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Mohikanerin

// Moonwalker LDS [3]

a.d. Fly me to the Moon, v. Outer Space | _zw91

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// Moonwalker LDS [3]
Mohikanerin, 6 Dez. 2021
    • Mohikanerin
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      påslag | 9. Dezember 2021

      WHC’ Griechischer Wein // Fahrenheit LDS // Blávör // Bree // Nachtschatten // Lotti Boulevard // Nachtzug nach Stokkholm LDS // Moonshine LDS // Liv efter Detta LDS // Willa // Krít // Þögn // Saints Row // CHH' Death Sentence // Yumyulakk LDS // Anthrax Survivor LDS // Heldentum LDS // Snotra // Ruvik // Moonwalker LDS // Planetenfrost LDS // Spök von Atomic // Skrúður // Krít // Hawking von Atomic // Voodoozirkus // Glanni frá glæsileika eyjarinnar // Kempa // Snúra

      Tyrell
      Mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrat ich das Büro, in dem Harlen innerhalb kürzester Zeit nicht nur alles digitalisierte, sondern auch sortierte und an den richtigen Platz stellte. Froh darüber, nun mich auch wieder mehr den Pferden widmen zu können, standen zuvor noch andere Dinge auf dem Plan. Dafür schaltete ich den Mac an und setzte mich vor den hell leuchtenden Bildschirm, der mir vor Augen führte, mal wieder die Brille putzen zu müssen. Aber auch die glänzende Oberfläche des Monitors verlangte nach einem Tuch. Seufzend erhob ich mich aus dem Stuhl, dabei knarrte das Holz unter den Rollen. In der obersten Schublade des Apothekerschranks befand sich neben den Brillenputztüchern auch ein Mikrofasertuch, mit dem ich kürzester Zeit die Fettflecken entfernen konnte.
      Nach dem Durchgehen des diesjährigen Zuchtplans, den Anmeldungen für Fohlenprüfung und Kontrolle der nächtlichen Videoaufnahmen, öffnete ich mein Mailfach. Direkt als erste Nachricht funkelte mich der Betreff ‘Winnie ist soweit’ an. Freudig klickte ich einmal zu oft auf die Überschrift, wodurch sie umgehend das nächste Fenster anbahnte, um eine Antwort zu verfassen. “Nein, Computer”, flüsterte ich meinen Rollkragen herein, schob die Maus von links nach rechts, um den Text zu lesen.
      Fast zwei Jahre stand mein Hengst im Beritt auf einem renommierten Sporthof in Deutschland, wurde dort deutlich besser behandelt als Fahri, um erfolgreich in der Dressur vorgestellt zu werden. Leider blieben die Starts aus, denn die ständigen Probleme mit seinen kanadischen Papieren, hing uns allen aus dem Hals heraus. Die Abreise aus Deutschland war eingerichtet worden, somit blieb mir nur noch die Anmeldung am Flughafen in Stockholm. Unkonzentriert schweifte mein Blick in unregelmäßigen Abständen nach links, hinaus aus dem Fenster. Vriska ritt am langen Zügel auf dem ersten Hufschlag auf Blávör. Das Pony trat aufmerksam durch den Sand, bemühte sich den Kräften der Natur entgegenzustemmen. Links den Schenkel mehr ran, dachte ich im Stillen, wusste aber, dass mich die Mail mehr brauchten als sie mich. Ich seufzte und klickte weiter.
      Auch von Fahri gab es ein Update. Noch immer war mein Freund daran, das Pferd von den Niederlanden nach Schweden zu bekommen, aber im Bereich des rechtlichen gab es noch Schwierigkeiten, die vorher gelöst werden mussten. So verhalte Fahrenheit weiterhin auf seinem kleinen Hof nahe der Hauptstadt. An Gewicht hatte er zugenommen, sah schon zufriedener aus, in der Mähne jedoch hing noch immer ein großer Klumpen aus Kletten und Dreck. Das konnte ich nicht. Schnell klickte ich die Bilder weg und formulierte eine rasche Antwort.
      Knarrend öffnete sich die Tür.
      “Hast du es schon gesehen?”, fragte Harlen freundlich und lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen. Ich musterte sein Gesicht, überlegte, was er meinte, ehe ich mit dem Kopf schüttelte.
      “Was meinst du genau?”, drückte ich verwundert die Augenbrauen zusammen, ließ mich gemütlich in die Rückenlehne des Stuhles sinken und verschränkte die Arme. Harlen lachte. Dann setzte er sich in Bewegung, stützte sich auf der Tischplatte ab.
      “Dann schau doch mal in den Ordner Wichtig”, wedelte er mit dem Finger vor dem Monitor herum. Ich richtete mich wieder auf und klickte auf das blaue Symbol auf der linken Seite. Da stand es. In großen Buchstaben im Betreff bekamen wir den Zuschlag für die Weltreiterspiele, anbei sogar die Baugenehmigung und erste Entwürfe für den Ausbau. Eine vollkommen neue Welt eröffnete sich in meinen Gedanken, noch bevor ich mir überhaupt die PDF ansah. Ich konnte sehen, wie Menschenmassen über das Gelände liefen, hocherfreut die Pferde betrachteten und überall kleine Foodtrucks standen, an denen sie sich reihten. Währenddessen duellierte sich die Reiterelite auf dem Platz, zeigten, wofür sie so lange geübt hatten. In den Stallungen würde gelacht und geweint. Abenteuerlust lag in der Luft und in meinen Augen strahlten die Kronen, die wir mit den ganzen neuen Einstellern verdienen würden.
      “Klick doch endlich an”, sagte Harlen aufgeregt. Mit der Maus führte ich den Zeiger auf den Anhang. Noch prachtvoller strahlten die Entwürfe auf dem Bildschirm. Das Lindö Dalen bekam eine ganz neue Wirkung, auch, weil Vieles umgebaut werden müsste. Die Wohnungen wurden dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen, für das Hauptstation mit einem riesigen Reitplatz, auf dem alle Disziplinen ausgetragen werden könnten. Darum entstanden ein Café und Restaurant, ein großer Vorplatz mit verschiedenen Ständen und alles wirkte so festlich. Ich erkannte unseren Hof gar nicht mehr wieder. Der kleine Reitplatz an der Reithalle wurde vergrößert und mit einem Weg ausgestattet, der direkt ins Innere der Arena führte. Die Tribünen lagen höher, sodass der Hauptplatz wie ein Gladiatorschauplatz anmutete. Mir gefiel die Idee, auch, dass der Zaun um das Gestüt durch eine Mauer ersetzt werden würde, mit einem automatischen Tor. Zur rechten gab es ein Camping Areal, dass auch außerhalb von Turnieren seinen Sinn haben würde. Anlegt an einem Schwimmteich, würden kleine Hütten gebaut werden, die vom Design noch in einer Ausschreibungsphase waren. Jeder bekam die Chance seine Ideen miteinfließen zu lassen, um eine möglichst kreative Vielfalt zu haben. Ich konnte nicht weitersehen, zu sehr zitterte meine Hand vor Freude.
      “Kaum zu glauben, dass das die Wirklichkeit werden würde”, freute ich mich und sah mit glasigen Augen zu Harlen.
      “Ich habe doch gesagt, wir schaffen das”, grinste dieser und sah selbst durch. Vom Stuhl erhob ich mich, um frische Luft zu schnappen.
      “Willst du nicht mit kommen zu den Pferden? Wird Zeit, dass du dich auch mal in den Sattel schwingst”, versuchte ich ihn zu überzeugen.
      “Nein, wie die letzten Tage auch schon”, lachte er mit einer abwinkenden Bewegung.
      “Dann nicht”, gluckste ich, “im Drucker liegt noch eine zweifache Ausführung eines Arbeitsvertrags. Muss nur noch unterschrieben werden, um 15 Uhr kommt die Dame.”
      Harlen nickte und ich schloss hinter mir die Tür.
      Folke traf sich mit seiner Freundin, somit war für mich die tägliche Weidekontrolle auf dem Tagesplan. Aus dem Flur zog ich mir die olivgrüne Fleecejacke und eine schwarze Weste, mit dem Logo des Stalls drauf, an. Schon in der Halle wehte ein kühler Wind hindurch, der mich erahnen ließ, wie kalt es wohl draußen sein würde. Die letzten Zentimeter am Kragen schloss ich ebenfalls noch und startete den kleinen Wagen, der einzig allein dafür gekauft wurde, um die Strecke zu weit draußen liegenden Weiden nicht laufen zu müssen.
      Die Stuten mit ihren Fohlen grasten friedlich. Brees Tochter hatte als Erstes einen Liebhaber gefunden aus Kanada und Breia würde in ungefähr einem Monat ihre Reise antreten, doch davon wussten beide Pferde noch nichts. Das Fohlen der Schwarzen, Stokki, fand man immer häufiger im Kontakt mit den anderen Jungpferden. Am liebsten stand sie bei Moonshine, die bis heute jeden Tag versuchte eine Schwachstelle im Zaun zu entdecken, und Liv. Lotti sowie die drei Isländerstuten und Saint von meinem Bruder erstrahlten in bester Gesundheit mit ihren Nachkommen.
      Unter meinen Gummistiefeln knirschte der feuchte Boden als ich zurück zum Tor lief. Ich senkte meinen Blick zur Seite, um den Wasserstand des Trogs zu prüfen. Für den Tag würde die Menge ausreichen, besonders bei den niedrigen Temperaturen reichte die Fechte des Grass. Mit wenigen Schritten saß ich wieder auf den Fahrersitz und fuhr den Weg an der Stutenweide entlang, um an das andere Ende zu gelangen, an dem die Hengste standen. Schon aus der Ferne sah ich Death mit Yu spielen. Je näher ich kam, umso mehr spürte ich die Vibration des Bodens, der unter den Hufen der Pferde bebte. Als sie mich auch entdeckten, stellten sich die Ohren neugierig auf und in einem taktklaren Tölt kamen die Junghengste zum Zaun. Nacheinander streckten sie mir ihren Kopf entgegen, nur Heldentum stand fernab der Gruppe, sah dennoch interessiert zu mir. In einer fließenden Bewegung drückte ich mich durch den Zaun und lief langsam auf ihm zu. Die anderen Hengste folgten mir vertraut, sorgten jedoch dafür, dass er wieder zur Flucht ansetzte mit leicht nach hinten gedrehten Ohren. Mit wedelnden Armen scheuchte ich die Herde hinter meinem Rücken, die sich sofort auf der Grünfläche verteilten und mir meinen Freiraum ließen.
      Schnalzend knallte meine Zunge am Zahnfleisch, wodurch wippte Held mit den Ohren und in seinen Augen funkelte die Neugier. Ein Schritt kam er näher, doch trat zwei weitere wieder zurück. Alle Versuche ihn zu mir zu locken, scheitern. So legte ich den Rückweg ein, kam dabei an Vriska vorbei, die mit Snotra eine Runde durch den Wald und in dem Augenblick auf ihrer Lieblingsstrecke töltete. Kurz dachte ich darüber nach, dass dort in spätestens einem Jahr ein großes Vereinshaus wäre, dass mit zur neuen Rennbahn gehören würde. Ehe ich mich in dem Gedanken verlor, sah ich Ruvik wie gewohnt an seinem Zaun stehen, die Ohren angelegt und mit seinem Vorderhuf scharrte er verärgert den Boden auf. Ein Pfiff und der Hengste streckte den Hals nach oben, sein Mähnenkamm wackelte, vermittelte mir umgehend, dass er dringend eine Beschäftigung benötigte, die ihm jedoch niemand geben konnte. Bis auf mir, griff das Tier jeden an, der versuchte einen Strick an sein Halfter zu hängen. Deswegen stand er nur auf der Weide, die mittlerweile wie ein Paddock daherkam.
      Nach einem Blick auf die Uhr wusste ich, dass noch genug Zeit sein würde, um mit Walkers Ausbildung fortzufahren. Den kleinen Wagen stellte ich auf seinem Platz in der Halle ab und lief die donnernd die Holzstufen hinauf zur Tribüne, um von dort in die Hütte mit der Sattelkammer zu gelangen. Vom Haken nahm ich ein Halfter ab, dass um den großen Kopf passen sollte. Schon auf dem Paddock strahlten die verbleibenden, hellen Stellen hervor, zwischen all den dunklen Pferden. Durch das Gitter stieg ich hinein. Der Sand war fest, noch von dem nächtlichen Frost. An der Sohle drückte sich die ungleichmäßige Struktur des Bodens an meinen Fuß, sogar für Stücke schmerzhaft. Während sich Plano umgehend an meine Fersen heftete, beäugte mich Walker eher kritisch. Er erhob seinen Hals und drückte den Kopf ein Stück zurück, aber ich schweifte das Halfter über die gespitzten Ohren. Entspannt prustete er die Luft durch seine Nüstern, folgte mir widerstandslos vom Paddock in die Halle. Dort ritt Bruce auf dem Platz mit Skrú, seinen Rappschecken.
      “Läuft gut mit ihm?”, fragte ich beim Putzen, als er ihn zurück in den Schritt holte.
      “Ja, sehr gut, aber ich werde ihn verkaufen”, seufzte mein Bruder, klang jedoch entschlossen.
      “Warum?”, hackte ich nach.
      “Mittlerweile habe ich so viele Hengste und für ihn bleiben die Anfragen aus zum Decken, deswegen hat sich eine Interessentin aus Polen bei mir gemeldet, die ihn übernehmen würde”, erzählte er ununterbrochen. Verständlich, dass Bruce nicht wieder in die Sammelleidenschaft unserer Familie eintreten wollte.
      “Außerdem habe ich Spök, die nur darauf wartet angeritten zu werden. Ich habe gestern das erste Mal mit ihr gearbeitet. Ein tolles Pferd, so freundlich und wie ihre Mutter, einfach ein Goldstück”, schwärmte er über eins der Skrú Nachkommen.
      “Verstehe, die hast du aus Krít gezogen, oder irre ich mich?”
      “Genau, der Schimmelstute. Deswegen sind meine Hoffnung groß, dass ich nächstes Jahr schon eine Futurity reiten könnte”, grinste er breit. Dann klingelte das Handy, womit unser Gespräch endete. Sofort nahm mein Bruder ab, während ich Walker mehr oder weniger geputzt hatte. Aus der Sattelkammer nahm ich den hellbraunen Bliss Sattel, ein Lammfellpad und die grüne Schabracke, als Zaum würde er heute das erste Mal in den Genuss kommen mit vier Zügel geführt zu werden. Dafür suchte ich das am besten passenden Kappzaum heraus mit einem Baucher Gebiss, ehe ich ihm alles umlegte mit einer Trainingsdecke über dem Po. So führte ich den Hengst zu Führanlage, damit er die ersten zehn Minuten sich aufwärmen könnte. Interessiert betrachtete ich ihn, überlegte jedoch, wie ich die Zeit sinnvoll nutzen könnte, bis er warm war. Dafür lief ich zum Stutenpaddock und prüfte den Zustand der Mutterstute, die viel zu früh ihr erstes Fohlen bekam. Mill floh in einer stürmischen Nacht von der Weide und am nächsten Tag fand ich sie eng umschlungen mit Vintage auf der Zuchtweide. Damit war das Schicksal besiegelt. Der Tierarzt riet davon ab, das Fohlen durch Hormone zu entfernen, denn damit war das Risiko sehr hoch, dass sie die nächsten Jahre nicht aufnehmen würde. “In der Natur kommt das auch vor”, sagte er damals. Jetzt tobt das feuerrote Fuchsfohlen glücklich über den Paddock und beide Tiere sind wohlauf.
      Aus dem Hintergrund ertönte das leise Piepen der Führanlage. Mit einem streichen über die Nüstern der gescheckten Rappstute lief zurück und führte Walker aus der Anlage heraus. Seine Nüstern waren weit aufgebläht. Schon als sein Huf den hellen Sand vor der Halle, bäumte sich der Hengst auf, in ihm weckte sich neue Energie, die sich über das Fell noch verstärkte. Nach dem Festziehen des Gurtes, schwang ich mich in den Sattel, um weitere Runden im Schritt zu drehen. Für den Anfang übernahm ich die Zügelführung am Kappzaum, damit er sich an diese neue Art des Reitens gewöhnen konnte. Er kannte natürlich den Zaum schon von der Bodenarbeit der letzten Wochen, senkte seinen Kopf bei Kontakt am Nasenrücken und kaute ab. Auch in seinem Genick löste sich etwas.
      Doch nach einigen Runden filterte sich heraus, dass Walker übermäßig sein Gewicht auf die äußere Schulter legte und damit versuchte, seine Gleichgewichtsprobleme auszurangieren. Mit einem sanften Bügeltritt auf der Innenseite verlängerte die Stützphase minimal, je öfter ich es wiederholte, umso sicherer kam der junge Hengst aus der Überbelastung heraus und richtete sich mehr zur Körpermitte. Lobend strich ich ihm über den Hals und setzt auch auf der anderen Hand an das Problem an, so gelang es uns auch im Trab besser, die Balance zu finden. Walker spitze die Ohren, hörte bei jeder kleinen Hilfe genau zu und gab sein Bestes, diese auch umzusetzen. Ich hingegen achtete darauf, die Linienführung sauber zu reiten, damit ich mögliche Schwachpunkte an ihm und mit entdeckte. Im Schritt zeigten sich die einfachsten Bahnfiguren als eine Leichtigkeit, doch sobald ich in den Leichttrab wechselte, kam in Biegungen der Pass durch. Den Moment nutzte ich mit einem Bügeltritt das Gewicht zu verlagern und ihm den richtigen Weg zu weisen. Nachdem er zum wiederholten Male beim Abwenden keinen Pass zeigte, holte ich ihn zurück in den Schritt und ritt ihn ab. Zumindest einige Runden, denn dann kam Walker wieder in die Führanlage für zwanzig Minuten und ich holte mir aus der Hütte einen frisch gebrühten Kaffee.

      Jonina
      Mit einem festen Stoß in die Seite, kam ich ins Wanken, zog den Strick erschrocken hoch und Hawking richtete sich erhobenen Hauptes rückwärts. Dem jungen Hengst fehlte es an vielen – vorrangig Respekt. Immer wieder versuchte er in meinen Raum einzudringen oder sich ungeniert an mir vorbeizutrampeln. Hawking lernte schnell, wollte aber nicht sein Wissen einsetzen, lieber mit dem Kopf durch die Wand, dabei befanden wir uns nur auf dem Weg von der Weide zum Stall. Menschen, die nicht einmal grüßten, kamen mir entgegen auf ihren Pferden und auch Fußgänger mit Hund. Im Wechsel durfte ich für einige Meter verschnaufen, ehe der Hengst sich wieder gegen den Strick lehnte und versuchte der Unterordnungsübung zu entringen. Auf mich hatten diese Spielchen keine Wirkung, nein, stattdessen setzte ich mich durch und bot ihm das nötige Durchhaltevermögen. Kurz vor der Ankunft auf dem Paddock strich dem jungen Hengst über den Hals. An meinem Handschuh klebten sofort viele helle Haare, die ich nur an meiner Hose abwischte. Hawking schnaubte zufrieden ab und durfte seine neuen Genossen kennenlernen.
      Voodoo stürzte sich direkt auf das junge Pferde, in dem er seinen Po gegen seinen drückte und mit einem lauten Quietschen, die Rangordnung klarstellte. Doch der Junge wusste sich zu wehren und trat ebenfalls kräftig zu. Für eine Weile beobachtete ich die ausgefallene Streiterei, die sich schnell legte. In wenigen Minuten würde die Festanstellung auf mich warten, damit verbunden, dass Glanni endlich umziehen konnte. Ich würde ihn besser in den Arbeitsalltag einbauen können, wenn er direkt auf dem Lindö Dalen Stuteri stand, aber auch müsste ich die ganzen eingeschnappten Zicken nicht mehr sehen. Wie die kleine Milena, die mit ihrer Stute Kempa und Snúra nichts besseres Zutun hatte, als sehr dicht an meinem Hengst vorbeizureiten und sich dann zu beschweren, dass er leise brummte. Vor Augen sah ich schon, die ich den Wald eroberte mit dem Fuchs, neue Wege entdeckte und auf der Trainingsbahn Gas geben könnte. Außerdem erwog Bruce zwei seiner Stuten im nächsten Jahr von ihm deckenzulassen, was mir zusätzlich ein kleines Taschengeld einhandeln würde. Ja, der Hof war geradezu perfekt für uns beide und die gemeinsame Entwicklung, fehlte nur noch der Vertrag.
      Ich hatte mich so sehr in meinem Konstrukt aus Gedanken verloren, dass ich fast den Termin im Büro vergessen hatte. Aus Erzählungen wusste ich schon, dass Tyrell sehr streng sein kann, wenn man zu spät. Also joggte ich so schnell es mir möglich war durch den Kies. Kleine Steine flogen zur linken und rechten Seite, kamen einem Knirschen wieder auf dem Boden auf. Dann stand ich vor den hölzernen Treppen, wohl möglich eins der ersten Male wirklich nervös. Schweiß lief mir am Rücken herunter und auch an der Stirn. Mit dem Ärmel meines Fleece Pullover wischte ich mir durchs Gesicht und lief den stillen und wirklich grauen erweckenden Flur entlang, stoppte vor der milchigen Glastür. Mein Herz schlug so stark, dass ich das Gefühl bekam, es würde jedem Moment aufhören zu schlagen. Die Haut zog kräftig an meiner Brust, versuchte mit allen Mitteln den Muskel an seiner Stelle zu behalten. Langsam hob ich die Hand und atmete noch einmal tief durch.
      “Herein”, sprach eine mir sehr wohlbekannte Stimme. Erschrocken drückte ich so sehr die Klinke herunter, dass ich nur so hineinstolperte und die Tür gegen die Wand schepperte. Das Glas blieb glücklicherweise intakt.
      “Mit dir habe ich nicht gerechnet”, versuchte ich meine Nervosität zu überspielen, in dem ich meine Hände in der Hosentasche versteckte.
      “Ich ehrlich gesagt auch nicht”, zuckte Harlen mit den Schultern und holte aus dem Drucker zwei mehrseitige Bögen heraus, legte sie auf die Ecke des Tisches zusammen mit einem Kugelschreiber. Leicht berührten sich unsere Hände. Ich schrak zurück und schnappte nach Luft. Er zog seine Braue nach oben. Durch das Fenster sah ich eine blonde Dame, die ziemlich große Ähnlichkeiten mit dem Herrn neben mir hatte.
      “Das ist dann wohl deine Schwester?”, fragte ich zynisch und überlegte noch, ob ich wirklich meine Unterschrift auf den Zettel setzten würde. Meine Hoffnung, auf den nahezu perfekten Arbeitsplatz verflog im Winde, als ich seine Stimme erhörte und sofort wusste, was Sache war.
      “Ja, hast du ein Problem damit?”, blieb er höflich und zeigte erneut mit seinem Finger auf die Linie, auf der ich mein Autogramm setzen sollte. Doch warf den Stift auf den Tisch. Meine Arme verschränkten sich und mit meinem Po lehnte ich mich an der Kante an.
      “Allerdings. Was ich von der weiß, reicht mir, um zu wissen, dass es keine gute Idee ist. Zudem”, ich stoppte, ringe verzweifelt nach Luft. Seine Finger kamen mir bedrohlich nah, steckten eine lose Strähne hinter mein Ohr. Auf seinen Lippen lag das Lächeln so weich, dass ich am liebsten die Zeit zurückdrehen wollte.
      “Harlen”, stammelte ich, “das kann so nicht weitergehen. Es belastet mich schon, vor meinem Bruder Stillschweigen zu bewahren, aber jetzt auch noch bei der Arbeit? Wie stellst du dir das bitte vor?”
      “Jo, ich zwinge dich zu gar nichts, du kannst es frei entscheiden. Mir ist es nicht unangenehm, meiner Schwester gegenüber, außerdem”, ehe er den Satz beenden konnte, unterbrach ich ihn.
      “Die hängt echt viel mit meinem Bruder herum, also nein, auf gar keinen Fall”, wehrte ich mich weiter. Ja, ich wollte keine Gefühle für ihn haben, schon allein, weil Eskil äußerst interessiert an Harlen war. Er selbst hatte auf den Kneipentouren ebenfalls entdeckt, dass Männer ziemlich anziehende Wirkungen hatten, dennoch fanden wir einander in einer schicksalsvollen Nacht in meinem Bett wieder. Seitdem verspürte ich mehr. Es war für mich eher ein Hobby geworden, jemanden kennenzulernen und nur wenige Wochen später jemand anderen zu haben. Dabei bezog es sich lediglich auf das kennenlernen, doch mit ihm kam es schon in der ersten Nacht einen Schritt weiter. Der Alkohol wird seine Wirkung entfacht haben und die tollen Gespräche bei uns im Garten wohl auch.
      “Mir ist es egal, aber nimm’ den Job an, mehr kann dir nicht empfehle”, sagte Harlen gutmütig, gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und setzte sich zurück an den Schreibtisch. Wie hypnotisiert blickte ich hinab auf das Blatt, er hatte recht. Eine bessere Chance gab es nicht.

