu den Boxen. Interessiert lugte Maxou heraus. Laut wieherte sie und als ich weiterlief, begann der Aufstand erneut.
      „Kümmere dich um dein Pony, ich musste vor ein paar Tagen bereits ihre Box reparieren“, merkte Lars scharf an, offenbar hatte sie dafür gesorgt, dass keiner mehr ein Auge schließen konnte. Nickend drehte ich mich um und lief zu ihr. Die Ohren wippten aufmerksam nach vorn, als ich die Hand ganz langsam in ihre Richtung hielt. Wie ein Fisch nippten die Lippen an den Fingerspitzen, als gäbe es etwas Interessantes zu entdecken. Aber ich zögerte, traute mich noch immer nicht, aus eigener Motivation zu ihr vorzudringen. Beinah regungslos stand ich vor der Box, versuchte ich mich für eine der inneren Stimmen zu entscheiden, die einen intensiven Diskurs führten, was passieren sollte.
      Dass jemand von der Seite kam, mit einem Pferd, bemerkte ich zunächst an den angelegten Ohren meiner Stute, dann hörte ich Hufschlag. Augenblick, das klang unrein. Verwirrt drehte ich mich zur Seite, von der Lars mit Plano ankam und einem Eisen in der Hand.
      „Hast du wohl noch einmal Glück gehabt“, scherzte er, offenbar sollte ich den Jungen Hengst nehmen, der alles andere als einfach am Sulky war.
      „Und jetzt?“, hakte ich nach.
      „Ich sage Papa Bescheid, der macht das später wieder an den Huf“, erkläre Lars zuversichtlich und ließ mich den Beschlag an eine geeignete Stelle legen. Entschieden wählte ich die Bank vor seiner Box, offensichtlicher konnte es nicht sein.
      „Dann kann zurück ins Zimmer?“ In Zeitlupe setzte ich einen Fuß nach dem anderen Turm Ausgang, aber er schüttelte entschlossen den Kopf.
      „Fräulein, wir haben noch was zu tun.“ Seine Beharrlichkeit schmeichelte mir zu tief. Ich stoppte in meiner Bewegung, um ihm den Sieg zu überlassen.
      „Nun gut“, ich seufzte, „was hat der werte Herr geplant?“
      Fest entschlossen lief er los, offenbar überzeugt, dass ich ihm blind vertrauen würde. Um ihn diesen Zahn zu ziehen, blieb ich unbewegt an meiner Stelle stehen und betrachtete, wie äußerst elegant er sich den Weg zu den Hengsten bahnte. Aufgeregt wieherte Astronaut in seiner Box, die er aktuell für sich allein hatte. Augenscheinlich war von der großen Pracht an Rennpferden nur noch ein Drittel am Stall verblieben, während der Nachwuchs noch auf der Weide verweilte. Selbst Lotti, in der noch so viel Hoffnung lag, wurde von einem zum anderen Tag Zuchtstute. Bei Nachtschatten gab es ohnehin keine Möglichkeiten mehr für die Rennbahn, dafür war ihr letztes Rennen nicht nur zu lange her, sondern auch problematisch verlaufen. Ein junger Fahrer hatte vor der Ziellinie seinen Hengst nicht im Griff und raste in ihren Wagen. Dieser Schock saß tief bei der sechsjährigen.
      „So macht das kein Spaß. Wenn ich andauernd betteln muss, dann geh bitte“, drehte sich Lars zu mir um.
      „Du sagst mir nicht einmal, welches Pferd, also was soll ich dann tun?“, zertrete ich. Er zuckte mit den Schultern und zeigte zu Lu, der schon die ganze Zeit aus der Box blickte.
      „Der steht unter Linas Pflege“, erklärte ich.
      „Ach so, dann“, wieder überlegte er und sah sich suchend im Stall um. So groß war die Auswahl nicht, da konnte ich nachvollziehen, dass nichts für mich dabei war. „Wunderkind. Der passt zu dir.“
      „Jetzt warte doch mal“, zog ich ihn am Arm zurück, er stoppte. „Ich habe Angst.“
      „Wo vor? Wunderkind schläft doch schon beim Putzen ein“, wunderte Lars sich und drückte die Augenbrauen zusammen.
      „Versagen“, murmelte ich bei gesenktem Kopf.
      „Schau doch mal: Ich bin die ganze Zeit bei dir. Wunderkind ist eine Schlafnase und du schon ein großes Kind. Zu Weihnachten wünsche ich mir so sehr, dass wir durch den Wald fahren.“ Lars stand dicht bei mir, strich mir mit seiner warmen für die Wange. Der Anflug eines Lächelns umspielte meine Lippen. Für einen langen Augenblick sah er mich an und flehende Hitze in seinem Blick, ließ mir den Atem stocken. Obwohl er zuvor nicht einen Hauch von Ablehnung vermittelte, zweifelte ich an seinem Interesse, der Grund lag nah. In meinem Kopf geisterte selbstverständlich noch Erik, den ich mit allerlei Bekanntschaften verdrängte aber am Stall, kam natürlich erlebtes wieder hoch.
      Ich schüttelte mich. Vergangenes war Vergangenheit und der kleine Flirt fühlte sich nach einem Neuanfang an. Zart drückte ich meine Lippen auf seine Wange, ehe ich ihm das Halfter aus der Hand klaute, um den Schecken von dem Paddock zu holen.
      Wunderkind stand in der letzten Ecke im Sand und ich hüpfte zwischen den Pfützen hinweg zu ihm, dicht gefolgt von Shaker, der meine Bewegungen äußerst interessant fand. Er schnupperte wieder an meinem wippenden Dutt, aus dem einige der Dreadlocks herausgerutscht waren. Einmal schnappte er sogar nach einer, bekam einen Schubser von mir. Der Schecke kam mir die fehlenden Meter entgegen und ich zog ihm das Halfter über die Ohren. Den Schopf sortierte ich darüber.
      Im Stall putzte Lars bereits Dustin, der hysterisch begann zu wiehern, als Hufschlag auf dem Beton durch die Halle schallte. Zufrieden grinste die Dunkelhaarige, aber verkniff sich weitere Kommentare. Wieder zögerte ich. Er streckte mir einen Striegel entgegen, mit dem ich im nächsten Augenblick die großen Sandflächen aus dem hellen Fell entfernte. Auf dem Boden zeichnete sich die genaue Position von uns ab. Zum Abschluss kratzte ich die Hufe aus. Lars brachte mir sein Geschirr mit, nach dem Dustin bereits fertig gemacht war. Ungeschickt hob ich einen Lederstriemen nach dem anderen in die Luft, um den Anfang zu finden.
      „Jetzt hilf mir bitte“, stöhnte ich, nach dem er sich vor Lachen bereits krümmte. Den Brustgurt hatte ich kurz als Bauchgurt um den Hengst gelegt, der jeden Handgriff mit sich machen ließ.
      „So schwer ist das doch nicht“, scherzte er und griff mir über die Schulter. Unter seinem Arm wollte ich abtauchen, damit er mehr Platz am Pferd hat, aber er hielt mich davon ab.
      „Sieh richtig hin“, wies Lars mich an. Langsam zeigte er mir noch einmal die richtige Reihenfolge zum Gurten, obwohl ich wusste, wo, was hingehört. Kurzzeitig stoppten meine Gehirnzellen.
      „Ich möchte euch ja ungern stören“, räusperte sich jemand hinter uns, „aber hat einer von euch vielleicht meinen Hund gesehen oder alternativ meine Schwester?“ Als ich mich umblickte, entdeckte ich Juli. Ihr Freund, den sie im Schlepptau hatte, blickte ein wenig skeptisch die Tier in den Boxen an und hielt einen sicheren Abstand zu ihnen.
      „Wart ihr schon im Büro nachschauen?“, fragte Lars und zeigte dabei mit gestrecktem Arm zur ersten Hütte an der Hallenbande. Ich schmiegte ich zur gleichen Zeit näher an ihn heran, es forderte mich undefiniert vor anderen ihm näherzukommen. Er hatte offensichtlich kein Problem damit, sondern drückte mich noch näher an seine breite Brust.
      „Nein, aber dann schaue ich da mal. Danke“, bedankte sie sich freundlich und verschwand schmunzelnd in genannte Richtung.
      „Wollte da etwa jemand die Besitzansprüche verdeutlichen?“, grinste er vertieft in meinen Augen. Auch hing an ihm fest. Was war das nur? Ich konnte mich doch umgehend in den nächsten Typen verlieben, aber das Potenzial dafür strahlte bereits. Es schrie in mir, ihn zu küssen, doch hielt mich zurück.
      „Eventuell, aber komm jetzt, bevor ich es mir anders überlege“, sagte ich entschlossen und lief mit ihm zusammen zur Sattelkammer, um Helm und Brille zu holen.
      „Spritzschutz ist am Wagen?“, überlegte ich laut, als mich das Plastik aus dem Regal entgegenlächelte.
      „An deinem nicht, also nimm lieber mit.“ Er schloss seinen Helm und wechselte noch die Hose. Ich für meinen Teil bevorzugte den Ganzkörperanzug und stieg mit meinen Reitsachen hinein.
      Schritte näherten sich und Linas Schwester tauchte erneut auf
      „Im Büro war sie nicht hab ihr sonst noch eine Idee, wo ich suchen kann?“, fragte sie.
      „Dann kann sie nur bei uns in der Hütte sein“, kam es mir als letzte Idee.
      „Danke, dann euch zwei noch viel Spaß“, sagte sie und verschwand. Komisch, Lina konnte doch nicht vom Schnee verschluckt worden sein? Ich zuckte mit den Schultern und verließ ebenfalls mit Lars die Sattelkammer. Es war erstaunlich, wie schnell er das Chaos beseitigte hatte und man in kurzer Zeit alles fand.
      Zusammen hingen wir die Sulky an. Immerhin musste ich nicht gurten, sondern hatte einen Schraubverschluss, der nur zur Sicherheit festgezurrt wurde. Aber der Herr der Schöpfung konnte natürlich alles. Meine Augen folgten seinen Händen, wie sie galant das Leder durch die Riemen zogen und den Verschluss schlossen. Dustin wippte dabei mit dem Kopf, konnte es kaum abwarten, durchzustarten. Wunderkind hingegen schlief beinah ein, wie Lars es prophezeite. Ich hatte mit dem Schecken kaum zu tun, aber unter Tyrell im Sattel kannte ich ihn als unberechenbares Pferd. Manchmal sprang er verschreckt zur Seite oder hängte sich an den Hintern eines anderen Pferdes im Sand, ließ sich fortan nirgendwo anderes lenken.
      Nacheinander führten wir die Traber aus dem Stall, sprangen im Schritt auf den Sitz und positionierten uns parallel. Spielerisch schnappten sie sich. Zwischendurch sprühte der Schnee nach oben, aber der Schutz an meinem Sulky war zu groß, damit bekam ich zur Abwechslung nichts ab.
      Lars konzentrierte sich auf Dustin, setzte sich streckenweise mehrere Pferdelängen voraus, um dann ihm in der Geduld zu schulden. Nur einmal trabte ich mit, aber entschied im Schritt zu bleiben. Bei fehlendem Beschlag rutschte Wunder mehrmals auf dem nass feuchten Untergrund. Um sich zu halten, gab ich ihm die Leinen und der Hengst balancierte sich von selbst. Im Wald selbst war es beinah still. Nur das Meeresrauschen drang gedämpft zu uns vor und vermischte sich mit dem Rascheln der Hufe im halbhohen Schnee und Matsch.
      „Und? Auf einer Skala von null bis Zehn, wie glücklich bist du?“, bremste Lars Dustin ab und positionierte sich neben uns.
      „Jetzt gerade?“, kurz sah ich zu ihm, „ich denke, dass es eine gute sieben ist.“
      „Sieben? Klingt vielversprechend“, schmunzelte er und zupfte dabei an den Leinen, um Dustin in seinem Grundtempo zu stoppen. Gar nicht zufrieden mit der Situation, tippelte der Braune voran und wippte mit dem Kopf.
      „Ich verstehe nicht, was er heute hat. Wir hatten diese Woche so viele Heats, da müsste er ein Lämmchen sein“, schüttelte Lars mit dem Kopf.
      Ich hob nur die Schultern. Wunderkind war glücklicherweise eins. In gleichmäßigen Schritten setzte er durch den Wald, sah sich bei nahen Geräuschen um und streckte den Kopf. Zwischendrin schnaubte er ab, dann lobte ich ihn. Ehrlich gesagt konnte ich mir nur schwer vorstellen, warum Lars so sehr mich am Pferd sehen wollte, aber er hatte gute Arbeit geleistet.
      Im Stall begegneten wir tatsächlich mehreren Einstellern, unter anderem einer Mädchen, die kichernd neben meiner Schwester saß. Obwohl es offenbar Kommunikationsschwierigkeiten gab, waren sie sich einer Sache sicher: Lars ist verdammt heiß. Dem konnte ich nichts entgegensetzen, aber sie, mich komplett ausblendeten, lag mir schwer im Magen. Zumindest Madly sollte dahinter gestiegen sein, aber hing mit jedem Blick an dem jungen Herren neben mir. Es wurde erst ruhiger, als ich mit ihm das Equipment in die Kammer brachte.
      „Das geht seit Wochen so. Egal, wo ich bin, alles tuschelt um mich herum, anstelle mich ansprechen“, sprach er umgehend das Thema an.
      „Mh“, brummte ich nur.
      „Was denn los?“, fragte er verärgert.
      „Du siehst nun mal umwerfend aus und das fällt als Erstes auf. Dass du zudem auch noch ein Lexikon über Pferdewissen hast, können sie nicht wissen, weil du bereits auf dein Aussehen reduziert wurdest“, zuckte ich unbeeindruckt mit den Schultern. Natürlich schloss ich mich dieser Meinung an, kam jedoch schon in den Genuss von mehr. Auch in Anbetracht an den heutigen Arbeitstag.
      „Aha?“, niedlich zuckte ein Lächeln auf seinen Lippen. Möglichst neutral versuchte er meine Aussage anzunehmen, aber das bewusst einen Schritt auf ihn zu machte, brachte ihn aus dem Konzept. Lars setzte zurück, stolperte über einen Eimer und landete auf dem Boden. Zuvor griff er nach meiner Hand, um mich mit sich in den Abgrund zu ziehen. Ungünstig landete ich auf ihm, doch er richtete mich direkt richtig, dass ich auf seinem Unterleib saß. Neben uns polterten mehrere Gurte auf den Boden, die einen höllischen Lärm verursachten. Aber ich wurde umgehend abgelenkt. Seine Händen strichen verführerisch über meine Oberschenkel. Überall in mir zuckte es, zerrend verbreitete sich Wärme vom Bauch aus. Ich schenkte ihm ein verträumtes Lächeln. Hundegebell erklang und just im selben Augenblick tapste ein Hundekind herein. Aufgeregt rotierte die Rute des Tieres durch die Luft und sie schnupperte an uns. Lange dauerte es nicht, bis dem Hund auch noch menschliche Schritte folgten.
      “Alles in Ord …”, setzte Lina bei Betreten der Hütte eine Frage an, brach allerdings ab, als sie uns auf dem Boden entdeckte. Stattdessen begann sie breit zu grinsen: “Ich sehe schon, ich brauche nicht weiter zu fragen.”
      Lars' Hände waren mittlerweile an meine Hüfte gewandert und wir starrten einander nur an. Peinlich berührt durch ihre plötzliche Erscheinung legte sich ein intensives Rot auf meine Haut.
      „Ähm“, stammelte ich unsicher, „das ist aus Versehen passiert.“
      Synchron begannen beide zu lachen.
      „Jetzt tu doch nicht so“, richtete sich Lars etwas auf. Ich spürte seine eindringenden Blicke auf mich, als würde er etwas erwarten. Noch mehr fehlten mir die Worte.
      “Ach, alles gut”, schmunzelte sie noch immer, “macht doch, was ihr wollt. Aber wenn ihr dabei allein bleiben wollt, solltet ihr das nächste Mal vielleicht weniger Lärm machen.”
      „Ich wollte gar nichts!“, versuchte ich mich zu verteidigen, nicht einfach. Endlich ließ er seine Hände von mir und konnte aufstehen. Neben Lina standen bereits die großen Eimer, voll mit drei Maß Hafer und verschiedener Kräuter. Zusätzlich bekam Dustin noch etwas für seine Gelenke.
      “Okay, du bist ein willenloses Wesen, ganz ohne Hintergedanken”, nickte sie, bemüht, das Schmunzeln zurückzudrängen. Der Welpe erkundete mittlerweile die heruntergefallenen Gegenstände, schlüpfte unter den unterschiedlichsten Strängen hindurch, kletterte darüber und begann dabei alles noch ein wenig mehr durcheinanderzubringen.
      “Heißt der Zweite da, dass du auch am Pferd warst oder kann Lars mittlerweile zwei Pferde zugleich trainieren?”, kam Lina nun auf ein anderes Thema zu sprechen.
      „Tatsächlich ist sie gefahren“, ergriff er beherzt das Wort und befreite die Geschirrunterlage vom Welpen, der versuchte an einem der Gurte zu ziehen. Auch ich bückte mich zu den Trensen herunter, die zuvor auf dem Bock lagen.
      “Oh, schön. Das ist ja schon ein großer Schritt in die richtige Richtung”, lächelte sie.
      „Da kommt noch mehr“, munkelte der Herr und reichte mir die andere Trense. Weiterhin versuchte ich mich aus dem Gespräch fernzuhalten. Andere trafen bessere Entscheidungen für mich, langsam sah ich diese Tatsache ein. Nacheinander hängte ich das Leder weg und damit waren wir fertig.
      “Du willst sie doch nicht etwa heute auch direkt auf Pferd setzen?”, hakte sie von Neugierde erfüllt nach. Frech huschte ein Lächeln über seine Lippen.
      „Das vielleicht auch“, feixte er.
      “Ich frage mal lieber nicht weiter”, lächelte sie irritiert, mehr, als sei es eine Übersprunghandlung und holte mit einer Geste Nivi zu sich, die gerade den nächsten Gegenstand als Spielzeug erwählen wollte.
      „Das“, betonte ich seine Anspielung ebenso zweideutig wie er, „bedarf mehr als deine Entscheidung. Ich muss schließlich meine Familie ertragen.“ Zusammen lachten wir und liefen mit den Eimern heraus. Vorsorglich schloss Lars die Tür, um den übermütigen Hund rauszuhalten.
      „Kommst du mit?“, fragte ich im Anschluss Lina, die nicht sonderlich beschäftigt wirkte. Vermutlich die Ruhe vor dem Sturm.
      “Jap, schließlich muss noch ein wenig Zeit Tod geschlagen werden”, nickte sie und folgte uns, während das kleine Fellknäuel mit Vollgas an uns vorbeischoss.
      „Wann fängt es denn bei euch an?“, informierte Lars sich. Aus meiner Hand nahm dem grünen Eimer für Dustin. Gierig drückte er den Kopf voran, um so schnell wie möglich sein Futter zu haben, aber er ließ sich Zeit.
      “Also Samu wollte mit seiner Familie so zwischen sechs und sieben hier auftauchen, aber seine Freundin samt Familie kommen ein wenig später, weil sie noch in die Messe gehen”, gab Lina Auskunft über die Pläne. Dann setzte er direkt fort, nur ich verschwand aus der Situation. Wunderkind hatte seinen vollen Eimer einige Meter entfernt vollständig aufgefressen, durfte damit zurück zu den anderen Jungs. Bei meiner Rückkehr standen die beiden noch immer da, vertieft über Erzählungen über die Feiertag. Kaum hatte ich mich verabschiedet, nahte Bedrohung von vorn. Meine Schwester und Mutter gefolgt mit Harlen kam auf uns zu. In der Hoffnung, dass sie mich nicht bemerkten, versteckte ich mich hinter Lars.
      „Was wird das?“, flüsterte er mir zu.
      „Ich hasse Weihnachten und verstehe nicht, wieso die das so ernst nehmen.“ Doch es war zu spät. Mein Bruder erspähte mich mit seinen Adleraugen, während Madly ihm immer wieder etwas Trällerndes auf dem Handy zeigte.
      „Hier steckst du“, lächelte Mama, „aber wie siehst du denn aus.“
      Auf der Hose waren vom Matsch einige Spritzer, so auch auf den Stiefeln. Meine Hofjacke hatte freilich bessere Zeiten erlebt, aber Arbeitskleidung durfte dreckig werden. Dafür gab es Waschmaschinen.
      „Es tut mir leid. Ich werde mich umziehen gehen“, duckte ich mich weg.
      „Schon gut, aber beim nächsten Mal“, es wird kein nächstes Mal geben, dachte ich insgeheim, „achtest du bitte darauf. Was sollen die Leute denken?“, appellierte sie. Ja, genau. Was sollten die Leute nur denken von der Gestörten am Hof. Ganz kritisch.
      Harlen nahm ihren Arm in den Haken und lief weiter. Auf meinen Lippen formte ich ein Danke, damit blieb nur Madly, die auch sofort zu Lina tigerte.
      „Hey, ich bin Vivis Schwester, aber in cool. Hast du einen Führerschein?“, charmant wie immer. Tatsächlich packte sie das Handy für einen Augenblick zur Seite.
      “Oh cool, Vorstellungsrunde, jeder sagt eine Sache, für die er qualifizierter ist”, sprach sie. Offenbar schien sie Madly nicht wirklich ernst zu nehmen.
      “Ich bin Lina und ja, ich habe einen Führerschein”, wandelte sie die Unhöflichkeit der kleinen Nervensäge in eine pädagogische Übung.
      „Ich bin Lars, und“, er überlegte ziemlich lange, mir fielen direkt mehrere Sachen ein, für die er qualifiziert war, aber er schwieg.
      „Und du bist heiß, ja wissen wir“, rollte Madly mit den Augen. Vorhin schien ihr das noch essenziell, das Leben der jungen Generation war wirklich kurz.
      „Aber gut, Lina. Kannst du mich hier wegbringen? Alle weigern sich, aber ich ertrage das nicht. Es riecht eklig und Internet gibt es auch nicht“, jammerte sie.
      “Könnte ich wohl, aber ehrlich gesagt steht das heute nicht auf meiner Agenda. Was das Internet angeht, das ist Mitarbeiter und Einsteller vorbehalten. Aber ich könnte mir vorstellen, dass deine Geschwister in dem Fall wohl möglich eine Ausnahme machen könnten”, sagte Lina äußerst diplomatisch und unbeeindruckt von ihrem Gezeter. Madly gegenüber schien die Brünette auf einmal eine Selbstsicherheit an den Tag zu legen, die sie sonst nicht aufzubringen vermochte.
      „Findest du nicht auch, dass ich etwas aufgemuntert werden sollte, nach so einer Frechheit?“, flüsterte mir Lars gleichzeitig zu.
      „Vielleicht, aber da kann ich dir vermutlich nicht helfen“, sprach ich genauso leise und schmiegte mich wieder eng an ihm. Obwohl mir jegliche Feiertage ein Dorn im Auge waren, lag etwas Magisches in der Luft, das mich immer wieder zu ihm zog. Er war daran auch nicht ganz unbeteiligt und schien meine Nähe geradezu zu genießen. Seinen Arm legte er an meinen Rücken, um mich noch enger zu halten.
      „Das wäre schon unfair“, merkte ich schließlich an, „ich habe nicht einmal mein Handy wiederbekommen.“
      „Du bist alt. Was willst du auch damit?“, konnte meine Schwester sich offenbar nicht zügeln. „Außerdem solltest du das nachher wieder bekommen, aber ich sage jetzt Mama, dass du frech warst.“ Madly schnaubte noch mal und rannte aus dem Stall. Ihre kleinen Absätze klackerten auffällig auf dem Beton, dann ertönte Stöhnen und Beschwerde über das matschige Wetter – Als wäre London so viel trockener!