      © Mohikanerin // 21.027 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte September 2020}
    • Mohikanerin
      Dressur E zu A | 31. Dezember 2021

      Moonwalker LDS // HMJ Holy // Einheitssprache // Klinkker LDS // Northumbria // Ready for Life // Schleudergang LDS // Milska // Hallveig från Atomic // Narcissa // Vrindr // Spök von Atomic // Legolas

      Mit einem lauten Klirren fiel nur wenige Meter von uns entfernt das Rolltor aus der Verankerung. Heinz, der nur noch einige Zeit bei uns war zum Beritt, sprang zur Seite und streckte den Kopf zur Linken, um zu prüfen, woher dieses schreckliche Geräusch stammte. Immerhin sorgte es dafür, dass die klirrende Kälte vor dem Stall blieb. Der Hengst hatte sich wieder dem gelben Futternapf gewidmet und dampfte weiter unter dem wärmenden Licht der roten Birnen.
      Zuvor beschritten wir eine erfolgreiche, wenn auch kurze, Reiteinheit mit Tyrell, der gleichzeitig Walker an der Hand schulte, zum Lösen von Verspannungen. Zunehmend kam der helle Hengst ins Gleichgewicht und lernte auch entspannt zu sein, wenn andere Pferde sich in der Halle befanden. Von vornherein war es klar, dass er sich schwer, nicht die Ranghöhe bei der Arbeit zu genießen, die er sich hart mit Frost erkämpfte. Deswegen überlegten wir noch, die Paddocks zu teilen, um allen Pferden die nötige Ruhe gewährleisten zu können. Den Herren neben mir interessierte das alles jedoch überhaupt nicht. Heinz hatte zwar eine gewisse Blütigkeit mütterlicherseits geerbt, aber ihm kam auch die Ruhe seines Vaters zugute, was ihn zu einem treuen und ausgeglichenen Partner machte. Deswegen, und natürlich auch seiner Optik, war es nicht verwunderlich, dass er schnell Anhänger fand und ein schönes Zuhause in Deutschland. Brooke, eine, die mir bisher als Springreiterin bekannt war und an der einen und anderen Stelle als aufsteigender Stern angesehen wird. Zumindest hatte ich das einmal in einem der Onlineartikel gelesen aus meiner ehemaligen Heimat, neben Tratsch und Klatsch aus der Reiterszene.
      „Vriska, machst du dich dann bitte Humbria bereit?“, sagte Tyrell, der Walker zurück auf den Paddock brachte.
      Ich nickte.
      Neugierig blickte mich die dunkle Stute an, als ich mit dem Halfter in der Hand am Tor stand und ihren Namen rief. Tag täglich war Humbria motiviert mit mir zu arbeiten und auch fand meinen Reiz darin, der Stute den Weg zu zeigen in das Leben eines gesunden Reitpferdes.
      Die kleinen Steine knirschten beinah friedlich unter unseren Schritten, während die Idylle von dem Lärm der Maschinen auf der anderen Seite des Gestüts gestört wurde. Sosehr ich auch versuchte mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sich der Hof auf kurz oder lang zu einem der renommiertesten entwickeln würde, sah ich kritisch in die Zukunft. Ich liebte das alles hier, wie es war und es gab keine Notwendigkeit etwas zu verändern, aber meine Stimme hatte kein Gewicht.
      Schwermütig seufzte ich, als ein Fuß, nach dem anderen den Betonboden betrat und ich schließlich die Stute fertig machte. Auch Lina war bereits damit beschäftigt ihre neuste Errungenschaft zu putzen. Das Pferd war ebenfalls komplett rasiert und benötigte dementsprechend nur mäßige Fellpflege. Humbria legte immer wieder die Ohren an, als Redo freundlich sie inspizierte. Einmal quietschte sie sogar auf. Konsequent ignorierte ich ihr Verhalten, das mussten die beiden unter sich klären.
      In der Sattelkammer betrachtete ich nachdenklich die Auswahl an Schabracken und Sätteln. Für gewöhnlich würde ich den Wolken-Sattel von Lubi nehmen, doch aus unerklärlichen Gründen nahm ich das Schulungspad und dazu meine Filzunterlage aus der Schweiz, die bisher wie ein gehüteter Schatz in meinem Schrank hing. Behutsam nahm ich den Schutz von ihr ab und betrachtete das kleine Vermögen. *‘Ich sollte weniger Geld ausgeben für so was’*, überlege ich augenblicklich, aber zuckte mit den Schultern und lief hinaus, nach dem ich noch die Trense vom Haken nahm.
      „Ich gehe schon in die Halle“, nickte Lina mir zu und führte die Rappstute aus der Bucht heraus. Nur kläglich folgte sie, streckte den Hals so lang sie konnte, ehe der erste Schritt nach vorne sich setzte. Dann folgte einer nach dem anderen und nur noch der Hufschlag war von den Beiden zu hören. Urplötzlich verschwand wieder meine Motivation, was vermutlich damit zusammenhing, dass Jonina mit Halli die Gasse betrat, gefolgt von Bruce, der jedoch ohne Pferd unterwegs war. Schnell drehte ich mich wieder zur dunklen Stute, um den Baumwohlgurt zu befestigen.
      „Heute wird es eine große Runde“, lachte Bruce und klopfte mir auf die Schulter.
      Ich nickte, aber schwieg.
      Noch immer konnte ich mir nicht erklären, wie ich so schnell meine Angst gegenüber großen Pferden ablegen konnte. Die Fahrt nach Kanada hatte alles verändert. Fortan setzte ich neue Ziele, versuchte mich wieder zu einer besseren Form meiner Selbst zu entwickeln. Aber was dachte ich andauernd über das nach? Der Tod meiner besten Freundin zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben, nagte an mir und ließ mich nicht los. *Wird es jemals erträglich?*
      Von der Seite stupste mich die dunkle Stute an und versuchte mich wieder in die Realität zu holen. Ihre Augen funkelten fröhlich im warmen Licht der Deckenstrahler. Im sicheren Abstand zu den anderen beiden Damen führte ich Humbria im Schritt durch den tiefen Sand, viel mehr, um mich selbst auf diese Einheit vorzubereiten, als die Stute. Sie war ruhig und sogar deutlich geschmeidiger im Genick als die Tage zu vor.
      „Vriska, jetzt steige endlich auf. Das sinnlose Herumführen bringt dem Pferd nichts“, schnaubte Tyrell aus den Kopfhörern, aber widerwillig zog ich an den Zügel zu der Aufstiegshilfe. Das Schulungspad verfügte nicht über Steigbügel und stellte damit die erste Herausforderung dar, doch mein Trainer kam freundlicherweise dazu und drückte sanft mein Bein nach oben. Einmal schüttelte Humbria mit dem Kopf, aber wartete geduldig, bis ich vernünftig im Leder saß. Vorbereitend prüfte ich meinen Sitz, spürte direkt, dass ich rechts höher saß als links und der Kopf des Pferdes wieder nickte. Langsam setzte ich das Tier in Bewegung, wirklich langsam. Ein Tritt nach dem anderen setzte sie nach vorn, jedoch genau an meiner Hilfe. Mithilfe der Zügel holte ich den Kopf nach oben, um die Geschmeidigkeit im Genick zu behalten und setzte mich tief in den Sattel. Doch als Lina, bereits im Mitteltrab, fiel mir die Stute aus dem Rahmen. Trotzig schnaubte Humbria ab.
      „Sei geduldig mit ihr. Noch vor drei Wochen lief sie auf der Bahn, da kann sie dir auch heute keine Hochleistung im Sand bringen“, korrigierte mich Tyrell. Seine Sprüche waren mir bekannt und die Intention noch viel mehr, aber ein kleiner innerlicher Teufel versuchte mir immer ins Gewissen zu sprechen, dass es bei anderen so viel einfacherer war und ich allein diesen täglichen Kampf hatte.
      „Okay, aber was soll ich tun?“, murmelte ich in das kleine Mikrofon an meiner Brust.
      Seufzten ertönte in meinen Ohren.
      „Hör ihr zu, was sagt sie? Und im Unterschied dazu, was sagst du ihr? Gib ihr die Zeit. Am besten fernab der anderen, viel weiter im Inneren. Erst, wenn ihr auf einer Ebene kommuniziert, könnt ihr die Schiefe ausgleichen. Außerdem muss der Schub weg, aber daran bist du auch gewillt zu Arbeit, wie ich sehe“, holte er weit aus. Wie ein Anfänger fühlte ich mich, als säße ich zum ersten Mal auf dem Rücken eines Pferdes, aber weit davon war ich auch nicht entfernt. Drei Jahre Erfahrung machen mich nicht zu Profi, wenn auch der unter 25 Jahren Kader eine glückliche Fügung darstellte.
      Im Inneren arbeitete ich im Stillen mit Humbria, konnte von jedem Abwenden sie besser ausgleichen, bis sie schließlich geschlossen stehen bleiben konnte und mich in den Kurven nicht mehr nach Außen hob. Die anderen Beiden Reiter erschienen im Kontrast so viel weiter. Lina trabte entspannte mit Redo, galoppierte gezielt aus dem Schritt an und konnte die Rappstute durch wenige Hilfen zurücknehmen. Auch Jonina auf Hallveig konnte sich sehen lassen, wenn auch unvergleichbar. Die braune Isländerstute brachte enormen Schwung an den Tag, was Auswirkung auf die Tragkraft hatte. Im Tölt strampelte sie wie ein Weltmeister und was so wirklich das Ziel der Beiden in der Reithalle war, konnte ich nur erahnen. Als hätte Tyrell meine Gedanken erhört, kommentierte er ihre Reitweise. Bruce saß still daneben. Eine kleine Diskussion entbrannte darüber, was richtig und was falsch sein. Ich schnappte vor Verwunderung nach Luft und konzentrierte mich wieder auf den Chaoten unter mir.
      Behutsam drückte ich beide Haken in die Seite der Stute und die Gerte wedelte gezielt. Aus dem versammelten Schritt heraus, baute sich Humbria auf, bekam einen bombastischen Schwung an Energie und sprang direkt in den Galopp, den man beinah als Schulgalopp bereits ansehen konnte. Es war das erste Mal, dass sie aus sich herauskam und den Brustkorb hob, dass ich dieses Angebot nur annehmen konnte für einige Tritte und dann die Zügelverbindung beendete und lobte. Wie ein hungriges Krokodil drehte sie sich zu mir und öffnete das Maul, um auf das Leckerli zu warten. Natürlich bekam sie aus, angesichts der Tatsache, dass sie unausstehlich wurde, wenn es keins gab. Ja, es war eine schlechte Angewohnheit, woher auch immer diese Stammen sollte, aber wir arbeiteten daran. So gab es keins mehr beim Holen vom Paddock, was mittlerweile verkraftbar war.
      Ein letztes Mal auf der anderen Hand wollte ich die Energie aus ihr herausholen. Bekam sogar den gewünschten Trab, den ich mit einer weiteren treibenden Hilfe ins Arbeitstempo verstärkte und mir auf dem vierten Hufschlag die Zügel aus der Hand kauen ließ. Zur gleiche Zeit waren die anderen Beiden in einer Abteilung unterwegs, trabten auf einer Schlangenlinie mit vier Bögen und galoppierten sogar zusammen auf einem sehr großen Zirkel. Aus dem Augenwinkel betrachtete auch Humbria dies. Voller Freude sprang ich beim nächsten Halt aus dem Pad und lobte die Stute ausgiebig.
      „Gut ihr Beiden, dann kannst du mir auch die Ente fertig machen“, sagte Tyrell zu mir, bevor ich Kopfhörer rausnahm und das Mikrofon stummte. Die Ente war kein anderes Pferd als Schleudergang, eins seiner Nachzuchten. Ich verstand nicht genau, wie er auf die Idee kam, das Barock-Reitpferd neu zu erfinden, aber mein Chef tat es und das beinah radikal. Unsere Ente hatte dichtes Langhaar mit einem mittellangen Hals, die Schulter schräg und reichte markant in den Rücken hinein – rundum, dem Zuchtprogramm entsprechend. Aber was man erst bei einem zweiten, und vor allem genaueren, Blick sah, war, dass dieses Pferd sehr ungeschickt lief. Ente hatte sich nicht unter Kontrolle, wirkte wie ein junges Tier, das vor wenigen Stunden lernte sich zu bewegen. Das machte die Arbeit mit ihr zu einem großen Problem, oder wie mein Chef zu sagen pflegte: Es ist kein Problem, sondern eine Herausforderung. Deswegen war ich froh, den nötigen Abstand zur Stute zu haben.
      Northumbria fraß genüsslich ihre Kraftfuttermahlzeit im Solarium und ich hatte mich mit einem Halfter bewaffnet, um die Ente vom Paddock zu holen. Wie alle anderen stand sie mit dem Po Richtung wird vor dem Unterstand, der Kopf gesenkt und von Motivation eher weniger geprägt. Genauso verlief auch das Holen und fertig machen für’s Training. Mit mir zusammen erreichte auch Bruce die Reithalle, hatte dabei seine große Hoffnung: Spök. Die junge, und ziemlich hübsche, Stute aus Krít lief mit wippenden Ohren neben ihm her, auf dem Rücken einen Longiergurt und in seiner Hand die Doppellonge.
      „Und, wann wirst du dich draufsetzen?“, erkundigte ich mich.
      „Jonina saß gestern das zweite Mal im Sattel und nächste Woche möchte ich mit ihr eine kurze Runde in den Wald in Begleitung“, erzählte Bruce und ging weiter zum Tor.
      Die Ente hatte ich geputzt und gesattelt, bevor Tyrell kam, um sie abzuholen. Dann nahm auch ich Humbria wieder aus dem Solarium heraus. Obwohl das Pferd nahezu trocken war, legte ich ihr wieder die grüne Weidedecke auf den Rücken und stellte sie weg. Direkt lief sie in den Unterstand und begann das Heu zu knabbern. Von der Seite kam Jonina dazu, hatte offenbar Halli weggestellt und nun Milska sowie Cissa in der Hand.
      „Bruce wollte, dass du sie Korrektur reitest“, gab sie mir die gescheckte Stute. Durch den dichten Schopf funkelten ihre Augen, wovon eins blau war und das andere tiefschwarz. An der linken Ohrspitze befand sich ein kleiner Fleck, ansonsten war ihr Kopf hell. Bruce hatte mir schon von der Stute berichtet. Angeschafft für die Reitschule, stellte sie sich als eine Herausforderung dar für junge Leute, da sie zwar geduldig war und sehr zuverlässig den Hilfen folgte, hatte sie Tage, an den nichts lief.
      Aufgeregt pochte mein kleines Herz in der Brust, drohte sich den Weg ins Freie zu suchen. Cissa erfüllte beinah alle meine Anforderung, rein optisch, zu einem Traumpferd. Die Augen waren treu und groß, die Ohren Aufmerksamkeit und die Gelenke kräftig. An den Fesseln hing viel Behang und das Langhaar war dicht. Neugierig stupste sie mich an, beobachtete jeden meiner Schritte im Stall und konnte es scheinbar gar nicht abwarten, sich zu präsentieren. Glücklicherweise hatte ich meinen eigenen Sattel, musste demnach Bruce nicht stören, der mit Spök die Anforderungen einer A-Dressur vom Boden aus erarbeitete. Mit einer Lammfellunterlagen konnte ich kleinere Unebenheiten zwischen Rücken und Sattel ausgleichen und legte darunter die grüne Otter-Schabracke, die natürlich um einiges zu groß war, aber das störte mich nicht. Da ich nicht wusste, was auf mich zukommen würde, legte ich ihr noch einfachere schwarze Gummiglocken an die Vorderbeine, ehe wir auch wieder in die Halle gingen.
      Die Brüder konzentrierten sich vollständig auf die Handarbeit mit den beiden Stuten, bemerkten mich nur peripher, auch Lina nickte nur, als ich „Tor frei“, rief. Auf der Mittellinie stellte ich mich auf und gurtete nach. Dabei immer im Augenwinkel die elfjährige Stute, die noch immer sehr genau meine Schritte beobachtete. Zum Kennenlernen nahm ich die Zügel in die rechte Hand auf Höhe des Widerristes und trieb sie mit der Gerte, in der linken Hand, schrittweise los. Unbalanciert taumelte sie nach vorn, wenig davon begeistert, dass ich sie einrahmte. Aber Meter für Meter, die wir hinter uns ließen, kam Cissa in ihren Schwerpunkt. Der Unterschied von einem Gangpferd ihrer Art war unverkennbar. Sie war in der Lage, die Schulter und Vorderhand zu heben, ohne dabei den Rumpf mitzunehmen und sich dabei mehr zu tragen. Jeden Schritt, den sie bei alldem in die richtige Richtung machte, belohnte ich mit einem Leckerli. Zufrieden mit der bisherigen Handarbeit schwang ich mich auf ihren Rücken und trabte auf dem Zirkel an. Mir fehlte der Vergleich, aber bequem trabte ich leicht, fühlte mich ungewöhnlich auf ihr. Für mein eigenes Vergnügen töltete ich auch einige Male die Bahnfiguren einer Anfänger Dressur in Verbindung mit vorbereitenden Seitengängen. Im Tölt fiel es ihr leichter sich in der Schulter zu wegen und mobil zu sein, während die Kruppe sehr steif an seiner Stelle blieb. Wenige Schritte kamen, wenn ich gezielt das Gewicht nach innen verlagerte, dabei die Stellung des Genicks am Zügel hielt und außen schob. Ja, seitwärts Bewegungen waren in einer so frühen Phase des Tanzes im Sand außergewöhnlich, aber durch Tyrell hatte ich es zu schätzen gelernt Pferden von Anfang an das Tragen zu vermitteln. Besonders für ein Gangpferd war es wichtig Tragkraft zu bekommen, denn Schwung und Schubkraft waren von Natur aus zu genüge da. Wie auch schon mit Humbria hörte ich auf, als es am besten lief. Ohne sie wirklich abzureiten, sprang ich ab und führte sie heraus.
      „Hufe noch“, erinnerte mich mein Bruder, der diese Sparmaßnahme auf Biegen und Brechen durchbringen wollte.
      „Das ist so unnötig“, rollte ich mit den Augen und griff nach dem Hufkratzer neben dem Tor. Zugegeben, Cissa hatte wirklich viel Sand zwischen dem Grip und zufrieden setzte er seinen Weg fort.
      „Wo willst du eigentlich, schon wieder hin?“, rief ich noch nach, aber bekam bis auf ein freches Grinsen, keine Antwort.
      Cissa hatte sich eine Portion Kraftfutter verdient und ich mir eine Pause. In der Futterkammer mischte ich die alle Zutaten laut ihres Speiseplans zusammen und mir reichte ein Apfel. Da auch sie vollkommen verschwitzt nicht auf das Paddock zurückkonnte, durfte sie eine Einheit im Rotlicht genießen. Da Lina und Tyrell noch eine Einzelstunde hatten, setzte ich mich an den Rand.
      Der Hengst hatte einen wunderschönen Zopf entlang des Mähnenkamms bekommen und sie selbst trug ihr Haar auch wie eh und je geflochten. Im Gleichklang wippten die Zöpfe im Takt des Schrittes. Rambi, oder Einheitssprache, wie er auf dem Papier hieß, machte sich seines Geschlechtes alle Ehre. Den Rumpf groß aufgebäumt trug er sich auf der Hinterhand, dabei den Schweif leicht aufgestellt und immer wieder drückte er sich von der Gebrauchshaltung weg. Dabei brummte er schrittweise, oder wieherte. Von draußen kamen mehrere Antworten der anderen Männer und auch die eine oder andere Stute beteiligte sich an dem innigen Gespräch.
      „Ihr solltet miteinander arbeiten, nicht gegeneinander“, hörte ich Tyrell sagen, bevor Lina den Hengst mit großem Kraftaufwand anhielt. Er schüttelte den Kopf und mit der Kruppe stieß er gegen die Bande, untermalt von einem leisen Brummen.
      „Und wie?“, fragte Lina. Dann begann eine ausführliche Erklärung über die Hengsterziehung und was alles dazu gehörte mit einem neuen Pferd ein Team zu werden. Gespannt hörte meine Kollegin, und auch Freundin, zu, aber mich nervte das Geschwafel. Das Glück war auf meiner Seite, so piepte das Rotlicht zweimal und Cissa hatte aufgefressen. Mit dem Handtuch neben der Bucht, wischte ich zur Kontrolle durch Fell, trocken.
      „Kann ich in den nächsten Tagen noch einmal mit ihr arbeiten?“, hoffte ich mit einem Ja beantwortet zu bekommen von Bruce, dem ich am anderen Stall begegnete, um Cissa zurück auf ihren Paddock zu stellen. Er blieb stehend und musterte uns beide. Aufgeregt fummelte meine Hand an dem kleinen Gummi, der als Etikett am Bund meiner Jacke hing. Natürlich konnte trotz aller Anspannung, das Grinsen auf meinen Lippen nicht verbergen. Die Mundwinkel zuckten vergnügt.
      „Natürlich“, lachte er mit seiner Hand auf meiner Schulter. Ein altes, aber wohlbekanntes Gefühl breitete sich durch meinen Blutkreislauf aus – Familie. *Seid ihr das?*

      Aus Schulungszwecken hatten Lina und ich zusammen mit Holy am Kappzaum gearbeitet. Die junge und trächtige Stute kannte die Grundlagen der Légèreté, umso angenehmer war es, dass sie etwas in Bewegung kam. Mit ihrem Kugelbauch konnte man kaum denken, dass erst in vier Monaten das Fohlen kommen sollte. Jeder ihrer Schritte wirkte wie eine Herausforderung, aber die Arbeit half der Stute an der Tragkraft zu arbeiten. Schließlich wollte auch das Baby getragen werden.
      „Du musst die Hilfen korrekt am Bauch setzen, da wo auch dein Schenkel liegen würde“, zeigte ich Lina noch einmal mit so viel Geduld und Freundlichkeit, wie ich aufbringen konnte. Ja, nicht jeder konnte sofort Profi sein, denn ich war es auch nicht, aber Hilflosigkeit irritiert mich.
      „Okay“, lächelte sie. Erneut legte Lina ihre Hand an das Gebiss, um das Genick der Stute in eine leichte Stellung zu nehmen und mit der Gerte am Bauch bewegte sich Holy schrittweise nach innen.
      „Kann ich euch allein lassen, oder brauchst du noch meine Hilfe?“, erkundigte ich mich einige Minuten später, als Lina mit Holy an der Haltung arbeitete.
      „Nein, alles gut“, winkte sie, aber rief mir noch nach, „Was hast du jetzt noch vor? Mit Humbi Ausreiten?“
      Lachend hielt ich an.
      „Eigentlich wollte ich mit Bruce raus, da er mit Spök nicht allein den Wald beschreiten möchte“, grinste ich fröhlich und hüpfte hinaus.
      Aus der klirrenden Kälte, deren Wind unsanft durchs Land zog, wurde zwar kein Hochsommer, aber es war trockener. Die Luft stand, erzeugte eine angenehme Frische, sodass ich in meinem Outdoor Pullover wieder in den Wald konnte. An dem dunklen Stoff der Ärmel klebten überall Pferdehaare. Ich hatte aufgegeben jeden Tag sie zu entfernen, aber warum auch? Ungewöhnlicherweise gefiel mir, die kleinen Fellmonsterreste an mir zu tragen.
      Wie ein alter Hase lief Spök neben Vrindr durch den Wald, den manch ein Pferd als den gruseligsten Teil des Gestüts empfand. Von allen Richtungen ertönte lautes knacken des Unterholz und meine sogar einen Hirsch gehört zu haben, als wir auf die Trainingsbahn abbogen. Die gescheckte Stute sah sich mit angewinkelten Ohren in der Gegend um, schien nach bekannten Orten zu suchen oder einem Gespenst, das es natürlich nicht gab. Bruce scherzte derweil.
      „Kannst dir vorstellen Cissa in deine Obhut zu nehmen bis zum nächsten Jahr?“, fragte er nach einem Stück, das wir getrabt waren.
      „Vorstellen ja, aber ich denke, meine Zeit gibt das nur schlecht her“, antwortete ich entrüstet. Tyrell schob mir im Arbeitsplan immer mehr Pferde zu und auf meinem eigenen Pony hatte ich bis heute nicht gesessen, obwohl es bei ihr mehr die Angst war, etwas falsch zu machen, als meine Zeit. Gleichzeitig benötigte Lubi sehr viel Bewegung. Morgens begann es mit einer halben Stunde Führanlage und abends stand sie häufig noch im Aquatrainer, dazwischen arbeiteten wir an der Hand oder hatten eine lange Einheit auf dem Platz. Die Stute war wissbegierig und nur schwer müde zu bekommen, kein Wunder, wenn sie in Kalmar täglich drei Stunden Training hatte vor meiner Zeit. Die Besitzer legten viel Wert darauf, dass sich der Trainingsstand ihrer Stute verbessert und dabei sollte auch die Ausdauer auf dem gewünschten Stand befinden. Außerdem hatte ich auch meinen Freund, der sich nach gemeinsamer Zeit sehnte, die ich aktuell in den Hintergrund schob und dabei selbst auch den Boden unter den Füßen verlor. Wenn es so weitergehen würde, könnte ich wieder im Teufelskreis landen oder bei Niklas.
      „Es würde schon reichen, wenn du mit ihr zwei bis drei Mal auf dem Platz arbeitest. Sie ist sehr motiviert in ihren Gängen in der Dressur und bei euch hatte ich das Gefühl, dass es passt. Also würden wir uns beide darüber freuen“, baute Bruce mich auf. Den restlichen Weg durch den Weg dachte ich darüber nach, konnte aber keine Entscheidung treffen, bevor ich mit einer außenstehenden Person die Situation besprochen hatte. Damit sei es nicht getan, auch meinen Zeitplan sollte ich dafür noch einmal genau studieren, doch zuvor sollte die Vrindr versorgt werden.
      Bei der Rückkehr in den großen Stall, durchquerte ich den Weg an den Stutenpaddocks, auf dem Holy wieder am Heu zupfte mit Girlie zusammen. Auf dem Sand daneben folgte mir der Blick von Humbria, die bereits am Morgen eine kurze, aber intensive Einheit auf dem Reitplatz genoss. Ein Lächeln huschte mir über die Lippen bei dem Gedanken, dass die Stute so große Lernerfolge zeigt. Ja, es gab Rückfälle, die sich als impulsive Ausfälle zeigten. Sie sprang hektisch durch den Sand, ignorierte ihren Reiter komplett und Tyrells Meinung zur Folge half dabei nur Absteigen und das ruhige Vermitteln der Lektion vom Boden. Dem kam ich nach und tatsächlich beruhigte sich das Rennpferd dabei.
      „Nachbesprechung ist essenziell“, erinnerte Tyrell, als wir uns im Büro versammelten. Lina und ich hingen zusammen auf einem Sessel, während Jonina allein auf dem daneben saß und mich mit ihren durchdringenden Blicken löcherte. Unauffällig versuchte ich die junge Dame zu analysieren, verstand aber nicht, welches Problem sie mit mir hatte. *Egal?*
      „Nun gut, da keiner von euch Einwände hat, fahre ich fort. Northumbria entwickelt sich großartig, so gut, dass sie sich eine Woche Pause verdient hat. Lockere Ausritte würden ihr guttun, aber keine intensiven Versammlung, lieber durchparieren in den Halt, um anschließend einige gezielte Tritte rückwärtszusetzen. Demzufolge wirst du in den Einheiten Walker bekommen. Lina, deine Stute ist großartig, aber wir sollten an einem anderen Punkt mit ihr weiterarbeiten. Die Anfänger Einheiten sind zu leicht, wodurch sie auf blöde Ideen kommt, umso wichtiger ist die Zeit mit deinem Hengst. Außerdem solltest du ihm Glocken anlegen, am besten sogar auf dem Paddock. Auch du Jonina kannst mit den Isländern gut an das Niveau der Anderen ansetzen, aber ich schätze, du schaffst das auch mit meinem Bruder. Zum Abschluss möchte ich euch noch sagen, dass wir morgen der theoretische Kurs beginnt und dabei gern dich und Rambi zum Vorzeigen hätte. Und, dein Freund kommt noch?“, erkundigte sich Tyrell, worauf Lina nickte, „sehr gut, dann sehen wir uns alle morgen um zehn Uhr in Raum 102.“
      Den freie Nachmittag nutze ich tatsächlich für ein Training mit Cissa auf dem kleinen Reitplatz, denn auf dem großen herrschte reger Wechsel der Einsteller und sogar Zickerei, wovon ich bestmöglichen Abstanden nahm. Neugierig beobachtete sie abermals jeden meiner Schritte, ein Zupfen an der Jacke hier und warmer Atem in meinem Gesicht da. Dennoch trat sie unruhig von einem Huf auf den anderen, dabei klimperten die Eisen einige Male, was mich an Tyrells Worte an Lina erinnerte. Auch Cissa sollte wohl besser Glocken zum Schutz tragen. Demnach holte ich alles Nötige aus der Sattelkammer, vergaß wie sooft den Helm, und befestigte das Zubehör korrekt.
      Für die heutige Einheit entschied ich besonders viel Wert auf Ruhe zu legen, die sie von vornherein an dem Tag nicht hatte. Es fiel ihr schwer den Schwerpunkt in der Mitte zu finden, setzte mich immer wieder nach außen, obwohl ich in den Kurven deutlich innen sitzen müsste. Im Stand nahm ich den Bügeltritt zur Hilfe, um das Gewicht gezielt zu verlagern und setzte die Einheit fort. Ihre Balance nahm zu, so legte ich mit sanften Impulsen an Geschwindigkeit zu und wiederholte die wichtigen Figuren der Anfänger Dressur. Kaum zu glauben, aber in meinem Kopf eröffnete sich, wieso auch das so wichtig war zu üben. Durch eine klare Linienführung spürte ich bei jedem Schritt, ob die Hufe ordnungsgemäß fußten, welche Defizite das Pferd unter dem Sattel vorwies und ihr leichter fiel. Cissa war rechts hohl. Besondere Auswirkungen hatte diese schiefe auf ihre Schulter. In den wenigen Metern Tölt, die sie in den Ecken im Trab zwischendurch machte, blieb das eine Bein deutlich länger am Boden und hielt sich tiefer in der Luft. Häufige Handwechsel und auch Kehrwendungen auf der Vorderhand ermöglichten es mir, die Körperteile akkurat zu mobilisieren. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, deswegen schwang ich mich nach weiteren Runden im Trab aus dem Sattel und lobte die Stute ausgiebig.
      Am Horizont verabschiedete sich die Sonne langsam, ein Zeichen, dass ich die letzte Reiteinheit des Tages in die Halle verlagern sollte. Erneut war ich mit Lina verabredet, die mit Redo noch an der Longe arbeitete und mit mir zusammen die Hengste plante zu bewegen. Klinkker hatte vor der Abreise noch ein Training und bei meiner Kollegin entwickelte sich so etwas wie Ehrgeiz, um morgen mit Rambi morgen zu glänzen. Sie sprach nicht offen darüber, aber ich sah dieses Leuchten in ihren Augen, das sich ausbreitete, wenn ich Fragen zu dem hübschen Hengst stellte.
      In der Sattelkammer durchsuchte Lina hektisch ihren Schrank, der sich mittlerweile zu einem kleinen Paradies aus Schabracken verwandelt hatte. Gut, bei mir wurden es, gefühlt, ebenfalls immer mehr. Einige der Stücke hatten sogar noch das Etikett daran. Noch bevor ich meine abschließende Wahl traf, griff ich nach meinem Handy. Der Sperrbildschirm war überseht von Benachrichtigungen, wovon die meisten uninteressant waren, doch eine Nachricht, weckte direkt mein Interesse – *Avledning*. Prüfend schwebten meine Augen von links nach rechts. Alle wussten davon, aber ich wollte besonders das Treffen in weniger als einem Monat weiterhin geheim halten.
      „Wenn es sich glücklich macht, nutze die Chance. Ich sehe keine Nachteile darin“, las ich in seiner Nachricht. Zuvor berichtete ich von Cissa, natürlich nur indirekt. Das Thema Pferd und Reiten waren für viele zu kompliziert, besonders emotional gesehen, dass ich ihm dies ersparte.
      „Okay, dann werde ich es versuchen“, schwebten meine Finger über die dunkle Tastatur.
      „Nein, du versuchst es nicht. Du machst das“, antwortete er umgehend und verlor mich selbst in der Konversation.
      Offenbar hatte ich es mir unbewusst auf den Polstern inmitten des Raumes bequem gemacht, denn Lina stand vor und tippte mich auf den Beinen an. Eingeschüchtert fuhr ich hoch, was dem Schrecken geschuldet war.
      „Eigentlich will ich dich ungern stören, aber die Pferde warten auf uns“, lächelte sie.
      Ich rollte mit den Augen. *War es ihre übertriebene Freundlichkeit oder die reine Tatsache, dass ich mein Handy weglegen sollte, die mich nervte?*
      Rambi sah einmalig aus. Lina hatte wirklich Talent dafür, das Outfit ihres Pferdes, auch wenn nicht wirklich ihr gehörte, abzustimmen. In der geflochtenen Mähne trug der Hengst ein violettes Band, die Schabracke ebenfalls in dieser Farbe und aus der Wühlkiste mit Glocken hatte sie tatsächlich auch welche gefunden, die dazu passten. Außer acht sollte man auch die Trense nicht lassen, die nach ihren Farbwünschen gemacht hatte. Das Kletterseil in dem beerigen Violett fand ich noch in meiner Sammlung aus alten Schnüren und bis auf den letzten Zentimeter hatte ausgereicht, um ihr ein schönes Zaum zu gestalten. Ich hingegen hatte eine beliebige Schabracke gewählt in Grün und sehr unpassend dazu trug Klinkker dunkelblaue Bandagen mit Wolle als Unterlage, worauf ich im Internet stieß.
      „Wenn du mich brauchst, musst du mich über das Headset kontaktieren“, sagte ich zu Lina und stellte bei den Geräten die korrekte Frequenz ein. Zustimmend nickte sie und schwang sich in den Sattel. Einige Meter entfernt reihte ich mich auf der Mittellinie auf, gurtete nach und setzte mich ebenfalls auf den Rücken des Tieres. Interessiert drehte er den Kopf zu mir, musterte genau meine Bewegungen. Gezielt setzte ich mich ins Leder. Das letzte Pferd eines Tages war immer eine Herausforderung für meine Konzentration, umso mehr hatte ich das große Ganze im Kopf.
      Klinkker brachte sich gut in die Arbeit ein. Bereits nach einigen Runden im verkleinerten Viereck balancierte sich der Hengst und brachte eine hohe Konzentration an Tragkraft auf. Daraus entschied ich mehr am Schwung anzusetzen, die Schubkraft herauszuarbeiten. Ein Ansatz dafür stellten Schritt-Galopp-Übergänge und Rückwärtsrichten.

      Erst im Nachgang erfuhr ich, wie Lina mit ihrem Hengst zu kämpfen hatte. Abermals präsentierte Rambi sich mit den schlimmsten Hengstmanieren, die ein Pferd an den Tag bringen konnte. Sie schaffte es jedoch einige Bahnfiguren mit ihm zu erarbeiten und näher an die Ansprüche der Anfänger Dressur zu rücken.
      „Was denn das für ein Kaffeeklatsch?“, lachte Niklas, der mit Smoothie an der Tribüne vorbeikam. Böse schielte ich zu ihm.
      „Weiterbildung, eine Aktivität zum Vertiefen, Erweitern oder Aktualisieren von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen“, gluckste ich. Lina stieß mir im selben Moment mit zwei Fingern in die Seite. Aua, formte ich auf meinen Lippen. Sie grinste.
      „Endlich, du kannst schließlich nicht immer das dumme Blondchen bleiben“, gab er noch hochnäsig zu verstehen und setzte sich wieder mit der Schimmelstute in Bewegung. Im Herzen brannte die Sehnsucht, wenn auch hintergründig, aber sie war da. Seufzend drehte ich mich weg, als sie aus dem Sichtfeld verschwanden.
      Tyrell hatte Samu gebeten sich auf Lego zu setzen und seine normale Dressurarbeit zu zeigen. Neben der kleinen Gruppe vom Hof saßen auch noch andere Außenstehende. Von verschiedenen Höfen kamen sie her, versuchten besser zu verstehen, was es mit der Ecolé de Légèreté auf sich hat. Einige bekannte Gesichter gab es natürlich, die regelmäßig bei Tyrell Unterricht nahmen. Anhand des Rappen zeigte er auf, welche Probleme das Pferd hatte, inwieweit eine Lektion bereits zu früh angefangen wurde und es nicht am Reiter liegt. Dann begann ein tiefsinniger Monolog über den Druck der Gesellschaft und der heutigen Turnierkultur. Wichtig war ihm der Punkt, dass er kein grundlegendes Problem mit der Turnierlandschaft hatte, sondern wie gerichtet wurde und die Rücksichtslos die Tiere ausgebildet wurden. Mit einigen Tipps konnte Legolas sich mehr Fallen lassen und Samu die Hilfen gezielter einsetzen, um dem Hengst klar und deutlich zu vermitteln, was er von ihm wollte.

      © Mohikanerin // Vriska Isaac // 31.853 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      Rennen E zu A | 20. Februar 2022

      Astronaut in the Ocean LDS // WHC’ Golden Duskk // Planetenfrost LDS // Moonwalker LDS // Sturmglokke LDS // Friedensstifter

      Vier Wochen, sechs Pferde und neun Rennen – mit roten Kreuzen hatte ich jede einzelne Veranstaltung angekreuzt auf dem großen Kalender im Büro. Dafür stand Astros Qualifikationsrennen ganz oben auf der Liste. Nur Dustin war für zwei hoch dotierte Rennen angesetzt, was seine Trainingsphasen bis dahin von den anderen Tieren unterschied. Seine sechs Jahre sprachen für sich, machten ihn zu einem erfahrenen Pferd, das Rennen und vor allem Einheiten kannte. Die vierjährigen hingegen lernten noch, besonders Astro mit seinen drei Jahren hatte noch einiges zu begreifen. In Zusammenarbeit mit dem Rennstall in Kalmar, kamen junge Fahrer zu uns auf den Hof, um stetig verschiedene Pferde-Typen kennenzulernen. Alle Rennpferde hatte am Vormittag ein leichtes Konditionstraining in der Führanlage genossen. Hoffnung lag besonders in Moonwalker, der eine erstaunliche Zeit bei seinem Qualifikationsrennen hingelegt hatte und am Wochenende genannt war für Amateure. Die anderen liefen mit Handicap, Plano in einer Außenposition, während Sturmi und Fried innen liefen, alle auf kurzer Distanz.
      Jede Woche kam unsere Tierärztin, um die Gesundheitswerte der Tiere zu dokumentieren und Leistungsstände zu kontrollieren. Fried, die noch nicht lange im Training stand, zeigte keine Verbesserung, stattdessen waren ihre Werte schlechter im Vergleich zur vorherigen Woche. Die Kondition sollte bei ihr bis zum Rennen auf dem Plan stehen, drei Tage vor den Rennen ein einziges Tempotraining und am Renntag. Die anderen Tiere behielten ihren Plan bei, zweimal Tempo in der Woche und zwei mal zwei Langstrecken. Es bewahrheitete sich. Bereits nach einer Woche war die helle Stute besser auf dem Laufband.
      “Welche Platzierung wird sie erreichen?”, fragte mich Harlen, der diese Frage mittlerweile aus Gewohnheit stellte. Ihm überkam nicht das Interesse, was seine Schwester zeigte, aber abgeneigt war er zum Rennsport nicht, im Gegenteil, er spielte sogar mit dem Gedanken ein eigenes Tier zu erwerben und es mit unserer Hilfe in den Sport zu bringen.
      “Dritter vielleicht”, schätzte ich und sah mir noch einmal die Starterliste an, “Dritter, mit viel Glück. Der Hengst vom letzten Mal läuft wieder mit, der sogar aus der äußersten Position alle überholte in der zweiten Kurve.” Er kam dazu, beugte sich über meine Schulter hinweg, um den Plan auf dem Schreibtisch überblicken zu können.
      “Was ist mit dem da?”, fragte Harlen interessiert. Er meinte einen Fuchshengst, der oft in Konkurrenz mit Dustin lief, mit einer starken Quote und einer rekordverdächtigen Zeit. Aber das Architekkt(en) Kind machte sich gut, nach dem Eintragungsproblem mit ihm. Der schwedische Trabsport stand dem Vollblutanteil kritisch gegenüber, aber zeigte sich bezüglich der Entwicklung des Pferdes offen gegenüber. Das Exterieur entsprach den geringen Anforderungen, umso erstaunlicher waren seine Trainingswerte, zu denen uns sogar der Präsident des Zuchtverbandes beglückwünschte, damit stand seiner Karriere nichts im Weg.
      „Den wird er schlagen, davon bin ich überzeugt“, sagte sie ich ihm und legte die Pässe zurecht, damit den Rennen nichts weiter im Weg stand.

      © Mohikanerin // Tyrell Earle // 3128 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tretton | 21. März 2022

      Schneesturm // Northumbria // Lubumbashi // Maxou // Satz des Pythagoras // HMJ Holy // Girlie // Millennial LDS // WCH’ Golden Duskk // Moonwalker LDS // Friedensstifter // Form Follows Function LDS // Binomialsats
      Minnie Maus // Ready for Life // HMJ Divine