      Am Abend …

      Lina
      “Lina, du solltest mal langsam fertig werden, Samu hat schon vor zehn Minuten geschrieben, dass sie gleich da sind”, kam meine Schwester mit meinem Handy in der Hand ins Bad marschiert, “Ach, und dein Freund hat etwas geschrieben.”
      “Jaaaa, ich bin ja gleich fertig”, entgegnete ich und zupfte die letzten Haarsträhnen zurecht, “und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du deine neugierigen Augen aus meinen Nachrichten lässt.” Ich kannte meine Schwester, vor ihr war wirklich nichts sicher, so hatte sie mit Sicherheit auch bereits mein Zimmer und die komplette Hütte auf den Kopf gestellt.
      “Schätzchen, ich habe doch schon alles gesehen. Ich glaube kaum, dass man da etwas finden könnte, was mich noch schockiert”, feixte Juli. Noch bevor meine Schwester das Thema vertiefen konnte, hörte ich es an der Tür klopfen. Eilig lief ich zu der Glastür und öffnete diese.
      “Schön, dass ihr da seid, kommt doch rein”, lächelte ich freudig. Nacheinander begrüßte ich erst Samus Eltern, dann seine Brüder und mit Samu bildete seine Schwester das Schlusslicht. Natürlich kam auch ihm eine gebührende Begrüßung zu, die von Eevi allerdings ziemlich schnell unterbrochen wurde.
      “Lina, ich habe dich so lange schon nicht mehr gesehen”, sprach sie höchst erfreut, schob ihren Bruder bei Seite und zog mich in eine Umarmung, die mir beinahe die gesamte Luft aus der Luge, drückte.
      “Schwesterchen, du solltest Lina schon am Leben lassen”, lachte dieser.
      “Sei du mal ruhig, du siehst sie auch ständig. Das verstehst du nicht”, beschwerte sie sich sogleich bei ihrem Bruder, lockerte aber tatsächlich ihren Griff.
      “Klar, ich bin auch nur ein Kerl. Ich kann das gar nicht verstehen”, scherzte er selbstironisch, verschwand aber schließlich, um Juli zu begrüßen.
      “Lina, Schätzchen, lass dich mal ansehen”, richtete Eevi das Wort wieder an mich und drehte mich einmal um dreihundertsechzig Grad, “Du bist ja eine richtig hübsche junge Frau geworden. Ich bin begeistert!” Sicher würde man sich an dieser Stelle fragen, wieso sie sprach wie eine Oma, die ihr Enkelkind mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Na ja, weil es nicht ganz so weit von der Wahrheit entfernt war. Meine Oma war sie natürlich nicht, aber letzteres traf zu. Die letzte Begegnung dürfte zu Schulzeit gewesen sein.
      “Danke, aber komm doch erst einmal richtig rein”, lächelte ich und versuchte sie zum Weitergehen zu bewegen, damit ich endlich die Tür wieder schließen konnte.
      “Na, wer ist denn das niedliche Ding?” Eevi hatte Dog entdeckt, der geweckt durch den Trubel von seinem Kissen aufgestanden war und nun durch die Gegend taumelte. Nivi hingegen sprang wie ein Flummi durch die Gegend, dabei war sie den ganzen Tag lang mitgelaufen. Dieser Hund hatte echt einen enormen Energievorrat.
      “Das ist Dog, der Hund meiner Mitbewohnerin”, erklärte ich, bevor ich zu Samu weiterlief, der an der Küchenzeile, schon einmal das Nahrungsangebot begutachtete.
      “So hungrig, füttert deine Freundin dich nicht gut zu Hause”, feixte ich und stieß ihm die Finger spielerisch in die Seite.
      “Doch, das heißt, wenn sie denn zu Hause ist”, lacht Samu, “aber das sieht wirklich vorzüglich aus, was du da vorbereitet hast.” Gierig wollte er schon seine Finger in eine der Schüssel stecken, was ich mit einem Stoß gegen seinen Arm quittierte.
      “Finger weg, aber den Dank musst du an Taavi und Juli richten. Die zwei haben den halben Tag lang gezaubert”, sprach ich und versuchte den Blonden in Richtung des Tisches zu schieben. Natürlich konnte ich nichts gegen seine gut trainierte Körpermasse aussetzen.
      “Du darfst dich darauf stürzen, sobald alle da sind”, probierte ich meiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen.
      “Nicht nett, dass du mich verhungern lässt”, schmollte dieser und verschränkte die Arme vor der Brust. Dennoch entging mir das Zucken in seinen Mundwinkeln nicht.
      “Du verhungerst in einer halben Stunde, aber bevor das passiert, hier”, sprach ich und drückte ihm eine Schale mit Plätzchen in die Hand. Samu schaute nicht schlecht, als er liebevoll verzierten Rentiere, Pferdchen und was mir sonst noch so an Ausstechern in die Hände gefallen war, in der Schüssel sah.
      “Lina, du hast dir viel zu viel Mühe gegeben Essen zu verzieren”, stellte er fest, begab sich aber dennoch endlich zum Tisch. Auch ich begab mich zu einem freien Stuhl zwischen seiner Schwester und Anni, seiner Mutter. Kaum hatte ich mich gesetzt, überfiel sie mich mit einer Frage: “Ich hörte gerade, du hast einen Freund, wie ist der so?” Dass diese Frage jetzt erst kam, verwunderte ich schon ein wenig. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mit ihren Fragen so lange an sich halten konnte.
      “Niklas ist charmant, unheimlich klug, sieht gut aus …”, lächelte ich zurückhaltend. Nicht dass es mir peinlich war über meinen Freund zu sprechen, doch ich hatte das Gefühl gegenüber Samus Eltern die Worte ein wenig bedacht auswählen zu müssen.
      “Mensch Lina, jetzt untertreib mal nicht, dein Freund ist absolut heiß”, grätschte meine Schwester nun dazwischen. Taavi schien dieser Kommentar weniger zu gefallen, denn er legte ihr unmittelbar die Hand aufs Bein, als stiller Appell, dass sie bereits vergeben war.
      “Juliette”, empörte ich mich, während mir die Röte in die Wagen stieg.
      “Und wo hast du den heißen Niklas versteckt? Wird man den heute noch kennenlernen?”, schmunzelte die Blonde mit funkelnden Augen.
      “Nicht hier, er hat familiäre Verpflichtungen, aber morgen kommt er”, versuchte ich ihre Neugierde zu stillen. Bereits jetzt war sie mir ein wenig zu aufdringlich, zumal seit Julis Einwurf auch Samus Eltern hellhörig geworden waren. Einzig Niila und Joona schien das ganze wenig zu interessieren, denn diese hatten sich mit ihrem Bruder in eine hitzige Diskussion über das letzte Spiel des HIFK vertieft.
      “Wirklich bedauernswert, ich würde zu gerne sehen, wer dich in dieses Land entführt, hat”, entgegnete Eevi schon beinahe vorwurfsvoll, ”Aber dann möchte ich wenigstens Bilder sehen.” Während ich für Eevi ein paar Bilder heraussuchte, stand Juli auf und lief zu der Küchenzeile.
      “Damit du mal ein wenig redseliger wirst”, kicherte sie mir ins Ohr und schenkte mir ein Glas aus der grünen Flasche ein, bevor sie auch den Rest daraus anbot.
      In den folgenden zwanzig Minuten musste ich Eevi zahlreiche Fragen beantworten, wobei sie durch die schalkhaften Kommentierung meiner Schwester auch noch angefeuert wurde. Vorübergehend erlöst wurde erst als Samus Freundin endlich eintraf.
      Bereitwillig lief Samu zur Tür, um den Nachzüglern Einlass zu gewähren. Enya, die ich sonst nur im Alltagslook kannte, hatte eine wahrhafte Verwandlung durchgemacht. Engelsgleich erschein sie in einem schlichten weißen Kleid, welches ihrer außerordentlich schönen Figur schmeichelte und ihr goldblondes Haar fiel in leichten Wellen über ihre Schultern.
      “Warum hast du denn nicht erzählt, dass mein Bruder so eine hübsche Freundin hat”, tuschelte Eevi mir leise zu, während mein bester Freund, ganz der Gentleman, den neuen Gästen die Jacken abnahm.
      “Du hast mich ja kaum zu Wort kommen lassen”, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Bevor sie noch etwas entgegnen konnte, kam allerdings ein strahlender Samu mit seiner Schönheit am Arm an den Tisch. Wohlerzogen stellte er Enya zuerst seinen Eltern vor, bevor sich die gesamte Familie Bäcklund auf die verbliebenen Plätze begab.
      “Wo jetzt alle da sind, möchte ich euch noch einmal herzlich willkommen heiße. Danke, dass ihr alle, den weiten Weg nach hier draußen auf euch genommen habt, um heute hier zu sein. Viel länger möchte ich euch auch nicht mehr vollquatschen. Somit God Jul und guten Appetit”, richtete ich meine Worte an die versammelte Menge und gab damit das Buffet frei. Frohsinn lag in der Luft und durchströmte auch mich. Über die Gespräche beim Essen konnte ich eine Menge neuer Informationen über die Geschehnisse in der Heimat erlangen, während Eevi damit beschäftigt war, der Freundin ihres Bruders auf den Zahn zu fühlen. Exponentiell zu den sich leerenden Weinflaschen stieg die Stimmung in dem Raum und die Gespräche wurden ausgelassener. Ich folgte gerade einer interessanten Erzählung von Enya über einen komplizierten, aber unheimlich interessanten Fall von Lahmheit in der Klinik, als das Smartphone in meiner Hosentasche keine Ruhe mehr geben wollte. Zahlreiche Benachrichtigungen ploppten auf dem Bildschirm auf, die ich grob überflog. Ein paar Weihnachtsgrüße von Alec, Quinn, auch Mateo hatte mir geschrieben. Der junge Mann, der seit Kiel zum Team gehörte, verbrachte die Feiertage bei seiner Schwester, die nicht unweit von Högsby einen kleinen Hof hatte.
      „Schöni Weihnacht wünsch ich dir”, schrieb er in dem komischen Dialekt, den er deutsch nannte. Wirklich seltsam waren diese Schweizer. Anbei sendete er noch einige Bilder von den Pferden seiner Schwestern, die einige wunderschöne Freiberger besaß. Ein prächtiger Schimmel trat besonders auffällig zwischen den restlichen Tieren hervor, der von der Statur her sicher ein Hengst sein mochte. Niedlich von Mateo, dass er an meine Passion für diese seltene Rasse dachte.
      Ich scrollte weiter durch meine Nachrichten, stockte, als ich einen Namen las, der schon lange nicht mehr dort aufgetaucht war, genauer gesagt seit über vier Monaten nicht mehr. Mit dem Verlassen des Whitehorse Creek Stud, brachte ich nicht nur eine räumliche Distanz zwischen uns. Zu verwirrend waren meine Gefühle noch gewesen und zu frisch die Erinnerungen an ganz neue Seiten, die dieser Sommer ans Tageslicht gefördert hatte. Doch mir war auch nicht entgangen, dass Jace das nicht so einfach akzeptierte. Jeden einzelnen meiner Social Media Post hatte er gelikte, sogar eines der Bilder mit Niklas. Das kam mir äußerst seltsam vor, immerhin sprachen wir noch immer von dem Kerl, der meinem Freund die Nase brach. Und dass, obwohl Niklas in dem Moment nicht mehr getan hatte als nett zu sein. Wie auch schon Jace Kommentierungen auf Instagram ignorierte ich ebenfalls seine Nachricht. Ich fühlte mich nicht bereit, mich mit ihm auseinanderzusetzen, erst recht nicht an diesem Festtag. Stattdessen sendete ich meinen anderen ehemaligen Kollegen Weihnachtsgrüße zurück.
      „Na wer beschäftigt dich so intensiv?“, fragte Eevi bei der meine Aktivität an dem Gerät nicht unbemerkt geblieben war, “Dein heißer Polizist?” Vom Alkohol aufgeputscht kicherte sie wie eine zwölfjährige. Im Allgemeinen schien die Stimmung erheblich vom Alkohol beeinflusst. Niila und Joona führten mit Enyas Vater einen angetretenen Fachdiskurs über Motoren oder Ähnliches, wohingegen Juliett ihre Finger nicht bei sich behalten konnte und fortwährend ihren Freund betatschte. Samus Mutter hingegen brachte zahlreiche Anekdoten ihrer Kinder zu besten, von denen sich Enya offenbar gut unterhalten fühlte, zumindest, solang ihre Mutter keine Geschichte ihrerseits dazu beisteuerte.
      “Wenn es so wäre?”, stellte ich mit einem verwegenen Grinsen eine Gegenfrage.
      “Dann könntest du ihn ja fragen, ob er nicht vielleicht doch herkommt”, schlug die Blonde schmunzelnd vor.
      “Ach, das schaffst du doch sicher nicht, dass er jetzt noch kommt”, warf meine Schwester plötzlich ein. Klar, dass sie bei diesem Thema augenblicklich hellhörig wurde, auch wenn sie für gewöhnlich weniger angriffslustig war. Vermutlich war es der Alkohol, der mir zu Kopf gestiegen war, der dafür sorgte, dass ich ihr augenblicklich widersprach.
      “Natürlich bekomme ich Niki her. Ist doch ein Kinderspiel mit den richtigen Worten”, entgegnete ich selbstsicher. Es war eindeutig der Wein, der aus mir sprach. In der Regel war es eher das Gegenteil von einfach den viel beschäftigten Mann herzubekommen, wenn er nicht ohnehin schon kommen wollte.
      Jedenfalls ergriffen meine von Überzeugung getriebenen Finger erneut das Mobilgerät und tippten in Lichtgeschwindigkeit auf dem leuchtenden Bildschirm herum. Kaum hatte ich die Buchstaben in das weltweite Netz entsendet, änderte sich der Onlinestatus. Auch fing er sogleich zu schreiben an, sodass wenig später ein einziger Satz erschien: “Ich fahre in zehn Minuten los.”