      Vriska
      “Ich habe ein Anliegen”, sagte Tyrell zu mir, als ich mich aus dem Sattel schwang von der langbeinigen Schimmelstute. Schneesturm liebte das kühle und nasse Wetter, was womöglich ihr auch diesen Namen eingehandelt hatte, ich hingehen fühlte mich ungemein unwohl, die nasse Hose an meinen Oberschenkel zu spüren. Der frostige Wind verstärkte das Gefühl nur noch mehr.
      „Na dann schieß mal los“, antwortete ich freundlich, dabei strich ich der Stute über den verschwitzten Hals und kramte mit der anderen Hand ein Leckerli aus der Hosentasche. Vorsichtig sammelte sie es von meinem Handschuh ab.
      “Die neue Rennstute, die du angeschleppt hast, soll erst mal geritten werden. Auf dem letzten Rennen war sie ziemlich hektisch und unkontrolliert, das gefällt mir nicht. Wenn du nicht möchtest, weil ich sehe, wie viel du plötzlich zu tun hast, frage ich Jonina”, erklärte er. Zusammen liefen wir in den Stall hinein und mein Chef erzählte ausführlicher, wie Humbi sich in letzter Zeit am Sulky benahm. Folke verlor immer häufiger die Kontrolle. Selbst der Scheck und Augenklappen stellten keine Lösung dar, weswegen ein ruhiges Abtraining und vielseitige Arbeit den nötigen Ausgleich bringen könnten. Kurz überlegte ich, aber in meinen Fingern kribbelte es sofort. Die große Stute und ich hatten sofort eine Verbindung und hiermit bekam ich Möglichkeit daran weiterzuarbeiten.
      “Ja klar, gern. Lässt sich einrichten”, schmunzelte ich selbstsicher und mit einem Nicken verabschiedete er sich. Nur in Auszügen konnte ich erahnen, was Humbria derart verunsichern könnte, doch ich war mir sicher, dass ich der Aufgabe gewachsen war.
      Prüfend sah ich zur Uhr beim Wegbringen des Sattelszeugs in der Sattelkammer, der Tierarzt kam erst in einer Stunde, somit könnte ich vorher noch mit meiner neuen Aufgabe anfangen. Entschlossen nahm ich das Lederhalfter mit ihrem Namen vom Haken. Schnee hatte bereits aufgefressen und konnte mit ihrer weinroten Weidedecke zurück auf den Paddock.
      “Hallo”, begrüßte ich mit ruhiger Stimme Humbi, die sofort neugierig die Ohren spitzte und mich mit ihrem Kopf anstupste. Aus der Erfahrung heraus bekam sie umgehend ein Leckerli, dass uns dieses Problem heute nicht im Weg stehen würde. Entschlossen, und auf Zehenspitzen, streifte ich das Halfter über ihre riesigen Ohren, die noch immer nach oben ragte. Irgendwas fokussierte sie gespannt an, den Grund dafür, konnte ich allerdings nicht entdecken. Zur Sicherheit zog ich den Strick wie eine Hengstkette über ihre Nase und durch den seitlichen Ring wieder nach unten.
      “Na komm”, sagte ich und setzte mich in Bewegung. Wie angewurzelt stand sie da, bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle, sondern starte weiter zum Horizont. Da entdeckte ich einen kleinen hellen Punkt, der sich dabei langsam veränderte. Nur mit guten Zusprüchen folgte sie schlussendlich. Geduldig nahm ich es hin und im Stall begann ich den Vierbeiner ausreichend Zuwendung zu schenken. Aus der Box an der Seite hörte ich leises Brummen – Lubi versuchte, mit dem Rennpferd Kontakt aufzunehmen. Humbria hingegen ignorierte sie vollkommen, untersuchte lieber den Boden des Stalles, der makellos geputzt war.
      Hufschlag ertönte, während ich den Vorderhuf auf meinem Oberschenkel zu liegen hatte. Mit einem Satz bewegte sie sich nach vorne und trat mir unausweichlich gegen mein Bein. Schmerzerfüllt schrie ich auf, rieb mir die pochende Stelle am Knie.
      Durch das Haupttor führte Erik zusammen mit Trymr die Pony Stute hinein. Sie mussten Ewigkeiten im Wald gewesen sein, denn schon als ich aufstand, war er nicht mehr da.
      “Guten Morgen”, begrüßte ich ihn heiter und humpelte zu ihm. Er grinste breit. Auch Maxou erhob den Kopf, als sie meine Stimme hörte und verlängerte die Schritte. Von ihrem Schweif tropfte das Wasser und auch Erik war nicht verschont worden von dem plötzlichen Regenschauer, der mich beim Ausritt ereilte. Jedoch bereitete er sich darauf vor, trug ein Cap auf dem Kopf, mit einer Kapuze darüber. Ein neckisches Lächeln umspielte seine Lippen, während es sich anfühlte, als würde er mich mit seinen Augen entkleiden. Aber auch in mir regte es sich, jagte ein lustvolles Ziehen durch meinen Unterleib, der mir den Schmerz im Knie vergessen ließ. Wie schaffte er es nur mit der bloßen Anwesenheit und einigen Änderungen seines Standardoutfits mich derartig zu verzaubern? Ich atmete tief durch, versuchte mich darauf zu konzentrieren, dass die dunkle Stute meine vollständige Aufmerksamkeit verlangte.
      Erik kam näher und presste mich fest an seine Hüfte. Wieder stockte mein Atem. Es gab nichts, das uns hinderte. Leidenschaftlich drückte ich meine Lippen auf seine, schloss die Augen und verschwand für viele Sekunden in meinen Gedanken. Es prickelte. An meinem Bauch spürte ich den warmen Druck seiner Lenden, die sich immer näher an mich drückten. Dann stupste mich Maxou über seine Schulter hinweg an. Unsere Lippen löste sich, aber die Sehnsucht blieb, mehr von seiner Haut auf meiner zu spüren. Er lachte und abermals fühlte ich, wie mich eine Hitzewelle durchfuhr.
      “Sie möchte zurück in ihr Bettchen”, nickte ich zum Pony, das hinter seinem Rücken stand und zum wiederholten Male gähnte.
      “Und du musst sicher den Riesen bewegen, der mich verwirrt anblickt”, scherzte Erik. Dabei ließ er mit seinen Händen von mir ab. Das Gefühl, wo sie gerade noch lagen, beglückte weiter meinen Geist.
      “Aber ich wäre lieber mit dir”, sprach ich leise.
      “Verstehe ich, doch auch ich habe noch Aufgaben vor mir”, grinste er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Meine Motivation versagte, wünschte sich ihn zur Hütte zu begleiten, aber sogleich ertönte das Kratzen über den Beton hinter mir. In einer einzigen Bewegung setzte ich mich zu der Stute und drückte meine Hand an ihre Brust. Schockiert riss sie die Augen auf, aber hörte auf mit dem Huf zu scharren.
      Es fehlte nur noch das Sattelzeug, dann waren wir Abflug bereit. Neugierig mustere Humbria Sattel von Lubi, den ich frecherweise auf fast jedem Pferd nutze, dass ich am Hof ritt, allem voran aus Bequemlichkeit. Des Weiteren fühlte es sich wie schweben auf den Wolken mit den Sorgen fernab. Darunter legte ich eine Filzdecke, die ich irgendwann online entdeckt hatte und für Glymur nehmen wollte, aber die Möglichkeit wurde mir genommen. Umso mehr freute ich mich, sie nun zu verwenden. Mithilfe des Tritts legte ich alles auf den Rücken der Stute, setzte meinen Helm wieder auf und trenste. Hektisch kaute sie auf dem Gebiss.
      “Alles gut”, beruhigte ich Humbria mit sanften und lang gezogenen Worten. Sie gehorchte. Im Stall stieg ich bereits auf, entschied erst beim Herausreiten, dass ich Lust auf den Reitplatz davor hatte. Die Stute musterte derweil die Umgebung und mir wehte der Wind unsanft einzelne Strähnen ins Gesicht, die ich mühevoll wieder wegstreichen musste.
      Wie es Tyrell mir beschrieb, schritt Humbria hektisch voran, hörte nicht zu und sah nervös die Gegend an. Schon beim Warmreiten versuchte ich die Stute ruhiger zu bekommen, so bremste ich unverhofft in den Stand, lobte bei schneller Reaktion und versuchte, dass sie aus der Hinterhand nach vorn schob. Je öfter ich es wiederholte, umso durchlässiger wurde sie. Immer mehr Kontakt baute die junge Stute zum Zügel auf. Ihre Ohren richteten sich nach und nach immer mehr zu mir, hörten, was ich von ihr wollte und dann begann Humbria sich zu lösen. Sie streckte den Hals weit nach vorn. Der Kopf wippte und knackte schließlich. Zufrieden lobte ich.
      Vertieft in meinen Gedanken und der Überlegung, wie ich die Stute bestmöglich fördern könnte, bemerkte ich den ungebetenen Gast am niedrigen Zaun des Reitplatzes erst spät. Auch Humbria durchfuhr der Schock durch das Auftauchen eines Menschen, dass sie aus dem Trab einen gewaltigen Sprung zu Seite machte. Nur durch den Wolkensattel gelang es mir, nicht im Dreck zu landen und dabei noch das Pferd zurückzuholen. Das Fluchen verkniff ich mir, beruhigte zunächst die Stute, ehe ich prüfend zur Seite warf, wer nur dem Tier einen solchen Schrecken einjagte. Mir stockte der Atem. Niklas stand mit seinem Fuß auf dem Stein gestellt dar, musterte mich von oben bis unten und schüttelte dabei langsam mit dem Kopf.
      „Du kannst doch nicht einfach wortlos dich dahinstellen“, beschwerte ich mich umgehend und mit einem Schnauben stimmte mir Humbria zu. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, warfen ihm kleine Blitze zu, die ihn zum Teufel schicken sollten.
      „Ich habe was gesagt“, verteidigte er sich und verschränkte die Arme verärgert, „außerdem sollten wir dringend reden.“
      „Nein, sollten wir nicht. Alles, was wir tun sollten, beruht auf einem Arbeitsverhältnis und Distanz“, versuchte ich ihn loszuwerden. Doch es missglückte. Stattdessen breitete sich ein heiteres Lächeln auf seine Lippen, dem ich zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Humbria hielt abrupt vor ihm an und ich wippte unsanft auf ihren Hals.
      „Scheint wohl nicht so gut zu funktionieren mit der Distanz“, sprach ich für meinen Geschmack zu überzeugt. Die Arme stützten nun wieder auf seinem Bein.
      „Geh endlich weg“, fauchte ich, „deine Freundin wartet sicher schon, ansonsten könnte dein Pferd auch Aufmerksamkeit gebrauchen.“
      Auch damit verschwand er nicht. Wie angewurzelt stand Niklas an der Stelle, wodurch Humbria ebenfalls keinen weiteren Schritt durch den Sand setzte.
      „Dann können wir doch jetzt reden“, zog er eine Braue nach oben, strich dem Pferd über das Maul. Amüsiert wippte ihre Unterlippe und die Zügel am Gebiss klapperten dabei.
      Ich seufzte.
      „Niklas, ehrlich gesagt, will ich nicht mit dir reden. Wir sind beide nicht dafür gemacht, normal miteinander umzugehen und ich habe so viel zu verlieren“, versuchte ich ihn mit Ehrlichkeit zu überzeugen, denn er schätzte diese Eigenschaft an mir. Endlich sah ich, dass in seinem Kopf etwas passierte. In Bewegung setzte er sich nicht, wieder seufzte ich. Etwas, das ich in den letzten Tagen eindeutig zu häufig tat.
      „Vriska, du bist nicht in der Position, das beurteilen zu können“, protestierte Niklas. Bitte was? Hatte ich mich gerade verhört? Ich riss meine Augen auf, öffnete den Mund, aber meine Worte verflogen im Wind.
      „Du fehlst mir“, seufzte nun er, „also als eine Freundin. Deswegen möchte ich dich bitten, nicht das Training zu beenden mit mir. Es war immer so ein Licht am Ende des Tunnels, dass mir den Tag erhellte und Hoffnung schenkt.“
      Wow, es schmerzte mich ungemein, das zu hören, aber in meinem Kopf versetzte ich mich in Lina. Sie war nicht in Sicht, aber hätte sie das gehört, wäre wieder eine Welt zusammengestürzt, meinetwegen.
      “Auch mir geht es so, aber nein. Es funktioniert nicht, so reif solltest du sein. Ich möchte nicht mit dir trainieren”, suchend bewegte sich der Blick weg von den Pferdeohren nach rechts, als würde dort meine Rettung warten – Fehlanzeige.
      “Dann sag es mir in die Augen, wenn du es wirklich nicht möchtest.”
      Nur zögerlich bewegte sich mein Kopf in seine Richtung, verunsichert, ob es mein Herzenswunsch war oder nicht. Undefiniert drückte es in meiner Brust, als wolle mir der Körper unter allen Umständen mitteilen, dass es sich um keine gewinnbringende Idee handelte und ich so schnell wie möglich das Weite suchen sollte. Der Vierbeiner stand noch immer wie angewurzelt da und ignorierte jedwede Versuche meinerseits wieder einen Huf vor den anderen zu setzen. Ich sah ihm in die Augen und biss mir stark auf die Zunge, um das aufkommende Gefühl zu unterdrücken. Gleichzeitig wiederholte ich Eriks Namen wie ein Mantra in meinem Kopf. Ihn wollte ich, nur ihn.
      “Ich weiß es nicht und kannst du jetzt bitte gehen? Wir reden, wann anders, nicht so zwischen Tür und Angel”, bat ich Niklas eindringlich. Endlich gab er nach und nickte.
      “Okay, dann reden wir Dienstag”, sagte er noch, setzte sich in Bewegung zum Stall und sogleich ertönte das Geklapper von Eisen an der Holzfront einer Box. Erleichtert atmete ich aus.
      Tatsächlich wurde es mir zum Teil auch wieder Humbria im Schritt anzureiten. Sie schnaubte gelassen haben. Meine Konzentration hingegen hatte sich vollständig verabschiedet, obwohl die Pläne mit ihr einfach waren. Einige Meter konnte ich Humbria zurück in ein ruhiges Tempo holen, gleichmäßig durchparieren und in einer Gebrauchshaltung wieder anreiten. Sie hörte aufmerksam und fragte höflich nach, bevor sie Blödsinn versuchte.
      Nach weiteren Runden ritt ich zurück in den Stall, stieg ab und entfernte das Sattelzeug. Wir kamen an Niklas vorbei, der seine Stute putzte. Mir gelang es tatsächlich keinen weiteren Blick zu ihm zu werfen, sondern brachte das Sattelzeug in die Sattelkammer, holte eine neue Weidedecke und stellte das nasse Pferd unter das Rotlicht. Mit hängender Unterlippe genoss sie die Wärme und ich setzte mich ihr gegenüber auf die Bank, Handyzeit.
      Einen Überblick über die ganzen Nachrichten zu bekommen, stellte sich als eine größere Herausforderung dar, als ich mir vorgestellt hatte. Immer mehr Bots, die mich mit hübschen Bildern beglücken wollten, fanden ebenfalls ihren Weg in mein Nachrichtentab. Die Anzahl meiner Follower hatte sich glücklicherweise bei dreitausend eingependelt und ich wusste nicht einmal etwas damit anzufangen. Aber was soll’s, interessiert tippte ich auf Linas Account, um zu gucken, was Leute normalerweise posten und bemerkte, dass sie einige Beiträge gelöscht hatte und gar nicht mehr abwarten konnte, ihren Schimmel wiederzusehen. Auch in mir wuchs die Vorfreude, das Einhorn hier zu haben, doch mir blieb noch ein Moment darüber nachzudenken, als die Bannerbenachrichtigung mich ablenkte. Ein Wirrwarr aus Buchstaben eröffnete sich vor mir und eine Formel. Ich runzelte die Stirn, aber kopierte beides sofort in meine Notizen, um die Nachricht nicht zu verlieren. Vermutlich musste ich den Schlüssel berechnen, um die Verschiebung des Alphabets herauszufinden. Rätsel waren nicht mein Ding, doch der Unbekannte hatte mich darauf vorbereitet, dass es nicht leicht werden würde.
      „Danke“, schrieb ich und dann schielten meine Augen zu Niklas, der mittlerweile sein Pferd aus der Box führte. Auf seinen wohlgeformten runden Lippen lag ein schelmisches Lächeln.
      „Ich habe ein Problem“, tippte ich dann noch an meine Ablenkung. Sofort antwortete er: „Man erzähle mir von dem schändlichen Anliegen.“
      „Den Typen, den mein Freund nicht mag (hatte vorher was mit dem) lässt mich nicht in Ruhe. Er hatte mich darum gebeten, das Training mit jemand anderes zu machen, dem habe ich widerstandslos zugestimmt. Doch jetzt auf einmal will der Typ das mit mir klären und akzeptiert es nicht. In mir kochen die alten Gefühle hoch, weiß nicht damit umzugehen, weil ich mir so sicher mit meinem Freund bin“, fegten meine Finger in Windeseile über den Bildschirm.
      „Und dennoch möchtest du dich mit mir treffen?“, leuchtete es im Chat, aber noch immer pulsierten die drei Punkte. Eine weitere Nachricht tauchte auf: „Spaß beiseite. Wenn du das mit dem nicht willst, dann tue es nicht. Ansonsten kläre es mit deinem Freund erneut, bitte ihn um Unterstützung. Wichtig ist nur, dass du eine Entscheidung treffen musst, insbesondere in einer emotionalen, instabilen Zeit, wie du sie gerade erlebst.“
      “Das schreibt sich so leicht“, antwortete ich. Im Stall wurde es zunehmend voller und ich entschied zwischen den neugierigen Blicken mein Handy wieder wegzustecken; Schluss mit den Spielchen.
      Das rote Licht verglühte und Humbrias müden Augen öffneten sich langsam. Von beiden Seiten am Halfter öffnete ich die Haken und führte sie zurück auf den Paddock, auf dem eine beträchtliche Ruhe herrschte. Die Pferde dösten, bemerkten kaum, dass die Stute wieder zurückkam. Sie hingegen trottete langsam zum Unterstand, steckte den Hals durch die Gitter und begann mit den Lippen Halme zu inhalieren. Das Halfter hängte ich in den Zwischengang und starrte auf die Uhr. In wenigen Minuten würde der Tierarzt eintreffen. Beeindruckend schnell kam ich an der Hütte an, in der Erik sich bereits anzog.
      “Ich muss dich noch etwas fragen”, sagte er sanft auf dem Weg zum Stall. Vorsichtig sah ich an ihm hoch, ohne die Hand loszulassen, die ich fest umschlossen in meiner hatte. Ich nickte.
      “Was hat es mit Kiel auf sich?”
      Natürlich musste diese Frage kommen, aber von Lina konnte er es nicht wissen. Wir hatten beim Essen das Thema totgeschwiegen und auch, dass Niklas zur gleichen Zeit mit einigen Auserwählten nach Stockholm fahren würde. Mir stockte für einen Augenblick der Atem, ehe ich stark ausatmete und darauf gefasst war, ihm mehr zu erzählen.
      “Woher weißt du das?”, drängte sich jedoch als erste Frage aus meinem Mund.
      “Dein Handy hat in der Nacht aufgeleuchtet und den Termin angezeigt. Im Zuge meiner unstillbaren Neugier habe ich die Benachrichtigung geöffnet und versucht mehr zu finden”, gab er wehmütig zu. Wieder blieb mir der Atem weg, doch jetzt stich es unsanft in meiner Lunge. Als wäre es ein Zeichen, hielt er mir eine Schalter Zigaretten hin, aus der ich sogleich eine herauszog und aus der Innentasche der Jacke ein Feuerzeug nahm. Das Stechen ließ nach, aber dafür drückte es nun. Deutlich angenehmer, wie ich es fand. Mir wurde klar, dass er vermutlich noch mehr gesehen haben könnte, wenn er versuchte, mehr Informationen zu finden.
      “Dann weißt du von?”, deutete ich mit stotternden Worten meinen unbekannten Verehrer an. Es musste so weit kommen, wenn auch etwas früh.
      Erik nickte, aber sein Gesicht blieb wenig berührt davon.
      “Aber”, sprach er und zog an dem Glimmstummel, “du hättest darauf kein Geheimnis machen müssen. Ich kann deinen Reiz nachvollziehen und wenn du dich ernsthaft einmal mit ihm treffen möchtest, will ich dieser Erfahrung nicht im Wege stehen.” Auf seinen Lippen bildete sich ein kurzes Lächeln, dass bei dem nächsten Zug wieder weichte.
      “Danke dir, aber ich weiß es noch nicht. Ich bin froh dich zu haben und möchte mit dir Erfahrungen machen”, versuchte ich zuversichtlich zu bleiben. Seine Hand drückte fest meine. Ich wusste aus unerklärlichen Gründen sofort, dass es die richtige Entscheidung mit ihm war. Noch bevor wir im Stall ankamen, erzählte ich ihm von der Auktion in Kiel und dass wir dort eine Art Lehrgang haben würden, um unsere reiterlichen Fähigkeiten zu verschärfen. Interessiert hörte er zu, aber gab kein Kommentar dazu ab.
      Vor dem Gebäude stand bereits der Transporter unseres Tierarztes. Aus der Seitentür kramte er seine Tasche und begrüßte uns freundlich, als er uns bemerkte. Zusammen liefen wir zur Paddock Box, in der Maxou beinah leblos stand. Die Späne lagen fein vor der Kante ins Freie. Nicht mal einen prüfenden Blick schien sie nach draußen gesetzt zu haben. Umso mehr setzten die Zweifel ein. Ich hatte daran setzt ein Pferd haben zu wollen, dass ich mir nicht die Zeit ließ, mir darüber Gedanken zu machen, was ich mit meinem Pferd überhaupt anstellen wollte. Nein, stattdessen ging es nur darum eins zu haben und nun stand dieses arme Tier verängstigt da, wie eine versteinerte Statur. Erst, als Erik sie ansprach, regte sich eins der Ohren. Ihr Kopf erhob sich langsam und ich wusste wieder, zumindest kurz, wieso ich ihr die Chance gab, sich zu beweisen. Ich drückte meinen Freund, dachte ich das gerade wirklich?, ein Halfter in die Hand, dass ich ursprünglich für Glymur gekauft hatte. Es war violett und reflektierte im Licht in schönen Fuchsia Tönen. Getragen hatte er es bisher nur einmal, doch Maxou stand er vorzüglich. Er führte die Stute hinaus und folgte mir in den hinteren Teil des Stalles. Dort waren die Putzbuchten und deutlich besseres Licht. Außerdem konnte man das Pferd problemlos an beiden Seiten befestigen. Das Abnehmen der Decke übernahm ich. Sie sah mich kurz an und beschnupperte meine Hand, aber Erik erschien ihr so viel interessanter, was ich ihr nicht verübeln konnte.
      Doktor Linqvist begann mit seiner Arbeit, hörte die Stute als erstes Ab, betrachtete die Augen mit einer Lampe und sah sich die Zähne an. Dabei bestätigte sich Linas Annahme. Dabei stellte die ungleiche Abnutzung der Zähne, das geringste Problem dar. An einigen Stellen hatte sie Karies, dass er aber noch heute beseitigen würde. Was ihn ebenfalls Zahnschmerzen bereitete, war eine Fraktur an den vorderen Zahnreihe und zwei hinten. Wohl möglich durch Tritt eines anderen Pferdes oder schlimmeres, dass er nicht mehr aufführen wollte. Suchend blickte ich mich im Stall um, hoffte, Lina zu sehen oder zumindest ihren überheblichen Liebhaber. Vergeblich.
      „Möchtest du gehen?“, vergewisserte sich Erik, als der Tierarzt der Stute die erste Sedierung verpasste.
      „Nein, ich hoffe nur darauf, dass Lina mir helfen kann, ob das alles normal ist“, wimmerte ich und blickte mit glasigen Augen zu dem Zwerg. Ihr Kopf wurde schwer, hielt sich dennoch gut in den beiden Stricken.
      „Wir schaffen das zusammen, ich übersetze und du“, er stockte und kratzte sich an dem mit Stoppeln übersäten Kinn, „kennst dich mit Pferden aus.“
      „Ich verstehe genug, aber danke“, rollte ich beleidigt mit den Augen und erhob mich von der Bank. Erik hingegen lehnte sich zurück, beobachtete inständig jeden meiner Schritte.
      Der Kopf der Stute wurde immer schwerer und zur Unterstützung hielt ich ihn fest. Laut schnaubte sie aus, dabei knatterte das Geräusch. Meine Hand fuhr langsam über ihren Hals.
      > Rör henne inte så ofta. Hon har en svampsjukdom i huden.
      „Fass sie nicht so oft an. Sie hat einen Hautpilzkrankheit“, mahnte der Tierarzt und sofort schreckte ich zurück. Mit einem kläglichen Versuch drückte Maxou ihren Kopf ein Zentimeter nach oben, aber genoss wieder, dass ihr Halt gab.
      > Är det smittsamt?
      „Ist der ansteckend?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, sagte aber, dass genaueres erst vom Labor geklärt werden kann. Dann spannte Doktor Linqvist das Maul des Tieres in ein Gestell, das vermutlich auch als Folterinstrument herhalten konnte. Erik wurde damit beauftragt einen Eimer mit warmem Wasser zu holen, während ich weiter assistierte. Zugegeben, bisher gehörte so was nicht in mein Aufgabenfeld. Unser Tierarzt sah dem nach und erklärte mir alles äußerst genau. Zeigte mir sogar die einzelnen Schritte.
      Interessierte hörte ich zu, hielt den Kopf, bis Maxou endlich fertig war nach fast einer Stunde. Ein Zahn wurde gezogen und weitere behandelt. Ihr Gebiss erstrahlt nun gleichmäßig wieder im Glanze, solle aber in den nächsten Stunden nur in der Box stehen unter Beobachtung. Dafür waren wir ausgerüstet. Also schaltete ich direkt die Kamera ein, die sonst nur nachts aktiv war und konnte nun jederzeit nachsehen, was sie trieb. Sobald Maxou aktiver sei, war führen angesagt, dem Erik sich glücklich opferte.
      Gegen den Hautpilz bekamen wir eine Salbe, die täglich zweimal aufgetragen werden sollte und das Fell musste umgehend verschwinden. Eine Winterdecke mit Halsteil stand dann somit als Nächstes auf der Einkaufsliste.
      So sehr vertieft das schlafende, und aus dem Maul blutende, Pony zu beobachten, bemerkte ich nicht wie sich eine Hand auf meine Schulter ableckte. Mit einem großen Satz sprang ich zur Seite. Erneut wippte der Kopf der Stute kurz nach oben. Lina stand neben mir und grinste.
      „Das kannst du nicht machen“, stammelte ich außer Atem und sorgte damit für reichlich Gelächter bei den anderen. Vermutlich lag ihre Hand schon einige Sekunden auf meiner Schulter, bis mein Körper es für voll nahm.
      “Folke hat gesagt, dass Holy auch untersucht werden soll”, erklärte sie und vermittelte mir indirekt, dass ich den Terrortinker bitte holen solle. Seufzend trennte ich den Blick von meinem Pony, sagte Erik Bescheid und lief über den Vorplatz zum Paddock. Friedlich zupfte sie an den restlichen Heuhaufen in dem Unterstand. Girlie stand neben ihr und auf der anderen Seite Mill, die interessiert zum Tor getrottet kam. Die Stute war stets bereit zu arbeiten, doch befand sich derzeit noch im Mutterschutz. Zwischendurch durfte sie Dampf ablassen, aber wurde ansonsten in Ruhe gelassen. Ihre Tochter inszenierte derzeit die Standfestigkeit des Zauns. Unbeachtet legte ich das Halfter um den plüschigen Kopf der gescheckten Stute und führte sie hinüber. Sie ließ sich Zeit, wollte nicht so recht in das große Gebäude hinein, als wusste sie, dass dort der Tierarzt wartete.
      Niklas' Gesicht sprach Bände und dass er nervös die Stallgasse auf und ab lief, ebenfalls. Lina versuchte ihn aufzumuntern, doch vollständig in den Gedanken verloren, reagierte er nicht auf ihre Annäherungsversuche. Seine Stute schien demnach das Fohlen verloren zu haben.
      “Muss ich fragen?”, flüsterte ich Lina zu.
      Sie schüttelte den Kopf.
      Damit war alles gesagt. In großen Schritten brachte Lina den Schimmel zurück in die Box und ich band stattdessen Holy an. Ihr Baby war wirklich groß, als wäre sie bereits im siebten Monat trächtig und somit bei der Übergabe an den Tierschutz bestiegen worden. Innerlich entbrannte ein Muttergefühl, die Freude ein außergewöhnliches Fohlen hier zu haben. Um, hoffentlich, Papiere zu bekommen, mussten Linas und meine Fähigkeiten herhalten, den Vater des Fohlens zu ermitteln. Sie bekam von den freudigen Nachrichten nicht viel mit, sondern beruhigte ihren Freund mit allen Kräften.

      So schnell wie Niklas erschien, verschwand er auch wieder und Lina blieb wie ein begossener Pudel am Rolltor stehen, sah dem Auto am Horizont hinterher. Ich konnte seinen Schmerz nachvollziehen und auch, dass sie zu gleichen Teilen an sich band. Der kurze Moment der Wehmut wurde durch ein lautes Scheppern unterbrochen, das von der anderen Seite des Stalls kam. Zusammen joggten wir durch die Stallgasse und vor uns eröffnete sich ein riesiger Lkw, beladen mit Absperrungen und dahinter folgte ein Bagger.
      “Was zur Hölle ist hier los?”, fragte ich rhetorisch und auch Lina konnte nur mit Erstaunen die Arbeiter betrachten. Von der Seite kam Tyrell dazu, die Arme breit in der Hüfte gestützt und einem Lächeln auf den Lippen. Zufrieden atmete er aus.
      “Es geht los”, lachte er. Lina und ich sahen uns weiter verwundert an.
      “Was genau?”, versuchte ich mehr Informationen, ans Tageslicht zu bekommen.
      “Oh, dann habe ich es euch vergessen zu sagen”, seufzte er, “somit wisst ihr auch noch nicht, dass bis heute Abend eure Sachen gepackt sein sollen.”
      Schockiert riss ich Augen auf, hielt mich an Lina fest.
      “Was? Nein, wissen wir nicht!”, sprach Lina gleichermaßen verwirrt wie erschüttert, “Wieso sollen wir unsere Sachen packen?”
      “Wir bauen den Hof um und eure Hütten werden abgerissen”, fasste er sich kurz. Ein erschütternder Schmerz fuhr durch den Körper. Die kleine Hütte wurde zu so viel mehr als einem einfachen Haus. Sie war mein Rückzugsort, ein Zuhause mehr als Erik es mir war.
      “Das ist nicht dein Ernst”, schimpfte ich verzweifelt.
      “Und ihr habt jetzt sechs Stunden euren Kram in den Konferenzraum vier zu bringen”, zeigte er in die Halle, “Am Abend erzähle ich euch dann in Ruhe alles.”
      “Aber wir haben doch die Ferienhütten?”, versuchte ich meinen Gedanken zu verdrängen und dem Unausweichlichen zu entgehen.
      “Die sind an die Vorarbeiter vermietet”, zuckte Tyrell mit den Schultern und verließ uns. Sein Abgang wirkte von so viel Missgunst, dass es eine gute Erklärung sein musste, damit ich meine Sachen auch wieder auspacken würde.
      “Das ist nicht sein Ernst, oder?”, fragte mich Lina, die es wohl nicht ganz glauben konnte, was unser Chef uns gerade eröffnete.
      “Offenbar schon”, seufzte ich, “dann sollten wir wohl mal unser Zimmer beziehen.”

      Lina
      “Ja, dann sehen wir uns wohl gleich”, nahm ich diese Tatsache resigniert hin und verschwand bevor Vriska noch etwas hätte sagen können. Schwer lag mir das Herz in der Brust. Falls es so etwas wie einen Gott geben sollte, war dieser heute nicht sonderlich gnädig gestimmt. Unangenehm drang das Geräusch des Kieses an meine Ohren, der bei jedem Schritt unter meinen Sohlen, leise knirschte, bis es abgelöst wurde durch das dumpfe Klopfen, welches meine Füße auf den Stufen erzeugten. Melancholie überkam mich als ich in den Raum eintrat. Willkürlich begann ich Dinge in eine Kiste zu werfen, die sich mir in den Weg gestellt hatte. Es sollte mich nicht so hart treffen, einen Ort, an dem ich gerade einmal knappe eineinhalb Monate wohnte, wieder zu verlassen, aber genau das tat es. Was es so beschwerlich machte, war nicht die Sache an sich. Klar, ich begann gerade erst, mich an mein kleines Reich zu gewöhnen, hatte gestern erst überlegt, wie man es behaglicher gestalten konnte, aber letztlich war es auch nur ein Raum, den ich noch nicht mein Zuhause nannte. Es hätte auch schlimmer kommen könne. Immerhin war Tyrell so gnädig gewesen, uns nicht nur ein Zelt oder Ähnliches hinzustellen oder gar uns ganz auf die Straße zu setzen. Darüber hinaus könnte ich mir schlimmeres vorstellen, als mit Vriska zusammenzuwohnen, wenn es auch bedeute deutliche Einschränkungen in der Privatsphäre zu haben. In vergangenen Zeiten hatte ich mir schon mit Leuten ein Zimmer geteilt, die mir deutlich unsympathischer waren. Nein, es war schlichtweg einfach der falsche Zeitpunkt für eine solche Nachricht. Gedanklich hing ich noch immer bei der schlechten Neuigkeit, die der Tierarzt mit sich brachte. Die Information an sich erweckte bereits großen Kummer in mir, lag doch so viel Hoffnung darin, dass die Trächtigkeit gut verlief, aber diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Es würde kein Fohlen für Smoothie und Niklas geben.
      Meinen Freund schließlich so bestürzt zu sehen weckte noch mehr Trauer in mir und spürte seinen Schmerz beinahe so deutlich, als sei es mein eigener. Ich hatte für Niklas da sein wollen, ihm Trost spenden, doch er hörte mir nicht zu, distanzierte sich. Selbst meine größten Bemühungen hatten nicht ausgereicht, um vollständig zu ihm durchzudringen. Es erschloss sich mit bisher nicht, was es war, dass er sich dermaßen vor mir verschloss, aber ich hatte dem nichts entgegenzusetzen, konnte nur abwarten, ob ich seine Beweggründe eines Tages besser verstehen würde. Wirklich wohl war mir nicht bei dem Gedanken, dass er in einem solchen emotionalen Zustand fuhr, aber mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass er in seinem Wahn nichts Dummes anstellte.
      Seufzend stellte ich die Kiste, in der sich mittlerweile ein buntes Sammelsurium an Dingen befand, beiseite und ließ mich auf die nächste Sitzgelegenheit sinken, die leise unter der Belastung knarzte. Langsam ließ ich meinen Blick über den Inhalt des Kartons gleiten. Die Auswahl an Gegenstände war chaotisch und in keinster Weise nachvollziehbar. Neben einem Buch glitzerte mir ein Kugelschreiber entgegen. Daneben hatten drei Paar Socken, eine Tafel Schokolade, Kopfhörer und ein Paar Reithandschuhe ihren Weg in die Kiste gefunden. Das Laptopkabel schlängelte sich wie eine Schlange um alles herum und verband es auf eine befremdliche Weise miteinander. Ganz oben darauf thronte der kleine helle Plüsch-Ivy wie ein Drache, der seinen Schatz hütet. Würde man das innere meines Kopfes visualisieren sähe es sicher ähnlich widersinnig aus. Bilder, Gedanken, Gefühle, … Träume, Erinnerungen und Gegenwärtiges … Wichtiges und Belangloses, alles auf einem großen Haufen.
      Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. So würde, dass hier nichts werden, ich musste erst ein wenig Klarheit in meine Gedanken bringen, um das hier mit ein wenig System anzugehen. Ruhelos griffen meine Finger zu dem Handy, welches ich beim Hineinkommen auf den kleinen Tisch niedergelegt hatte. Kühl und schwer lag das Metall in meinen Fingern, einzig das Bild meines Hengstes, welches den Sperrbildschirm zierte, strahlte mir entgegen. Was hatte ich denn auch erwartet? Dass mir das Gerät auf magische Weise zeigte, dass meine Sorgen unbegründet seien? Das war wohl kaum möglich. Selbst für eine Nachricht von Niklas wäre es noch zu früh gewesen, unmöglich könnte er bereits Zuhause sein, hinzu kam noch, dass er selbstverständlich keine Gedanken lesen konnte. Ich seufzte, schüttelte den Kopf erneut. Sicherlich machte ich mir mal wieder zu viele Gedanken. Einen Moment lang betrachtete ich den Bildschirm. Hals und Ohren aufmerksam aufgerichtet blickte Divine mir aus dem Glas entgegen. Seine dunklen Augen leuchten sanftmütig und hoben sich deutlich von dem hellen Fell ab und selbst auf dem Bild ging seine magische Ausstrahlung nicht verloren. Er wirkte so einladend, als wollte er sagen: „Alles wird gut, mach dir nicht so viele Sorgen.“
      Doch so einfach war das nicht. Gedanken lösten sich nicht einfach in Luft auf. So wischte mein Daumen über die glatte Oberfläche, woraufhin sich die Darstellung veränderte, kurz mein Homescreen zeigte, bevor mein Finger wie von selbst auf dem Messenger-Dienst tippte. Erst als sie den Chat geöffnet hatten, der „Niki“, als Überschrift trug, hielten sie inne. Neben dem Wort prangte zwei rosafarbene Herzen, ein großes und ein kleines. Ein eher kläglicher Versuch diesen Kontakt von den anderen abzuheben, denn Herzen in den unterschiedlichsten Variationen kam auch anderen Menschen zu, die mir wichtig waren. Nachdenklich starrte ich auf den Cursor, der in regelmäßigem Rhythmus in dem hellen Schreibfeld aufblinkte. Auf einmal fühlte es sich an, als bewege sich rein gar nichts mehr in meinem Kopf, als wäre dort irgendetwas eingefroren, was mich daran hinderte auch nur ein Wort zu schreiben. Dennoch waren die Sorgen nicht fort, nur die Fähigkeit diesen Ausdruck zu verleihen schien verschwunden. Nach gefühlten Minuten erlosch der Bildschirm, aufgrund von Inaktivität und ich blickte in meine eigenen mit Sorge gefüllten Augen.
      Ich atmete tief durch, lehnte mich zurück und versuchte meine Gedankenströme in eine Richtung zu lenken, die sich mehr auf das hier und jetzt konzentrierten und nicht auf Ereignisse, die nur eingeschränkt in meinem Einwirkungsbereich lagen. Mit jedem Atemzug rückte die Sorge um meinen Freund ein wenig in den Hintergrund und machte Platz für andere Gedanken.
      Meine Augen wanderten durch den Raum, bis sie schließlich wieder an der Kiste hängen blieben, auf der das Plüschtier thronte. Gerade jetzt, wo ich Ivys moralischen Beistand gebrauchen könnte, fehlte er mir umso mehr. Zu wissen, dass mein er allein in einer völlig unbekannten Umgebung bereite mir mindestens genau so viel Kummer.
      Von dem einen auf den anderen Tag musste er sich an eine neue Bezugsperson gewöhnen, weil ich einfach weg war und dann nach Monaten wurde er erneut mit einem dieser riesigen, unheimlichen, lauten Dinger durch die Gegend geflogen. Vermutlich verstand das arme Pferd die Welt nicht mehr, war er mit seinen fünf Jahren doch praktisch noch ein Baby.
      Bald, ziemlich bald würde ich ihn wieder bei mir haben, sein weiches Fell unter meinen Finger spüren und auch sein freundliches gebrummelt würde wieder ertönen, wenn ich morgen den Stall betrat. Dieser Gedanke motivierte mich tatsächlich ein wenig jetzt endlich an die Arbeit zu gehen, denn vom Trübsal blasen, würde die Zeit wohl auch nicht schneller vergehen.
      „Okay Mini-Ivy“, sprach ich entscheiden zu dem plüschigen Einhorn ”der Kerl kann sicher auf sich aufzupassen, schließlich ist er alt genug dafür.” Hoffentlich. Die Worte klangen deutlich optimistischer als ich mit tatsächlich fühlte, aber die Wohnung würde sich wohl nicht von selbst zusammenzupacken. Obgleich der einleuchtenden Erkenntnis fühlte ich mich noch immer ein wenig bedrückt und leicht irre kam ich mir allmählich auch vor. Mit echten Tieren reden war sicher schon nicht ganz normal, aber dies mit Plüschtieren zu tun, grenzte, nein war eindeutig ein Zeichen für den Verlust meiner geistigen Fähigkeiten.
      Mein Blick schweifte durch das Zimmer. Auf den Regalen stapelten sich gleichermaßen Romane und Erzählungen wie Skizzenbücher, überall dazwischen hingen, standen und lagen Erinnerungsstücke an vergangene Zeiten. Wie konnte man eigentlich so viel Zeug sammeln?
      Über mich selbst den Kopf schüttelnd, begann ich nun endlich damit den Inhalt dieses Raumes zusammenzupacken. Diesmal allerdings mit ein wenig mehr System. Als Erstes landetet sämtlicher Kleinkram in den Kisten. Zwischen Fotos, Lichterketten und dem ein oder anderen Plüschtier, landeten auch Souvenirs und andere Erinnerungsstücke darin. Mitunter einige Dinge, die diesen Raum hier eindeutig als Zimmer eines Pferdemenschen kennzeichneten. Einzig glitzern Pokale und seidig schillernde Schleifen würde man in keinem der Kartons finden könne, denn diese gab es nicht. Noch nie betrat ich einen Turnierplatz mit der Absicht mich selbst zu präsentieren. Ich war immer nur stummer Bewunderer derer, die den Mut aufbrachten, sich den kritischen Blicken von Richtern und Zuschauern zu stellen, denn mir selbst war es bereits unbehaglich, wenn mir Leute beim Training zusahen. Besonders dann, wenn ich sie nicht kannte.
      Als ich indessen auch die Bücher einpackte, fiel mir ein Exemplar in die Hand, welches bereits die Spuren jahrelanger Nutzung mit sich trug. Pikku prinssi stand in geschwungenen Buchstaben auf dem weißen Einband. Darunter eine Illustration der Titelfigur auf ihrem kleinen grauen Planeten. Eine Geschichte, die nicht nur weltweite Bekanntheit errang, sondern deren Aussage bis heute gültig ist.
      > Vain sydämellään näkee hyvin. Tärkeimpiä asioita ei näe silmillä.
      „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, kam mir sofort der vermutlich am häufigsten zitiere Satz aus dem Buch in den Sinn. Eine Aussage von der sich die heutige von Schein und Konsum geprägte Welt durchaus etwas abschneiden könnte. Dass, was hinter der Fassade eines Menschen steckt, bleib vielen verborgen, weil sie sich vom äußeren Schein blenden lassen und ihnen lieber einen Stempel aufdrückten, anstatt sich die Zeit zu nehmen, diesen näher kennenzulernen. Behutsam legte ich das alte Buch zu den anderen und setzte mit meiner Tätigkeit fort.
      Das Zimmer war nahezu leer, einzig einige Skizzenbücher und Zeichenmappen lagen noch auf dem Tisch, die noch einen Platz in einem der Kartons suchten. Im Arm die Bücher, in der freien Hand die Mappe, stiefelte ich hinüber zu den Kisten. Die Mappe allerdings war nicht korrekt verschlossen, sodass sich ihr gesamter Inhalt auf den Boden ergoss. Gut gemacht, Lina, dachte ich und legte erst einmal die Bücher aus der Hand. Auf den Blättern zeichnet sich überwiegend Motive ab, die schon vor einigen Jahren entstanden waren, meiner Meinung nach keine wirklichen Meisterwerke, auch wenn Samu steht etwas anderes behauptete. Zwischen all den Bleistiftskizzen stach ein Blatt besonders hervor, weil es das einzige war, welches Farbe trug, ziemlich viel Farbe. Darauf zu sehen war ein leicht deformiertes Pony auf einer ziemlich bunten Blumenwiese. Links oben in der Ecke standen in der krakeligen Schrift eines Kindes „Für Lina“ geschrieben. In mir lebte eine Erinnerung auf, bunt und lebendig trat sie vor mein inneres Auge.
      Es war ein warmer Frühlingsmorgen, angenehm strich mir der Wind über die Haut und trug den Duft von Bratfett und Ketchup hinüber. Leise dudelte ein mir entfernt bekannter Song, sicher aus den Charts stammend, aus den Lautsprechern am Rande des Platzes. Auf dem Sand vor mir tummelten sich überwiegend junge Kinder mit Ponys oder auch kleineren zierlichen Pferden. Einzig ein bereits jugendlich aussehendes Mädchen ritt einen großen, eleganten Dunkelfuchs, der lustlos durch den Sand schlurfte.
      “Liiiiina, Minnie möchte nicht richtig anhalten”, quengelte das kleine blonde Mädchen und lenkt damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Rappstute mit der schiefen Blesse reckte den weiß bemützten Kopf nach vorn und zog der Kleinen damit die Zügel aus der Hand.
      “Mach dich mal richtig schwer, Ally und versuche es dann noch mal”, rief ich ihr zu. Folgsam führte Alison die Anweisungen aus und das Pony ließ sich widerwillig nach einigen Schritten anhalten, zog dem Kind aber erneut die Zügel aus der Hand, bevor sie die Ohren anlegte und das Pony neben ihr angiftete. Schon seit das dunkle Pony aus dem Hänger gestiegen war, war es ziemlich unleidlich. Minnie Maus hatte nicht stillstehen wollen und unwillig nach mir geschnappt beim Putzen. Sicherheitshalber beschloss ich sie zuerst selbst abzureiten.
      Dieses Vorgehen erwies sich als kluge Entscheidung. Kaum hatten Minnies Hufe den Sand berührt, schoss sie auch schon quietschend los und obwohl ich damit gerechnet hatte, rette mich nur ein beherzter Griff in den Aufsteigriemen, um nicht in dem hellen Sand zu landen. Immer wieder testete die Stute meine Sattelfestigkeit, bis sie schließlich den Großteil der überschüssigen Energie abgebaut hatte.
      Bis auf Klauen der Zügel klappte das Aufwärmen des Ponys und Ally relativ gut. Minnie wählte fast immer direkt die richtige Gangart und unterließ jegliche Versuche ihren Reiter auf den Boden zu befördern, sodass ich darüber nachdachte, die Stute nicht doch auszubinden, um es dem Kind einfacher zu machen. Schließlich war dies hier keine klassische Dressurprüfung, sondern ein Reiterwettbewerb. Nachdenklich warf ich einen Blick auf das Pony-Reiter-Paar, die sich damit abkämpften, jeweils ihren Willen durchzusetzen. Von Mitgefühl erfüllt sammelte ich die Dreieckszügel aus dem Haufen mit der Abschwitzdecke und rief Ally zu mir heran. Dank Minnies Kooperationsbereitschaft waren diese schnell verschnallt und die beiden konnten, ihre Wege fortsetzen. Ally sah bereits nach wenigen Tritten deutlich glücklicher aus, als das Pony ihr nicht mehr im Minutentakt die Zügel aus den Fingern zog und auch die Geschwindigkeit somit kontrollierter wurde.
      Alison, die normalerweise plapperte wie ein Wasserfall, war ziemlich still geworden als ihre Gruppe aufgerufen wurde und wir vor dem Tor auf den Einlass wartetet. Nervös spielte sie mit den Zügelenden in ihren kleinen Fingerchen.
      “Ich kann das nicht”, sprach Ally entmutigt, als sie einen Blick über das Hallentor fallen ließ, wo gerade eine E-Dressur stattfand. Natürlich sahen die beiden Jugendlich deutlich besser auf ihren Pferden aus als die Reiter ihrer Altersklasse. Sanft legte ich dem Mädchen die Hand auf das Bein, woraufhin sie mich mit ihren ängstlichen blauen Augen anblickte.
      “Ally, schau mal da rüber”, ich deutete mit der freien Hand in Richtung der Zuschauertribüne, “dort sitzen schon deine Eltern und warten auf deinen Auftritt. Außerdem denk daran, wir haben das alles schon ganz oft geübt. Es ist genau dasselbe wie Zuhause.” Schüchtern nickte das Kind bei meinen Worten und warf erneut einen Blick in die Halle.
      “Um Minnie brauchst du dir keine Sorge machen, die macht das mit links. Konzentriere dich allein darauf, wie du reitest. Ich warte hier die ganze Zeit auf dich und hab alles im Auge, ja. Und Vergleich dich nicht mit denen da drinnen, die machen diese Sache schon deutlich länger als du.” Kaum hatte ich den Satz beendet, erklang verhaltender Applaus in der Halle, bevor sich das Tor öffnete und die beiden Reiter die Halle verließen. Das war der Moment für Ally und die vier weiteren Reiter unter der Ansage des Kommentators den Sand zu betreten. Gesittet folgte Minnie dem kleinen Palomino in die Halle, nun ganz das brave Pony, welches man von Zuhause kannte.
      An die eigentliche Kür erinnerte ich mich nur noch sehr schwammig, sie war nicht sonderlich spektakulär gewesen, einzig Schritt, Trab, Galopp mit sehr simplen Bahnfiguren.
      Dem entgegengesetzt erinnerte ich mich umso besser an das strahlende Gesicht der Kleinen, als die Richter die silbern glänzende Schleife an Trense von Minnie Maus befestigten. Vordergründig ging es hierbei um den Spaß, dennoch zersprang mein Herz beinahe von Stolz erfüllt. Ally hatte ihre Sache ziemlich gut gemacht und ich hatte es tatsächlich geschafft einen meiner Schützlinge zum Erfolg zu führen, wenn auch nur bei einem Reiterwettbewerb.
      Die Erinnerung verglühte, wie ein Funke, der tanzend in den Nachthimmel emporsteigt, bis er endgültig erlosch, doch das Gefühl von Stolz und Glückseligkeit hingegen hallte noch einen Augenblick in mir nach. Achtsam legte ich die Zeichnungen zurück in die Mappe. Ganz oben auf, legte ich mit einem lächelnd auf den Lippen die Zeichnung von Ally.
      Jetzt hieß es nur noch die Kisten rüberzubringen. Glücklicherweise war es nicht allzu viele, sodass dies wohl möglich schneller vonstattenging als das Packen gedauert hatte.