      Vriska
      „Wo willst du hin?“, fragte Mama irritiert, mit dem Weinglas in der Hand, das drohte rote Flecken auf dem hellen Teppich zu hinterlassen.
      „Das habe ich dir vor Stunden schon gesagt“, vorsichtshalber rutschten meine Augen zur Uhr, „ich möchte noch zu Tyrell und Bruce.“
      „Wir sehen uns doch kaum“, jammerte sie auf einem Mal, obwohl sie dazu beitrug, dass ich den Großteil aller Familienfeste seit Jahren mied. Immer wieder hakte sie auf mir herum mit denselben Sprüchen über mein Aussehen, das gipfelte in dem, dass selbst mein so schweigsamer Bruder für mich Partei ergriff.
      Ich schwieg und zog mir meine Jacke über an der Tür.
      „Was willst du überhaupt bei denen? Wir sind deine Familie“, warf Mama mir plötzlich vor, als hätte ich es jemals laut ausgesprochen, dass sie mir egal war.
      „Familie Earle ist auch meine. Sie haben mir durch so schwere Zeiten geholfen und lebe mit ihren, daran ist nichts verwunderlich“, erklärte ich ruhig, obwohl ich innerlich brodelte.
      „Aha.“
      Hinter mir fiel die Tür zu. Kopfschüttelnd lief ich über den gefrorenen Boden und sah schon aus der Ferne das kleiner Feuer, das entfacht wurde. Obwohl meine Schwester bis zum Schluss versucht hatte, Mama davon zu überzeugen, dass ich keinesfalls mein Handy zurückbekommen sollte, hielt ich es in der Hand. Es grauste mir, es tatsächlich anzuschalten. Vermutlich würde Bildschirm vor Überlastung explodieren. Schweren Herzens steckte ich es in die Jackentasche und versuchte Land zu gewinnen.
      Kaum erreichte ich die kleine Runde am Feuer, wurde ich herzlich begrüßt. Mir gegenübersaß ein älterer Herr, der sich sogleich als Lars Vater Bruno vorstellte. Bei Bruce hatte Nour Platz genommen, die ebenfalls zur Familie Alfvén gehörte.
      „Und du bist dann Vriska?“, lächelte Nour und schielte dabei immer wieder zu ihrem Bruder hinüber, der im Schein der Flamme einen hochroten Kopf hatte. In der Hand hielt er ein Bier, wie alle anderen. Auch mir bot man umgehend eins an, offenbar sah ich so aus, als würde, könne ich es gebrauchen.
      „Ja“, sagte ich freundlich. Noch während ich mich nach einem Platz umsah, zog Lars mich zu sich.
      „Wir haben schon viel gehört“, fügte Nour hinzu.
      „Nur Gutes, hoffe ich“, drückte ich einen Standardspruch heraus, aber bekam diverse Dinge in den Kopf, was genau sie meinten könnte. Das bestehende Gespräch setzte sich fort. Tyrell erzählte, dass noch vor dem neuen Jahr eine Stute aus Deutschland kommen würde zum Training. Ihre Chancen seien gut. In der Heimat fuhr sie bereits in Amateurrennen einige Siege ein, aber es fehlte noch viel zum Derby.
      „Hast du dir schon überlegt, wer sie fahren wird?“, funkelten Nours Augen in Tyrells Richtung, der sich hauptsächlich um die Zucht kümmerte. Das Training übergab er Bruno.
      „Wenn du so fragst, kannst du sie gerne übernehmen“, schlug er vor. Nicht, dass es ihm etwas bedeuten würde, wer welches Pferd trainiert, viel mehr war es die Tatsache, dass er die Damen am Hof glücklich sehen wollte.
      „Vriska, wie sieht das bei dir eigentlich im nächsten Jahr aus?“, fragte Tyrell, nach dem ein Schweigen ausbrach. Natürlich hatte ich darüber viel nachgedacht, aber ich wusste es nicht. Nachdem Lina meine größte Sorge bestätigt hatte, verlief sich der Strom in meinem Kopf in den Sand.
      „Ich lasse es auf mich zukommen“, sprach ich zittrig. Lars legte seinen Arm um mich und mein Kopf senkte sich an seine Brust. Sanft drückte er mir einen Kuss an die Haare.
      „Dressur ist damit wieder Geschichte? Erzähl doch mal“, versuchte Tyrell weitere Informationen zu bekommen. Ehrlich gesagt, wusste er kaum etwas. Seitdem ich Erik hatte und den größten Teil damit verbrachte, ihn zu vermissen, allein in der Hütte, mied ich den Kontakt zu allen Beteiligten. Aber ich vermisste die kleinen Runden, jeden Tag.
      „Lubi soll so gut wie verkauft sein, also fällt die Saison für mich weg. Aber ich drücke mich auch davor, mein Handy anzumachen“, gab ich offen zu.
      „Fahri hat leider einen Sehnenschaden, sonst hättest du den nehmen können. Demnächst kommt noch ein Hengst in den Beritt, der auch auf Turnieren gehen soll“, schlug er vor. Ich zuckte mit den Schultern. Es war mir zu viel, nicht einmal richtig angekommen, fühlte ich mich.
      „Ich hatte ihr Osvo angeboten“, richtete Lars an seinen Vater. Dieser war sich unsicher. Einerseits hielt er die Stute als zu unerfahren und gleichzeitig für zu alt. Glücklicherweise erklärte Tyrell ihm einiges und ein reges Gespräch entstand. Osvo stammt aus einer Linie von erfolgreichen gerittenen Trabern. Seit der Führung von Zuchtbüchern in Amerika, beobachtet man immer häufiger Pferde, die in der Dressur oder Springen erfolgreich Turniere laufen, die auf bestimmte Hengste zurückgehen.
      „Also wenn das so ist“, Bruno nahm zur Stärkung einen weiteren Schluck aus seiner Flasche, „dann solltest du auf jeden Fall Osvo nehmen.“ Mich schockierte es, dass keiner von meinem schlechten Ritt Notiz nahm, oder zumindest Zweifel hegte, dass ich überhaupt reiten konnte. Die Vermutung lag nah, dass sie eben so wenig Ahnung vom Dressursport hatten wie ich.
      „Danke, aber ich saß ewig auf keinem Pferd mehr“, murmelte ich und verkroch mich noch tiefer an Lars Schulter, der immer wieder schief zu mir herunter grinste. Währenddessen war seine Hand immer tiefer gewandert, sodass er zufrieden meinen Po hielt.
      „Das lässt sich doch im Handumdrehen ändern“, grinste Tyrell, „ich halte es auch für wichtig, dass du etwas Abstand von Kalmar nimmst. Die Leute dort scheinen Gift zu sein für deine Motivation.“
      Seine Bedenken waren berechtigt. Ähnliches schwebte mir bereits durch die Gedanken, als ich im Flieger hierher saß. Vor allem wollte Abstand von Niklas nehmen, was angesichts der Umstände, allerdings schwierig werden würde.
      „Mal schauen“, antwortete ich trocken. Mit den Worten öffnete ich die nächste Bierflasche, die neben mir im Kasten stand, an der Tischkante und nahm einen kräftigen Schluck. Für alle anderen war auch die nächste Runde angesagt. Die Stimmung wurde zunehmend gelassener. Bruce erzählte von seinem neuen Hengst aus Island, der ausgezeichnetes Potenzial hatte und eine seltene Zuchtlinie im Papier. Außerdem entwickelte sich Kríts Nachwuchs, Spök, ausgezeichnet. Jahrelang hatte er auf den Tag hin gefiebert, dass seine Ausnahmestute einen vielversprechenden Nachkommen bekommt und offenbar hatte er mit der hübschen dunklen Stute mit heller Mähne und großen Abzeichen, einen gefunden. Ich freute mich für ihn, erst recht, endlich mal wieder was von den Fellmonstern zu hören. Gefangen in meinem Kopf, hatte ich meine eigentliche Leidenschaft vollkommen verdrängt.
      „Du weißt doch, Narcissa kannst du dir jederzeit nehmen“, erinnerte er mich daran, dass er mir die Stute angeboten hatte.
      Die Gespräche setzten fort, auch als Tyrell mit seinem Bruder verschwand, um nach einer der Einstellerstuten in der Box zu schauen, die demnächst abfohlen sollte. So saß ich allein mit Familie Alfvén am Feuer, zumindest für einen Wimpernschlag.
      „Wir werden schon mal in die Hütte gehen“, sagte Nour.
      „Ja, mir ist auch kalt“, fügte ihr Vater hinzu.
      Dann standen beide mit einem breiten Grinsen auf. Lars hatte nicht vor, ihnen zu folgen. Er wollte bei mir bleiben. Noch immer lag sein Arm fest um mich und als seine Familie aus der Sichtweite verschwand, hob er mich auf seinen Schoß. Seine Lust verspürte ich schon eine Weile. Immer wieder funkelten seine grünen Augen, ganz glasig durch den Feuerschein, in meine Richtung. Auch in mir war der Funke übergesprungen. In mehreren Wellen überkam mich ein undefinierbares Zucken, das sich wie tausend Ameisen unter der Haut ausbreitete und sich in der Magenregion sammelte.
      „Du weißt, was dir auch jederzeit nehmen kannst?“, spielte er auf Bruce Angebot an, aber meinte natürlich nicht Narcissa damit. Das hätte Lars wohl gern! Ich gab mich blöd und mich am Kinn. Verführerisch zuckten seine Lippen, ohne etwas zu sagen.
      “Nicht wirklich. Bruce Reitschuli oder was möchtest du mir sagen?”, sprach ich nach reiflicher Abwägung, wie viel Kontrolle ich bereit war, abzugeben. Einen kurzen Halm überließ ich ihn, seine Wunsch zu äußern. Aber er setzte diesen in die Tat um. Ungezügelt fasten seine kalten Hände in meine Hose, um das Shirt heraus zu Friemeln. Gleichzeitig setzten seine Lippen auf meine und die Gehirnzellen schalteten auf Autopilot. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Vielmehr überkam es mich mit Glück und Erfüllung und hoffte, dass der stürmische Moment mit ihm gar nicht mehr endete. Aber der frische Wind kletterte wie ein eifriges Äffchen an meinem Unterrücken hinauf, kühlte mich damit in kurzer Zeit herunter.
      “Komm, Drinnen ist wärmer”, flüsterte ich in sein Ohr, stopfte das Shirt zurück und griff seine Hand. Mit großen Schritten zog ich ihn mir nach. Der Weg zur Hütte war kurz und ohne groß darüber nachzudenken, öffnete ich die Haustür. Erschrockene Gesichter blickten uns an. Von einem auf den anderen Augenblick verstummten die Gespräche und eine gähnende Stille legte sich über die Menge. Viele der Anwesenden kannte ich nicht. Langsam schloss ich die Tür hinter mir und begann zu lachen. Sofort setzte auch Linas Schwester ein, die offenbar auch gut dabei war.
      “Tut mir leid für die Störung. Ich bin Vriska, das ist Lars”, erklärte ich kurz.
      “Da lang”, flüsterte ich im nächsten Augenblick dem Kerl neben mir zu, der sich suchend nach dem richtigen Raum umsah. Mit dem Finger deutete ich nach rechts zur geschlossenen Tür, vor der Dog lag und leise mit dem Schwanz aufs Holz klopfte. Lars begrüßte den Hund, aber ich hatte nur die Klinke im Blick. Kaum war sie offen, trabte das gefleckte Wesen hinein und machte sich auf dem Bett breit.
      Geschickt fischten seine Finger nach dem Reißverschluss meiner Jacke, als ich die Tür hinter uns schloss. Er drückte mich an sie und entfernte im Wechsel zu ihm und mir ein Kleidungsstück. Wieder lagen seine wohltuenden Liebkosen auf mir. Das Zittern und Zerren am Körper löste sich wie in Luft auf. Von jemandem begehrt zu werden, fühlte sich befreiend an. Ich spürte das Pochen seines Herzens sehr nah an einem und mit jedem Kleidungsstück, das irgendwo im Zimmer landete, kribbelte es mehr unter der Haut. Schockiert stockte mein Atem, als ich ihn zum ersten Mal in voller Blöße betrachtete. Seine Brust zuckte vergnügt und sein stählerner Bauch, drückte sich immer wieder in den Vordergrund, obwohl als einzige Lichtquelle der kleine Spalt zwischen Tür und Fußboden diente. Ein wohliger und zugleich ängstlicher Schauer durchfuhr mich, aber noch bevor ich mich meiner Angst hingab, legte er seine Hände unter meinen Po und stemmte uns gegen das Holz.
      Der Akt selbst dauerte nur wenige Sekunden, aber war wohl das Beste der letzten Monate, was erleben durfte. Wir verharrten für einen Augenblick, eng umschlugen an der Tür und mir wurde klar, dass wohl auch jeder andere in hörbarer Nähe, davon Notiz genommen hatte.
      “Du warst großartig”, murmelte ich außer Atem, mit meinem Kopf auf seiner kräftigen Schulter abgelegt. Kleine Schweißperlen tropften von seiner Stirn auf meine Brust und als er seinen Mund abermals auf meine presste, schmeckte ich das Salz an einer Zungenspitze.
      “Das höre ich gern.” Lars trug mich vorsichtig auf Bett und beugte sich über mich.
      “Zweite Runde?”, schmunzelte er selbstüberzeugt.
      “Warte, ich habe Durst”, erklärte ich mit trockener Kehle und kletterte zwischen seinen Armen hindurch. Im schlechten Licht suchte ich nach einem Shirt, fand dennoch nur seins, aber dafür eine saubere lange Unterhose. Barfuß huschte ich durch die Tür, versuchte mich möglichst unauffällig an der Maße an Menschen vorbei zu schleichen, was, angesichts der Umstände, unmöglich war. Erst recht aus dem Grund, da Linas Schwester gerade eine neue Weinflasche aus dem Schrank holte.
      “Doch so schlecht, dass du schon wieder da bist?”, gluckste die Brünette, während sie sich an dem Korken zu schaffen machte.
      “Das ist aber lieb”, zog ich spitz die Augenbrauen zusammen und nahm ihr beherzt die Flasche aus der Hand, bevor sie reagieren konnte, setzte ich zu einem beherzten Schluck an. “Aber nein, natürlich nicht.”
      “Hätte mich auch gewundert”, mischte sich plötzlich eine tiefe männliche Stimme ein, die mir, gewiss, bekannt vorkam, “aber was soll man sagen, dumm fickt gut, nicht wahr?”
      Ein tiefes Raunen ging durch die Menge. Glücklicherweise hielt ich die Flasche bereits und setzte sie ein weiteres Mal an.
      „Da kannst du aus Erfahrung sprechen, nicht wahr?“, provozierte ich weiter, obwohl mir im selben Atemzug klar wurde, dass Lina auch noch da war. Flaschi und ich waren jetzt ohnehin schon Freunde, also durfte sie ein weiteres Mal ran. Erst dann drehte ich mich um und Lina lehnte mit hochroten Kopf in ihren Armen auf dem Tisch. Alle anderen Beteiligten lachten, was ich als eher als Übersprungshandlung einschätzte. Ich wäre mir auch unsicher, wie es gemeint war.
      “Wir leiden alle einmal an Geschmacksverirrung und du warst die Größte.” Niklas verschränkte die Arme und lehnte sich weiter in den Stuhl. Das war ein Tiefschlag. Mir blieb der Atem weg und jegliche Begeisterung glitt aus meinen Gesichtszügen. Niemand sagte mehr etwas, sodass die Schritte hinter mir klar ertönten. Eng legte Lars seine Arme über meine Schultern und drückte mich an sich heran.
      “Komm, Kleines. Der hat doch keine Ahnung.” Er gab mir einen seichten Kuss auf die Haare. Der Motor des Lebens kam wieder in Bewegung und ich war froh, dass er mir half. Natürlich nahm er mir meine neue Freundin aus der Hand, um selbst einen Schluck zu nehmen.
      “Der gehört mir”, funkelte ich meine Bekanntschaft an, der ein freches Lächeln auf die Lippen legte. Da ohnehin keiner mehr etwas sagte, liefen wir zurück ins Zimmer, um fortzusetzen, wo wir aufgehört hatten.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 77.570 Zeichen
      zeitliche Einordnung {24. Dezember 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel tjugofyra | 31. Juli 2022

      Osvominae / Planetenfrost LDS / WHC’ Golden Duskk / Moonwalker LDS / Maxou

      Vriska
      Zugetraut hätte ich Lina das Durchhaltevermögen nicht. Seit vier Tagen schlief ich nun bei Lars auf der Couch und gewöhnte mich sogar langsam an den ekligen Filterkaffee, der mich jeden Morgen auf anderem Weg wach machte. Ihm kam meine Anwesenheit allerdings sehr entgegen. Wenn er von einem Training in der Kälte am Abend kam, stand Essen auf dem Tisch. Selbst Bruno, der dem „Gemüsezeug“ kritisch gegenüberstand, aß es mit vollkommenem Genuss. Es war eine Tradition der Familie am Abend zusammen zu essen, was mich in der konsequenten Umsetzung ziemlich überraschte. Sie unterhielten sich über die Pferde, was auch sonst. An den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr herrschte nicht viel Abwechslung. Ich hörte gespannt zu, aber schwieg die meiste Zeit. Mein Alltag bestand daraus, mit meinem Pony spazieren zu gehen und das Findelkind mitzunehmen. Aber was war in den Tagen passiert?

      „Papa, was ist eigentlich mit Osvo?“, fragte Lars dann, als wir auf das Thema Reiten zurückkamen.
      „Nun“, der ältere Herr seufzte, „ihr beide saht toll aus, aber Osvos Gelenke, wenn der ständigen Belastung nicht standhalten. Du hast wohl – “
      „Nein, habe ich nicht“, beendete mein Sitznachbar den Satz. Obwohl es mich brennend Interessierte, wovon sie sprachen, hielt ich mich zurück. Ich wollte mich nicht in fremde Angelegenheit einmischen.
      „Sie hatte einen Unfall mit Mama“, erzählte Nour dann. Es klang grausam, zumindest, was folgte. Wochenlang statt die damals noch sehr junge Rappstute in der Klinik, nach dem sie sich am Sulky überschlug und eine Böschung herunterrollte. Damit erledigte sich rasch die Karriere als Rennpferd und erst viele Jahre danach, traute sich jemand, das Pferd von der Weide zu holen. Osvo hatte sich prächtig entwickelt, aber die Angst blieb.
      „Du kannst sie aber zum Training nutzen“, bot Bruno dann an.
      „Von der kannst du noch einiges Lernen“, fügte dann auch Lars hinzu. Mit gedrückter Stimmung nickte ich höflich.
      Nach dem Essen räumte ich auf, die Familie verließ die bescheidene Hütte wieder. Viele Stunden war ich wieder allein, tippte eine oder zwei Seiten auf meinen Laptop, bevor ich es zur Seite legte und die Couch zu meinem Bett formierte.
      Der kleine Zeiger zeigte auf Zehn, als ich im Halbschlaf die Tür schließen hörte und Dog, der zweimal aufgeregt bellte. Lars kam wieder, der zuvor noch mit Freunden in einer Bar war, wie die letzten Abende auch.

      Besten Gewissens arbeitete ich mit Osvo, die sich noch immer nicht ganz sicher unter mir fühlte. Tyrell gab mir Unterricht, während meine Familie am Rand saß. Selbst Madly, die die Pferde noch immer eklig fand, sah mir bei der Arbeit zu. Ich hatte mich heute überwunden und sogar Dustin an der Doppellonge longiert. Der junge Traber Hengst, mit hohem Vollblut-Anteil, trabte mit weit geöffneten Nüstern vor sich. Es dauerte, bis er zur Ruhe kam und geduldig meinen Gymnastizierungshilfen folgte.
      Nach dem Warmreiten wurde ich lockerer, was auch Osvo zu besseren Leistungen bewegte. Der Trab war schwungvoll und punktgenau, wenn ich die Beine anlegte. Nur die Bremse fanden wir noch nicht.
      Lina sah ich kaum. Ihr Freund hatte es wirklich geschafft, dass ich die Blöde war, was auch immer seine Beweggründe dafür waren. Eine Möglichkeit zum Nachfragen bekam ich nicht. Selbst, als ich Osvo absattelte und das Zeug in Kammer brachte, strafte mich Lina weiterhin mit schweigen. Für einen Augenblick waren wir allein, aber als ich nach ihrem Wohlbefinden fragte, lief sie mit gesenktem Kopf an mir vorbei, als wäre ich Luft. Ich sah mich noch um, aber akzeptierte ihre Stille. Vermutlich berichtete Niklas ihr von den anfänglichen Eskapaden mit ihm am Hof, die ich tatsächlich etwas vermisste. Mit Lars war es ziemlich leicht, aber nach der einen aktiven Nacht, bebte meine Brust nicht mehr bei seinem Anblick. Damit verliefen sich alle weiteren Aktionen des Herren, nach meiner Aufmerksamkeit buhlend, in den Sand. Anfassen und Nähe gab es noch, aber Intimität wollte ich nicht.
      Die Stute kam zurück auf den Paddock und ich fütterte noch Heu bei allen, dann beendete ich meinen Arbeitstag. Im Bad trocknete ich den Hund, bevor ich eine Waschmaschine anstellte und mich mit einem Kaffee auf die Couch setzte. Unmotiviert tippte ich an meiner Geschichte weiter, die aktuell von Monotonie nicht zu übertreffen war. Jeder hatte Schreibblockaden und mit dem Gedanken, landete ich bei YouTube.
      „Vriska?“, stürzte Lars in die Hütte und erschreckte nicht nur den Hund. Sein Gesicht so rot wie seine Hände. Rote Flüssigkeit tropfte auf den hellen Holzboden und Dog verteilte natürlich überall Pfotenabdrücke.
      „Was ist passiert?“, krächzte ich noch verschlafen, nach einer Ruhepause auf der Couch. Auf dem Laptop dudelte noch ein Video vor sich hin.
      „Erzähle ich später, aber wollte nur Bescheid sagen, dass du nicht direkt für uns kochen brauchst. Wir müssen mit Nour in Krankenhaus“, sprach Lars so schnell, dass ich nur die Hälfte verstand. Aus der Aussage entwickelte sich eine Dynamik, die noch nicht wahrnahm. Mitten in der Nacht kamen alle drei zurück. Ich saß wach am Tisch, ziemlich besorgt, denn so viele Unfälle hatte ich bisher nicht erlebt. Das Blut war beseitigt und eine kalte Platte vorbereitet.
      „Wir lassen dich nicht mehr mit dem Traktor fahren“, lachte Bruno.
      „Ja, dachte ich mir“, stimmte Nour noch benommen von den Schmerzmitteln zu. Sie erzählte dann im Halbschlaf davon, dass sie es aus unergründlicher Weise geschafft hatte, sich den Arm zwischen der Schaufel und Fahrzeug einzuklemmen. Er war ausgeschalten, aber in der Panik verletzte sie sich schwer am Fleisch. Gebrochen war nichts, aber sie trug zum Schutz einen dicken Verband und wurde mit mehr als zwanzig Stichen genäht.
      „Und was machen wir wegen Mittwoch?“, fragte dann Lars und belegte sich ein Brot.
      „Wir können beide nicht als Amateur starten“, zuckte Bruno mit den Schultern. Beinah synchron bewegte sich ihr Blick zu mir. Ich zog meinen Kopf an den Hals und schüttelte diesen sehr langsam.
      „Vivi, bitte“, jammerte die schlappe Brünette und schob sich eine lockere Strähne aus dem Gesicht.
      „Ich habe aber doch keine Ahnung“, versuchte ich den Gedanken aus dem Kopf aller zu bekommen. Aber es hatte keinen Zweck. Einer nach dem anderen erklärte mir die Umstände und welche Aufgabe ich bei dem Rennen hätte, aber im Groben wusste ich es.
      „Ist doch gut“, sagte ich irgendwann genervt, denn es nahm kein Ende, „ich tu‘s.“
      „Super“, Lars grinste überzeugt und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Meine Augen folgten dieser. Er brauchte sich nicht einbilden, dass heute noch mehr laufen würde, aber den Moment ließ ich ihm.
      Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis Nour mit Bruno in die eigenen Vier Wände verschwanden. In meinem Magen spürte ich deutlich den Zwiespalt. Dem Rennsport hatte ich bereits nach einem halben Jahr den Rücken gekehrt, auch, weil ich Angst hatte. Mit den eigenen Augen sah ich, wie sich zwei Pferde ineinander verfingen, kurz vor der Zielgeraden. Vintage, der mittlerweile verkauft wurde, erschrak, aber ging damit als Erster ins als Schlusslicht ohne Fehler. Nur noch zögerlich setzte ich mich in den Bock und bevorzugte das Training auf der eigenen Bahn. Obwohl ich für kurze Zeit als eine der gefragtesten Fahrer für Hengste galt.
      Viele Stunden dachte ich darüber nach, auch am nächsten Tag konnte ich an nichts anderes mehr denken. Lars bot mir an, mit Walker noch ein Jogging zu fahren, aber ich hielt es für das Beste, dass der Hengst in dem Aquatrainer lief. Stattdessen begleitete ich ihn auf Dustin. Er hatte sich Plano angespannt, der ebenfalls morgen laufen würde auf 2150 m.
      „Ich muss jetzt mal fragen“, kam Lars nach dem Trab wieder auf meine Höhe und zog das Tuch herunter, das er als Windschutz vor dem Mund trug.
      „Dann hau raus“, antwortete ich. Unbestimmt zupfte ich an den Leinen, damit Dustin sich mehr streckte. Er hob den Kopf, aber schnaubte dann ab. Nur noch das letzte Ende umschlossen meine Finger, damit hatte der Hengst volle Bewegungsfreiheit.
      „Möchtest du nicht öfter fahren? Du wirkst so viel glücklicher auf dem Bock als im Sattel und wir haben doch Spaß zusammen.“ Tatsächlich spielte ich mit dem Gedanken auch schon, aber mir fehlte der Reiz am Rennen. In der Dressur konnte man sich etwas beweisen und genauer an sich arbeiten, als zu hoffen, dass das Tier im vollen Tempo nicht hinausfiel.
      „Lass uns, wann anderes darüber sprechen, erst mal möchte ich morgen überleben“, lachte ich, trieb Dustin voran durch eine Wellenbewegung in den Leinen.
      „Also bist du nicht abgeneigt?“, konnte er es nicht ruhen lassen. Deshalb gab noch etwas mehr Tempo, bis der braune im langsamen Tempo antrabte. Dem nachzukommen, gelang Lars mit Plano problemlos.
      „Ich komme aus dem Gangsport“, begann ich meinen Werdegang zu erzählen. Er hörte aufmerksam zu, obwohl er die Hälfte davon schon gehört hatte. „Deswegen lag es damals nah, mich auf den Sulky zu setzen und dass einige so schön locker Tölten, beglückt mich.“
      „Du wirst schon wissen, was du tust, aber ich glaube, dass du gut in unsere Truppe reinpasst. Die Schnösel aus Kalmar sind schon ziemlich weit weg von deinem Temperament“, pflichtete Lars bei.
      „Ganz falsch liegst du damit auch nicht. Aber ich mag die meisten, wenn da nur Niklas nicht wäre“, murmelte ich. Dann trabten wir noch etwas flotter, wodurch das Gespräch beendet wurde. Am Stall fragte Lars erst wieder nach, denn auf dem Rückweg erklärte er noch einmal einige Sachen in Bezug auf das Fahren und korrigierte minimale Fehler meiner Art und Weise. Dankend nahm ich seine Tipps an.
      Bei einem Schluck Wein am Abend verriet mir Lars die beste Strategie für Walker. Der Hengst bevorzugte es ein oder zwei Pferde vor sich zu haben und erst im letzten Bogen vorzusetzen. Je weiter hinten er lief, umso weniger Motivation bekam er. Also sollte ich bereits am Anfang des Rennens Gas geben und mich auf jeden Fall zur dritten bis vierten Position kämpfen. Das notierte ich mir noch im Handy. Hilfesuchend blickte ich zum Regal und realisierte, dass das nicht mein Haus war.
      „Ich müsste noch mal zu Lina hinüber, weil da liegt mein Buch“, erklärte ich.
      „Vielleicht besser nicht, Niklas ist noch immer da, aber sie könnte es dir morgen geben. Sie kommt mit.“ Mir rutschte das Herz einige Zentimeter tiefer und setzte augenblicklich aus. Dann sprang es, wie von einem Blitz getroffen, nach oben und ich spürte den Schlag bis zum Hals.
      „Wie, Lina kommt mit?“, wiederholte ich strauchelnd seine Worte.