      Vriska
      Für einen Augenblick sah ich Lina nach, wie sie wirr ums Haar zwischen den Paddocks hindurch eierte und schließlich hinter den Gebäuden verschwand in Richtung der Wohnhäuser. Anstelle ihr nachzulaufen, und ebenfalls meine Habseligkeiten zu verstauen, drehte ich mich auf der Ferse um und lief zurück zu meinem Pony. Erik saß ihr gegenüber auf der Bank, starrte abwesend auf sein Handy und bemerkte mich erst, als ich direkt vor ihm stand. Langsam hob er seinen Kopf. Auf den Lippen lag ein müdes Lächeln, was vermutlich der langen Nacht geschuldet war, in der Fredna kaum Schlaf fand, wie hypnotisiert durch die Hütte lief und immer wieder zwischen uns ins Bett kletterte. Auch Trymr fühlte sich dadurch motiviert, ihr zu folgen und jeden ihrer Schritte genau zu untersuchen. Irgendwann hörte ich auf, die Uhrzeit zu prüfen, wenn ich, durch einen kleinen Arm oder felligen Kopf in meinem Gesicht, wach wurde. Umso stärker dröhnte der Wecker in meinen Ohren um kurz vor acht.
      „Was beschäftigt dich?“, fragte ich zuversichtlich und strich ihm über die Schulter. Sofort änderte sich sein Blick. In seinen hellen Augen lag ein glühendes Funkeln, das mir wie vom Blitz getroffen durch den Körper fuhr und eine Welle aus prickelnden Gefühlen flutete jede noch so kleine leblose Zelle. Unbewusst begann ich zu grinsen.
      „Ich habe euer Gespräch gehört“, seufzte Erik und griff nach meiner Hand. Umgehend löste sich die nächste Flut, die diesmal in meinem Unterbauch drückte. Das Ziehen durchzog sogar meine Oberschenkel, alles kribbelte.
      „Und was sind deine Bedenken?“, versuchte ich meine Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, schließlich fühlte ich mich ebenfalls nicht ganz wohl bei dem Gedanken für sechs Monate mit Lina das Zimmer zu teilen. Dafür standen zu viele unbeantwortete Fragen im Raum und unausgesprochene Worte, die wir im Alltag bedenkenlos ignorieren konnten.
      „Dass wir einander kaum noch zu Gesicht bekommen“, erneut trafen sich unsere Blicke, „und das wäre furchtbar schade. Schließlich konnten wir …“
      Erik stoppte sofort. Wollte er, dass ich formulierte, warum sich unsere Situation derartig entwickelte? Ich ließ ihm Zeit, aber er schwieg. Immer häufiger wanderten seine Augen über meine Schulter hinweg zum Pony, das langsam, aber sicher wieder aufwachte.
      „Du meinst, ich konnte mich endlich dem öffnen, was uns von Anfang an auf der Seele lag?“, rutschte es mir beinah versehentlich über die Lippen.
      „Uns?“, grinste Erik verlegen und erhob sich von der hölzernen Bank, dabei knackte sie verdächtig laut.
      „Es tut mir leid. Dann halt, was mir auf der Seele lag“, seufzte ich.
      „Engelchen“, lachte er und kam einen Schritt näher an mich heran, „dir muss es doch nicht leidtun. Natürlich, uns. Sonst hätte ich mir wohl kaum den ganzen Kram mit den Pferden angetan. Meine Zeit hätte ich deutlich … sauberer verbringen können.“
      Kurz schnellte meine Puls nach oben, dass Erik die Abende als Zeitverschwendung ansehen würde, doch genauso schnell normalisierte er sich. Zumindest so normal, wie er in seiner Anwesenheit sein konnte. Mittlerweile hoffte ich darauf, dass der ständige Schwall an Hitze in den Hintergrund geraten würde, stattdessen gehörten diese Anfälle mittlerweile zum Alltag, wie das Gefühl noch immer in der Pubertät festzustecken. Verlegen senkte ich meinen Kopf. Mit seiner Hand strich er mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht, bevor er mein Kinn wieder sanft nach oben drückte, damit ich abermals in seine Augen blickte.
      “Du brauchst dich nicht dafür schämen. Es ist alles in Ordnung”, fügte Erik noch hinzu und drehte sich von mir weg. Als er an mir vorbeilief, berührten sich für einen kurzen Augenblick unsere Hände. Hoffnungsvoll schnappte ich nach Luft und folgte ihm zur Box. Erik lehnte die Unterarme auf dem kalten, schwarzen Metall ab, beobachtete, wie Maxou vorsichtig die Heulage knabberte, die ich vor ihrer Behandlung in der Ecke platzierte.
      “Vielleicht sollten wir sie nun einige Runden führen”, schlug ich vor und griff nach dem Strick, der um einige Gitterstäbe herumhing. Die Stute hob den Kopf. Ihre Ohren bewegten sich verunsichert in alle Richtungen, als gäbe es ein Problem, wenn ich sie führe. Auch in ihren Augen funkelte es misstrauisch. Ich drückte Erik wortlos den Strick in die Hand und drehte mich weg. Wie ein Messer stach mir sein Blick in den Rücken, als ich stumm verschwand zur Sattelkammer. Maxou hatte geschwitzt, sollte sich keinesfalls auch noch erkälten. Es würde noch genügend Kosten entstehen mit der Gurke.
      Leer richteten sich meine Augen zu dem Deckenhalter, der leblos an der Wand hing mit so vielen Decken, dass ich sie nicht zu zählen vermag. Wahllos blätterte ich die einzelnen Stangen durch wie die Seiten eines Buchs, dass man zwar lesen möchte, aber sich nicht bewusst war, dass man dafür die Worte verstehen sollte. Von vorn bis hinten sah ich Decken in allen Farben, Größen und Formen, wusste allerdings nicht genau, was ich suchte oder mir überhaupt dabei dachte. Unentschlossen ließ ich mich auf das Sitzpolster in der Mitte des Raumes fallen, überlegte, wie ich das alles heute verarbeiten sollte. Obwohl es kurz nach Mittag war, prasselte so viel Neues auf mich ein und wurde das Gefühl nicht los, dass ich wieder einmal alles allein auf den Schultern trug. Zugegeben, ich machte mir schon immer das Leben schwerer, als es notwendig war.
      Wie lange ich die Decken anstarrte und mich tief in meiner Gedankenwelt verlor, einem Teufelskreis aus falschen und überstürzten Entscheidungen, konnte ich nicht beurteilen. Jedoch musste die Zeit geflogen sein, wie Gänse auf ihrer Reise in wärmere Gefilde. Schritte nährten sich und auch ein dumpfes Kratzen auf dem Dielenfußboden. Meine Hände zitterten und Kälte durchzog mich wie ein kühles Lüftchen, dass sich unter meine Kleidung verlief. Ich atmete tief ein, drückte mich nach oben aus dem Sessel. Die Geräusche wurden erst lauter, bis sie plötzlich verstummten. Wer auch immer da war, musste angehalten sein und mich vermutlich beobachten, wie ich den Stoff anstarrte.
      “Entscheidungen treffen, lag dir noch nie”, lachte mein Bruder, der den Hund von Bruce im Schlepptau hatte. Elsa wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und schnupperte interessiert den Boden ab, sowie die Kisten am Rand. Meine Augen folgten dem Schäferhund.
      “Danke”, rollte ich mit den Augen und drehte mich zurück zu den Decken, die unverändert über die Stangen hingen.
      “Aber bei Pferden scheinst du ziemlich schnell zu sein?”, kam Harlen näher, stützte den Arm auf meiner Schulter ab. Skeptisch zog ich meine Braue nach oben, während meine Augen zu ihm hoch schielten.
      “Sie konnte nicht in dem Drecksloch bleiben”, zuckte ich mit den Schultern, “also haben wir sie mitgenommen und ich schaue, wo es hinführt. Wenn es nicht passt, wird Maxou ein schönes Zuhause finden.”
      “Ich denke nicht, dass du dieses Pferd wieder abgibst”, sprach er ernst zu mir.
      “Wie kommst du auf solche Ideen?”, hackte ich nach. Wirklich die Zeit darüber nachzudenken, hatte ich bisher nicht, aber mein Bruder wusste mehr über mich, als ich es je könnte.
      Ich seufzte.
      „Das Pferd steht auf dein Typen und das sagt doch alles, oder denkst du nicht?“, kicherte Harlen.
      „Eins nach dem anderen“, hob ich demonstrativ meinen Zeigefinger in die Luft, „Maxou braucht eine Decke.“
      „Und dabei brauchst du meine Hilfe?“, wunderte er sich.
      „Nein, aber ja. Irgendwie schon. Hier ist sonst niemand, der mir helfen kann und Erik wartet sicher schon“, stammelte ich. Meine Hände hatten sich wieder zu den Stangen begeben und blätterten abermals durch die riesige Auswahl, als wären wir in einem Reitfachhandel unterwegs. Bis ich entschlossen ein dickeres Stück Stoff herunterzog, beinah erschlagen von den Verschlüssen, duckte ich mich weg und knüllte es in meinen Armen zusammen.
      „Na dann los“, schmunzelte mein Bruder, der noch immer bei den Sitzmöglichkeiten stand und dem Hund hinter den Ohren kraulte. Elsa saß entspannt vor seinen Beinen.
      „Was wolltest du eigentlich in der Sattelkammer?“, musterte ich Harlen, als wir entlang des Flurs liefen, nacheinander erhellte das Licht unseren Weg. Noch bevor eine Antwort kam, stoppte er plötzlich und wie versteinert sah mein Bruder mich an. Deutlich intensiver blickte ich in seine Augen, die sich im nächsten Moment zu Boden senkten, ehe er wieder hochsah.
      „Der Hund ist aus dem Büro gelaufen und dann bin ich ihr nach“, antwortete er klar und deutlich. Langsam nickte ich einmal.
      „Und warum hast du sie nicht gerufen?“, wunderte ich mich.
      „Weil“, kurz überlegte Harlen, „ich ihren Namen vergessen hatte.“
      Erneut erhob ich das Kinn.
      In seinem Gesicht breitete sich eine sanfte Röte aus, die Wangen bis zu den Ohren reichte. Dann kratzte er sich am Kinn, ehe sich die Beine wieder in Bewegung setzten. Entschlossen griff ich nach seinem Arm und lehnte mich zu ihm.
      „Das mit dem Lügen üben wir aber noch mal“, flüsterte ich, bevor Harlen sich aus meinen Fängen befreite und wortlos hinunter die Treppen lief. Elsa folgte ihm treu, als würden die Tiere genau spüren, dass wir nie einen Hund haben durften. Unsere Eltern waren stets davon überzeugt, dass keiner von uns in der Lage war, diese Verantwortung übernehmen zu können. Heute stellt sich mir dabei die Frage, ob das Versagen für diese fehlende Eigenschaft nicht vielmehr an ihnen liegen würde.
      „Was machst du jetzt noch?“, hielt ich meinen Bruder erneut auf, als wir bei Erik ankamen. Er hielt das Pony am Strick. Ihre Augen waren geschlossen und uns beide schien sie nicht einmal bemerkt zu haben.
      „Sachen packen, ich muss schließlich auch raus“, motzte Harlen und verließ uns. Er war anders als gewohnt, umso mehr breitete sich Sorge über seinen Gemütszustand in mir aus. Ideen, was die Ursachen dafür sein könnten, hatte ich viele, aber ohne mehr zu erfahren, würde ich mir unnötigerweise Flausen in den Kopf setzen. Deswegen konzentrierte ich mich auf das vor mir liegende, oder viel mehr stehende.
      Ich legte die Decke auf Maxou und befestigte die Gurte am Bauch sowie an der Brust. Eine Nummer kleiner wäre passender gewesen, denn so hing der Stoff ziemlich weit über ihren Po. Aber der Wind vor dem Stall wirbelte kleine Steine auf, fegte von der einen Seite zur anderen und ich wurde etwas neidisch auf ihren Schutz. Durch den Reißverschluss schlich bei jedem Windzug kalte Luft hinein, was mich schaudern ließ.
      „Ich werde auch die Sachen packen gehen“, sagte ich zu Erik, nachdem wir wieder am Tor der Halle angekommen waren. Die eine Runde drumherum hatte gereicht, dass alles an mir zitterte, denn so schnell trocknete die Kleidung nicht in der Sattelkammer an meinem Körper. Er hatte sich zumindest nach dem Spaziergang umgezogen.
      „Fahre ich dann heute wieder nach Hause?“, fragte Erik, leicht stotternd in der Stimme.
      „Gute Frage“, seufzte ich, „das habe auch schon überlegt. Eigentlich hätte ich euch gern weiter bei mir, aber ich denke, dass Lina damit Schwierigkeiten hat.“
      Zustimmend nickte er und setzte sich wieder mit Maxou in Bewegung, die langsam wach wurde und gezielter die Hufe nacheinander abfußte. Für einen Flügelschlag beobachtete ich die Beiden, wie sie vertraut den Schotterweg entlangliefen, als wären sie seit Jahren ein Team. Innerlich erwärmte es mich, aber die schlottrigen Beine erinnerten zeigten mir, dass es nur eine Vorstellung war. Großen Schrittes hüpfte ich zur kleinen Hütte, die beinah malerisch zwischen den anderen im Kreis stand. Mein Garten war verblüht, kein einziges grüne Blatt hing noch an den Streichern, nur mein winterharter Lavendel schien durch das Braun hervorzustechen. Doch die Pflanzen konnte ich nicht mitnehmen, also würden sie wie die Wohnhäuser den Erdboden gleichgemacht werden.
      Ernüchternden blickte ich noch einmal aus der Tür heraus, bevor ich sie schloss. Sogleich sprang mit Trymr entgegen, der aus dem Schlafzimmer angerannt kam. Laut jaulte er auf und umkreiste meine Beine. Dieser Hund bellte nicht, oder eher ziemlich selten, stattdessen stieß er wimmerndes Heulen aus seiner Kehle heraus, als würde der Rüde minütliches Leid ertragen müssen. Mitleidig sah der Rüde hoch. Ich strich ihm über den Kopf und kniete mich herunter, als er sich auf den Boden warf, um am Bauch gestreichelt zu werden. Der Schwanz wischte über die Holzdielen.
      “Ich muss mich umziehen”, erklärte ich ihm einige Minuten später und lief hinüber zum Badezimmer. Die nasse Kleidung hing ich an der Handtuchheizung auf. Aus dem Kleiderschrank griff ich nach einem komplett sauberen und vor allem trockenen Outfit, dass auch Balsam für meine Seele war. Ich sah mich im Zimmer um, entschied mir erst einmal einen Kaffee zu kochen, bevor ich mir eine Strategie überlegte, wie ich am klügsten vorgehen sollte.
      Dampfend stand das Heißgetränk auf dem Tisch und kühlte ab, also holte ich vom Schrank die leeren Umzugskisten herunter. Seit Jahren lagerten sie dort oben und warteten auf ihren Moment. Eigentlich hoffte ich, dass sie irgendwann an einen neuen Besitzer übergeben werden würde, doch falsch gedacht. Nur mit einem Stuhl war es mir möglich ansatzweise die Pappe greifen zu können und dass Trymr neugierig neben mir stand, breitete noch mehr Sorge aus, dass ich auf ihn fallen könnte. Es blieb bei der Vorstellung daran, auch wenn mir die verbeulten Kartons herunterfielen. Einen nach dem anderen faltete ich auf und begann die Gegenstände einzupacken, die ich in nächste Zeit eher weniger benötigen würde. Dazu zählte vordergründig meine Dekoration, die es zwar wohnlicher machte, aber keinen hohen Stellenwert mitbrachte. Auch vieles vom Geschirr legte ich in Zeitungspapier ein und legte es in den Kartons ab. Handtücher fanden ebenfalls ihren Platz darin. Bindend von Minuten waren die ersten Kisten voll und langsam lichtete sich alles. Natürlich blieb mir auch der Gedanke nicht fern, wohin mit den normalen Möbeln, aber da diese zur festen Einrichtung gehörte, sollte es nicht meine Sorge sein.
      “Ich bin gleich wieder da”, sagte ich zum Hund und griff mir eine Jacke, um mir aus dem Büro den Schlüssel vom Radlader zu holen. Einen Teufel würde ich tun und alles einzeln hinüberzuschleppen! Eine Kiste nach der landete in dem geräumigen Konferenzzimmer, das Tyrell in den vergangenen Tagen unbemerkt zu einem Schlaf- und Wohnraum umgebaut haben muss. Die anderen Zimmer dem Flur entlang waren auch umgestaltet worden, sodass alle Angestellten ihren Platz fanden und auch Lagerraum zur Verfügung stand.
      Als ich aus der Schaufel des Laders die letzte Kiste nahm, saß plötzlich Lina verloren auf dem linken Bett, zuvor hatte dort ein Einhorn-Plüschtier gesessen. Möglichst auffällig versuchte neben ihr den schweren Karton mit den Küchenutensilien an meinem Bett abzustellen. Laut klimperten die Konserven an den Töpfen, aber nicht mal ein Auge zuckte. Aber ich versuchte ihr noch etwas Ruhe zu geben und den Radlader an seinen Platz zurückzubringen. Entlang des Flurs folgte ich der Notausgangbeschilderung, stampfte die Holzstufen herunter und startete das Fahrzeug. Knatternd lief der Motor an. Ungewöhnlich leer traf ich die Wege des Hofes vor, nicht einmal ein Einsteller hatte sein Auto auf Parkplatz. Einsam stand dort nur das Coupé meines Freundes, und er daneben. Warte? Wieso stand Erik bei seinem Auto? Mitleidig saß Trymr bei ihm und sah in meine Richtung, als ich aus dem Sitz des Radladers sprang. Laut knirschte der steinige Weg unter meinen Füßen und verstummte erst, als bei Erik stehen blieb.
      “Wo willst du hin?”, wunderte ich mich. Seine Hand griff nach meiner und führte sie hoch zu seinem Mund, umgehend gab er ihr einen Kuss. Die Verwunderung klang nicht ab, viel mehr wurde sie stärker. Auf meiner Stirn bildeten sich tiefe Furchen, denen es nur an Wasser mangelte und dann könnten sie dem Suezkanal eine ernsthafte Konkurrenz darstellen.
      “Eigentlich wollte ich dich überraschen”, sprach er selbstsicher und löste sich von meiner warmen Hand, die zuvor noch in den dicken Handschuhen steckten, “Chris hatte angerufen und mir gesagt, dass Fredna abgeholt werden will. Also wollte ich das rasch machen und dann mit euch beiden etwas Essen gehen.”
      “Dann muss ich mich entschuldigen, ich möchte nicht”, seufzte ich und zog mir die schwarzen Fäustlinge wieder über. Der Wind tobte eisig über den Parkplatz. Es gab keine Bäume oder andere Widerstände, die ihm Einhalt bieten konnten. Stattdessen zische er ein Windhund an mir vorbei, auch das Trymr unregelmäßig in die Leere schnappte, untermalte diese Metapher. Lächelnd zuckten meine Lippen.
      “Soll ich was von Unterwegs mitbringen?”, schlug Erik als Nächstes vor, was ich ebenfalls verneinte und schließlich beließen wir es dabei, dass er seine Tochter abholte und dann erst einmal unterwegs sei. Ich nahm den Höllenhund zu mir, drehte um und er folgte. Nach einem prüfenden Blick über die Schulter, liefen wir durch das Tor wieder in die Halle, zurück zu Lina. Vor mir fand ich sie noch immer erstarrt auf dem Bett. Entgegen allen menschlichen Sitten rannte Trymr schwanzwedelnd zu ihr und machte vor ihr Yoga. War er damit der nach vorn schauendem Hund? Belustigt von dem Gedanken verließ Luft meine Nase und ich schüttelte mich. Er konnte sie nicht aufhören zum Spielen aufzufordern, schien zu überlegen nach ihrem Kuscheltier zu schnappen, aber entschied sich doch aus einem meiner Kartons einen Pullover. Wie mit einer Trophäe im Maul bot er ihr mein Kleidungsstück an, wobei der Schwanz unaufhörlich wedelte.
      “Oh, wo kommt ihr den auf einmal her?”, fragte Lina irritiert, “Ich habe euch ja gar nicht kommen gehört.” Sie wirkte ein wenig benommen, wie, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht und blinzelte einige Male, bevor sie wieder ganz in der Gegenwart angekommen zu sein schien.
      “Aus der Tür”, sagte ich und zeigte dabei auf die mit Milchglas besetzte Holztür, die halb offenstand, “ansonsten war ich vor ungefähr zehn Minuten schon mal da, wollte dich nur nicht stören b-bei … dem, was auch immer du gerade tust.” Erneut drang ein Laut der Verwunderung aus ihrem Mund, bevor sie mit etwas Verzögerung eine Antwort murmelte: “Ähm, du störst nicht … ich war gerade nur in Gedanken.” Beiläufig zupften ihre Finger an den winzigen Flügeln ihres Plüschtiers herum, womit sie auch die Aufmerksamkeit des grauen Monsters bekam, welches ihre Finger genaustens beobachtete. Nicht, dass sie nun doch mit ihm spielen wollte.
      “Hier ist es auch wirklich trist”, sah ich mich weit in dem Zimmer um und sprach viel mehr zu mir als zu ihr. Die Betten waren bestimmt Queensize, aber auf jeden Fall für zwei Personen gedacht. Zumindest würde Trymr ausreichend Platz haben. Gegenüber der Tür hing ein großer Fernseher und darunter eine große Kommode. Hier und da standen kleine Regale sowie ein Tisch mit vier Stühlen, kein Vergleich zu den Zimmern an der Privatschule in London. Lina schwieg. Zustimmend nickte ich noch ziemlich unbewusst und zog meine Schuhe aus. Dann begann ich interessiert, die Schubladen der Kommode zu durchsuchen, als suche ich etwas Bestimmtes. Alle waren leer, nicht anders als erwartet.
      “Vielleicht sollten wir noch einige Pferde bewegen und nicht noch mehr Zeit verschwenden”, sah ich nachdenklich zu ihr hinüber. Ich hatte mich mittlerweile ins Bett gelegt und zuvor einige Kleidungsteile in das Regal einsortiert. Trymr lag neben mir, den Kopf auf meinem Brustkorb abgelegt. Leise schnaubte er.
      “Ja, das ist sicherlich eine gute Idee. Die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein”, stimmte Lina mir zu, die, nachdem sie durch das Zimmer gewuselt war, ein wenig lebendiger wirkte. Das Plüschtier, welches beim Betreten noch in ihren Händen gelegen hatte, thronte mittlerweile zwischen ihren Kissen und auch sonst hatte sie einige wenige persönliche Dinge im Raum platziert. Aus der Hosentasche zog ich mein Handy hervor, öffnete die Verwaltungsapp des Hofes und scrollte durch die Liste unserer Pferde. Schnell fand ich den richtigen Kandidaten.
      “Wollen wir zusammen in den Wald?”, fragte ich vorher, bevor ich die endgültige Entscheidung traf.
      “Ja, klingt gut”, entgegnete Lina und unterstütze die Aussage mit einem Nicken.
      “Ich werde mit Dustin fahren. Der ist entspannt. Du bist sicher nicht dafür zu begeistern, oder?”, bestätigte ich in meinem Menü und stand auf. Aus dem obersten Karton leuchtete die dicke graue Reithose mir entgegen. Entschlossen nahm ich sie und wechselte meine Jogginghose ein. Trymr spitze gespannt die Ohren, sprang aus dem Bett heraus und wartete geduldig an der Tür.
      “Da denkst du ganz richtig. Auf die Gefährte kann ich gerne verzichten”, antwortete sie, ohne dass eine Regung auf ihrem Gesicht zu erkennen war.
      “Na gut”, zuckten meine Schultern. Wie ich bereits vermutete, lag Spannung in der Luft. Die nicht ausgesprochen Worte schwebten um uns, wie die Mückenplage im Sommer es nach unserem Blut durstete. War es falsch, dass ich in dem Augenblick Angst bekam vor den kommenden sechs Monaten? Etwas sagte mir, dass es nur der Anfang des Wahnsinns sein würde, der nicht so schnellenden würde. Am Haken neben der Tür wartete der dicke Wintermantel von Erik, als würde nach mir schreien, lief ich zu ihm, klemmte ihn mir unter dem Arm und sah zu Lina, die hektisch in den Kartons wühlte. Bis sie schließlich einen scheußlich rosafarbenen Pullover in die Luft hielt und darüber hinweg zur mir schielte. Peinlich berührt schluckte ich. Warum es mir peinlich war? Jahre, beinah Jahrhunderte konnte man Wetten abschließen, dass ich immer ein solches Oberteil trug in der Kombination zu einer engen schwarzen Leggings und links einem Thermobecher in der Hand. An schlechten Tagen trug ich noch eine Sonnenbrille – also jeden Tag.
      “Komm Prinzesschen, die Sonne steht nicht ewig am Himmel”, fauchte ich ungeduldig.
      “Ist ja gut, ich komm ja schon”, entgegnete sie beschwichtigend, während sie sich den Pulli überwarf, bevor sie sich noch eine blaue Winterjacke von ihrem Bett schnappte.
      Einen klaren Vorteil musste man dem Konferenzzimmer zusprechen. Der Weg war so kurz wie nie zuvor zu den Pferden, denn im riesigen Gebäude war nicht nur die Reithalle zu finden, sondern auch die beiden Häuser mit den Sattelkammern und Zimmern. Aufgeregt ragten einige Pferdeköpfe durch die Öffnungen der Boxen, nur Maxou und Redo schienen nicht sonderlich viel von dem Durchgangsverkehr zu halten. Als hätte es Dusty bereits geahnt, wieherte er fröhlich uns an. Seine Laute schallten bis nach draußen, wo er prompt mehrere Antworten erhielt. Lina hingegen sah sich unsicher um, drehte und wendete sich, als gäbe es kein einziges Pferd auf dem astronomischen Gestüt.
      “Nimm Walker”, drückte ich ihr willkürlich ein Halfter in die Hand, das zufällig auf einer Bank neben uns lag. Sie nickte und lief zu dem schneeweißen Hengst, der in der Box neben Dusty stand. Interessiert beäugte den Zwerg, aber folgte willig aus der Unterbringung. Ich hatte natürlich kein Halfter, was im Bedacht der Umstände jedoch relativ gut sein würde. Entgegen meinen Sinnen legte ich nur meinen Arm um seinen Kopf und er folgte. Dusty war der Tophengst auf unserem Gestüt, und nein, es war kein Wunder, dass ich ihn mir einfach nehmen durfte, wie es mir gefiel. Nicht der nur der Tatsache geschuldet, dass ich hier arbeitete, gab es, bis auf wenige Ausnahmen, kein Pferd, dass nicht jeder bewegen durfte. Natürlich hatte jeder seine Lieblinge, worauf wir Acht nahmen.
      Der Hengst war blütig, voll blütig, zumindest halb. Seine Mutter zählte bereits in jungen Jahren zu den Geheimtipps in den Wettbüros, wie Tyrell gerne erzählte an langen Abenden, und sein Vater war ein geschätzter Traberhengst, der internationale Erfolge erzielte. So führte Dusty die Bilanz seines Papiers fort. Vermutlich vermutete man nun, dass der braune Hengst mit dem hellen Bauch nervös in der Putzgasse trat und dabei ständig den Kopf hochriss, doch dem war nicht so. Bereits in Deutschland hatte sich Tyrell das Pferd zugelegt, damals noch als Jährling und für teures Geld aus Kanada importiert. So lernte er von Anfang an die Ruhe kennen, wie es ein großer Teil unserer Pferde war. Ja, ich gebe zu, die Pferde im Reitverein kennenzulernen war ein Kulturschock. Überall hampelten sie herum, konnten nicht einmal für zwei Minuten ruhig in einer Stallgasse stehen. Genauso hektisch wurden sie auf dem Reitplatz und egal was, hysterisch sprangen sie weg.
      “Kannst du mir kurz helfen?”, fragte ich Lina, die Walker bereits gesattelt hatte und nur noch auf mich wartete. Dusty hatte schon das Geschirr um mit einer einseitigen Scheuklappe und an den Beinen trug er Bandagen, die ich viel mehr zu Übungszwecken gewickelt hatte. Freundlicherweise griff sie da bereits ein, als ich ein reines Chaos mit den Fleece-Bändern verursachte. Natürlich sorgte ich damit für Unterhaltungsstoff und ich würde mich nicht wundern, wenn Lina meine Idiotie auf Bildern festhielt. In dem Augenblick benötigte sie allerdings dafür den Sulky gleichzeitig durch Schlaufen zu ziehen. Dusty konnte dabei unruhig werden, deshalb wollte ich es lieber nicht machen. Von der Seite hatte ich bereits meinen eigenen hervorgeholt, ja, ich hatte einen eigenen Sulky, aus dem sogar mein Name stand, mein ganzer Name. Fragt lieber nicht.
      “Natürlich”, antworte sie hilfsbereit, wenn sie auch den Bruchteil einer Sekunde zögerte, “Was genau soll ich tun?”
      “Du musst das hier”, zeigte ich auf die Schnalle am Gurt, “hier durchziehen, dann klickt es und zum Schluss noch hier befestigen”, demontierte ich weiter. Ein zweites Mal erklärte ich es langsamer, dann begriff sie es. Der Sulky war leicht, sogar noch leichter als die Standardmodelle, denn wie man mittlerweile schon von mir wusste – Mit Standard gab ich mich nie zufrieden. Tyrell rollte damals mit den Augen, als ich ihm den Bestellschein gab und eine horrende Summe am Ende stand. Nacheinander klackten die Verschlüsse ein, dabei zuckte Dusty kurz, aber schenkte mir das nötige Vertrauen, um nicht einen Sprung nach vorn zu machen. Freundlich bedankte ich mich bei Lina, die Walker vorsorglich aus der Gasse führte und vor dem Gebäude wartete. Von dem Stuhl nahm ich mir noch die Decke, die ich mir aus der Sattelkammer mitgenommen hatte und prüfte die Gurte wohlweislich. Lina hatte alles richtig gemacht und auch die restlichen Schnallen warn fest. Also schwang ich einmal die Leinen und Dusty lief fröhlich voraus. Das hole Geräusch der Hufeisen auf dem Beton wandelte sich zu einem kurzen und knirschenden, dabei setzte ich mich auf den Sitz und sortierte erst einmal meine Führung. Erst danach umwickelte ich mich mit der gefütterten Decke. Nur noch ein Kaffee fehlte, dachte ich und ließ den Hengst selbstbestimmt vorlaufen. Eins meiner Beine hatte ich mit auf dem Sitz, während das andere mich stützte. Im selben Tempo ritt Lina neben uns her.
      “Wie kommt es eigentlich dazu, dass ich dich das erste Mal auf dem Ding da sehe, obwohl das offensichtlich dein schickes Gefährt ist?”, fragte sie neugierig nach einer ausgiebigen Betrachtung des Gespanns.
      “Das?”, fragte ich scheinheilig und strich mit einer Hand über das Gestellt. Dann bremste ich Dusty urplötzlich ab. Lina konnte nicht so schnell auf meinen Halt reagierten und drehte den hellen Hengst wieder um.
      “Wir haben Trymr vergessen”, sprach ich entsetzt und pfiff zweimal sehr laut, so wie Erik es mir gezeigt hatte. Da der Hof nur einige Minuten hinter uns lag, sollte das Tier ohne Weiteres meiner Aufforderung nachkommen. Tatsächlich bog er an den Bäumen entlang ab und kam in Windhundmanier angezischt. Seine Zunge schlackerte dabei, amüsiert lachte ich.
      > Bra gjort
      “Gut gemacht”, lobte ich ihn und gab ihm eins der Pferdeleckerlis. Grundsätzlich verschlang das Ungetüm alles, auch die Bananebricks. Dann setzte ich Dusty wieder in Bewegung und setzte das Gespräch mit Lina fort: “Also wo waren wir? Ach ja”, unentschlossen atmete ich aus, “offensichtlich ist das meins, wie du schon festgestellt hast und ich besitze ihn, weil ich noch bis ungefähr Mai, oder es könnte auch Juni gewesen sein, Rennen gefahren bin.”
      Mit einem Kopfnicken nahm Lina dies zur Kenntnis und setzte zu einer weiteren Frage an: “Warum fährst du mittlerweile keine Rennen mehr?” Der helle Hengst unter ihrem Sattel kaute entspannt auf seinem Gebiss und pustete kräftig die Luft aus seinen Nüstern.
      “Ist das nicht offensichtlich?”, schielte ich zu Trymr hinüber, der aufgestellte Schwanz nebenher trabte. Lina zuckte mit den Schultern.
      “Ich kann schlecht auf tausenden Hochzeiten tanzen und als die Einladung nach der Musterung kam, stand für klar fest, dass Reiten mehr Zukunft hat als Rennen fahren”, setzte ich mit melancholischem Unterton fort.
      “Verstehe. Also die Art von Lebensentscheidung, die wohl für jeden früher oder später ansteht”, entgegnete Lina, “Vermisst du es manchmal oder macht es dir nicht aus, nur noch im Sattel zu sitzen?”
      “Du stellst schwierige Fragen”, murmelte ich und schwieg. In meinem Kopf entbrannte ein Feuer. Gefolgt in der Bahn der Nervenstränge schnappte die imaginäre Hand verschiedene Zettel, die aus den Wochen stammten, als ich Tyrell mitteilte, dem Reitverein beizutreten. Ein anderer stellte eine wirre Zeichnung dar, die nicht genauer beschreiben konnte als viele Kreise und Striche, die im ersten Moment keinen Sinn ergaben. Lange schwieg ich noch, bis Dusty es nicht abwarten konnte, die nächsthöhere Gangart einzuschlagen. Locker trabte der Hengst an und auch Lina folgte uns mit Trymr. Einige Schritte bot er im Tölt an, aber streckte den Kopf etwas weiter nach unten und trabte aus. Vor mir lag nur der Sand, während auf beiden Seiten die Bäume vorbeizogen. An meinen Ohren vibrierte kalt der Wind. Gezielt atmete ich ein und wieder aus, zählte im Kopf die Sekunden und versuchte mich nur auf das Pferd zu konzentrieren. Zwischendurch sah ich nach links, um zu schauen, ob Trymr hinterherkam, aber klar. Dem Windhund lag das Laufen im Blut, so wie unseren beiden Pferden. Zur vor der Küste parierten wir wieder durch in den Schritt. Das Meer war rau und wild schlugen die Wellen gegen den Granit tief unten. Dusty drehte die Ohren und wippte mit dem Kopf.
      “Ich denke, es war eine Frage der Aufmerksamkeit”, seufzte ich leise, aber noch hörbar für Lina, “die Rennen waren die reinste Hölle und provozierten förmlich, dass etwas Dramatisches passiert. Aber jetzt, ein entspanntes Training oder generell, das Training machten Spaß. Wenn ich mit der Dressur fertig bin, spricht aber auch nichts dagegen eine Runde zu drehen.”
      Schmunzelnd sah ich zu ihr hinüber. In ihren glasigen Augen funkelte es friedlich, gerichtet auf die wogende See. Es wirkte beinah so, als würde das Wasser in allen Zügen ihren Gemütszustand widerspiegeln. Ich versuchte aber für den einen Tag nicht nachzufragen, sofern sie das Gespräch nicht selbst anbot. Dafür hatte ich selbst genug zu verarbeiten, um mir noch die Last anderer aufzunehmen. Lina antwortete nicht sofort, sodass nichts weiter zu hören war als das Rauschen unter uns und der Wind, der an unserer Kleidung zerrte.
      “Das glaub ich dir, dass das wahnsinnig anstrengend und risikoreich ist”, sprach sie schließlich, die Augen noch immer auf die hellen Schaumkronen geheftet, “das ist die Dressur schon ein wenig berechenbarer.”
      “Und, wie denkst du, wird es für dich weitergehen? Möchtest du dich weiterhin im Hintergrund aufhalten?”, überlegte ich laut, um einige der irrealen Mücken um uns zu verscheuchen.
      “Ich denke, der ganze Turnierkram ist nichts für mich. Aber so wirklich weiß ich nicht, wie es weitergehen soll”, antwortete sie nachdenklich, “Ich habe doch nie etwas anderes gemacht als das hier.” Sanft strich sie Walker bei den letzten Worten über den Hals, der kurz die Ohren zu ihr richte, bevor sie sich wieder in alle möglichen Richtungen drehten.
      “Es zwingt dich auch keiner eine Entscheidung zu treffen, aber wenn das Gestüt nun umgebaut wird, eröffnen sich vielleicht mehr Möglichkeiten für dich”, nickte ich zustimmend, vertraute darauf, sie ihrem Bauchgefühl folgen wird. Für sie und Ivy gab es noch viele Jahre, aber wenn ich ehrlich war, für mich nicht. Irgendetwas in meiner Magenregion drückte unsanft auf die Atmung, ja, die Zeit rannte.
      “Ja, mal sehen, was sich so ergibt”, entgegnet sie und ein sanftmütiges Lächeln huschte über ihre Lippen, “und du bleibst jetzt bei der Dressur oder testest du wohl möglich noch, ob Springen nicht auch was wäre, denn du scheinst ja schon ziemliche viele Sparten des Pferdesports getestet zu haben?”
      “Ziemlich viele”, wiederholte ich lachend. Dann verstummte ich schulterzuckend. Mein Blick schweifte von der See wieder zu Dusty, der weiterhin ruhig im Schritt vorwärtslief. Auch bei dem Hund hatte sich nichts geändert, noch immer trabte er nebenher, zwischendurch senkte sich der Kopf in den Sand. Seine Nase und einige der Haare an der Schnauze hatten den Dreck an sich genommen. Dann antwortete ich Lina weiter: “Viele waren das nicht, außerdem ist Abwechselung wichtig. Meine Tante besitzt einen Isländer, auf dem ich reiten gelernt habe, mit dem ich alles getan habe. Aber ich muss zugeben, der Reiz für Turniere bestand schon lange. Die Gangturniere sind jedoch nicht durch ihre Preisgelder oder Herausforderung bekannt, deswegen taste ich mich langsam an die höheren Dressurlektionen an und ja, das tue ich jetzt wohl. Ich lasse es mir nicht nehmen, weiter so viel wie möglich auszuprobieren.”
      “Ich finde es ziemlich cool, dass du so konkrete Ziele hast, so überzeugt wäre ich selbst auch mal gerne”, sprach Lina anerkennend,” Hast du mit Maxou eigentlich vor in Zukunft Turniere zu gehen?
      Über die Tatsache, dass meinem Leben ein konkretes Ziel sprach, konnte ich nur bestürzt lachen. Seufzend sortierte ich die Leinen in der Hand, die locker über Dusty hingen und dabei schon schaumige Schweißflecke verursachen, vielleicht hätte ich ihm eine Ausreitdecke darunterlegen sollen, überlegte ich mitfühlend.
      Die Küste ließen wir zunehmend hinter uns und kehrten wieder, nach einem Stück auf der Trainingsbahn, auf den Hauptweg in den Wald. Willkürlich knirschte und knarrte es aus dem Unterholz um uns. Aufmerksam untersuchte der Hund den Wald, rannte vor und wartete auf uns. Unruhig begann auch Dusty die Schritte zu verkürzen und schwingenden Kopf sich auf das Gebiss zu legen. Der Genosse neben uns blieb ruhig, obwohl Walker für gewöhnlich ein wildes Durcheinander verursachten. Wieder knackte es laut, doch dieses Mal sehr laut neben uns. Trymr bellte laut auf und ein Knurren erwiderte sich. Entschlossen hielt ich. Die Leinen behielt ich in der Hand, aber stieg vom Sulky, um das Dickicht überblicken zu können. Zwischen dem Moos und einem umgefallenen Baum lag ein verletzter Hund, eingeklemmt unter einem Stein. Vielleicht vier Monate alt, oder jünger, viel hatte er, oder sie, zumindest nicht auf den Rippen. Sein Fell nass und die Pfoten ebenso dreckig. Hilfesuchend starken mich zwei trübe braun-orange Augen, Trymr verstummte und ich hörte das Wimmern des Tieres.
      “L-Lina”, stammelte ich und versuchte mit meinem Blicken zu deuten, dass sie herkommen sollte. Fragend blickte sie mich an, glitt dennoch aus dem Sattel, nachdem sie keine weitere Erklärung bekam. Mit Walker im Schlepptau trat sie neben mich und folgte meinem Blick. Entsetzt weiteten sich ihre Augen, als sie das mitleidig aussehende Tier erblickt und das herzzerreißende Fiepen wurde lauter.
      “Oh, das arme Tierchen. Wir müssen ihm irgendwie helfen”, sprach sie und blickte mich an. Ach, man, das hätte ich gar nicht vermutet, sprach die böse Stimme in meinem Kopf. Kurz zischte ich mich selbst an und versuchte eine Lösung zu finden, was ich mit Dusty machen würde.
      “Ja, hier”, sagte ich und gab ihr die Decke von meinem Sitz im Tauschen gegen Walkers Zügel. Vorsichtig kämpfte sich Lina durch das Dickicht hindurch, bis sie schließlich bei dem Welpen angelangt war, dessen Laute immer lauter wurden.
      “Hallo kleiner Freund”, hörte ich sie ruhig und sanft zu dem Tier reden, während die sich langsam hinhockte und die Hand nach ihm ausstreckte. Eingeschüchtert schnupperte er daran, machte aber keinerlei Anstalten nach Lina zu schnappen.
      “Dann wollen wir mal sehen, wie wir dich hier herausbekommen”, drang ihre Stimme halblaut durch das Dickicht. Von meiner Position aus sah ich nicht genau, was sie tat, aber wenig später stand sie dort, das kleine, nasse Fellbündel, welches in die Decke eingewickelt war, auf dem Arm. Das Wimmer war verstummt, dafür sah ich selbst auf die kurze Distanz wie sehr der kleine Hund zitterte. Ob vor Kälte oder vor Angst, war nicht eindeutig, aber vermutlich war beides der Fall.
      “Am besten nehmen wir jetzt den kürzesten Weg zurück, der Kleine hier sollte ins Warme und hungrig ist er sicher auch”, sagte Lina, als sie wieder neben mir auf dem Weg stand. Trymr stand schwanzwedelnd vor ihr und beschnupperte neugierig das Bündel auf ihrem Arm, aus dem sich ihm eine im Vergleich recht kleine Schnauze entgegenstreckte. Verwirrt trat der Rüde zurück und versteckte sich zwischen meinen Beinen.
      > Dat här är ett barn.
      “Das ist ein Baby”, flüsterte ich ihm zu und strich ihm über den Kopf. Dusty hinter mir scharrte bereits mit dem Huf, aber ich konnte ihn nicht daran hindern.
      “Ich nehme ihn mit auf den Sitz, wird am einfachsten sein”, gab ich Lina ihre Zügel zurück. Dann setzte ich mich richtig hin, weich polsterte der Wagen mein Fliegengewicht ab. Das Knäuel legte sie mir auf den Schoß und durch den Schutz zwischen meinen Beinen, konnte er auch nicht verrutschen. Hell leuchteten mich wieder seine Augen an, die eindeutig ängstlich wirkten. An einem seiner dunklen Ohren fehlte ein Stück, das sich entzündet haben wird. Die Haut wirkte gerötet und leicht verkrustet, aber an sich sah es so aus, als wäre die Wunde schon älter. Zwischen all dem Dreck auf der Nase sah ich kleine schwarzen Flecken, die zur Musterung des Fells gehörten, denn bis hoch zu den Ohren war er weiß. Mittlerweile hatte ich nachgeschaut, welchem Geschlecht er angehörte. Fred, ich denke, dass könnte der richtige Name für ihn sein.
      Nach einem weiteren Stück im Trab kamen wir flott am Hof an. Langsam, aber sicher verabschiedete sich die Sonne am Horizont hinter den Bäumen und auf dem Parkplatz vermehrten sich wieder die Fahrzeuge, nur von Eriks war nichts zu sehen. Teils erleichtert, teils bestürzt, seufzte ich und stieg vor dem Stall aus dem Sitz. Während Fred den Luxus meiner Decke genoss, fror ich trotz des dicken Wintermantels.
      “Da seid ihr ja”, nickte und Tyrell zu, der Fried an ihrem Blumen Halfter führte.
      “Schau mal”, hielt ich ihm glücklich die Decke hin. Sofort sprang auch unser Chef auf das niedliche Tier an, ließ ihn direkt die Hand beschnuppern. Trymr neben mir, empfand die Situation weiterhin als unseriös und trabte an uns vorbei in den Stall, suchte sich vermutlich seine Decke, die immer wieder woanders im Gang lag. Nun kam auch Friedi interessiert mit dem Maul näher. Laut prustete die helle Stute aus, worauf sich Fred tiefer im Stoff verhüllte. Umgehend verlor das Pferd sein Interesse und Tyrell brachte sie weg. Die Hengste wurden erst aufmerksam, als sie einige Meter entfernt lief.
      Im Stall legte ich das Knäuel neben Trymr ab, der sofort die Flucht ergriff und offenbar nichts mit dem kleinen Wesen zu tun haben wollte. Dieses lag zittrig an Ort und Stelle, was mich zumindest beruhigt das Pferd abspannen ließ. Dabei half Lina mir wieder die Stangen zu entfernen.
      “Ich würde Dusty gern als Erstes ins Rotlicht stellen”, sagte ich beim Betrachten seines triefend nassen Fells. Sie nickte nur beiläufig und lief los, um eine Abschwitzdecke zu holen. Ich konnte mich gar nicht auf eine Sache konzentrieren. Dusty leckte immer wieder an dem Holz herum, während Walker versuchte seinen Kollegen zum Spielen aufzufordern. Trymr lief unruhig die Gasse auf und ab, während der Kleine nun doch versuchte aus seiner gebauten Höhle zu fliehen. Und dann war doch Maxou einige Meter entfernt, die unaufhörlich am Gitter herum biss und damit furchtbaren Lärm verursachte. Ach, nicht zu vernachlässigen war Jonina, die zusammen mit vier Reitschülern unseren Platz besetzte. All diese Geräusche lösten einen dröhnenden Kopfschmerz aus und als noch mein Handy in der Hose begann zu vibrieren, wollte ich hier weg. Weg von der Belastung, zurück in meine Hütte, die inzwischen nicht mehr mein war. Genervt hob ich ab.
      “Hallo?”, ächzte ich genervt in den Hörer, aber wurde umgehend freundlicher, als ich Eriks Stimme hörte. In der Brust wurde es wieder leichter und ich konnte tief durchatmen.
      “Freut mich, dass du dich bester Laune erfreust”, scherzte er.
      “Ist gerade viel los”, überblickte ich erneut die Situation und begleitete Dusty zum Solarium.
      “Hast du schon mit Lina gesprochen?”, fragte er direkt.
      “Nein, ergab sich bisher nicht. Wieso?”, stammelte ich unsicher. Ehrlich gesagt, hatte ich daran auch gar nicht mehr gedacht und versuchte den einfachsten Weg, außerdem erschien es mir noch immer unangemessen zu sein, sie danach zu fragen.
      “Okay, ich bin so in”, stoppte er, während mehrfach ein notdürftiges Piepen ertönte, “dreißig Minuten da. Also bis gleich.” Dann verstummte mein Telefon. Welch ein unnötiges Telefonat, stellte die böse Stimme in meinem Kopf fest, die wieder von mir angezischt wurde. Trymr setzte sich zu dem Hengst unter die roten Lampen und genoss ebenfalls die kleine Wellnesseinheit.
      “Was genau ist eigentlich dein Plan mit dem Kleinen? Ich meine, man kann ihn ja schlecht einfach behalten. Vielleicht wird er ja vermisst oder so etwas. Ein Welpe kommt sicher nicht von allein in den Wald”, wand sich Lina an mich, die den schneeweißen Hengst gerade in eine Decke hüllte. So weit wie sie wieder dachte, hatte ich die Situation noch gar nicht überdacht. Außerdem waren auch für mich die Grundlagen des Landes unbekannt.
      “Gute Frage, erst mal bleibt er, denke ich”, dann überlegte ich noch, wie ich es Erik erklären sollte, aber dass wir einem hilflosen Tier halfen, sollte ihn wohl kaum stören, “aber vielleicht kann mein Kerl das besser beurteilen. Schließlich habe ich erst gestern den anderen Pflegefall organisiert”, schielte ich zu Maxou hinüber, die die unbeteiligten Stangen wieder in Ruhe ließ.
      “Wenn das so weitergeht, kannst du bald ein Tierheim eröffnen”, witzelte Lina und schob Walker ein Leckerli zwischen die Lippen, der es sogleich genüsslich verschlang.
      “Du bist gemein”, rollte ich beiläufig mit den Augen, suchte nach einer passenden Ausrede, um dem Gerücht entgegenzuwirken, aber nein. Es gab keine.
      “Entschuldigung, sollte doch nur ein Scherz sein”, nuschelt sie bevor sie sich auf den Weg zu Futterkammer machte, um dem Hengst sein Abendbrot zu holen. Er starrte ihr aufmerksam nach und auch Dusty spitzte die Ohren, als hintergründig der Ton von dem Müsli auf Gummischüssel traf. Ich bremste ihn ab, bevor er einen Schritt nach vorn setzte. Als mir plötzlich ein wichtiger Gedanke durch den Kopf schoss, setzte ich an zum Sprechen, verstummte allerdings wieder, unter dem Vorbehalt, dass Lina noch immer beschäftigt war. Nachträglich setzte ich einen Fuß nach dem anderen, die mich zu Maxou an die Box trugen. Die Stute drehte sich langsam um, legte die Ohren leicht nach hinten und musterte das Wesen, das die Frechheit besaß, sie beim Fressen zu stören. Dennoch blieb sie stehen und starrte mich an. Ihre großen Augen glänzten im indirekten Licht der Boxen, die um diese Uhrzeit noch eingeschaltet waren. Der Schweif pendelte langsam unter der Stalldecke, die ich ihr noch umgelegt hatte vor dem Ausritt. Je länger ich das Pony betrachtete, umso mehr bekam ich das Gefühl, dass mein Bruder recht behalten würde, auch, wenn sich das grundlegende Interesse an ihr in Grenzen hielt. Im Hinterkopf blieb der Gedanke, dass ich wohl möglich nicht mit ihr klarkam bei der Arbeit oder auch keine vollwertige Verbindung aufgebaut werden würde.
      “Da bist du ja”, stürmte ich erleichtert zu Lina, die überrascht vor mir stand, schließlich war sie nur für einen Augenblick verschwunden. Für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.
      Mit etwas zwischen Irritation und Belustigung in ihrem Ausdruck blickte sie mich an: “Wieso so ungestüm, ich war nicht mal zwei Minuten weg?”
      “Nein, das waren viel mehr”, hielt ich mich fest an ihren Schultern fest, als würde einer von uns sonst umfallen. In ihrem Gesicht spiegelte sich unverändert ihre Verwirrtheit. “Denkst du”, zog ich die Vokale unnötig lang, “dass Erik bleiben kann?” Ehrlich gesagt, wollte ich das gar nicht von ihr, denn viel wichtiger war es mir, wie sehr es an Absurdität grenzte, dass an dem Tag so viel passiert war. Außerdem fühlte es sich seltsam an mit meinem Pony, ich hätte gedacht, dass man deutlich mehr Glücksgefühle verspürt. Stattdessen war da nichts.
      “Ähhm … mir fällt jetzt nicht an, was dagegenspricht, also ja”, überlegte sie laut, ”Und das war jetzt so wichtig, dass du mich überfallen musstest?” Das Geräusch von Eisen, welches über den Boden kratze, erklang aus der Richtung der beiden Hengste. Lina ging auf den hellen Hengst zu, der ungeduldig scharrte und wies ihn zur recht, bevor sie ihm die Gummischüssel vor die Füße stellte.
      “Sicher?”, hakte ich ordnungshalber nach und stand, wie bestellt und nicht abgeholt in der Gasse herum. Förmlich sichtbar setzte ein Denkprozess bei ihr ein, der allerdings nur von kurzer Dauer war. Verunsichert, setzte sie schließlich zu einer Antwort an: “Ja? Das war doch schließlich keine Anfrage für die nächsten 6 Monate, oder doch?”
      “Sechs Monate am Stück? Nein”, lachte ich und überlegte, wie viele Tage dazwischen als Pause galten, um den Timer zurückzusetzen.
      “Na, dann kann er erst einmal bleiben”, lächelte sie großmütig.
      “Danke”, lächelte ich fröhlich und warf einen Blick auf unseren Jungspund, der mit seinen langen Beinen auf der Decke stand. Langsam begann sein Schwanz zu wedeln, als Trymr sind von der Rotlichtlampe zu ihm bewegte. Kurz schnupperte er an dem Zwerg. Freundlich quietschte er, suchte an der Bauchleiste des Rüden nach Zitzen. Daraufhin tippte ich Lina an, die sich gerade nach der Schale gebückt hatte, um sie dem Hengst wieder hinzuschieben. Sie wand sie zu mir um und als ich mit einer Geste zu den beiden Hunden zeigte, folgte ihr Blick meinem Finger.
      “Sieht danach aus, als hätte unser Findelkind Hunger”, äußerte sie eine Vermutung, die recht logisch erschien.
      “Was braucht es?”, sah ich mich Hilfe suchend im Stall um, “Stutenmilch, oder eher Fleisch?”
      “Ich bin jetzt kein Experte auf dem Gebiet, aber er sieht bereits alt genug aus, als dass er Fleisch fressen könnte”, beantworte sie meine Frage nachdenklich.
      Wieder nickte ich, nahm das getrocknete Rennpferd aus dem Licht und brachte ihn schnellstmöglich in seine Box zurück. Darin legte ich ihm wieder die Stalldecke um und schnappte mir von der Decke den kleinen Racker. Auf meinem Arm legte er sich auf den Rücken und wedelte mit seinem Schwänzchen, als ich den Bauch kraulte. Trymr folgte uns mit Abstand, wollte aber nicht ohne mich im Stall bleiben. Dumpf knarrten die Holzstufen hinauf zur Tribüne, über die man zu den Räumen kam.
      In der Küche standen schon alle wichtigen Gegenstände, darunter auch einige Notfallhundedosen, die ich vor geraumer Zeit gekauft hatte. Aus dem Oberschrank nahm ich einen kleinen Teller und betrachtete die beiden Hunde, die mir verliebt um die Beine strichen. Der Augenblick wirkte so unrealistisch. Ich stand mit einem Welpen und einem Höllenhund in der Küche. Hunden, denen ich für gewöhnlich aus dem Weg ging, berührten mich sehr nah und hatten sich sogar verdoppelt seit August. Dasselbe Phänomen, das mir mit Pferden passierte. Kopfschüttelnd grinste ich und machte dem Tier eine kleine Portion. Aus dem Krankenhaus wusste ich, dass man nach einem langen Hungern am besten klein anfangen sollte, da wir keinerlei über Fred hatten, musste ich davon erst einmal ausgehen. Für Trymr machte ich auch eine Portion, damit er ihn nicht anfallen würde, wer weiß schon, was in dem Kopf des Ungetüms ablief. Er bekam zuerst und wartete friedlich, bis ich ihm erlaubte an den Napf zu gehen. Fred hingegen stürzte sich direkt auf seinen Teller und bindend weniger Sekunden, waren sie fertig. Vertieft in den Zwerg, bemerkte ich die Schritte hinter mir nicht. Dass etwas vor sich ging, verspürte ich erst, als Trymr nicht mehr in Reichweite war. Noch bevor ich mich verzweifelt umdrehen konnte, verspürte ich zwei sehr kalte Hände an meinem Hals. Ich überlegte, ob mein Herz noch schlug, denn meine Atmung stockte. Sanft drückten sich zwei Daumen gegen meine Kehle und unbewusst wurde mir klar, dass von der Person nichts Böses ausging, auch, wenn vermutlich sonst keiner wie ich dachte. Langsam bewegte ich mich aus meiner Hocke nach oben, vernahm die kleinen Pfoten des Tieres an meinem Schienbein durch den dicken Stoff der Reithose. Erst dann drehte ich mich zu meinem Verehrer um, offensichtlich ohne Kind zurückkam. Vertieft in seine leuchtenden Augen schlug mein Herz in hochfrequentierten Intervallen, die aus zweierlei herkamen.
      „Wo hast du dein Mini gelassen?“, fragte ich mit kratzigem Tönen.
      „Die ist bei Lina und dem hellen Pferd, das im Gang stand. Vermisst da etwa jemand Fredna?“, schmunzelte Erik über beide Ohren.
      „Nein, aber dann haben wir einen Augenblick für uns?“, tastete ich mich langsam meinen Händen an seinem Oberkörper entlang und verspürte wieder eine wohlige Wärme im Unterleib, die sich durch einen leichten Druck noch mehr verstärkte. Seine Kleidung hingegen war angenehm kühl, auch wenn er für meinen Geschmack noch zu viel davontrug.
      „Grundsätzlich hätte ich nichts dagegen einzuwenden“, flüsterte er in mein Ohr. Der Atem kitzelte an meinen Ohren, wodurch sich das Gefühl im Unterleib verstärkte.
      „Allerdings“, setzte er fort und unterbrach seinen Satz mit einem Kuss auf meine Wange, „du musst mir noch erklären, was du da angeschleppt hast Niedliches.“ Urplötzlich ließen seine Hände von mir ab und kniete sich zu dem Zwerg hinunter, der tapsig angerannt kam und dabei so stark mit dem Schwanz wedelte, dass der ganze Hintern wackelte. Erleichtert, dass er mir über das kleine Kerlchen keinen Vortrag hielt, atmete ich aus, verlor allerdings auch die Lust auf alles Weitere.
      „Wir haben ihn eingeklemmt im Wald gefunden“, erklärte ich, setzte mich dazu auf den gefliesten Fußboden, der mich mit der integrierten Fußbodenheizung wärmte.
      „Deswegen bist du so dreckig“, tuschelte er quietschend dem Tier zu, das vor Freude wohl gleich platzen würde.
      „Ja und Lina gesagt, dass du bleiben darfst“, versuchte ich wieder die Aufmerksamkeit zu bekommen, doch Erik sah mich nicht einmal an, handelte meine Aussage mit einem kurzen Nicken ab und sagte: „Weiß ich schon.“
      „Zwingt dich keiner, hierzubleiben“, zischte ich eingeschnappt und erhob mich, um den Raum zu verlassen. Er stand ebenfalls auf mit dem Hund auf dem Arm.
      „Du meinst das nicht ernst, dass du eifersüchtig auf einen Welpen bist“, sah er mich eindringlich an. Dabei lächelte ich aufgesetzt kurz auf und setzte meinen Weg fort. Hinter mir hörte ich noch seine Schritte, drehte mich jedoch nicht um. Nacheinander leuchteten die Lampen des Flures auf, bis ich mein Zimmer erreichte und deutlich zu laut die Tür hinter mir schloss. Seinen Mantel warf ich in die Ecke und ließ mich auf das Bett fallen, ohne die Schuhe ausgezogen zu haben. Im Raum war es bis auf das indirekte Licht in den Fußleisten dunkel und von dem riesigen Fernseher strahlte eine kleine rote Lampe an die Decke. In meinem Kopf zirkulierte es, als hätte ich ein Glas Wein zu viel getrunken. In meiner Brust schlug das Herz noch immer wie wild und als sich die Tür öffnete, ich eine männliche Silhouette erkannt, warf ich meine Handschuhe ich seine Richtung.
      „Geh weg, ich will allein sein“, jammerte ich weinerlich und hörte nur ein tieferes Lachen, als ich erwartet. Die Deckenbeleuchtung glimmte und sah, dass Tyrell den Raum betrat.
      „T-Tut mir leid“, stammelte ich beschämt und richtete ich aus dem Bett auf.
      „Schon wieder Stress im Paradies?“, scherzte er.
      Ich schüttelte den Kopf.
      „Na gut, wo ist denn Lina?“, fragte Tyrell ernster und schob sich einen der Stühle vom Tisch weg, um Platz zu nehmen.
      „Die kommt bestimmt gleich, Walker muss nur noch in die Box zurück“, erklärte ich wahrheitsgemäß, sofern meine Informationen noch aktuell waren.
      Während wir auf die warteten, fragte er mich über die Runde im Wald aus. Dass es auch schön war, wieder auf dem Sulky zu sitzen, vergaß ich nicht zu sagen. Als das Schweigen einsetzte, kam auch Lina dazu, mit Fredna an der Hand. Irritiert musste unser Chef das Kind, aber flott erklärte ich, dass es zu Erik gehörte. Er wirkte erleichtert, aber gleichermaßen noch irritiert.
      „Lina, setzt dich bitte“, sagte er zu ihr und zog den Stuhl neben sich zur Seite. Zögerlich trat sie zum Tisch. Stillschweigend und möglichst leise, legte sie ihre Jacke ab. Tyrell begann damit den Fernseher anzuschalten, um uns darauf die Entwürfe von dem neuen Gestüt zu zeigen. Überall musste gebaut werden und sogar ein Teil des Waldes für eine Ferienlandschaft gepfählt werden. Mit den Arbeiten sollte es beginnen. Bei den Isländern an der kleinen Reithalle wird ein riesiges Reitstadion erbaut mit einem noch größeren Reitplatz, als wir ohnehin schon haben. In Zukunft werden dort auch Fahrturniere stattfinden. Außerdem verblieb unser Stall für uns, während rundherum weitere Paddockanlagen und Boxen errichtet werden, sodass noch mehr Platz für Einsteller sei. Es besteht auch die Überlegung, dass die Trainingsbahn umgebaut wird zu einer vollwertigen Rennbahn, da es um das Gelände in Kalmar schlecht steht. Nervös kratzte ich an meinem Bein herum, solange bis es blutete. Ich spürte, wie meine Kehle trockener wurde und nur heiser fragte: “Wenn es um Kalmar schlecht steht, bedeutet das dann, dass der Verein umzieht?”
      Lina drehte sich zu mir um, dabei begannen ihre Augen so hell zu strahlen, dass ich kurz anzweifelte, dass ich recht behalten würde.
      “Richtig”, nickte Tyrell und vor Freude sprang sie vom Stuhl.
      “Das klingt wie Musik in meinen Ohren”, trällerte sie und ein Lächeln, so glückselig wie ich es den ganzen Tag noch nicht zu sehen bekam, erstrahlte auf ihrem Gesicht. Für sie war es vermutlich genau das, was sie hören wollte, um möglichst häufig Niklas zu treffen. Doch für mich stellte es das Gegenteil dar, besonders, wenn ich das morgendliche Gespräch im Kopf behielt.
      Tyrell erzählte weiter, davon, dass ein Bildungszentrum errichtet werden würde, dazu gehörte neben der Planung von verschiedenen Lehrgängen uns Seminaren, so etwas wie eine Privatschule, die allerdings nur am Wochenende und Ferien stattfinden soll, als eine Art intensiv Beschulung. Schon an den Plänen konnte man genau erkennen, welches Klientel damit angesprochen werden würde. Je mehr er uns präsentierte, umso weniger schien ich von der Sache überzeugt, nur die Tatsache, dass das nicht uns betreffe, erleichterte mich zutiefst. Hauptsächlich würden wir seine Pferde machen und die anderen Teile des neuen Gestüts wurden von anderen verwaltet. Außerdem stand die Planung ebenfalls nicht in seiner Hand, nur die Übergabe der Informationen an uns.
      Noch eine geschlagene Stunde verging, in der auch Erik mit dem Welpen wiederkehrte, bis alles uns genau gezeigt wurde. Meine Lider lagen schwer über meinen Augen und ich war vermutlich sogar mehrfach eingeschlafen, aber der kleine Zeiger rückte der Zehn auch immer näher. Lina grinste noch immer.
      “Ich finde, du könntest ein klein wenig mehr Begeisterung zeigen”, sprach sie munter, “Für dich hat es doch auch seine Vorteile, wenn du mit Lubi nicht mehr so viel durch die Gegend gurken musst.”
      “Ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, Nachteile”, seufzte ich entmutigt.