      Noch ein Rennen in dem Jahr zu fahren, hätte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen können oder überhaupt vom Regen in die Traufe zu fallen. Für einen Augenblick schloss sich mein Leben zu einem Kreis. Das Jahr endete, wie es begann: große Veränderungen. Es fühlte sich noch wie gestern an, als ich meinen Amateurfahrer antrat und nun, wusste ich gefühlt nichts mehr. Zudem saß ich noch nie mit Walker angespannt im Wagen. Mir schlotterten die Knie beim bloßen Gedanken, aber Lars begleitete mich, der jedoch nur seinen Start im Kopf hatte. Seit dem Aufstehen sprach er von nichts anderem mehr. Dieser junge Herr reduzierte sich so gern auf sein Alter, verhielt gleichzeitig sich wie ein Kind bei der Einschulung, eigentlich sehr süß, wenn es dabei nicht darum ging, welche Bekanntschaften vor Ort waren.
      Mein Blick hielt ich fest zur Straße gerichtet, denn entgegen aller anderen Männer im Umfeld fuhr er ungern und Lina mied ebenfalls hinter dem Lenker des Transporters zu sitzen. Mehr waren wir heute nicht, denn Tyrell musste mit Bruce zu unserem Bauern fahren, um etwas wegen des Heus zu klären.
      „Hier müssen wir rein“, rief Lars auf einmal und versperrte mir die Sicht mit seiner Hand. Voller Panik drückte ich auf die Bremse und spürte den Widerstand. Auf dem Bildschirm sah man die Hengste von einer Seite zur anderen treten.
      „Bist du des Wahnsinns?“, fauchte ich.
      „Tut mir leid“, gab er umgehend nach und im Schritttempo setzte ich das Fahrzeug zurück. Sooft ich auch schon in Kalmar war, kannte ich diesen Weg noch gar nicht, dabei fuhr er sich deutlich angenehmer und wir kamen ebenfalls am Hof an. Überall reihten sich Transporter aneinander, Fahrer führten ihre Pferde entlang und Trainer brüllten unverständlich. Ich hatte das alles anders in Erinnerung, romantischer. Zudem senkten wir den Altersdurchschnitt auf ungefähr 45 Jahre.
      Lars stieg früher aus, um die drei Hengste bei den Organisatoren anzumelden und unseren Fahrerwechsel zu melden. Bei Walker im Equidenpass steckte ein Zettel, auf dem alle wichtigen Daten von mir waren. Vorbildlich, wie mein Bruder war, hatte er das vorbereitet.
      „Bist du soweit?“, grinste ich Lina an, als wäre nie etwas vorgefallen. Gleichzeitig wirkte sie, nicht ganz bei der Sache, starrte auf ihr Handy und wich meinen Blicken im Rückspiegel aus. Dabei lag es nicht nur an den vielen Sulkys, sondern auch meiner Präsenz. Immer noch besser, als allein am Hof zu sitzen, würde ich behaupten. Zusammen luden wir die drei Hengste aus dem Transporter, die uns geduldig nachliefen, und stellten sie in die vorbereiteten Außenboxen. Dustin musterte interessiert eine Stute, während Plano nicht ganz wohl bei dem niedrigen Band der Box war. Mehrmals schlug er mit seinem Bein dagegen und erschrak, wenn es nachgab. Ich war eingetragen für das zweite Rennen, in knappen anderthalb Stunden.
      Wir warteten auf Lars, der einfach nicht kommen wollte. Als wir den Transporter geleert hatten und ein weiteres Mal die Pferde geputzt, saßen wir neben ihnen. Lina schwieg die meiste Zeit oder richtete den Blick auf ihr Handy, grinste zwischendrin. Im Vorbeigehen lobten verschiedenen Menschen den hellen Hengst, der anmutig den Kopf hob und mit den blauen Augen funkelte.
      „Einen Perlino sieht man nicht alle Tage“, sagte ein älterer Herr, der bei uns anhielt. „Hengst?“
      „Ja, Moonwalker LDS aus der eigenen Zucht“, berichtete ich und strich ihm über den Nasenrücken.
      „Super, man findet euch im Internet?“, fragte er noch. Ich nickte zustimmend und deutete auf den Transporter, auf dem groß aufgedruckt alle Informationen standen. Rasch fotografierte er die weiße Schrift auf grauem Grund und verschwand in einer Menschenmasse.
      In Kreisen lief ich vor der Box weiter, hielt zwischendrin an, um eventuell Lars zu entdecken. Doch er war wie von Erdboden verschluckt. Die Zeit lag mir im Nacken, in vierzig Minuten begann das Rennen und ich musste Walker noch warm fahren.
      „Irgendwie muss ich das schaffen“, murmelte ich und nahm die dunkle Decke von seinem Rücken. Langsam hob er den gesenkten Kopf, wachte dabei aus seiner Trance auf.
      „Wird schon“, sagte Lina missmutig und reichte mir einen Haufen aus Leder, den ich eigentlich sortiert hatte. Also begann ich von vorne. Zunächst fischte ich den Gurt heraus und legte ihn diesen um. Dann suchte ich nach dem Schweifriemen.
      „Das ist cool, da steht sein Name drauf“, bemerkte Lina. Sie drückte mir das bunte Brustblatt in die Hand, dass sie aus dem Haufen herausnahm. Die besetzten Pailletten als Buchstaben bemerkte sie offenbar nicht, dabei hatte ich mir in der Nacht so viel Mühe gegeben, zum Entsetzen Lars’, der lieber schlafen wollte.
      „Ja, und auf dem Stirnriemen auch“, zeigte ich ihr stolz an der Trense, was auch ungeachtet blieb. Ich bewegte ein weiteres Mal meinen Daumen über den Schriftzug, in der Hoffnung, dass sie noch etwas sagen würde, aber Lina wendete sich ab. Das Handy hörte man in ihrer Tasche vibrieren. Damit hatte sich auch unser Gespräch.
      Mit leicht getrübter Stimmung trat in den Transporter ein. Es fehlte nur noch der Sulky am Gurt und meine richtige Kleidung. Am Haken hing alles, was ich suchte. In Windeseile steckte ich in der weißen Hose und schwarz-grünen Jacke, die zu unseren Stallfarben gehörte. Selbst der Helm war dem angepasst und mit meinen Anfangsbuchstaben gestaltet. Gerade, als ich den Clip an meinem Kinn zu schließen versuchte, spürte ich, wie meine Knie versagten. Noch im richtigen Augenblick fand einen Platz zum Sitzen. Vor meinen Augen funkelten helle Punkte, schwebten wie losgelassene Glühwürmchen durch den Raum. In den Ohren mischte sich die undefinierten Gespräche vor der Tür zu einem monotonen Rauschen, verstummten beinah. Einzig die Stimmen in meinem Kopf schrien noch, lauter als je zu vor. Ich war verrückt, stellte ich abermals fest. Mit einem erhellenden Bildschirm erinnerte mich mein Handy an die augenscheinlich ungelesenen Nachrichten von Erik. Wie ein Mahnmal prangerte sie mich an. Der Inhalt war grauenhaft. Er wollte mit mir abschließen, auch wenn es für uns beide Schmerzhaft sei. Der letzte Funken Hoffnung und Mut verglühte schon vor Stunden, als ich seine Nachricht empfing. Nicht, dass es mich verwunderte. Seit Tagen versuchte ich mich so zu verhalten, wie es Leute von mir erwarteten. Ein klares Beispiel hierfür war mein Bruder, der bei jeder Begegnung nachfragte, ob es mir gut ginge nach der Trennung. Dass dabei nie zur Rede kam, was überhaupt der Grund war, zerrüttete mein Inneres. Wenn ich an Erik dachte, hing ich nur noch dem Gefühl nach, das ich bei ihm hatte, konnte es aber durch Lars besser einordnen. Auch bei ihm schlich es sich an die Oberfläche, ohne dabei ein ernsthaftes Interesse an mehr vorauszusetzen. Ich versuchte mich daran, Schmerz zu fühlen, aber alles, was ich in mir fand, war Leere. Es fehlte mir an nicht, grob betrachtet.
      Von draußen ertönte Linas Stimme und ich begriff, dass mich in Gedanken verrannte. Mit einem tiefen Seufzer stieg ich die Stufe hinunter, oder mehr fiel ich und konnte mich an der Halterung auffangen. Noch immer hatten meine Beine nicht die gewohnte Stabilität erreicht. Dann schloss erst die Tür und meinen Helm. Lina blickte mich irritiert und zugleich besorgt an, während sie den Hengst tätschelte.
      Am Himmel stand noch die Sonne, wenn auch hinter dicken Wolken verhangen. Der Schnee lag nur an unberührten Stellen und tauche den Rest in ein tiefes dreckiges Loch. Es grauste mich schon, danach alles zu reinigen.
      „Du hast noch“, ein weiteres Mal holte meine Kollegin ihr Handy hervor, „zwanzig Minuten.“
      Im Magen krampfte es. Wie sollte diese Zeit ausreichen, den Hengst aufzuwärmen? Ich nickte nur und holte den Sulky heran, während Lina das Pferd herausholte und festhielt. Die eine Seite schloss sich wie gewohnt in den Clip, doch rechts wollte nicht so recht. Er schloss nicht bündig, rutschte stattdessen aus der Verankerung. Damit konnte ich nicht fahren und dass Lars noch immer vom Erdboden verschluckt wurde, löste Panik aus. Immer wieder versuchte ich das Metallstück in die Verankerung zu rütteln, drückte es besten Gewissens zu, aber er wollte nicht. Auf den ersten Blick war das Teil vollkommen intakt, schaute auch, ob Dreck darin steckte. Selbst Moonwalker, der durch Linas Präsenz ziemlich ruhig war, hob den Kopf und legte die Ohren an.
      „Okay, ich breche ab, das wird nichts“, sagte ich erschüttert und ließ den Sulky los. Eines Tages musste das Halterungssystem von Finntack auch versagen, das spürte ich schon beim Kauf.
      „Denk gar nicht daran, warte“, kam auf einmal ein Herr von der Seite, das höfliche Lächeln hinter einem Mundschutz versteckt, aber seine Augen strahlten. Ein erfrischender Schauer zischt wie vom Blitz getroffen von Kopf zu Fuß. Nach nur einem kurzen Zupfen und Drehen hakte sich der Verschluss mit einem Klicken ein.
      „Bitte schön, und jetzt los.“ Er schon das Tuch herunter. Zwischen den tiefen Wolken löste sich ein Sonnenstrahl und brachte ein verstecktes Herzklopfen hervor, das lieblich in den Fingerspitzen kribbelte. Die Füße schlugen Wurzeln in der Matschpfütze.
      „Danke“, stammelte ich heillos überfordert von Gefühlen und erhabenen Gedanken, die sich schützend wie eine Salbe auf jeden schmerzlichen Riss meiner Selbst legten.
      In seinem eher hageren Gesicht verlor ich mich, unbeachtet seines kräftigen Körpers, wusste nicht mehr, mit der plötzlich aufkommenden Motivation umzugehen. Es kochte und brodelte.
      „Du bist neu, oder?“, hakte er nach und strich Walker über den Hals.
      „Kann man so sagen“, stotterte ich noch immer.
      „Dann viel Erfolg“, grinste er, zog das Tuch wieder hoch und drehte sich um. Nur meine Beine versagten abermals. Wie vom Regen in die Traufe gefallen, wusste ich mit all den Emotionen nicht umzugehen, verspürte ein Gefühl von undefinierter Euphorie, die eigentlich gestoppt werden sollte. Offenbar hatte das Glück nichts mit meinem Kopf zu tun, vielmehr mit Trubel.
      „Vriska? Willst du nicht langsam? Du hast noch fünfzehn Minuten“, mahnte es plötzlich von Seite.
      „Ähm ja“, sagte ich wie aus der Trance erwacht und stieg auf den Bock. Walker wippte mit dem Kopf, aber ließ sich mit einer leichten Bewegung der Leinen direkt in Bewegung setzen.
      Eine dicke, dunkle Wolke lag vor der tief stehenden Sonne und brachte einen kalten Windzug mit. Unsanft brannte die Luft an den freiliegenden Stellen im Gesicht. Warum genau hatte ich dem hier zustimmend? Im Schritt begann ich eine Runde, vielmehr sollte ich ohnehin nicht in der kurzen Zeit schaffen. Es ärgerte mich, dass Lars nicht kam und mich mit der großen Aufgabe allein ließ. Lina war schließlich auch nicht in der Lage, mir Tipps zu geben. Seufzend tuckerte ich über die Bahn, den Blick zu dem Po vor mir gerichtet, dass jemanden neben mir erst bemerkte, als eine Schnauze versuchte Walker zu zwicken.
      „Fünfzehn Minuten also?“, lachte die Stimme von eben.
      „Ja, leider“, fehlten mir die Worte.
      „Mutig, wirklich. Aber keine Sorge, es ist ohnehin erst Parade und dann noch mal fünf Minuten bis zum Start. Und eine Verspätung gibt es auch schon“, munterte er mich auf. Ich wusste enttäuschender Weise seinen Namen nicht, aber schämte mich auch, danach zu fragen. Mit einem Nicken verabschiedete er sich und trabte seinen Rappen an. Sehnsucht und Neugier lag mir im Herzen, sorgte für weitere Verwirrung, aber mit einem einfachen Gedankenspiel, wie ich es in Therapie öfter tat, richtete ich meine Energie zurück auf das Tier vor mir. Walker machte seinem Namen allen Ehren und lief im ruhigen Tempo voran. An mir trabten mehrmals hektisch andere Pferde vorbei, denen er keine Beachtung schenkte.
      Noch in der Parade setzte auch ich den Hengst eine Gangart höher. Obwohl ich zunehmend in Materie hereinkam, beschäftigte mich sein Tempo nicht. Ich versuchte, ihn möglichst regulierbar zu halten, bis die Startankündigung folgte. Um den Anschluss zu finden, gab ich ihm mehr Leine und der junge Hengst legte los. Es war zu spüren, dass er wusste, worauf es ankam. Vermutlich hätte Lars sonst auch die Idee nicht gehabt. Mit sechs anderen Amateuren platzierten wir uns hinter dem Auto und mein Startplatz, die vier, hätte mich schlimmer treffen können. Gefangen im Rausch, setzten wir vor. Um mich verschwamm es, einzig die Geräuschkulisse drang noch zu mir vor. Wie ich es gelernt hatte, lenkte ich den Perlino an den anderen vorbei, um nur noch zwei andere vor mir zu haben.
      Schon nach der ersten Runde kristallisierte sich heraus, dass ich kaum noch eine Chance haben würde für den ersten Platz. Zudem zog der Fuchs hinter an und überholte uns noch. Erst im Schlussbogen kam unsere Möglichkeit. Der aktuell Führende sprang in den Galopp und zog auch den Zweiten mit sich. Damit entstand ein Kopf an Kopf rennen mit dem Fuchs, den dieser für sich entschied. Walker war dennoch nicht zu stoppen. Erst nach dem zweiten Bogen gelang es mir, den Hengst wieder zu zügeln und damit in den Schritt zu parieren. Zufrieden lobte ich ihn. Mit einem Sieg rechnete ich ohnehin nicht, zudem könnte man es als Fügung des Schicksals ansehen, dass die beiden Pferd sprangen. Am Tor nahm mich Lars in Empfang, der offenbar doch noch lebte. Für einen Augenblick hatte ich bereits abgeschlossen, ihn heute anzutreffen.
      „War doch ziemlich vielversprechend für deine lange Pause“, lachte er und nahm den Hengst entgegen.
      „Ich hätte dich gebraucht, vor allem, weil du versprochen hast, da sein“, murmelte ich teils verärgert, teils enttäuscht.
      „Es tut mir leid, ich habe die Zeit aus den Augen verloren“, versuchte Lars zumindest, die gedrückte Stimmung zwischen uns einzunehmen. Ich wischte mir zeitgleich den Dreck aus dem Gesicht, der durchs Rennen auf mir landete. Auch Moonwalker sah so aus, als wäre er hoch oben im Orbit unterwegs gewesen, auch wenn dort kein Wasser gab.
      „Der Sulky wollte nicht in die Halterung und ich hätte beinah das Rennen verpasst“, berichtete ich von dem Zwischenfall.
      „Aber hast du doch noch geschafft?“, wunderte er sich und sah noch einmal prüfend zum Gurt.
      „Nur, weil mir jemand geholfen hat.“
      „Jemand, so so“, schmunzelte er, als hätte er eine Vorahnung. Fragend drückten sich meine Augenbrauen zu einer Falte auf der Stirn.
      „Du bist rot wie eine Tomate, dafür dass es jemand war“, klärte Lars auf. Sofort hielt ich meine Hände schützend vor mein Gesicht, die gröbste Verschmutzung brachte wohl eine ganz neue Färbung mit sich, dass er meine Hitzewallung bei dem bloßen Gedanken sah. Auf seine Anspielung ging ich jedoch nicht weiter ein, sondern entfernte, angekommen an der Box, den Sulky vom Gurt. Vorher nahm ich noch die Startnummern ab, die ich vor dem Betreten des Geläufs befestigt hatte. Auch Lina kam aus dem Transporter hervor, als sie den hellen Hengst erblickte. Wohl kaum würde sie den warmen Ort meinetwegen verlassen. Oder lag ihr Interesse bei Lars? Mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen, musterte ich ihren Gesichtsausdruck, der sich ebenfalls fragwürdig verzog.
      „Gibt es da etwas, was du erzählen willst?“, lachte ich beim Wegstellen des Gefährts.
      „Ähm“, sie kratzte sich am Kopf und wirkte nicht sonderlich Redebedarf, „aber du siehst ganz danach aus.“
      „Beispielsweise von deinem jemand“, griff Lars direkt ein, als wäre es so eine große Sache. Aber ich drehte mich nur kopfschüttelnd weg, keine gute Idee, wie ich im nächsten Augenblick feststellen musste.
      „Vriska? Musst du uns was erzählen? Deine nonverbale Kommunikation spricht Bände“, scherzte Lina und nahm mir dabei die Trense aus der Hand, die vom Kopf des Hengstes entfernte. „Dein Gesichtsausdruck kennen wir beide gut genug.“
      „Ja, mich hast du auch schon so angesehen“, konnte auch der Herr in der Runde nicht Ruhe geben.
      „Ich verstehe euch nicht“, nebenbei öffnete ich die Gurtung am Pferd, „der Typ war nur nett zu mir und aus unerklärlichen Gründen, gefällt er mir. Was geht euch das an?“ Als würde Walker meine Aussage unterschreiben wollen, schnaubte er zur Belustigung aller ab. Offenbar war die Sicht meiner Begleitungen eine ganz andere und ich verstand, dass es Angesichts meiner bisherigen Tat, auch nicht gern lag. Eigentlich stürzte ich mich von einem Drama ins nächste, doch dieses Mal sollte es anderes werden. Zumindest nahm ich mir das vor. Da die Beiden einfach keine Ruhe haben, erzählte ich weiter.
      „Schwarze Pferde gibt es hier einige“, merkte Lars an. Er und Lina hielten schon Ausschau, als würde sie besagten jemand ermitteln wollen, aber gingen dabei ziemlich willkürlich vor. Schließlich traf ich ihn zuletzt auf der Bahn, auf der er sich womöglich noch befand.
      „Und seine Startnummer?“, kam Lina nun auf eine andere Idee, um des Rätsels Lösung näherzukommen. Ich achtete auf ganz andere Dinge, als mir die Nummer an seinem Pferd zu merken. Nicht einmal wusste ich, ob es ein großes oder kleines Kopfabzeichen war, nur bei einer Blesse konnte ich mir sicher sein.
      „Zwei, glaube ich“, antwortete ich nach reichlicher Überlegung, „oder drei.“
      Lars ergriff sofort sein Handy und schaute sich die aktuelle Rennliste an. Seine Finger schwebten wie wild über dem Display, bis er wieder zu mir aufsah.
      „Blau oder Lila?“, fragte er dann.
      „Wie bitte?“, vor Verwunderung verzog ich das Gesicht, auch die Brünette blickte ihn mit Fragezeichen in den Augen an.
      „Sein Oberteil, Dummerchen“, schüttelte Lars den Kopf, „wenn du schon nicht das Pferd beachtest, klebten deine Augen wohl an ihm.“
      „Blau, schätze ich. Lila wäre mir im Sinn geblieben“, gab ich zu, dass auch dieser Fakt außerhalb meines Wirkungskreises lag. Er senkte wieder den Kopf über den Bildschirm und zeigte im nächsten Wimpernschlag einen hübschen Rappen, der exakt so aussah, wie das Pferd, was Walker in den Po zwickte.
      „Ja, das Pferd“, stieß ich kraftvoll heraus, dass auch Leute neben uns, kurz den Kopf zudrehten. Lina nahm ihm sofort das Gerät aus der Hand, um das Pferd genau zu betrachten.
      „Der ist wirklich schick“, merkte sie an.
      „Dann weiß ich, wer“, grinste Lars aufgesetzt. „Aber lass es, was auch immer du vorhast. Spar dir deine Energie, bei dem ist jede Hoffnung verloren.“
      „Wie heißt er?“, fragte ich zeitgleich und überhörte seinen Zusatz komplett.
      „Das Pferd ist Pay My Netflix“, beantwortete er nur halb meine Frage. Aber bevor ich weitere Informationen bekam, legte er seine Hand auf meine Schulter. Ein kalter Schauer breitete sich aus, verursachte wie eine Lawine kleine weitere Wellen, die eine Gänsehaut am ganzen Körper verteilten.
      „Denk gar nicht daran, außerdem bin ich da, wenn du mehr brauchst“, flüsterte Lars in mein Ohr und lief weiter zu Dustin, mit dem er gleich starten würde. Das Angebot wusste ich zu schätzen, und ich würde vermutlich auch noch darauf zurückkommen, aber sein unbemerkter Anfall von Konkurrenzdenken entfachte ein kleines Feuer, das den Schnee zu schmelzen wusste.
      Walker trug in Zwischenzeit seine Decke und hatte sein vorbereitetes Futter verschlugen. Zu guter Letzt holte ich noch die Bandagen aus dem Transporter, damit seine Beine warm blieben, und nicht schlagartig abkühlten, wickelte ich sie deutlich höher, als in der Dressur. Dazu gehörten auch das Kapalgelenk. Lars hatte mir am Stall auch noch weitere Gründe der Notwendigkeit genannt, die ich in meinem Kopf nicht wiederfand. Im Gegensatz zu Eskil interessierte ihn auch nicht, wie das Werk am Ende aussah, nur halten sollte es und das tat es. Mit gesenktem Kopf zupfte der Hengst das Heu, während ich meine Arbeit ausübte.
      „Jetzt hat er Kniestrümpfe“, bemerkte Lina beiläufig, hing allerdings wieder an ihrem Handy.
      „Jetzt“, ich atmete noch einmal tief durch, „musst du aber herausrücken, was so spannend ist“, sagte ich zu ihr und versuchte dabei ein Blick auf das Gerät zu erhaschen, aber sie drückte den Bildschirm direkt zur Brust.
      „Kannst du vergessen“, grinste sie schelmisch.
      „Das ist unfair. Ihr habt mich ausgequetscht, wie eine Zitrone und du sagst mir nicht einmal, wer oder was dich so ablenkt“, jammerte ich. Mein Bein trat energisch auf den Boden, als wäre ich ein Kind im Supermarkt, das keine Süßigkeiten bekommt.
      „Okay, nur so viel. Es geht um ein Pferd“, entlockte Lina zumindest eine Information.
      „Ich wusste nicht, dass du schon wieder nach einem suchst“, zuckte ich mit den Schultern, denn das Thema schien mich nicht sonderlich zu betreffen. Bestimmt war es wieder eins von diesen Kaltblüter-Verschnitten, die sie vergötterte. Sie waren hübsch, ja, aber vielmehr konnte ich ihnen nicht abgewinnen. Die flauschigen Traber von Lars sowie seiner Familie waren eher mein Fall, denn sie liefen deutlich eleganter und leichtfüßig. Sie erinnerten mich an große Isländer, ohne Tölt.
      Nachdem Lina mich wieder mit Schweigen gestraft hatte, entschied ich die dreckige Kleidung abzulegen, die langsam trocknete. Vor dem Eintreten warf ich die Überzieher ab und stand mit Leggings und kurzem Shirt im Eingang. In den kargen Bäumen rauschte der Wind hindurch und trug eine kleine Schneeböe zu mir. Als ich mich hinunterbückte, um meine Sachen aufzusammeln, sah ich Lars aus dem Augenwinkel herantreten.
      „Also jetzt ist ungünstig“, lachte er und klatschte mir dabei auf den Po.
      „Das tut mir aber wirklich leid“, spielerisch setzte ich einen Schmollmund auf.
      „Na gut, wenn du schnell bist.“ Lars war im Begriff den Knopf seiner Hose zu lösen, als ich seine Hand griff und ihn aufhielt.
      „Denk gar nicht daran, ich wollte mich nur umziehen und mein Geld abholen gehen“, grinste ich. Nun schmollte er. Während ich die Sachen aus der Tür herausschüttelte, nahm Lars seinen Helm aus dem Schrank und Handschuhe.
      „Zweiter Platz sollte nicht einmal so wenig sein“, bemerkte er nebenbei.
      „Was war denn die Gewinnsumme?“, halte ich noch, schließ war ich nur für Nour eingesprungen und hatte mir nichts angeschaut. Unvorbereiteter konnte man vermutlich nicht ins Rennen gehen.
      „52.500 SEK, wenn ich mich nicht irre.“
      „So viel?“, baff stand ich am Tisch, klammerte mich an der Kante. Kurz überschlug ich Walkers Gewinnsumme im Kopf. „Das sind dann 13.000 SEK für uns, oder?“
      „Ja, das sollte passen“, nickte er grob, als wäre es Kleingeld. Dann lief er hinaus. Bei einem so hohen Betrag hätte ich vermutlich etwas mehr Gas gegeben, aber ich wusste natürlich, dass besonders die Rennen in Schweden nicht niedrig dotiert waren. Im Kopf rechnete ich weiter. Tyrell war großzügig, was den Anteil der Fahrer betrifft und gab uns dreißig Prozent ab. Somit konnte ich knapp 4000 SEK behalten, also rund vierhundert Euro. Dieser Schadensersatz war es mir tatsächlich wert.
      Bevor mich meine Beine zur Kasse bewegten, setzte ich mich auf die schmale Bank am Tisch im Transporter ab. Es gab noch etwas, was ich wissen wollte, nach dem mit Lars einige Dinge unterschlagen hatte. Des Herren’ Pferdename war mir bekannt, somit sollte sein Name nur wenige Klicks entfernt sein. Die eigentliche Hürde bestand darin, das richtige Rennen zu finden. Mir fehlte eine Gesamtübersicht, musste mich also von eins zu zwei und so weiter klicken, tippte dabei natürlich auch Links doppelt an. Nirgendwo fand ich dieses Pferd, aber bei bestem Willen konnte ich mir vorstellen, dass jemand aus Spaß durch den Matsch fahren würde am Renntag.
      “Vriska”, jammerte es beinahe kläglich, “warum muss man hier denn erfrieren?”
      „Zwingt dich keiner draußen zu sitzen“, rief ich abwesend und blickte kurz zur Tür, an der sie noch nicht stand.
      “Ja, doch, die Langeweile”, beschwerte sie sich weiter, “auch wenn hier eindeutig zu viele von den gruseligen Dingern sind.” Unwirsch trampelte sie die Stufe in den Transporter hoch.
      “Du hast recht, Männer sind schon sehr gruselig”, schmunzelte ich und machte auf der Bank etwas Platz, damit sie sich setzen konnte. Das Handy lud ohnehin noch die Seite.
      “Du weißt genau, dass ich das nicht meine, außerdem sind alle Fremden zu einem gewissen Grad gruselig”, fuhr sie fort.
      Auf dem weißen Bildschirm kam erst die Navigationsleiste zu sehen und dann die Startliste von Rennen fünf, dass ich fünfzehn Minuten die Parade hatte. Darin starte nicht nur Lars mit Dustin, sondern auf gesuchtes Pferd. Unbestimmt spürte ich wärme aufkommen, begleitet mit einem Ziehen um Unterleib. Ich schluckte, um auch die trockene Kehle loszuwerden. Lina wollte sich gerade zu mir setzen, als ich panisch aufsprang und meine Jogginghose griff.
      “Ich muss los”, stammelte ich dann und sah fragend in ihre Richtung.
      “Was hat dich denn auf einmal gebissen?”, blickte sie mich verwirrt an, “Wo willst du hin?”
      “Pferd, Schwarz”, kamen einzig noch Schlagwörter über meine Lippen, aber Lina hatte bereits das Handy entdeckt, das vor ihr leuchtete. Ich konnte beobachten, wie ihre Augen den Bildschirm überflogen.
      “Du willst Netflix sehen?”, schlussfolgerte sie aus den zusammengebrachten Informationen. Hektisch nickte ich, nahm noch die dickere Jacke und warf Lina die von Lars zu.
      “Außer, du möchtest nicht mitkommen”, blieb ich in der Tür stehen.
      “Was glaubst du denn, natürlich lasse ich mit Jemand nicht entgehen”, entgegnete und folgte mir in die Jacke schlüpfend.
      “Mir geht es nur ums Pferd”, fügte ich noch hinzu. Warm angezogen, ging es auf die kleine Reise. Hinter uns hatte ich noch den Transporter abgeschlossen und Lina die beiden Hengste in der Box angeschaut. Aus den Lautsprechern ertönte bereits die Ansage in der Parade, so unklar und schnell gesprochen, dass ich nichts verstand. Zur Tribüne schafften wir es nicht, aber im letzten Bogen, wo auch Ein- und Ausfahrt war, stand ein längliches Bierzelt mit Bänken. Einige Leute saßen dort und ich zog Lina unverfroren am Arm mit in die erste Reihe.
      In dem Rennen gab es acht Starter, einer davon Dustin, der mit der höchsten Quote angesetzt war. Netflix hingegen, galt als Außenseiter und viel Hoffnung steckten die Wetten nicht in ihn, aber mir war das egal. Ich saß mit wippendem Bein auf der Bank, starte an die große Leinwand uns gegenüber, in der gerade ein Fuchs gezeigt wurde.
      “Ist hier auch so gruselig?”, fragte ich Lina, die ihre Arme um die Brust geschlungen hatte.
      “Schon ein wenig”, antwortete sie. Ihr Blick hefte kaum mehr als wenige Sekunden auf dem Renngeschehen, bevor er argwöhnisch umherwanderte.
      „Du musst nicht hier sein“, versuchte ich besten Gewissens ihren Gemütszustand zu beachten. Aber ich konnte auch nichts daran ändern, zu sehr raste mein Herz und an jeder noch erdenklichen Körperstelle pochte es.
      “Ich schaue mir die lebensmüde Geschwindigkeit da, einfach nicht so genau an, dann geht das schon”, entgegnete sie und versuchte einen halbwegs entspannten Eindruck zu erwecken. Es klingelte einmal zur Startfreigabe. Kaum erreichte sie die Startmarke, wurde die Gruppe schneller. Dustin setzte stark voran, aber fiel schon nach dem zweiten Bogen zurück. Der Rappe hielt sich konstant auf dem Vierten, aber müsste auch nach einer Runde diesen Platz ein.
      „Ach, die sind nicht mal so schnell“, untermalte ich die Aussage von Ansager, der von 1:14,2 sprach.
      “Nicht so schnell, sieht in meiner Welt aber anders aus”, sprach sie zweifelnd. Beinah rutschte mir heraus, dass sie keine Ahnung hätte, aber im richtigen Moment hielt ich den Mund geschlossen. Ich wusste ebenfalls nicht so viel, vermutlich konnte einer der Männer hinter uns deutlich mehr darüber erzählen.
      “Verständlich”, murmelte ich nur. Netflix legte zu und kam nach dem vorletzten Bogen an die Spitzen, doch dann schoss der Fuchs vor, zog Dustin an der Seite mit sich. Ein enges Buhlen um die ersten Platzierungen kam, aber ich bedeckte die Augen. Die Spannung war mir zu viel und auch der Gedanke an einen Unfall, verschlug mir den Atem. Seufzen und stöhnen ertönte hinter uns. In den Verlusten meiner Selbststärke gelang es mir einen prüfenden Blick durch die Finger zu lassen. Mein Rappe lief als Erster durchs Ziel, allerdings im Galopp. Danach folgte der Fuchs und dann kam Dustin. Wieder ein zweiter Platz für den Hof. Unsere Statistik war gut.
      “Man”, stöhnte ich verschlossen und erhob mich von der Bank, um das Geläuf besser zu sehen. Wie in Luft schien sich das Wunschpaar aufgelöst zu haben.
      “Was ist denn, deine Rappe war doch vorne, ist das nicht das Ziel?”, fragte Lina verwirrt.
      “Ja, aber im Galopp. Das ist ein Trabrennen”, erinnerte ich sie. Ungeduldig tippte ich auf dem Boden und die Menschen hinter uns liefen hinaus, um einige der Fahrer entgegenzunehmen. Hektisch hoben die Tiere ihren Kopf, schüttelten sich und schlugen mit dem Schweif. Schön sah es nicht aus.
      “Oh, ja, logisch”, räumte sie ein, ”dass ja doof gelaufen irgendwie.”
      Niedergeschlagen senkte ich mich, als aus der Ferne bereits Dustin in seinen verschiedenen Brauntönen leuchtete. Aus dem Hochgefühl wurde eine tiefe, ziemlich unbegründete, Trauer, die sich wie ein dunklerer Nebel über mich legte. Ich konnte nicht einschätzen, woher das Gefühl kam, aber wollte es nicht. Also versuchte ich auf andere Gedanken zu kommen, was gar nicht so leicht war. Egal, was ich versuchte, zu fokussieren, wurde direkt überschrieben.
      “Da ist Lars”, sagte ich mit einem überspielenden Grinsen und stupste Lina an der Schulter an, die wie hypnotisiert über die Bahn schweifte.
      “Mhm, ja”, murmelte die Brünette halbwegs anwesend und schüttelte den Kopf, beinahe wie ein Hund, dem etwas unangenehm gewesen war. Zusammen standen wir auf. Ich nahm Lars sofort den Hengst ab, damit er noch Plano fertig machen konnte. Obwohl den Platz, sowie das Geläuf dauerhaft im Blick hatte, war mein Rappe wie verloren. Auch dem braunen Hengst nahm ich erst alles ab und wickelte schließlich die Beine ein. In der Zwischenzeit bereitete Lina das Futter vor. Kaum war Lars verschwunden, setzte auch Lina sich ins Warme. Aber ich hatte noch ein Ziel, gut, eigentlich waren es zwei, aber eins davon würde wohl kaum an dem Tag erreichbar sein, aber zumindest das Geld wollte ich.
      “Ich bin gleich wieder da”, sagte ich Lina Bescheid, dass ich zur Kasse ging. Über den matschigen Platz kam ich direkt an dem besagten Gebäude heraus und zeigte unsere Papiere vor, die uns ermächtigten, das Geld zu bekommen. Die Dame am Schalter inspizierte sehr genau die weißen Blätter und zählte ebenso lange die Scheine. Ich seufzte immer wieder genervt, was wenig mit ihrer Schneckentempo zu tun hatte, als mit meinem allgemeinen Unwohl. In meinem Magen knurrte es und ich wollte nur noch weg von hier.
      Endlich wurde sie fertig. Unbedacht lief ich los und zählte selbst die bunten Scheine in meine Hand, als ich plötzlich auf Widerstand traf. Geradewegs prallte ich an eine breite Brust und erst mit einem Blick nach oben, sah ich in wen ich hineingelaufen war. Besagter Fahrer stand vor mir und grinste.
      “Du hast es aber eilig”, scherzte dieser und trat einen Schritt zur Seite.
      “Es tut mir leid”, stammelte ich unsicher.
      “Schon okay, pass nächstes Mal besser auf”, sagte er und gab ebenfalls Unterlagen bei der Dame am Schalter ab. Wie angewurzelt, stand ich auf der Stelle und starrte ihn an. Das Magengrummeln wurde von einem Gefühl der Schwere abgelöst. Unbemerkt blieb ich nicht.
      “Ist noch was?”, fragte er höflich.
      Obwohl ich ihm mitteilen wollte, dass der Fehler seines Hengstes schade war, kamen andere Worte über meinen Mund: “Ich bin Vriska.” Warum genau wollte mein Kopf, dass ich mich ihm vorstelle?
      “Freut mich. Basti”, reichte er mir plötzlich die Hand und schwebte auf Wolke sieben.
      Bis am Transporter ankam, trug ich ein breites Grinsen auf den Lippen. Lina verlud gerade die Pferde, während Lars Plano alles abnahm. Er war gesprungen und damit disqualifiziert, aber es traf ihm wohl keine Schuld. Unser Kollege verhielt sich unachtsam und gab ihm zu viel Leine. Ihm im richtigen Moment eine Parade zu geben, verpasste er und dann kam Galopp. Ein häufiger Fehler, wie Lars uns näher erläuterte, aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu. In meinem Kopf leuchteten weiterhin Bilder von der Kasse auf und ich spürte noch deutlich auf der Haut seine Finger, die sich sanft in meine drückten.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 42.171 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Dezember 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel tjugonio | 07. September 2022

      Maxou / Northumbria / Wunderkind / Moonwalker LDS / WHC’ Golden Duskk / Planetenfrost LDS / Global Vision / Satz des Pythagoras / Pay My Netflix / Osvominae / Just A Bear

      Lina
      Mit dröhnendem Schädel erwachte ich, als ein Vogel unmittelbar vor meinem Fenster sein schrilles Lied anstimmte. Mühsam öffnete ich die Augen, blinzelte in das Sonnenlicht, welches sich durch die Vorhänge zwängte. Gestern Abend mussten rege Mengen an Alkohol, denn alles in meinem Kopf war verschwommen, was den gestrigen Abend betraf und der Weg in mein Bett komplett verschwunden. Schwerfällig kugelte ich mich zur Seite und angelte mein Handy vom Nachttisch. Acht Uhr siebenundzwanzig leuchte auf dem Bildschirm. Darunter eine Benachrichtigung von der bekannten App mit dem Telefonhörer in der Sprechblase. Mein Freund hatte sich endlich auch mal bei mir gemeldet, teilte mit, dass er gegen zehn hier sein wollte. Ebenso entschuldigte er sich, dass er mir nicht antwortete, aber er habe ein wenig Abstand gebraucht. Wie ich Niklas Worte las, lichte sich der Dunst in meinem Kopf ein wenig. Relativ spät gestern Abend meldete er sich bei Vriska, erklärte sein absonderliches Verhalten ihr Gegenüber und erbat letztlich einen Rat von ihr. Einen solchen bekam er auch, allerdings wollte mein Kopf, die Worte, welche Nour auf mein Anraten schrieb, nicht freigeben.
      “Fuck”, murmelte ich, als mir dafür ganz andere Bilder in den Kopf kamen. Im Laufe des Abends hatte ich Mateos Annäherungsversuche nicht nur zugelassen, sondern war offenbar selbst offensiver geworden. Wäre Samu dabei gewesen, wäre spätestens das der Punkt gewesen, an dem er mir aus guten Gründen den Alkohol wegzunehmen pflegte. Hoffentlich hatte ich gestern nicht dummes getan. Verzweifelt versuchte ich den Dunst in meinem Kopf aufzulösen, doch das Einzige, was ich wahrnahm, war das schrille Gezwitscher von draußen. Warum mussten die Viecher denn so furchtbar laut sein.
      Langsam quälte ich mich aus dem Bett und tapste schnurstracks ins Badezimmer, wo ich zielsicher in den Medikamentenschrank griff. Aus dem Blister drückte ich eine der weißen Tabletten heraus, schluckte sie mir reichlich Wasser. Das sollte schnell gegen das Hämmern hinter meiner Stirn helfen. “Okay, Lina, denk nach”, murmelte ich zu meinem Spiegelbild und spritze mit etwas kaltes Wasser ins Gesicht, “Wenn du dich nicht erinnerst … “ Es dauerte wirklich lange, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Mateo könnte meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Diese Erkenntnis ließ meinen inneren Drang zu erfahren, was gestern Abend passiert, wieder aufleben. Eilig lief ich zurück in mein Zimmer, um mir schnell etwas überzuwerfen. Gerade als ich aus der Tür getreten war, hörte ich bereits Schritte, die sich näherten.
      “Ah, das Dornröschen ist bereits erwacht. Guten Morgen”, grüßte der Schweizer freundlich, nach dem ich mich gerade auf die Suche machen wollte. Doch er war nicht allein, denn Vriska lief an seiner Seite.
      “Guten Morgen”, entgegnete ich ein wenig irritiert, was die beiden vor meine Haustür brachte,” Was führt euch zu mir?” Es konnte schließlich nicht möglich sein, dass sie meine Gedanken lesen konnten. Oder waren Vriskas Hexenkräfte doch so weitreichend?
      “Ich wollte sehen, ob du mittlerweile lebendig bist, nachdem du vorhin nicht wach zu bekommen warst”, erklärte Mateo.
      “Nicht wach zu bekommen?”, wiederholte ich seine Worte. Hieß das etwa, er hatte bei mir geschlafen? Warum erinnerte ich mich daran nicht? “Warum wolltest du mich überhaupt wecken?” Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, kam sie mir auch gleich ein wenig doof vor.
      “Schon mal auf die Uhr gesehen?”, lachte er, “Die Pferde hatten Hunger und die Prinzessen hätten eigentlich füttern sollen, aber lass uns doch erst einmal hereingehen, bevor du weiter unnötige Fragen stellst.” Mit diesen Worten schob er mich zurück in die Hütte und auch Vriska trotte hinterher und ließ sich direkt auf einen Stuhl fallen.
      “Hast du schon gefrühstückt?”, fragte Mateo und war einen Blick in den Kühlschrank, als fühle er sich hier ganz wie zu Hause. Ich verneinte, woraufhin er die Kaffeemaschine einschaltete und begann verschiedene Dinge zusammenzusuchen. Früchte, Haferflocken, Joghurt.
      “Möchtest du auch etwas essen, Vriska? Dann mache ich für dich etwas extra”, bot er ihr zuvorkommend an.
      „Lieb gemeint, aber nein“, schüttelte sie den Kopf, „habe genug an mir.“ Dabei deutete Vriska auf ihre Beine, die noch immer dünn wie Streichholz waren, kein Vergleich zu Mateos Muskulatur.
      “Rede doch nicht immer so einen Quatsch. Du vollkommen in Ordnung, wie du bist”, tadelte ich sie. Es war immer wieder besorgniserregend, wie hart sie über sich selbst urteilte, obwohl es nicht mal einen wirklichen Grund dafür gab.
      „Lars hat gesagt, dass ich zugenommen habe, deswegen lasse ich Frühstück wieder weg“, murmelte sie in sich gekehrt und seltsam abwesend. Schon als beide ankamen, wirkte sie eine wandelnde Leiche und hing ebenso im Holzstuhl mit einem Arm über der Lehne, ihren Kopf darauf abgelegt.
      “Hat Lars noch mehr doofe Sachen gesagt oder was ist los mit dir, Vriskalein?”, versuchte ich ihr einfühlsam auf den Zahn zu fühlen.
      „Als er wiederkam, bin ich ihm aus unerklärlichen Gründen um den Hals gefallen und dann… es ging alles so schnell. Ich fühle mich schuldig und dreckig, obwohl wir nur das Bett noch teilen“, seufzte sie niedergeschlagen. Beinahe wäre mir herausgerutscht, dass sie im Gegensatz zu mir wenigstens wusste, wie ihr Abend endete, doch das wäre hier nur wenig zielführend und ehrlich gesagt, schämte ich mich dafür.
      “Dafür brauchst du dich nicht schuldig dafür fühlen. Gefühle und Bedürfnisse sind nicht immer logisch und es ist ja nicht so als hättest du Lars dazu genötigt”, versuchte ich sie aufzumuntern.
      „Es ist wegen Basti!“, jämmerlich zitterte Vriskas Stimme, wie die eines alten Schlosshundes.
      “Ach Süße, der Mann weiß gerade einmal so, dass du existierst. Es ist demnach ein wenig früh, sich Gedanken darum zu machen, was er davon hält, dass du auch noch etwas mit einem anderen hast”, versuchte ich ihr näherzubringen, dass es keinerlei Grund für ihr Empfinden gab. Wenn sich hier jemand schlecht fühlen musste, war das wohl eher ich, schließlich hatte ich, trotz meiner Beziehung, meine Finger nicht unter Kontrolle. Ein unangenehmes Drücken entstand in meinem Bauch, wenn ich daran dachte, dass ich Niklas betrogen haben könnte.
      „Dennoch fühlt es wie Verrat an. Aber immerhin ihr beide seid vernünftig geblieben“, seicht legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Unsicher schielte ich zu Mateo hinüber, versuchte eine Reaktion abzulesen. Entweder hatte der Kerl ein verdammt gutes Pokerface oder es war wirklich nicht viel passiert, denn er schnippelte fröhlich sein Obst, unterbrach nur kurz, um Vriska eine aromatisch duftende Tasse hinzustellen. Die Option, dass er nicht zugehört hatte, schloss ich kategorisch aus, da man keine zwei Meter mitbekommen musste, was gesprochen wurde.
      “Ja, genau”, nickte ich und versuchte meine Unwissenheit über diese Aussage zu überspielen, doch ich spürte, wie mein Puls ein wenig anstieg.
      „Wenn man nur sinnig entscheiden könnte, bei dem ganzen Testosteron“, warf Vriska mit Floskeln um sich, nur, um die verbrühte Zunge an der Luft zu kühlen.
      “Ja, wenn das nur so einfach wäre”, sprach ich zustimmend, denn Unrecht hatte sie nicht. Es gab Tage an denen wusste man nicht, wo einem der Kopf stand. Mateo hatte die Schüsseln mit dem Frühstück inzwischen fertig, stellte beide auf den Tisch.
      “Mädels, ich kann euch sagen, als Mann hat man es auch nicht so viel einfacher”, brachte er sich nun auch in die Konversation ein und setzte sich mit seinem Kaffee dazu. Interessiert beschaute ich den Inhalt meiner Schüssel. Aus den paar einfachen Zutaten hatte der Schweizer eine simple, aber recht ansehnliche Fruchtbowle gezaubert, einzig die Menge schien mir für ein zartes Persönchen wie mich ein wenig überdimensioniert.
      „Wer weiß das schon, ihr bleibt hinter verschlossenen Türen, als wären Gefühle eine unantastbare Sache“, zuckte Vriska mit den Schultern. Unter dem Tisch wippte unterdessen ihr Bein und die Finger zitterten an der Tasse. Um ihr ein Gefühl von Ruhe zu vermitteln und in der Hoffnung, dass sie die Bewegung unterließ, legte ich meine Hand auf ihr Knie. Ein Stillstand trat ein, doch hielt er nur für wenige Sekunden, bis das Wippen erneut begann.
      „Also so gefühlskalte Wesen sind wir nun auch wieder nicht“, versuchte der Schweizer sein Geschlecht zu verteidigen, „viele von uns sind nur … emotional unbeholfen.“
      „Von kalt war nie die Rede, sondern unantastbar, verschlossen“, merkte sie erneut an. Den Oberkörper drehte sie wieder weg, irgendwie war Vriska seltsam, verändert, aber zum Alten.
      “Ist sonst alles in Ordnung bei dir?”, probierte ich der Sache auf den Grund zu gehen, “du wirkst so unruhig heute.”
      „Es ist das schlechte Gewissen. Tut mir leid“, murmelte sie mir zu, wohl wissend, dass wir bereits darüber sprachen, seufzte Vriska laut und warf einen leidenden Blick über den Tisch. Ich war mir beinahe sicher, dass mehr bewegte, als sie offenbarte.
      “Schon okay”, entgegnete ich sanft, “Sag einfach, wenn man dir etwas Gutes tun kann.” So gerne würde ich etwas tun, dass sich Vriska nicht mehr so mies fühlte, doch es schien nicht leicht.
      „Erik hat mir vorhin geschrieben. Schon wieder“, kamen wir der Sache langsam näher. Es wirkte nachvollziehbarer, warum sie auf dem Sprung war, die Tür im Auge hatte und kaum stillsaß.
      „Er vermisst mich. Aber er soll einfach nur … sich in Luft auflösen“, erklärte Vriska im nächsten Atemzug, bevor ich spezifische Fragen stellen konnte. Mateo blickte fragend von dem Mobilgerät auf, dem er sich zwischenzeitlich widmete. Natürlich wusste er nicht, warum es ging, schließlich geschah das ganze Drama vor seiner Ankunft auf dem Hof. Doch jetzt war nicht die Zeit für Erklärungen.
      „Kann ich verstehen“, sagte ich zustimmend. Nach all dem, was sie durchmachte, war es zu gut nachzuvollziehen, dass sie sich das Ende seiner Existenz wünschte. Dass er gerade jetzt wieder auftauchte, wo sie begann nach vorzusehen und sich neu zu orientieren, brachte in ihrem Inneren sicher einiges durcheinander. Zumindest würde es mir so ergehen würde mein Ex plötzlich wieder auftauchen.
      „Aber warte … Schon wieder, seit wann schreibt er dir?“, fragte ich nach, als mein Kopf die Information vollständig zu erfassen begann.
      „Einmal die Woche kommt mal eine Nachricht, Anfang des Jahres habe ich auch noch geantwortet, aber mittlerweile …“, Vriska seufzte abermals und wühlte das Handy aus der Tasche, „nur über Bilder von Trymr freue ich mich.“ Sie zeigte mir den Chat, der sehr dominant von Nachrichten ihres Ex-Freundes war. Aber recht hatte sie, die Bilder waren niedlich. Zwischendrin gab es Antworten von ihr, wenn eine spezifische Frage gestellt wurde, oder ein ‚ich dich auch‘.
      „Du hängst noch an ihm, nicht?“, fragte ich vorsichtig. Es musste so sein, anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie die Nachrichten nicht einfach ins Leere laufen ließ.
      “Er war, nein ist, ein toller Mensch, nur sollte er an seiner Offenheit arbeiten. Vermutlich kamen zu viele Sachen auf einmal, dass es nicht funktioniert hat”, schönte Vriska die Realität. Noch weitere Ansätze kamen, die alle darauf hinausliefen, dass sie das Problem war und Erik von nichts alle dem wollte.
      “Darf ich mich kurz einmischen?”, unterbrach Mateo den schier endlosen Schwall an Begründungen, der ihren Mund verließ, “Ich weiß zwar nicht, was genau zwischen euch vorgefallen ist, aber Vriska, wenn eine Beziehung nicht funktioniert, gehören immer zwei dazu. Mach’ dich nicht selbst schlecht, indem du all die Schuld auf dich nimmst.”
      “Mh?”, brummte sie überrascht, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass jemand sie unterbrechen würde. Ihre Stimmung ungewöhnlich versöhnlich. “Ach, ich bin nun mal so.”
      “Ja und du bist gut, wie du bist. Auch wenn du manchmal herausfordernd und anstrengend sein magst, aber ganz ehrlich, eine bessere Freundin als dich könnte ich mir kaum wünschen,” sprach ich, obwohl es dem Gespräch vermutlich nur wenig zuträglich war. Doch der Drang überkam mich, die Worte auszusprechen, die Vriska lang schon einmal hätte, hören müssen. Auffällig langsam beugte sie sich zu Mateo hinüber, ohne die Augen meinen zu lösen.
      „Hast du etwas in ihr Essen gemischt? So kenne ich sie gar nicht“, murmelte sie ihm zu.
      “Nein, weder Zucker noch Zaubermittel”, schüttelte dieser nur lachend den blonden Schopf. Verdrießlich rollte ich mit den Augen und stopfte mir einen beladenen Löffel in den Mund. Wirklich schön, wie solche Worte hier wertgeschätzt wurden.
      „Nun gut“, richtete Vriska sich wieder an mich, „ich könnte dir mindestens drei Gründe nennen, wieso man mich nicht als Freundin haben sollte, aber gut. So sei es.“
      Sie erhob sich aus dem Stuhl und tigerte um die Couch, als würde sie etwas suchen. Unter jedem Schritt knarrten die Dielen, die Haare schwangen locker von einer Seite zur anderen. Auch mit den Armen spielte sie, nur um uns zu zeigen, dass wir uns beeilen sollten.
      „Imitierst du eine Koralle oder was wird das?“, scherzte ich. Obwohl ich nach gerade einmal der Hälfte der Schüssel beinahe satt war, sah ich nur wenig ein, warum ich schneller machen sollte ohne einen ersichtlichen Grund.
      „Nein, es ist nur komisch hier zu sein. Vor allem, wenn du nachts auch noch anderen Männerbesuch hast“, merkte sie trocken an und schielte zu Mateo. Während ich versuchte Vriska aufzumuntern, hatte ich beinahe vergessen, dass neuen ursprünglichen Mission etwas anderem galt und begann heftig zu husten bei der plötzlichen Erwähnung dieses Sachverhaltes, weil ich aus Versehen einige Haferflocken einatmete.
      „Nicht ablenken!“, lachte Vriska.
      „Tu ich nicht“, japste ich nach Luft und nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas, welches Mateo mir anreichte. Vriska blickte mich die ganz Zeit dabei an, wie ein hungriges Krokodil, welches seine Beute ausspähte. Ich seufzte, sie würde nicht aufgeben, bevor sie nicht wenigstens ansatzweise erfuhr, was gestern geschah.
      „Also was das angeht, muss ich gestehen …, dass mir möglicherweise … entfallen ist, was gestern noch so passierte“, murmelte ich undeutlich und spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Noch peinlicher, dass gestern überhaupt etwas passierte war, dass ich es vergaß.
      „Dabei kann ich dir wohl aushelfen“, grinste Mateo und blickte mich unmittelbar an, mit seinen geheimnisvollen Augen.
      „Maaateo, jetzt sag schon“, jammerte ich. Es war mir noch nie passiert, dass ich so vollständig eine Nacht vergaß wie diese, denn normalerweise fehlten mir, wenn, nur wenig Minuten.
      „Sicher, dass du das nicht deiner Fantasie überlassen willst?“, schmunzelte er und schien seine Überlegenheit regelrecht zu genießen.
      „Ja, weil meine Fantasie sagt, dass ich ein ganz schrecklicher Mensch bin“, beklagte ich, als der Knoten in meinem Bauch zurückkehrte. Was, wenn ich wirklich mit Mateo geschlafen hatte? Wie sollte ich das nur meinem Freund erklären? Und was wäre … Nein, an die Konsequenzen wollte ich lieber gar nicht erst denken.
      “Süße, du kannst gleich aufhören, so ein Quatsch zu denken. Es ist gestern nämlich gar nichts passiert, weswegen du dir Sorgen machen müsstest”, sprach er, doch ich war noch nicht komplett beruhigt. Wer wusste schon, wie der Schweizer “nichts passiert” definierte.
      “Könntest du ein wenig konkreter werden?”, nuschelte ich. Es war bereits unangenehm genug mit Mateo darüber reden zu müssen, doch dass Vriska hoch interessiert am Sofa lehnte, brachte mein Blutdruck nicht gerade runter.
      “Soll Vriska gehen? Du siehst so danach aus”, fragte er rücksichtsvoll. Wenn ich richtig lag, hatte mein Kopf vermutlich die Farbe einer Tomate, doch ich schüttelte nur hektisch mit dem Kopf. Selbst wenn man Vriska hieraus bekommen würde, fragte sie sicher ohnehin noch einmal nach.
      “Na dann”, zuckte er nur mit den Schultern, “aber mach dir keine Sorge, die Klamotten sind angeblieben, die meisten zumindest.” Bei den letzten Worten zwinkerte er schelmisch. Was gestern passierte, schien demnach zumindest einem Spaß bereitet zu haben. Mateo erzählte weiter von dem Abend. Offenbar saßen wir alle noch eine ganze Weile in der Küche, bevor Vriska sich schließlich ins Bett verabschiedete und auch Nour ihr Hochgestimmt folgte. Unser beider Weg führte dann wohl hierher, genauer gesagt auf das Sofa, wo wir noch eine halbe Flasche Wein leerten, bis ich schließlich auf seinem Schoß einschlief.
      Mit seinen Worten blitzten verschwommen in meinem Gedächtnis auf. Seine Finger, die sanft über meine Haut strichen, Worte der süßen Verführung … und wow, was sich unter dem lockeren Pulli verbarg, konnte sich sehen lassen. Hör auf, du hast einen äußerst ansehnlichen Freund, bot ich mir selbst Einhalt, bevor mein Gedanken abdriftete.
      Ein Rest eines schlechten Gewissens verblieb, auch wenn eine gewisse körperliche Grenze nicht überschritten wurde. Mein Handeln war moralisch definitiv nicht einwandfrei und passte ebenso wenig in mein stark romantisiert Vorstellung vom Leben. In meine kleine Traumwelt gab es keinen Platz für Fehltritte. Doch ich musste immer wieder einsehen, dass die Realität so nicht funktionierte.

      Später im Stall
      Vriska
      Eigentlich wollte ich Eriks Nachrichten nicht lesen oder gar zu Herzen nehmen, aber Zuge meiner geistigen Umnachtung, fiel es mir schwer, überhaupt klar zu werden. Ich stand vor Maxous Box, hoch motiviert, die Ponystute herauszuholen an der Doppellonge etwas zu tun, doch da setzte mir Lars einen Strich durch die Rechnung.
      „Wunderkind müsste noch bewegt werden“, sagte er mir, die Stimme gereizt und der Gesichtsausdruck kühl. Vor knapp einer Stunde war noch alles okay, wie konnte er derart verärgert sein?
      „Aber wollte Nour …“, meinen Satz durfte ich nicht zu Ende sprechen, denn er unterbrach mich sogleich, „die jammert wieder wegen ihres Arms und sitzt auf der Couch. Papa hat auch keine Lust. Also sagst du mir nicht auch noch ab.“
      „Natürlich bewege ich ihn, kein Problem, aber was hat dich denn gebissen?“, versuchte ich ihn zu besänftigen.
      „Es nervt einfach“, seufzte Lars und ließ sich laut auf die Bank hinter sich fallen. Die Augen sprachen mehr als Worte. Beinah geblendet von dem anziehenden Grünton, bemerkte ich seine Enttäuschung und quälende Gedanken.
      „Was nervt dich denn?“, fragte ich, setzte mich schließlich zu ihm.
      „Danke, dass du fragst. Ganz ehrlich“, liebevoll legte sich ein zartes Lächeln auf seine Lippen, während Lars einen Arm um meine Schultern legte und mich zu sich heranzog. „Es ist ziemlich viel zu tun und es gibt Interessenten aus Amerika an ihm. Die wollen jedoch aktuelle Rennergebnisse und Wunder lief zuletzt im Oktober. Nour weigert sich mehr als ein Rennen zu fahren, sieht es auch nicht ein, dass Walker am Sonntag zu Hause bleibt. Ich habe bereits Vision, Plano, Dustin und Eifellust. Natürlich könntest du ihn fahren, aber ich weiß nicht, ob du das nötige Etwas herauskitzeln kannst aus ihm.“
      „Und wenn du es mir zeigst? Wir müssen doch erst morgen die Nennungen einreichen“, schlug ich vor. Nachdenklich nickte er langsam.
      „Aber dann müsstest du mit Humbria noch warten, denn es gibt nur ein Amateurrennen“, erklärte er dann. Darüber hatte ich bis dato nicht nachgedacht, aber klar, zerteilen in einem Rennen konnte ich mich nicht.
      „Das wird ihr sicher guttun, eine Woche zu warten“, stimmte ich wohl wissend zu, dass es für die Stute keinen Unterschied machen würde, an welchem Wochenende ihr erstes Rennen sein würde.
      „Du weißt, dass es dann in Visby wäre, und bisher hatten wir nicht eingeplant, dass du mit auf die Insel kommst“, kam Lars nächste Hiobsbotschaft.
      „Nun gut, dann“, unentschlossen überlegte ich, bevor ich weitersprach, „dann muss ich wohl neue Orte kennenlernen.“ Natürlich kam mir direkt in den Sinn, dass Basti auch da sein würde und ich keine zwei Wochen auf ein Wiedersehen hoffen musste. Somit strahlte auch ich.
      „Das ist toll, wirklich. Dann holte ich mir Vision und du machst Wunder fertig“, sagte Lars beim Aufstehen. Während er sich ein Halfter holte, führte ich den Schecken bereits aus der Box.
      „Du kommst vielleicht nach Amerika“, erklärte ich dem neugierigen Hengst, der interessiert an meiner Hosentasche zupfte, in der mein Handy sich in Form herausdrückte. Besonders die abgerundeten Ecken schienen ihn nicht loszulassen. Erst als ich seicht wegschob, hörte er auf, mit der Oberlippe mich schmutzig zu machen. Ich putzte ihn dann und war noch lange vor meinem Kollegen fertig, der erst ankam, als ich schon den Schecken gegurtet hatte und getrenst. Wunderkinds Ohren stellten sich auf, als Vision ihn interessiert musterte. Es folgte ein Quietschen und Schlag gegen die Brust. Der Kaltblut-Verschnitt wirkte nicht sonderlich begeistert von dem Schecken. Lars zog ihn ein Stück zurück, denn Verletzungen kurz vor dem nächsten Rennen, waren vermeidbar.
      Zusammen fuhren wir vom Hof. Die Sonne kitzelte sich durch die dichte Wolkendecke und leichtes Lüftchen wehte mir kalt ins Gesicht. Ich hätte meine Maske aufsetzen sollen, dachte insgeheim und sortierte die Leine neu, auf der ich saß.
      „Er muss motiviert werden und locker angefahren werden, sonst zeigt Pass“, erklärte Lars, als wir auf der Bahn ankamen. „Auch im Schritt solltest du ihn lieber etwas zu lang halten.“
      „Verstanden“, sagte ich und ließ etwas vom Leder ab. Wunderkind begann sich mehr zu strecken und wölbte dabei den Hals, auch seine Schritte verlängerten sich.
      „So ist schön“, grinste er neben mir. Vision warf immer wieder prüfend einen Blick zu dem Schecken und schlug dabei nervös mit dem Schweif. Aber Wunderkind nahm diese Manieren hin, ohne sich beirren zu lassen. Im ersten Trab gab Lars mir noch weitere Tipps, dazu zählte auch, besonders sanft an der Leine zu sein, jede noch zu harte Parade könnte den Hengst in den Pass umstellen, deshalb fuhr ich ihn ohne Peitsche. Einzig die Stimme blieb mir zum Treiben, auf die Wunder sehr fein reagierte. Nach der dritten Kurve legten wir im Tempo zu, dass ein Gefühl für ihn bekam. Natürlich rutschte er mir einige Male in den Pass, aber nach dem Zurückholen und neu Antraben kam die Wunschgangart wieder. Mein Kollege setzte sich vor uns, damit jeder für sich in Ruhe trainieren konnte. Der Braune an seinem Wagen brachte viel Potenzial mit, diskutierte dauerhaft, doch Lars war hartnäckig.
      Mit beiden Pferden kamen wir verschwitzt auf den Hof zurück. Zu meiner Enttäuschung stand gerade Niklas mit Smoothie in der Putzgasse und schielte leicht zu mir. Höflich begrüßte Lars ihn, aber bekam keine Rückmeldung. Stattdessen drehte sich Hulk zu seiner Stute. Kaum erblickte Vision die weibliche Gleichgesinnte hob der Hengst erregt den Kopf und prustete aufgebracht mit weiten Nüstern. Leicht tänzelte er auf der Stelle, doch Lars zog ihn am Gebissring neben sich her. Auch Smoothie reagierte auf den Flirt mit zutraulichem Brummen, streckte dabei den Kopf neugierig nach vorn. Niklas drückte sie unsanft weg.
      „In deinem Umfeld darf wohl niemand soziale Kontakte haben“, merkte mein Kollege unberührt an. Erst jetzt drehte sich Linas Freund zu ihm, die Augen leicht zusammengedrückt und tiefe Falten bildeten sich. Er schnappte einmal nach Luft, als ich ihm ein Zeichen gab, einfach die Klappe zu halten. Doch das Prinzesschen dachte gar nicht daran.
      „Immerhin jage ich kein Pferd auf der Rennbahn in den Tod“, zischte er boshaft.
      „Genau, weil dein komischer Sport auch so viel gesünder für die Gelenke ist, wie man sieht“, lachte Lars daraufhin nur, sichtlich überlegen fühlend.
      „Männer, es reicht“, mischte ich mich schließlich ein, wurde damit, aber das möchte Opfer Niklas‘.
      „Du bist am besten ganz ruhig. Dein Scherbenhaufen kann niemand ertragen, also geh‘ endlich.“ Die Worte trafen mich mit roher Gewalt und in meiner Magenregion fühlte es sich ebenso an, als hätte er mich eine Klippe hinunter geschubst.
      „Niklas, am besten gehst du, wenn du mit uns allen ein Problem hast“, kam Lars zurück, nachdem er den Hengst an die Stricke gelegt hatte, „im Gegensatz zu dir, arbeiten wir hier. Niemand zwingt dich, auf dem Gestüt dein Pferd unterzustellen. Außerdem“, nun warf einen prüfenden Blick zu mir, „solltest du nicht so hart über ihr Leben urteilen, wenn deins nicht so viel besser ist.“
      In Niklas‘ Augen erkannte man, dass er nachdachte und sich dessen bewusstwurde, was mein Kollege versuchte ihm klarzumachen. Mit Schweigen ging er dem Gespräch aus dem Weg. Ich stand währenddessen wie gelähmt neben Wunderkind, der sich den Kopf an einem Holzbalken scheuerte.
      „Vivi, komm‘“, Lars legte sein Arm auf meine Schultern, „lass uns Wunderkind wegbringen, damit du noch Maxou und Osvo reiten kannst.“

      Gesagt, getan. Ich löste mich aus der Starrte und zusammen legten wir alles von dem Schecken ab. So lange wartete Vision in der anderen Putzbucht. Erst als ich Maxou zurückkam, begann Lars den Braunen alles abzunehmen und zufüttert. Giftig schielte meine Ponystute hinüber, nicht sonderlich begeistert von dem Hengst, der mit gleichen Flirt-Versuchen ankam, wie bei Smoothie. In aller Ruhe putze ich sie und kontrollierte alle Wehwehchen, die sie in der Zeit angesammelt hatte. Ihre Beule wurde schon besser, lediglich ihre Hufe bräuchten mal wieder einen Schmied. Die Hufwand war brüchig und an den Vorderhufen deutlich zu lang. Ich erinnerte mich daran, dass Lars die Pferde seines Vaters machte und warf einen prüfenden Blick zu Vision. Er stand neben dem Hengst am Handy und grinste schief.
      „Du? Hast du kurz Zeit?“, fragte ich.
      Lars senkte das Telefon und richtete den Kopf zu mir.
      „Klar“, er trat einige Schritte auf mich zu, „wie kann ich dir helfen?“
      Ich zeigte auf Maxous Hufe.
      „Könntest du grob was machen?“
      „Ja, lass mich nur Vision wegbringen und das Werkzeug holen“, antwortete er zustimmend und löste die Stricke. Mit großen Schritten traten sie an mir vorbei, ohne dass Maxou zuckte. Stattdessen versuchte sie mir aus der zu weiten Jacke ein Leckerchen zu klauen. Doch der Reißverschluss hinderte sie daran. Ihren Kopf drückte sie an meinem Rücken.
      „Kannst du aufhören zu betteln?“, die Stute hörte sofort auf, legte stattdessen sich auf meine Schulter, „danke.“ Der waren Atem aus ihren Nüstern kitzelte mich am Ohr und während wir auf die Rückkehr Lars‘ warteten, wagte ich einen Blick auf mein Handy. Einsamkeit überkam mich unmittelbar, als ich den leeren Sperrbildschirm betrachtete. Niemand wollte etwas, nur Basti lag verschwommen vor mir auf dem Bild vom Rennen mit Netflix. Zur Kontrolle, auch wenn ich wusste, dass ich nichts finden würde, öffnete ich eine Social-Media-Plattform nach der anderen. Aber bis auf einen Post von Nour fand ich nichts vom Renntag. Sie zeigte sich glücklich mit dem hellen Hengst, dazu im Karussell noch mehr Bilder von Walker und eins mit Lars. Da er noch außerhalb der Sichtweite war, klickte ich mich interessiert durch sein Profil – Natürlich präsentierte er sich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Lauter Oberkörper freier Bilder strahlten mich vom Bildschirm an und keine Spur von einem Pferd, allerdings entdeckte zwei Storyhighlights, eine mit Rennbildern und die andere von seinem Hengst Bear. Viele davon waren schon vor Jahren online, andere recht neu, aber keins auf unserem Hof aufgenommen. Bevor ich annähernden Schritte hörte, war es bereits zu spät. Er stand mit einem breiten Lächeln neben mir.
      „Ach, doch noch Interesse?“, lachte Lars und stellte klirrend die Werkzeugkiste neben der Ponystute ab, die sofort drohend in die Luft schnappte.
      „Nur gucken, nicht anfassen“, sagte ich schelmisch und steckte das Handy weg.
      „Denkst du das wirklich, oder versuchst du, dein Verlangen zu unterdrücken?“
      „Wer weiß das schon“, ich machte einen Schritt von ihm weg, um Maxou fester zu binden. Die Stute mochte es nicht sonderlich, wenn an ihren Hufen gearbeitet wurde, aber reiten wollte ich sie so ungern. „Erfahren wirst du das nicht.“
      „Wir werden sehen“, stimmte Lars mit seinem Lachen mit ein. Dann nahm er die Raspel und entfernte größtenteils das eingerissene Horn. Ich beruhigte die Stute dabei am Kopf, tätschelte etwas unbeholfen ihren Hals und hielt mit der anderen Hand sie am Halfter. Sie war nur wenig dafür zu begeistern, versuchte lieber ihm den Huf wegzuziehen oder den Schweif in sein Gesicht zu schlagen. Von beidem ließ sich Lars nicht beeindrucken.
      „Hatte sie mal Hufrehe?“, fragte er nach. Dabei tastete er die ausgeprägten Ringe auf der Hufwand ab, die mir auch schon aufgefallen waren.
      „Ich weiß nicht so viel über Krankheitsgeschichte“, beantwortete ich oberflächlich.
      „Wie alt ist sie denn?“, informierte Lars sich weiter, während er sich dem nächsten Huf widmete.
      „Vierzehn wird sie dieses Jahr.“ Ich musste kurz durchrechnen, hatte aber noch im Kopf, dass sie zweitausendsieben geboren wurde, im Juni, wenn ich mich nicht irrte.
      „Dann hat Maxou noch einiges vor sich. Sie gehört dir, oder?“
      „Fast, also … halb. Erik gehört eine Hälfte und er hat sie auch bezahlt. Wer weiß, wie lange sie noch bei mir ist“, seufzte ich. Die Wände hatten Ohren, dementsprechend senkte ich meine Stimme. Niklas putzte noch immer sein Elitepferd, aber ich war fest davon überzeugt, dass er einzig und allein uns belauschte. Gerade, als ich diesen Gedanken bekam, führte er Smoothie, schwarz einbandagiert, an uns vorbei und sah abfällig zu mir. Nach der Nachricht mitten in der Nacht hatte ich eigentlich eine Veränderung seiner Art erhofft, aber offensichtlich entschied er sich dagegen, freundlich zu mir zu sein.
      „Viel Spaß“, wünschte ich ihm dennoch und bekam nur entrüstetes Schnauben als Antwort. Nun gut, sein Problem und nicht meins. Einen Moment später huschte auch Lina durch den Gang, begrüßte freundlich Lars und mich, um die Tribüne hinaufzuverschwinden.
      „So, dein Pony ist wieder hübsch“, sagte mein Kollege nach verrichteter Arbeit.
      „Danke dir“, umarmte ich ihn entschlossen und spürte, dass es mehr als eine dankbare Geste wurde. Wie ein Äffchen hing ich um seinen Hals und langsam bewegten sich seine Hände von meinen Rippenbogen abwärts. Verführerisch funkelten seine Augen. Gefangen in den Grüntönen, wie sie nur die Natur zu bieten hatte, verlor ich abermals die Kontrolle. Noch enger legte ich mich an ihm, als würde es keinen morgen geben, kochte das Blut in meinen Adern. Wieso Lars eine derartige Anziehungskraft für mich hatte, konnte ich mir für den Moment nicht erklären. Stattdessen drückte ich die Lippen auf seine. Ein merkwürdiges Geräusch gesellte sich dazu und verdrängte das Gefühl etwas Falsches zu tun. Dennoch löste ich mich nach wenigen Sekunden wieder, als mein Kopf die Situation begriff.
      „Das kam unerwartet“, schmunzelte er und setzte zu einem weiteren Kuss an, den ich ihm verwehrte.
      „Tut mir leid“, stammelte ich verwirrt. Gefangen im eigenen Chaos versuchte ich mich von ihm loszureißen und verspürte die aufkommenden Schuldgefühle. In Lars‘ Gegenwart konnte mein Kopf nicht mehr unterscheiden, wer er war und assoziierte all die Freude mit ihm. Meine Medikamente nicht mehr zu nehmen, stellte sich zum ersten Mal für mich selbst, als eine schlechte Idee heraus.
      „Vivi, ganz ruhig“, er legte seine Hände auf meinen Schultern ab. Das Herz in der kleinen Brust dröhnte zu explodieren und meine Lunge versuchte nach Sauerstoff zu Ringen, aber es fühlte sich an, als würde nichts davon in meinem Körper ankommen. In dem kargen Gebäude suchte ich krampfhaft nach roten Gegenständen, aber bis auf den Strick auf der Bande, entdeckte ich keinen. Ebenso wenig blau war zu sehen.
      Lars begann zu zählen und ich sollte mit ihm ein- und ausatmen. Äußerst gekonnt, ging er mit meinem Anfall um, bis ich mich wieder beruhigt hatte. In der Zwischenzeit war auch Lina dazu gekommen und stand unbeholfen neben ihm. Ihrem Gesichtsausdruck nach musste ich fürchterlich aussehen in dem Augenblick.
      “Alles okay? Was ist passiert?”, fragte sie besorgt.
      “Ähm”, stöhnte ich erhitzt und schielte zu Lars.
      “Sie hat mich geküsst und hatte dann eine Panikattacke”, erklärte dieser wahrheitsgemäß.
      “Was machst du nur für Sachen”, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, “Das ist doch kein Grund für Panik.”
      “Das sagst ausgerechnet du”, schnaubte ich verärgert, aber schluckte den restlichen Satz trocken herunter. Dabei nahm ich einen kräftigen Atemzug. Lina sollte von allen am besten wissen, woher dieses Gefühl rührte, bloß hatte Niklas ihr offenkundig das Gedächtnis gelöscht. Mir lag es buchstäblich auf der Zunge, einen vernunftwidrigen Spruch zu drücken. Lars vernahm jene Wut und drückte kräftiger die Finger in meine Schulter. Doch mein Körper hatte sich dieser angepasst, als würde die Hitze wie ein Parasit an mir festhalten. Einzig Maxou, die nun auch mit kurzen Berührungen versuchte, mich in die Wirklichkeit zu holen, senkte den Blutdruck.
      “ ‘Tschuldigung, war wohl ein wenig unsensibel”, murmelte sie kleinlaut, “Ich verstehe dich ja.”
      Nach dem kleinen Missverständnis mit Lina sattelte ich Maxou und überlegte, in den Wald zu gehen. Mit unserem Sahnetörtchen in der Reithalle wollte ich ungern sein und hinüberlaufen und die kleinere Halle könnte mir Ärger mit Jonina einbringen, die aus unerklärlichen Gründen noch immer auf Krawall gebürstet war, wenn sie mich sah. Somit blieb mir nur Matsch übrig. Kaum ritt ich vom Hof, klingelte mein Handy. Vollkommen überrascht, dass das Gerät überhaupt in der Lage war, Geräusche von sich zu geben, zog ich es aus der Jackentasche heraus. Doch als ich den Bildschirm erblickte, sah ich nur, dass eine unbekannte Nummer versucht hatte, mich zu erreichen. Zurückrufen konnte ich nicht. Im Fortlauf des Ausrittes dachte ich ununterbrochen darüber nach, wer wohl etwas von mir wollte und vor allem, was. Die Antwort auf jene Fragen wurde mir verwehrt, denn es folgte kein zweiter Versuch, mich zu erreichen. Versunken in meinen Gedanken schenkte ich meinem nervösen Pony kaum Aufmerksamkeit, sodass sie immer wieder auf die Vorderhand rutschte, ohne dass ich es korrigierte. Es war alles so viel, dass ich auf halber Strecke einfach umdrehte und denselben Weg zurücknahm.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 33.794 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang März 2021}
    • Mohikanerin
      [​IMG]

      kapitel trettioett | 12. September 2022

      Wunderkind / Moonwalker LDS / Monet / May Bee Happy / Maxou / Planetenfrost LDS / Global Vision / WHC‘ Golden Duskk

      Sonntag
      Lindö Dalen Stuteri
      Vriska
      In der Nacht von Samstag auf Sonntag rollte ich mich von einer Seite zur anderen und bekam kein Auge zu. Zu sehr raste mein Herz bei dem Gedanken, dass ich ihn wiedersehen würde. Außerdem konnte ich nicht genau einschätzen, wie Wunderkind in Form war. Das Training mit dem Hengst wirkte vielversprechend aber meine Konkurrenz war hart. Auch Nour lief in meinem Rennen mit, hatte mit Walker deutlich bessere Chancen auf einen Sieg als ich. Dennoch bedeutete mir das nicht viel. Generell wollte ich nur da sein.
      „Warum schläfst du nicht?“, kam auf einmal Lars aus dem Schlafzimmer heraus, nur in einer Boxershort bekleidet und lief zum Badezimmer hinüber
      „Mein Kopf ist so laut“, erklärte ich.
      „Dann leg dich doch zu mir, da konntest du bisher immer einschlafen“, in seiner Stimme konnte ich ein Lächeln heraushören.
      „Aber Lars“, ich seufzte, „ich will nichts von dir, das ist nur immer … so verführerisch mit dir.“
      „Darum geht es doch gar nicht.“ Das Holz knarrte unter seinen Schritten und spürte seine warme Hand an meiner Wange. „Klar. Du bist mir sehr wichtig, aber wenn du sagst, für dich zählt nur der eine, dann akzeptiere ich das. Außerdem habe auch so meinen Spaß.“
      „Sicher“?“, hakte ich nach und wusste nicht genau, was ich daraus ziehen sollte.
      „Ja und gegen Kuscheln spricht doch nichts, oder?“, sprach Lars zuversichtlich. Ich schnappte mir mein Kissen und huschte hinüber. Im weichen Bett lag es sich sofort angenehmer. Als auch er wieder kam, legte er seinen Arm um mich und ich schloss die Augen.
      „Möchtest du nicht vielleicht doch etwas …“, noch bevor Lars seinen Gedanken vollständig aussprechen konnte, bekam er meine Flache Hand gegen die Wange gepatscht.
      „Schon gut“, knurrte er müde, „hättest du einfach sagen können.“ Mit diesen Worten zog er mich fester an sich heran und ich schlief endlich ein. Allerdings klingelte der Wecker um neun Uhr, eine unchristliche Zeit, wenn man erst gegen fünf Uhr die Augen schließen konnte. Lars verschwand unter der Dusche und ich klickte mich durch die Instagram Timeline. Neben bisher nicht gesehenen Postings von Lina, entdeckte ich ein Bild, das sofort meine Aufmerksamkeit Ju war, gestern nach uns in der Reithalle, nutzte mit Amy die aufgebauten Sprünge – natürlich auf doppelter Höhe. Die Scheck-Stute machte mit ihm eine schöne Figur. Zusehen darauf war auch unsere Praktikantin, also Neele, die bei Ponys im Nebenstall mithalf. Interessiert klickte ich auf ihr Profil. Sie hatte ihren Hengst mitgebracht, der in seinem weißen Fellkleid wie ein Traumpferd daherkam. Auf den meisten Bildern tänzelte er in der Piaffe. Wirklich ein Traum. Seufzend legte ich mein Handy wieder weg. Happy hatte noch einen langen Weg vor sich, wenn wir einmal so ein Pferd-Reiter-Paar darstellen wollen oder gar Maxou.

      Eine Stunde später
      Stall, kurz vor der Abfahrt

      „Und wir haben wirklich alles eingepackt?“, wuselte Nour wie ein aufgebrachtes Eichhörnchen um uns herum, als Lars und ich die Pferde in den Transporter luden.
      „Ich denke schon“, gab er seiner Schwester zu verstehen. Obwohl ihr Arm noch immer Schmerzen bereitete, hatte sie entschieden, Walker zu fahren im selben Rennen wie ich. Bald wären die Kategorie Zwei Rennen vorbei, wenn sie erst einmal die Prüfung bestanden hatte, erklärte Nour mir zwischendurch.
      Sehnsüchtig blickte sie den Sulky am Transporter an und versuchte mit bester Absicht, uns zu helfen, auch wenn ihre Möglichkeiten beschränkt waren.
      „Du könntest noch ein paar Bandagen holen“, schlug ich vor, obwohl genug dabeihatte. Aufgeregt nickte sie und verschwand durch das große Rolltor. Ihre Schritte hallten durchs ganze Gebäude.
      „Ist sie immer so?“, flüsterte ich Lars zu, der schon auf dem Beifahrersitz saß und in sein Handy grinste.
      „Nour meinst du?“, ich nickte, „Ja, auf jeden Fall. Und mit dir im Gepäck fühlt sie sich dazu berufen dich in den Welpenschutz zu nehmen.“
      Kaum kehrte sie zurück, kontrollierte ich noch ein weiteres Mal alle Türen, bevor wir die Abfahrt hinab fuhren nach Kalmar. Ich saß am Steuer, Lars hing weiter am Handy und Nour nervte ihn. Dem genauen Gespräch folgte ich nicht, zu sehr rollte mit jedem Meter der Reifen auf der Fahrbahn mehr Anspannung auf mich zu. Dass ich mich dem Getümmel aus freien Stück hingab, erfüllte mich einerseits mit Stolz, andererseits konnte ich, das mit niemandem teilen. Natürlich wussten die Geschwister Bescheid, aber ich wollte sie nicht damit nerven.
      Haarscharf sah ich die Beleuchtung der Bahn von der Straße aus, standen auf dem Hinterhof und Lars verschwand mit den Papieren zur Nennstelle. Nour tätschelte Walker in seiner Box, während ich Wunderkind ein weiteres Mal putzte. Seine Scheckung sollte leuchtete, bevor uns der Matsch traf. Auf dem Geläuf fuhren bereits die Fahrzeuge, um den Sand eben zu halten und einige Fahrer ihre Warm-Ups.
      Bis auf Wunderkind hatte jeder der Hengste schon sein Band, selbst Vision, der sich aufspielte und in der Box angebunden war, strahlte in einem ganz anderen Licht mit dem niedlichen Zopf. Er wirkte unschuldig aber sein Blau passte wunderbar zu seinen Augen. Kontrolliert drehten meine Finger die einzelnen Strähnen um das grüne Band, bis nur noch ein kleiner Zipfel übrigblieb.
      „Sehr schick“, flüsterte ich ihm und bewunderte mein Werk.
      „Das stimmt“, sagte eine bekannte Stimme hinter mir, die sich mit verstummenden Schritten bereits ankündigte. Ich schluckte verunsichert.
      „Danke“, drehte ich mich zu Basti um. Mit Verwunderung über seine Anwesenheit bei mir, blickte ich in seine dunklen Augen und musste mir weitere Dinge verkneifen, damit meine Gedanken nicht über mein Gesicht zuckten. „Lars fährt nun also für euch“, begann er mit Smalltalk. Ob er sich an mich erinnerte oder hatte man ihm mehr verraten? Vielleicht war es einfache Freundlichkeit, aber in meinem Magen legte sich ein Hitzegefühl, dass ich ungewohnt gut anfühlte.
      „Gut zu hören, dass er ein paar neue Leute zum Fahren bringt. Also viel Erfolg“, sprach er weiter, mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen, nach dem ich abermals in Schockstarre verfallen war. „Aber sag‘ mal, ist Nour da? Es hat sich rumgesprochen, dass sie sich verletzt hat.“
      Aus der Hitze wurde ein elendiges Stechen. Wollte er sie? Ich schüttelte mich und erntete skeptische Blicke.
      „Ähm, ja“, stammelte ich und zeigte einige Boxen weiter auf den hellen Hengst, „sie ist bei Walker.“
      Mit einem Nicken bedankte er sich, aber drehte sich auf halbem Weg noch einmal um.
      „Ach und, ich hoffe, Malmö hat dir gefallen“, sprach er lachend. Peinlich berührt drehte ich mich weg, sah aber im Augenwinkel, wie Basti Nour begrüßte. Mein Gesicht vergrub ich in der Mähne des bunten Hengstes. Überkommen von Scham bemerkte ich Lars erst, als er mein Gebrabbel kommentierte. Damit versuchte meine Nerven zu beruhigen und Wunderkind kümmerte das nur wenig.
      „Das Pony kann dir auch nicht helfen aber jetzt Hopp, du musst gleich fahren“, klopfte Lars mir auf den Po.
      „Ihr müsst euch heute auch alle anschleichen“, murmelte ich mit scharfem Unterton.
      „Bin ich jetzt schon alle?“, scherzte er weiter. Aber mein Blick hing wieder an Basti, der noch immer bei Nour am Pferd stand. Wie angewachsen verharrte ich bei Wunderkind, der bereits weggedreht hatte und an seinem Heu knabberte. Bei ihr lag noch mein Equipment und der Sulky lehnte dort ebenfalls.
      „In einem Moment kannst du nicht genug von ihm bekommen, aber in Live schlägst du Wurzeln. Ihr Frauen seid mir ein Rätsel“, mit seiner Hand an meiner Schulter, drückte er mich vor. Um nicht fallen, bewegten sich meine Beine selbstständig voran.
      „Das ist ziemlich sexistisch von dir“, merkte ich beiläufig an.
      „Na und wenn schon, oder bist du jetzt auch noch Aktivistin?“, lachte er. Seine Aussage nahm ich schweigend hin, denn die größeren Probleme lagen vor mir. Natürlich war ich mir dessen bewusst, dass nichts passieren würde, wenn ich Sachen holte für das Rennen, aber gleichzeitig sorgte seine bloße Anwesenheit für weiche Knie. Aber ich entschied, es mitzuteilen.
      „Lars, warte“, sagte ich mit trockenem Hals und schluckte einmal.
      „Klar“, blieb er stehen und kam die fehlenden Meter zwischen uns zurück.
      „Solang er da ist, kann ich das nicht“, vermittelte ich.
      „Verstehe ich. Einen Moment, ich regle das“, sprach Lars mit einem Lächeln auf den Lippen. Seine Hose, bereits voller Flecken, trat er weiter durch den Matsch. Nur unverständlich hallten ihre Worte in meinen Ohren. Als Alibi zog ich mein Handy hervor und bewegte mich in Zeitlupe zu meinem Pferd.
      „Dann viel Erfolg dir, aber glaube nicht, dass du uns schlagen kannst“, warf Nour ihre Arme um mich. Ein spitzes Lächeln lag auf ihren Lippen. Es galt als reine Motivation, aber ich wusste schon, dass die beiden unschlagbar waren. Nour entfernte die Schnüre und führte Walker zum Geläuf, weiterhin im Gespräch mit Basti, der, ohne ein Blick auf mich zu werfen, an mir vorbeilief.
      Mir schlug das Herz bis in den Hals, aber ich hatte noch genügend Zeit, bis mein Rennen begann. Einige fuhren bereits auf der frisch gezogenen Bahn, was ich auch noch nutzen wollte.
      Wunderkind, der immer die Ruhe selbst war, scheute allerdings. Kaum hatte ich die Bandagen von seinen Beinen genommen, trampelte er unruhig von einer Seite zur anderen. Aufgeregt wieherte er und bekam sogleich eine Antwort von Dustin. Lina wäre eine große Hilfe gewesen, dachte ich, insgeheim aber wollte es keinesfalls die Kontrolle übernehmen lassen. Du schaffst das, sagte ich mir und ging mit neuer Kraft an das Pferd heran. Im Putzkasten lächelte mich die Watte an, die sofort ergriff und vorsichtig in seine Ohren steckte, oder zumindest erst einmal versuchte. Der Hengst hampelte noch immer wie vom Teufel besessen und streckte den Kopf nach oben.
      „Laaaars!“, rief ich in aufkommender Verzweiflung quer über den Platz, aber er kam schon angelaufen, als hätte er mich beobachtet. Im nächsten Moment nahm er den Hengst am Halfter und steckte die Watte in die Ohren. Reichte mir selbem Zuge einen Schutz, den ich noch darüber ziehen sollte. Schon nahm man eine Veränderung wahr. Wunder seufzte förmlich und schnaubte dann ab.
      „Danke“, sagte ich zu Lars und tat dem Hengst gleich.
      „Soll ich bleiben, falls was ist?“, bot er an.
      „Ja, bitte“, nickte ich. Sogleich half Lars mir weiter und legte den Beinschutz um den Hengst, während ich ihm die Trense umlegte. Endlich kam so etwas wie Entspannung in das Tier und selbst ich konnte ohne Trittleiter, ihm das Leder befestigen.
      Langsam schlich ich zum Transporter, um mich umzuziehen. In der alten und dreckigen Jogginghose würde ich gegen die Kleiderordnung verstoßen, was außerhalb meines Interesses lag. Mit gemischten Gefühlen wechselte ich in meine weiße Hose und schwarz-grüne Jacke, um den Hof zu präsentieren. Ich hatte aufkommende Sorge, mich auf der Bahn zu blamieren, erst recht, wenn Nour sich noch immer mit ihm am Eingang unterhielt. Zähneknirschend nahm ich die Leine entgegen. Lars hatte mir bereits den Sulky angehangen. Am Kopf hielt er Wunder fest, damit aufsteigen konnte und zum Warm-Up fuhr.
      „Vivi, keine Sorge. Die kennen sich nur schon ewig, also kein Anflug von Eifersucht, okay? Ich möchte nicht, dass ihr euch anzickt“, bat er mich. Damit fiel das Drücken in der Brust von mir und ich konnte beruhigt durchatmen. Dort wartete auch schon Nour, endlich allein, aber mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
      „Gute Nachricht“, sprach sie und setzte sich mit Walker neben mich. Zwischen dem Lärm aus dem Zuschauerbereich, Musik aus den Lautsprechern und Kratzen der Räder auf dem feuchten Unterboden, war es eine Herausforderung, etwas zu verstehen.
      „Ach ja?“, meine Stimme bebte wieder, obwohl ich versuchte gleichgültig zu bleiben.
      “Wir haben über dich gesprochen”, grinste sie, aber mir zitterten sogleich die Finger. All das Drama wollte ich mir ersparen und trieb den Schecken etwas schneller voran. Walker zog jedoch mit.
      “Vivi, er hat mich nach dir gefragt. Nichts Schlimmes, also freu dich”, mahnte Nour.
      “Ich möchte das nicht wissen und wenn er Interesse an Informationen hätte, kann er auch mich fragen”, zischte ich eingeschnappt.
      “Hätte er, aber du sprichst nicht mit ihm. Deswegen hat er sich Sorgen gemacht, ob etwas mit dir nicht stimmt”, lachte sie amüsiert.
      „Okay“, murmelte ich vor mich hin. Nour trieb ihren Hengst voran, denn sie verstand, dass das Thema unpassend war und damit trat ich allein übers Geläuf. Entspannt wippte Wunders Kopf in der Bewegung. Nur im Augenwinkel beachtete ich die anderen Fahrer, um die volle Konzentration auf den Pferdepo vor mir zu haben. Nach einer Runde Schritt wechselte ich die Hand und trabte an. In einer schönen Selbsthaltung schwebte er voran.
      Für die Wiederqualifikation musste ich mit dem Hengst das Geläuf frei machen und fuhr den anderen hinterher, die sich auf der Innenbahn platzierten. Meine Aufregung spürte ich deutlich in den zitternden Finger, die nervös zuckten und willkürlich den Hengst Paraden gaben. Aber je mehr ich versuchte, es zu unterdrücken, umso schlimmer wurde ich.

      > Starten är frigjord!
      „Der Start ist freigegeben“, dröhnte es dumpf von den Lautsprechern an meine Ohren. Durch das Stirnband unter dem Helm hörte ich nicht mehr so gut, aber dass alle anderen sich am Auto hinter ihrem Startplatz stellten, unterstrich meine Annahme.
      „Wir schaffen das“, flüsterte ich Wunderkind zu, der bereits beim Anlaufen übermotiviert die Beine nach vorn warf. Wir starteten von Platz drei, der wohl beliebteste Platz, da man am Start mit etwas Glück vorziehen konnte und sich an die Spitze setzte. Nour stand mit Walker vor der sechs. Sie konnte schon einige Siege mit dem hellen Pferd erringen, umso größer war meine Kampflust, es auch zu schaffen.
      Treiben musste ich Wunder nicht, dafür mit sanften Paraden zurücknehmen. Deutlich spürte ich seinen Widerstand, aber musste behutsam an der Leine sein. Auf der Startmarke gab das Fahrzeug Gas, um uns den Weg freizumachen und besten Gewissens setzte ich mir Wunderkind vor. Wir zogen an einem Braunen vorbei an zweiter Stelle in zweiter Reihe. Im Rausch der Geschwindigkeit verschwamm alles neben mir, bis die Ohren des Dunkelfuchses aufblitzten. Ich versuche mich an ihm vorbeizudrücken, doch der Fahrer versperrte mir den Weg. Nach dem zweiten Bogen bremste ich den Schecken etwas, doch da kam Nour mit Walker und bedrohlich nah. Der Hengst war voll in seinem Element. Aus uns dreien wurde ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Wir befanden uns im letzten Bogen, als ich entschied, es zu riskieren. Ich lenkte durch gezieltes Schütteln der Leine den Hengst nach Außen, um an Walker vorbeizukommen. Dabei verspürte ich die Kampflust des Schecken, der in großen Sprüngen über das Geläuf fegte. Er wusste genauso gut wie ich, dass er es konnte. Mit der Stimme trieb ich ihn noch etwas stärker, doch dann die Schlussglocke. Das Ergebnis stand noch nicht fest, aber langsam kam meine Wahrnehmung wieder. Am ganzen Körper zitterte ich und ließ Wunderkind einfach machen. Beinah eine halbe Runde kam er nicht runter, aber bremste schließlich. Sofort kam an Ausfahrt Lars.
      „Das war heftig“, keuchte er, vollkommen außer Atem. „Aber komm, wir müssen deine Schleife abholen.“
      „Was?“, fragte ich verwirrt.
      „Die Nase hatte Wunder vorn, wenn auch sehr knapp“, grinste Lars. Ich konnte es nicht fassen, aber mein Gefühl hatte recht. Unverständlich ertönte mein Name zwischen anderen Worten durch die Lautsprecher, doch ich konnte nur auf die Ohren vor mir blicken.
      Lars hielt den Hengst fest, als ich aus dem Bock sprang und mich mit weichen Knien an den Wagen stellte. Durch den Kopf schwirrten so viele Dinge, dass ich kaum denken konnte. Aber das Wichtigste war: unser Sieg. Von einem zum anderen Ohr strahlte ich in Kameras vor mir, riss mir vorher den Gesichtsschutz vom Mund. Lars bekam ein liebevoll eingepacktes Geschenk für mich in die Hände gedrückt und Wunderkind eine lila Schleife an die Trense. Nach einem Auf- und Abfahren für das Publikum, das ehrlich gesagt bei dem Wetter sehr gering ausfiel, ging es zurück. Neben mir herlief Lars, der kaum ein Auge von mir lassen konnte. Auch Nour hatte sich bei uns eingereiht, die vollkommen überrascht zu mir sah.
      „Müsstest du nicht gleich Warmfahren?“, stammelte ich bester Absicht, wieder zur Sprach zu kommen, aber ich fühlte mich wie ein Teenager auf einem Talentwettbewerb, der nicht genau wusste, was er da tat.
      „Ja, aber du brauchst jemanden, der dir hilft“, lächelte er zuversichtlich und verschwand mit den Sachen am Hänger. In der Zwischenzeit stieg ich ab.
      „Großartig! Ich hatte das nicht erwartet“, sagte Nour mit funkelnden Augen und warf sich um meinen Hals. Überfordert blickte über ihre Schulter hinweg zu Lars, der wieder aus dem Transporter stieg.
      „Danke?“, tastete ich mich an die richtige Antwort. „Aber Wunderkind ist einfach ein Ausnahmetalent.“
      „Nicht so bescheiden, freu dich mal. Außerdem hast du damit bestimmt Eindruck geschändet“, lachte sie.
      „Ich weiß nicht.“ Meine Unsicherheit blieb. Nour begann, währenddessen zu erzählen, wieso Walker nicht angezogen hatte. Die Ohren standen mittlerweile auf Durchzug, denn sie begann abermals von vorn. Lars hatte sich ebenfalls aus dem Staub gemacht, um den Falbhengst mit großen Abzeichen warmzufahren. Um seinen Start nicht zu verpassen, beeilte ich mich etwas, alle Sachen zu verräumen und die Beine einzupacken.
      „Wenn du ihn so toll findest, warum kaufst du ihn nicht“, zischte es deutlicher schärfer über meine Lippen, als ich wollte. „Es tut mir leid, das war ungewollt.“
      „Es nervt dich, oder? Aber ja, schon gut. Ich habe auch schon überlegt, doch so viel Geld, werde ich nicht haben“, gab sie kleinlaut zu und legte die Arme um seinen Hals.
      „Wirklich nur minimal, aber das liegt nicht an dir“, seufzte ich und betrachtete die enge Bindung zueinander als das größere Problem. Mit meiner Stute war es anders. Sie liebte mich aus unerklärlichen Gründen abgöttisch, nur ich konnte das nicht ganz so zurückgeben, dafür hatte zu viel Angst, unbegründet. Zudem wechselten die Pferde in Leben mittlerweile so oft, dass es schwer war, sich für einen Liebling zu entscheiden.
      „Was auch immer ist – wir bekommen das in den Griff. Wenn Humbria erst einmal fahrbereit ist, wirst du sie alle platt wälzen“, lachte sie und zeigte dabei eine seltsam anmutende Handbewegung, als würde sie einen Rasenmäher schieben.
      Zusammen sahen wir uns noch Lars an, der zunächst mit Plano den vierten Platz belegte. Vision sprang in den Galopp, somit heimste er sich eine Disqualifizierung ein und schließlich mit Dustin doch noch einen Ersten. Feierlich umkreisten ihn, mir unbekannte, Personen und Nour war zur Siegerehrung auf das Geläuf gegangen. Teilnahmslos stand ich am Zaun. Sofort wurde mir unwohl, als hätte ich etwas Falsches gemacht, was natürlich bloße Einbildung war. Zudem hinkte der Vergleich mit ihm, schließlich galt Lars schon lange nicht mehr als Amateur, sondern fuhr als Berufsfahrer – mit großem Erfolg.
      „Kopf hoch, ist doch super“, erklang auf einmal eine tiefe und dunkle Stimme neben mir, die mir eine Gänsehaut über den Körper jagte. Langsam bewegten sich meine Augen in die Richtung, aus der Worte an mich getragen wurden.
      „Ach, du schon wieder“, seufzte ich und stelle dann fest, wer neben mir stand. Erschüttert von meiner eigenen Antwort schüttelte ich mich wie ein nasser Hund und drückte die Schultern zusammen, als würde es etwas ändern.
      „Ich kann auch wieder gehen“, grinste Basti spitz, verharrte aber an Ort und Stelle. Noch immer konnte ich mir nicht erklären, was seine Aufmerksamkeit so erregte, bis mich Nour aus der Ferne angrinste. Überall mischte sie sich ein und für einen kurzen Augenblick überkam mich eine aufkommende Hitze.
      „Nun gut, wenn du dich nicht unterhalten möchtest”, er zog eine Schachtel aus der Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an, “Man sieht sich“, dann lief Basti zu den Ställen. Die Hoffnung flammte für einen Augenblick auf, dass ich ihm nachlaufen würde, aber ich verharrte wie ein Idiot an auf der Stelle, Wurzeln so groß und schwer wie die eines Mammutbaums. Kein Wort würde er mit mir wechseln und die Wut kochte. Wut, gegen mich selbst, dass ich es mir leicht vorgestellt hatte, mich in dem Gedanken verlor, mit ihm sein zu können. Allerdings stellte sich die Realität als eine andere heraus, wer hätte es nur gedacht.
      „Was ist passiert?“, fragte Nour schockiert, als sie mit Lars von der Siegerehrung kam.
      „Nichts“, seufzte ich.
      „Aber warum schaust du dann, wie zehn Jahre Regenwetter?“, wunderte sie sich.
      „Weil nichts passiert, ist“, wurde meine Stimme lauter und einige Menschen um uns herum, schauten uns verwirrt an.
      „Reiß dich zusammen“, schüttelte Lars den Kopf, „was hast du denn gedacht was passiert? Dass er dir einen Antrag macht?“
      Seine genervte Stimmung gab mir den Rest und trotzig lief ich zum Stall. Die Rennen waren durch, also begann ich unsere Sachen aufzusammeln und in den Transporter zu verräumen. Sie kamen wenig später ab, aber sprachen kein Wort. Erst, als ich Wunderkind aus der Box holte, um ihn zu verladen, mischte sich mein Kollege wieder ein.
      „Was du vor? Wir fahren noch nicht nach Hause“, erklärte er monoton.
      „Gut, dann rufe ich mir ein Taxi“, antwortete ich aufgebracht. Lars zog mich zur Seite.
      „Mir ist gerade vollkommen egal, was passiert ist und was nicht, aber ich lasse mir mit deinem kindischen Verhalten nicht den Tag verderben. Du hast Aufgaben hier, also setze dich meinetwegen in den Transporter und warte“, maulte er.
      Ich riss mich aus seinem festen Griff heraus und stürmte in besagten. Nour blickte mir wehleidig nach.
      „Das kannst du doch nicht sagen“, hörte ich sie zu ihrem Bruder sprechen.
      „Es kann nicht sein, dass jeder nach ihrer Nase tanzen soll“, gab er zu verstehen. Den Rest ihres Gespräches war außerhalb meiner Hörweite und ich verschwand im Inneren des Transporters. Zunächst warf ich die Kleidung von mir, wechselte sie gegen meine Jogginghose und Pullover. Dann warf ich mich ins Bett. Mit meinem Verhalten hatte ich wieder einmal dafür gesorgt, dass die ganze Welt gegen mich war. Ich verstand ihre Enttäuschung, dennoch sprach diese elendige Stimme in meinem Kopf. Obwohl sie schrie, verstand ich kein einziges Wort, lediglich versetzte sie mir ungeheure Schmerzen in den Bauch. Alles drehte sich. Vor meinen Augen funkelte es uns noch im richtigen Moment schaffte ich es vor die Tür. Mein Magen entschied sich dazu, den nicht vorhandenen Inhalt zu entleeren.

      Stunden vergingen, bis einer zum Transporter kam. Teilnahmslos saß ich auf der Bank und starrte in die Leere. Ein reinstes Chaos war in meinem Kopf, die Finger zitterten und auch meine Beine hatte ich nicht mehr unter Kontrolle.
      „Es tut mir leid, was ich gesagt habe“, entschuldigte sich Lars und setzte sich zu mir. Ich rückte weiter in die Ecke, um keinesfalls von ihm berührt zu werden.
      „Schon okay“, antwortete ich abwesend.
      „Nour wollte, dass ich nach dir schauen gehe“, erklärte er.
      „Schön.“
      „Du bist nicht okay. Sollen wir nach Hause fahren?“, versuchte Lars mir fürsorglich auf den Zahn zu fühlen, doch das war vorbei. Eine Antwort gab ich ihm nicht, weshalb er wieder den Transporter verließ. Dem Gepolter zu folgen, verluden sie wenig später die fünf Rennpferde und Lars setzte sich ans Steuer. Noch ein paar Mal gab sich Nour Mühe, ein Gespräch aufzubauen, aber ich blockte komplett ab. Zu Hause angekommen, stieg ich sofort aus. Sie brauchten meine Hilfe nicht und zischte in die Hütte, für Stunden saß ich allein und als die Sonne schon lange am Horizont verschwand, war von Lars nichts zu sehen. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass er auch in der Nacht nicht kommen würde.

      © Mohikanerin // 23.588 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang März 2021}
    Keine Kommentare zum Anzeigen.
  • Album:
    stall.
    Hochgeladen von:
    Mohikanerin
    Datum:
    5 Jan. 2022
    Klicks:
    1.404
    Kommentare:
    19

    EXIF Data

    File Size:
    43,2 KB
    Mime Type:
    image/jpeg
    Width:
    960px
    Height:
    640px
     

    Note: EXIF data is stored on valid file types when a photo is uploaded. The photo may have been manipulated since upload (rotated, flipped, cropped etc).


  • Dustin ist 6 Jahre alt.

    Aktueller Standort: Lindö Dalen Stuteri, Lindö [SWE]
    Unterbringung: Hengstpaddock


    –––––––––––––– s t a m t a v l a

    Aus: Liliada [Englisches Vollblut]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Indiana ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Shew O'gold ––––– MV: Ehrengold ––––– MVV: Solo


    Von: Architekkt [Standardbred]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt



    –––––––––––––– h ä s t u p p g i f t e r

    Zuchtname: WHC' Golden Duskk
    Rufname: Dustin
    Farbe: Schwarzbrauner Pangare
    [EE AtAt nPa]
    Geschlecht: Hengst
    Geburtsdatum: August 2014
    Rasse: (Veredeltes) Standardbred [STB]
    Stockmaß: 161 cm

    Charakter:
    sehr gelassen

    * kann ohne Halfter geführt und "angebunden" werden

    * Läsionen in der Lunge (EIPH)
    * Graduierung der leistungsinduzierten Lungenblutung: Grad 3
    * Klebestreifen am dorsalen Nasenrücken


    –––––––––––––– t ä v l i n g s r e s u l t a t

    [​IMG] [​IMG]

    Dressur A [L] – Springen E [M] – Rennen A (M) [S'] – Distanz E [L] – Gangreiten E [A]

    Ebene: National

    Februar 2022
    Rennen E zu A
    1. Platz, 315. Gangturnier

    März 2022
    1. Platz, 512. Distanzturnier
    2. Platz, 513. Distanzturnier

    April 2022
    3. Platz, 514. Distanzturnier
    2. Platz, 319. Gangturnier
    2. Platz, 515. Distanzturnier
    1. Platz, 517. Distanzturnier
    3. Platz, 323. Gangturnier

    Mai 2022
    Dressur E zu A

    Februar 2023
    Ausdauertraining, Rennen L zu M


    –––––––––––––– a v e l

    [​IMG]

    Gekört durch HK 514 im Juni 2022.

    Zugelassen für: Traber aller Art; Barock-Reitpferd; Speed Racking Horse
    Bedienung: Keine Inzucht
    DMRT3: CA
    Decktaxe: 360 Joellen [Verleih auf Anfrage]

    Fohlenschau: 0,00
    Materialprüfung: 0,00

    Körung
    Exterieur: 7,80
    Gesamt: 7,94

    Gangpferd: 7,79


    –––––––––––––– a v k o m m e r

    Dustin hat 2 Nachkommen.
    • 2017 Eifelgold (aus: Eifelust)
    • 2019 Honeymoon LDS (aus: Fly me to the Moon)



    –––––––––––––– h ä l s a

    Gesamteindruck: gesund, im Training
    Krankheiten: EIPH (Grad 3)
    Beschlag: Falzeisen [Stahl], Voll


    –––––––––––––– s o n s t i g e s

    Eigentümer: Tyrell Earle [100 %]
    Bezugsperson: Lina / Vriska
    Züchter: Whitehorse Creek Stud, Cadomin [CAN], Luchy Blackburn
    VKR / Ersteller: Mohikanerin

    Punkte: Gekört

    Abstammung [4] – Trainingsberichte [3] – Schleifen [7] – RS-Schleifen [0] – TA [2] – HS [2] – Zubehör [2]

    SpindHintergrundVorschaubildKörung