      © Mohikanerin // 99.351 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tretton | 21. März 2022

      Schneesturm // Northumbria // Lubumbashi // Maxou // Satz des Pythagoras // HMJ Holy // Girlie // Millennial LDS // WCH’ Golden Duskk // Moonwalker LDS // Friedensstifter // Form Follows Function LDS // Binomialsats
      Minnie Maus // Ready for Life // HMJ Divine


      Niklas
      Zittrig schwebte mein Finger über den Kontakt, während ich in meinem Auto saß mit Chris, der bereits allerhand Arbeit darin investierte, dass ich auf keinen Fall auf den Hörer klicken würde. Aber mein Schmerz, die Enttäuschung und alles Schlechte kochte in mir, viel mehr fühlte es sich an, als würde mein Gehirn tausende Stromschläge bekommen und es gab nur diese eine Bewegung, um den Schmerz zu entfliehen. Es half nichts, ich musste dieses Gefühl loswerden. Chris griff nach meiner Hand.
      > Är du säker?
      „Bist du dir sicher?“, sprach er sanft, wie auf Wolken spürten sich seine Worte in meinen Ohren an, als läge ihm alles daran.
      Ich nickte, womit ich die Freiheit bekam.
      Für eine gefühlte Ewigkeit tutete es, bis eine unfreundliche Abhob und umgehend fragte:
      > Har du pengar?
      „Haben Sie das Geld?“
      Natürlich bejahte ich die absurde Frage und konnte auch direkt losfahren. Chris und ich stiegen in den Transporter um, doch ehe ich mich auf den Fahrersitz setzen konnte, nahm er mir die Schlüssel ab und stieg selbst auf der Seite ein. Also öffnete ich die Beifahrertür und nahm neben ihm Platz. Teilnahmslos blickt Chris zur Straße, schweigend. Seine Meinung zu dem Thema kannte ich bereits, äußerst ausführlich sogar.
      Bino war Smoothies erstes Fohlen, eins, das Opa noch gezogen hatte und geboren wurde, als ich mich auf einem anderen Kontinent befand. Von Bildern kannte ich den kleinen Hitzkopf, doch real sah ich ihn nie. Umso aufgeregter war ich, als ihn auf der Starterliste im März fand, allerdings nicht vor Gesicht bekam. Weitere Auftritte wurden mir verwehrt und er geriet meinerseits in Vergessenheit. Wie vom Blitz getroffen, erhellte er einen Traum in der Nacht. Natürlich kannte ich meine Stute gut genug, um bereits das Gefühl verspürt zu haben, dass sie nicht trächtig sei, die Bestätigung durch den Tierarzt brachte die schlechte Nachricht. Bis zum letzten Augenblick schwebte ein kleiner Funken Hoffnung vor dem inneren Auge, versuchte mich im Glauben zu belassen, dass alles gut sei. Dem war nicht so. Smoothie bekam kein weiteres Fohlen, zumindest nicht im nächsten Jahr.
      > Varför måste du ta hästen ifrån henne så brådskande?
      „Warum musst du ihr das Pferd unbedingt wegnehmen?“, fragte Chris. Seiner Tonlage zu Folge stellte er die Frage zum wiederholten Male. Ich überlegte. Es gab viele Antworten dafür, nur keine, die Sinn ergeben würde. Plötzlich wurden meine Hände schwitzig und in dem Fleece Pullover setzte Hitze ein.
      > Jag kan göra det, så jag köper Bino.
      „Ich kann es, also kaufe ich Bino“, antworte ich mit trockener Kehle und zog den Pulli aus.
      Viele hundert Kilometer lagen vor uns, die im Schweigen gehüllt waren. Natürlich erlangten die Zweifel ihre Vormacht in meiner Gedankenwelt. Bisher war es nicht an die Öffentlichkeit geraten, dass meine Erfolgsstute durch Arthrose den Ring verließ, ebenso versuchte ich es so lang wie möglich hinauszuzögern, dass es mit uns beiden vorbei war. Ein Funken bestand noch immer, dass alle Ärzte sich geirrt hatten und Smoothie dasselbe Pferd war, das mich vom ersten Tag an, in seinen Bann gezogen hatte. Natürlich, Form war weder ein hässliches Pferd noch untalentiert. Die Rappstute zeigte sich bemüht und motiviert, an manchen Tagen als zu perfekt. Sie wollte gefallen, strampelte sich einen ab, ohne dabei Widerstand zu leisten. Ich mochte sie, so viel war gesagt, aber Form konnte meinen Ansprüchen von einem Partner nur schwer entsprechen. Man könnte sagen, dass sie mir zu nett war. Mir wurde es zum Teil, die Herausforderung zu suchen und daran jeden Tag zu knuspern, eine Lösung für das Problem zu finden. So sorgte Form dafür, dass es keins gab oder ich viel mehr eins erschaffen musste. Seit einigen Tagen war ich nicht auf dem Hof, hoffte darauf, dass mehr Rennpferd aus ihr herauskommen würde, wenn ich in zwei Tagen wieder zum Training erschien.
      Leider hatte ich auch Gedanken daran verschwendet, Form wieder zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurückzugeben, jemand, der Freude an dem eifrigen Tier hatte und es genoss, Lektionen ohne Widerstand abzurufen. Andererseits mochte sie mich, wieherte mir im Stall zu, wenn meine Stimme ertönte und konnte genauso aufgeregt tänzeln wie Smoothie. Ebenso gut zeigte die Stute ihr Talent auf Sand. Die Versammlungen saßen punktgenau, aber in der Verstärkung konnte sie hektisch werden anstelle der gewünschten Rahmenerweiterung. Doch, war es das, was ich mir wünschte? Nein. Der Rappe entpuppte sich schon nach einigen Tagen als sehr untalentiert mit Hindernissen, kam im Gelände schnell ins Rutschen, verweigerte und fühlte sich nicht wohl mit Stangen. Mehrfach versuchte ich ihr die Natursprünge und auch normalen auf dem Platz näherzubringen, aber anders als für die Rasse typisch, scheute sie, zuckte zurück. Die sonst so nervenstarke und mutige Stute verwandelte sich von einer auf die nächste Sekunde in ein schwarzes Biest, das nicht einmal ich kontrollieren konnte. Somit stand die Entscheidung, dass sich Form nicht als Eventingpferd eignen würde.
      Noch lange wägte ich ab, ob ich überhaupt die Zeit hätte für drei Pferde, wovon eins bestens auf dem Lindö Dalen versorgt war. Ich entschied, dass ich es versuchen sollte. So gern ich meinen Beruf als Polizist ausübte, umso wichtiger waren mir meine Tiere und im schlimmsten Szenario würde ich kündigen. Meine Angst wandelte sich zur Vorfreude den jungen Hengst endlich persönlich kennenzulernen, als auf dem kleinen Monitor nur noch ein einstellige Kilometerzahl angezeigt wurde. Chris hatte sich auch mit der Situation abgefunden, wusste, dass er mich ohnehin nicht von meinem Plan abbringen könnte. Kurz warf ich einen Blick auf mein Handy, überlegte, Lina Bescheid zu sagen. Aber ich zögerte. Wortlos verschwand ich, hatte ihr keinerlei Chance gegeben mich zu unterstützen. Ich schämte mich und steckte es wieder zurück in die Hosentasche.
      Im gemäßigten Tempo fuhren wir eine Allee aus jungen Bäumen entlang und die Lichter, die zuvor so fern am Horizont glühten, wurden immer einladender und begrüßten uns förmlich. Es war stockdüster geworden, aber der Hof leuchtete im warmen Licht. Wenige Autos standen auf dem Parkplatz, doch menschenleer war es nicht. Chris hielt.
      > Kommer du?
      „Kommst du mit?“, fragte ich sehnsüchtig, doch stur schüttelte er den Kopf. Mit einem tiefen durchatmen sprang ich vom Beifahrersitz auf den befestigten Gehweg, folgte der Beleuchtung und kam bei einem gepflegten Stallgebäude an. Freundlich blickten mich einige Pferdeköpfe an. Ungefähr in der Mitte stand eine Dame, mit der wohl telefoniert hatte. Ein braunes Pferd mit großen Abzeichen stand hinter ihr, wippte müde mit dem Kopf und die Augen fielen immer wieder langsam zu.
      > Vi ska göra det här kort och gott, eller vill ni sitta på den igen?
      „Wir machen das kurz und schmerzlos, oder wollen Sie sich noch einmal draufsetzen?“, sagte sie. Ihre Tonart verriet mir bereits, dass sie mich so schnell wie möglich wieder loswerden wollte, sogar der Hengst schien nur wenig motiviert für irgendwas zu sein. Er hatte seinen Hinterhuf aufgestellt und der Kopf hing fest in den beidseitig befestigten Stricken.
      > Nej, jag tar honom direkt.
      „Nein, ich nehme ihn direkt mit“, stammelte ich, eher untypisch. Doch auf eine gewisse Weise kam ich mir nicht nur fehl am Platz vor, sondern auch ziemlich kindisch. Sie nickte und löste die Haken dabei. Unsanft kippte Bino nach vorn, fing sich jedoch rechtzeitig auf. Die Ohren drehte er nach hinten. Am unteren Ring befestigte die Dame einen Strick und drückte ihn mir umgehend in die Hand. Sie wollte mich wirklich loswerden.
      Zusammen liefen wir zum Auto. Aus der Sattelkammer hatte sie seinen Sattel und Trense geholt, packte es im Transporter auf die Befestigung, ehe ich aus meiner Hosentasche die dreihundertsechzigtausend Kronen herauszog. Die bunten Scheine waren zerknüllt und teilweise angerissen, wie Geld nun einmal aussah, wenn es Tagein, Tagaus mit der Hose getragen wurde. Schockiert sah sie an mir hoch, aber packte das Bündel in ihre Jacke.
      Bino stand im Transporter und zupfte vergnügt an dem Heunetz, während wir im Inneren den Vertrag fertig machten und ich die Papiere überreicht bekomme. Der Impfstatus erscheint auf den ersten Blick vollständig. Kurz angebunden verabschiedete die Dame sich und verschwand im Dunkeln. Verwirrt blickte ihr nach, konnte nur schwer verstehen, welches Problem sie mit mir hatte.
      Endlich hatte ich Zeit mein, wohlgemerkt drittes, Pferd genauer anzusehen. Obwohl sein Blick nur zum Netz gerichtet war, bemerkte er mich. Die Ohren bewegten sich in meine Richtung und lang spielten sie im Sound des Streu unter den Schuhen. Leise knisterte es. Dazu ertönten in der Stille die kauenden Geräusche des Pferdes und seine Atmung. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich zurück in den Moment versetzt, in dem mit seiner Mutter zu dem Turnier fuhr, das zwar in der reinsten Katastrophe endete, aber solch positive Gefühlsausbrüche auslöste, die ich kaum in Worte zu verfassen wusste. Wir hatten nicht einmal den M-Parcours beendet, da endete für uns die Reise bereits mit der zweiten Verweigerung bei dem vorletzten Hindernis. Für mich war es keine große Sache. Smoothie kannte vorher Turniere nicht und hatte einen ihrer typischen Anfälle vom Vollblutanteil im Blut. Der Schweif stand dauerhaft in der Luft und sie kam aus dem Gucken nicht heraus, wobei die Menschenmassen auch für mich noch eine ziemliche Belastungsprobe darstellten.
      > Kan vi åka? Jag skulle vilja vara hemma före morgondagen.
      „Können wir los? Ich würde gern vor morgen Zuhause sein“, hetzte Chris. Sanft strich ich dem Hengst über den Hals und schloss die große Klappe, damit wir abfahren konnten. Wie bereits auf der Hinfahrt tauchte sich die Fahrerkabine in einen Schleier aus Schweigen. Mir war jedoch auch nicht danach ein Gespräch zu beginnen. Wir hatten beide einen langen Tag und noch eine kürzere Nacht zum Schlafen vor uns.
      Leise schloss ich die Eingangpforte auf, versuchte möglichst unauffällig in den Keller zu kommen. Es leuchtete kein Licht mehr von der großen Treppe im Eingang, aber stürmte Tova heulend zu mir. Bösartig rief mein Vater den Hund zurück, doch die Hündin interessierte sich kein Stück dafür. Stattdessen wurde das Getobe lauter. Mama stand auf, zog sie am Halsband zurück aber kam noch hinunter. Sie folgte mir bis ins Badzimmer. Müde lehnte sie neben dem Waschbecken, konnte sich nur müßig halten.
      „Warum bist du jetzt erst da?“, fragte sie liebevoll und rieb mit einer Hand sich den Schlaf aus den Augen.
      Erst zuckte ich mit den Schultern, aber sie blieb hartnäckig. Stellte die Frage erneut und immer wieder, bis ich begann zu erzählen von dem Ausflug mit Chris.
      „Ich habe ein Pferd gekauft“, erzählte ich beiläufig bei dem Umziehen. Meine Hose landete im Wäschehaufen, sowie die restliche Kleidung, die ich am Körper hatte. Nur noch bekleidet im Handtuch schaltete ich das Wasser der Dusche an, um der Wärme einen Vorlauf zu geben.
      „Könntest du bitte gehen, ich möchte nicht darüber reden“, wiederholte ich, nach der Mama mehrfach versuchte mehr über Bino zu erfahren. Tatsächlich wollte ich nicht über das Pferd reden, zu beschämt war ich darüber, dass Lina noch nichts wusste. Unter den Strahlen des Duschkopfes flossen einige Zweifel von mir, hinunter des Abflusses.
      Befreit fühlte ich mich nicht nach der langen Dusche, aber auf jeden Fall besser. Im Haus war es still geworden, umso deutlicher drangen die immer lauter werdenden Gedanken in den Vordergrund, vor mein inneres Auge. Unaufhörlich sah ich Linas Gesicht vor mir, die schmerzerfüllt zur mir hochblickte, den Tränen nah, aber nicht darüber sprach. Sie schien es für selbstverständlich zu halten, nicht über das negative Gefühl zu sprechen, das sie tief im Inneren versteckte und versuchte, bloß nicht mir zu zeigen. Oder gar ehrlich zu sein. Es gab keine Grenze, sosehr ich auch danach strebte, eine zu finden. Auf dem Nachttisch leuchtete der Bildschirm meines Handys auf, verglimm, ehe es sich mit einer Vibration erneut meldete. Genervt griff ich es.
      Zwei verschiedene Benachrichtigungen dominierten auf dem Sperrbildschirm: Lina hatte mir bereits vor einer Stunde eine Nachricht gesendet und vor wenigen Sekunden postete Vriska etwas in ihrer Instagram Story. In Millisekunden glühten die Nerven in meinem Gehirn auf, überdachten, welche es mehr Wert war, als Erstes angeschaut zu werden. Gewissenhaft antwortete ich meiner Freundin, entschuldigte mich sogar für mein Schweigen und erklärte, dass ich Zeit brauchte zum Nachdenken über meinen Schimmel. Beim Betrachten der Uhrzeit wusste ich auch, dass eine Antwort wohl erst in mehreren Stunden, beim Aufstehen, zu erwarten war. Doch, der Benachrichtigung zur Folge, war Vriska noch unter den Wachenden. Ich tippte auf die Meldung und das Handy wechselte zu Instagram. Ein kurzer Bumerang erschien. Vom Boden bewegte sich das Video nach rechts, zu ihrem neuen Pferd, dass sie über den Kies führte. In der Wegbeleuchtung tanzten kleine Schneeflocken und je öfter ich mir die sechs Sekunden ansah, umso besser sah ich, dass auch schon eine schmale Schicht den Boden bedeckte. Unerwartet kam noch ein Bild, ein ziemlich schräges Selfie, verwackelt und unscharf. Ihre langen, weißen Haare lagen durch den Wind in ihrem Gesicht und die dunkle Mütze hielt sie nicht an Ort und Stelle. Willkürlich entwickelte sich der Gedanken sie anzurufen, ihr mitzuteilen, dass ich sie vermisste und da sie es nicht verneinte … Sie mich auch? Ich sollte den Gedanken verschieben, direkt so weit weg, dass ich keinen Zugriff mehr darauf haben würde. Vorbeugend legte ich das Handy wieder weg, rollte mich über die riesige Matratze, aber es stand fest: Ich war nicht müde.
      Konnte es eine blöde Idee sein, eine enge Freundin mitten in der Nacht anzurufen, weil man nicht mehr klarkam? Jeder würde diese Frage verneinen, außer es ginge dabei um Vriska, dem Kampfdackel des Lindö Dalen Stuteri. Ich fackelte nicht lang, da drehte ich mich hinüber, machte einen langen Arm und hatte wieder mein mobiles Gerät in der Hand. Mit wenigen Klicks piepte es aus den Lautsprechern. In der Innenkamera betrachte ich die großen Augenringe, die tagtäglich größer wurden und versuchte mit einer Handbewegung meine Frisur zu richten. Dann überraschte mich Vriska im leichten Schneesturm ums Gesicht.
      “Warum zur Hölle rufst du mich”, stoppte sie und fummelte mit einem Finger vor der Kamera herum, “um drei Uhr fünfzehn an?” Ihre Stimme klang dafür ziemlich wach und aufmerksam, um selbst noch auf den Beinen zu sein. Leise klammerten die Steine unter den Hufen ihrer Stute, untermalt von dem tiefen Schaben ihrer Schuhe über den Kiesweg. Der Wind rauschte unruhig über den Lautsprecher, verschleierte dabei einige Töne aus dem Hintergrund, dennoch hörte ich andere Pferde über den gefrorenen Sandboden laufen.
      “Du postest doch fröhlich in deiner Story um die Zeit, also wieso nicht?”, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
      “Wenn du alles gesehen hättest, wüsstest du es”, rollte ihre Augen auffällig in die Kamera. Ich zuckte nur mit den Schultern. Dachte sie ernsthaft, dass sie so interessant sei? Unweigerlich erinnerte mich mein Körper daran, dass sie es war.
      “Gut, dann auch noch mal für die ganz Dummen”, sagte sie und wechselte zur Außenkamera. Ihre Ponystute lief matt neben ihr her. Die Ohren hingen beinah leblos zur Seite und der Hals war vollkommen verschwitzt. In dem kleinen Fenster sah ich mein Ebenbild, das unvorteilhaft nah an der Kamera hing und das Tier betrachtete.
      “Also, wie du siehst, es ist fast tot. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, habe die Aufnahmen geprüft und da stand Maxou in ihrer Box, trat sich unruhig gegen die Box und legte sich hin. Deswegen führe ich sie jetzt und warte auf den Tierarzt”, erklärte Vriska gewählt. In ihren glasigen Augen erkannt ich den Schreck, den sie erlebt haben musste.
      “Wann wird er da sein?”, versuchte ich neutral zu bleiben. Ich konnte mir kaum vorstellen, was ich tun würde, wenn Bino plötzlich an einer Kolik litt und die Nachtschicht dies nicht mitbekommt. Schwer lag mir ein undefiniertes Gefühl im Magen, drehte sich dabei wie ein Seil um meine Eingeweide, an dem jemand zog.
      “Zehn bis dreißig Minuten, ich weiß es nicht”, wurde der Ton zerrender und ihre Kamera setzt für einen Augenblick aus.
      “Soll ich vorbeikommen?”, sagte ich und stand gleichzeitig aus dem Bett auf, saß nun oberkörperfrei vor ihr. Sie begann automatisch zu grinsen, was ansteckend wirkte. Biss mir dabei auf die Unterlippe, um mir die schelmischen Worte in den Gedanken zu verklemmen.
      “Nein, ich schaffe das allein”, obwohl Vriska wirklich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, kullerte eine einzige über ihre Wange.
      “Wirklich? Ich würde direkt los und”, tief holte ich Luft, “und bei Missachtung der Geschwindigkeiten wäre ich in einer Viertelstunde da.”
      “Auf gar keinen Fall, für deinen Tod möchte ich nicht verantwortlich sein. Also deck dich wieder zu, leg das Handy beiseite und schlafe.”
      “Na gut, aber wenn er in zwanzig Minuten nicht da ist, rufst du an, okay?”, vergewisserte ich mich. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie sich dafür bedankt und auflegt. Stattdessen hielt die ihr Handy weiter in der Hand, mit der eingeschalteten Innenkamera und ihre Augen schielten im Wechsel vom Pferd und wieder zurück zu mir.
      “Danke dir, aber warum hast du angerufen?”, setzte Vriska lächelnd fort.
      “Was möchtest du denn hören?”, hoffte ich eigentlich nach der Bombe mit der Stute, das Gespräch sein zu lassen.
      “Die Wahrheit, das wäre der richtige Schritt in die richtige Richtung”, sprach sie. Sanft schnaubte das Pferd neben ihr ab, hustete und schnaubte erneut. Neugierig versuchte ich auf dem Bildschirm mehr zu sehen, ausnahmsweise war Vriska klug genug, meine Bewegung zu deuten und zeigte mir das Maxou. Die Ohren standen wieder am Genick und der Schweif pendelte. Sie hatte noch rechtzeitig reagiert, vermutlich würde der Tierarzt Entwarnung geben. Mindestens genauso interessant war der gefallene Schnee, der im kalten Licht ihres Handys blau leuchtete, fünf Zentimeter müssten mittlerweile liegen.
      “Ich wollte deine Stimme hören”, seufzte ich bestürzt. Direkt wechselte sie wieder die Ansicht, schaute mich verdutzt an und drückte sich fast das Handy gegen die Wange. Ernst blickten ihre Augen in die Kamera. Dann lachte sie.
      “Mach’ dich bitte nicht lächerlich”, sagte Vriska, aber grinste. Ob die Kälte oder Scham ihre Wangen rot färbte, fiel außerhalb meines Geltungsbereichs.
      “Das ist mein Ernst und”, dann holte ich erneut tief Luft, “außerdem, habe ich vermutlich einen riesigen Fehler gemacht.”
      “Einen Fehler? Man erzähle mir mehr”, kam sie aus dem Scherzen nicht mehr heraus.
      “Ich habe ein Pferd gekauft, aber nicht irgendeines, sondern Bino, das erste Fohlen von Smoothie”, dann dachte ich nach, wie ich es am elegantesten formulierte, dass ich ganz offensichtlich mich wie ein herzloser Idiot verhielt und einem jungen Mädchen ihr Turnierpferd abgekauft hatte, das nicht zur Abgabe stand.
      “Aber?”, hakte sie in der Stille nach.
      “Aber, das Pferd stand nicht zum Verkauf, deshalb -”
      “Deshalb hast du mit den Scheinchen gewedelt und urplötzlich stand das Pferd auf dem Hänger”, schüttelte Vriska den Kopf, nach dem sie mir glücklicherweise die Worte aus dem Mund stahl.
      “Im Transporter, aber ja”, korrigierte ich.
      “Ich vergaß, ihr reichen fahrt nur mit Transporter. Bestimmt wurdest du sogar gefahren, anstelle selbst die Arbeit in die Hand zu nehmen”, setzte Vriska ihre Hetze scherzhaft fort. Aber ich wusste wie sie es meinte und ich nichts zu befürchten hatte.
      “Allerdings traue ich mich nicht, es Lina zu sagen”, formulierte ich mit zittriger Stimme.
      “Dann sammele dich erst mal, oder spring über deinen Schatten, schließlich erschien sie mir heute wie der glücklichste Mensch auf dem Planeten.”
      “Ach ja, wie konnte das passieren?”, wunderte ich mich. Also wirklich, wovon sprach der Dackel? Kam Ivy heute, hatte ich es vergessen? Eigentlich nicht, zumindest müsste ich auch zugeben, dass ich den Gesprächen, das eine oder andere Mal aufmerksamer zuhören sollte. Ja, auch wenn ich optisch dem Ideal eines Traumprinzen erschien, kam ich allen anderen Posten dieser Behauptung nicht nach. Die Hintergründe dazu näher zu erläutern, waren nicht nötig, oder?
      “Du weißt es nicht?”, stoppte sie und erschien eine Antwort zu erwarten, die nicht von mir kam, also setzte sie fort, “Der Verein wird zu uns kommen, zumindest, wenn dann das Gebäude ausgebaut ist.”
      Mir steckte ein Kloß im Hals. Jeden Tag auf diesem Hof zu sein, erschien zumindest eine Erlösung zu sein, nicht mehr zwischen so vielen zu pendeln, bedeutete jedoch auch, stets unter Beobachtung zu stehen. Ich brauchte meinen Freiraum, der nicht nur dazu da war, um mir Appetit zu holen, viel mehr bedeutete es, meinen Gedanken freien Lauf lassen zu können. Lang und breit erzählte mir Vriska von den kommenden Veränderungen und eine Sache ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Würde ich bei den Weltreiterspielen mitreiten können?

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 20.949 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      Wintervorbereitung am Huf


      St. Pauli's Amnesia / Forbidden Fruit LDS / Friedensstifter / Moonwalker LDS

      Zwischen all dem Schnee der letzten Tage, kam es kaum eine Möglichkeiten die Höfe zu erreichen. Dieses Jahr traf es uns noch früher als erwartet, aber langsam kehrte Normalität ein. Zuerst machte ich einen Zwischenhalt in Kalmar, ehe ich zur Halbinsel fuhr. Amy, eine Rappscheckstute wartete dort bereits auf neuen Beschlag. Neugierig und interessiert, wie immer, streckte sie mir ihren Kopf entgegen, als ich die alten Hufeisen entfernte und das Horn feilte. Nachdem die Hufe wieder passend für den Beschlag waren, wühlte ich aus dem Wagen neuen Grip, da der alte bereits vollkommen zerfressen und brüchig war. Mit Stiften an der Vorderhand befestigte ich alles am Huf. Damit hatte die erste Kandidatin neue Schuhe und stieg fluchtartig wieder in mein Fahrzeug.
      Auf dem Lindö Dalen Stuteri lag es ruhig. Auf den Weiden tollten die Pferde herum und in der Stallgasse warteten bereits die nächsten drei Pferde. Die beiden Stuten bekam die Eisen ab und Walker sollte Aluminium mit Stiften bekommen. Mit einem Plan im Kopf legte ich los. Nacheinander entfernte ich den alten Beschlag, der besonders bei Fruity schon überfällig war, schnitt und raspelte das Horn, um schließlich nur den Hengst zu beschlagen. Die Stuten wurden zurück auf den Paddock gebracht und als die junge Dame wiederkehrte, war auch Walker fertig. Wir setzten uns noch ein paar Minuten auf einen Kaffee zusammen, bis ich an der Küste entlang zum nächsten Gestüt fuhr.

      © Mohikanerin // 22. März 2022 // 1437 Zeichen
    • Wolfszeit
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      Tierarztbericht | 17. März 2022


      Heut war ich mal wieder zu Besuch auf dem Lindö Dalen Stuterie. Einer der Hengst, Moonwalker LDS, sollte einen Gesundheitscheck bekommen, bevor es für ihn auf die Zuchtschau ging. Lina erwartete mich bereit mit dem hellen Pferd, der fast so aussah wie eine größere und feingliedriger Version ihres eigenen Hengstes. Ob es an einer Sympathie für solche Fellfarben lag, dass die junge Dame den Hengst betreute? Als hätte er mich nicht wahrgenommen erschrak das Tier und starrte mich mit weit aufgerissenen blauen Auge an, als ich mich den beiden näherte.
      “Tschuldigung, er ist ein wenig seltsam. Er erschrickt manchmal sogar vor den eigenen Schatten”, amüsierte sich die junge Frau und beruhigte den hochbeinigen Hengst. Bei der Untersuchung nahm ich mir Zeit und ließ Walker die Instrumente erst in Augenschein nehmen. Der Herzschlag war kräftig, die Augen klar und die Lunge frei von Schleim oder sonstigen Verunreinigung, die Geräusche verursachen könnten. Währenddessen erzählte Lina von den neusten Geschehnissen auf dem Hof. Zum Abschluss sah ich mir noch das Bewegungsbild des Hengstes an, konnte aber auch hier keine Auffälligkeiten entdecken.
      “Der Hengst sieht gut aus”, teilte ich der Brünett das Ergebnis mit, “dann wünsche ich viel Erfolg bei der Zuchtschau.” Zeit für eine längere Unterhaltung blieb heute leider nicht, da bereits die nächsten Kunden warteten. Somit packte ich alles wieder zusammen und machte mich wieder auf den Weg.

      © Wolfszeit // Dr. Linqvist // 1597 Zeichen
      Mohikanerin gefällt das.
    • Mohikanerin
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      kapitel femton | 17. April 2022

      Moonwalker LDS / Glymur / Maxou / Alfred’s Nobelpreis / HMJ Divine / Legolas / Middle Ages / Kölski vom Atomic / Satz des Pythagoras / Lubumbashi

      Vriska
      Fest umschlossen lag ich in Eriks Armen, der noch im Land der Träume verweilte. Wie alle anderen im Raum auch. Es war eine kurze Nacht, stellte ich nach einem Blick auf mein Handy fest. Vier Stunden hatte ich geschlafen, bis mich plötzlich das starke Schlagen meines Herzens hochschrecken ließ und noch immer, wie eine Herde junger Pferde durch den Wüstensand trommelte. Erst durch konzentriertes Atmen konnte ich meinen Puls wieder normalisieren. Sonst bekam keiner davon mit. Lina lag ebenfalls in den Armen ihres Freundes und an den Beinen hatte sich der Welpe abgelegt. Als er mich erblickte, wedelte der Schwanz, doch eher verblieb auf der Decke. Ich drehte mich so vorsichtig wie möglich um. Erik bemerkte mich und öffnete schwerfällig die Augen.
      “Wie spät ist es”, murmelte er mit angeschlagener Stimme.
      “Kurz vor sieben”, erklärte ich. Erik seufzte und legte seine Hand fester um meinen Oberkörper. Mich überkam die gewohnte Welle an Gefühlen, die wie ein Erdbeben meine Muskeln zucken ließ. Anstatt sich zur anderen Seite zu drehen, wie er es sonst tat, wenn ich ihn weckte, griff er mich an meiner Hüfte und holte mich auf sich heraus. Die Decke rutschte herunter. Nur durch das Milchglas der Tür schimmerte ein seichtes Licht in den Raum, ausreichend, um die kleinen Fassetten seines Oberkörpers zu mustern. Langsam bewegten sich meine Hände über seine Brust, entlang der leichten Muskulatur seines Bauches, der von kleinen Narben und einer großen geprägt war. Ich erinnerte mich nicht daran, dass er ohne Shirt sich schlafen gelegt hatte. Zu sehr schämte er sich für seinen Körper, auch mir gegenüber. Doch bei der sanften Berührung auf seiner Haut verspürte ich den warmen und angenehmen Druck zwischen meinen Beinen. Einmal schluckte ich, bis er mich an den Schultern näher an sich herunterdrückte. Leidenschaftlich trafen unsere Lippen aufeinander. Die Enthaltsamkeit hatte nicht nur bei mir einiges aufgestaut. Ebenso bereit schien Erik zu sein, fuhr langsam mit seinen Händen unter meinen Pullover – Ja, ich schlafe darin auch. Sie waren kalt, wodurch meine Haut seine unangenehme Gänsehaut bildet und sich bei mir alles noch stärker zusammenzog. Immer fester drückte er seine Finger in die Haut, bis er von mir abließ und an dem Bund meiner Unterbekleidung spielte. Seine andere bewegte sich zu seiner eigenen, drückte den Stoff nach unten. Ich atmete tief durch, schwer zu glauben, dass er es hier und jetzt wirklich forderte. Es brauchte nur eine Bewegung, dann könnte ich spüren, was mich seit Monaten antrieb, aber etwas in mir, hinderte mich. Ungeschickt strich ich mit den Fingerspitzen seinen Bauch, immer wieder über seine Narbe, dabei zuckte er.
      “Engelchen, was ist los?”, flüsterte Erik mit zitternder Stimme, nachdem ich mich gesträubt hatte, in inniger zu berühren.
      “Ich habe Angst”, schluchzte ich und wich dem kläglichen Blickkontakt auf, um nicht noch näher den Tränen zu sein.
      “Das ist okay”, umschloss er mich mit seinen Armen und erhob sich. Ich spürte sein rasendes Herz an dem Stoff meines Oberteils. Eng drückte ich mich an seinen Hals, hätte noch viel länger halten können, wusste aber, dass er am Mittag zurück zum Haus fahren wollte. Umso glasiger wurden meine Augen bei dem Gedanken. Seine Hand wanderte vom Oberschenkel weiter nach innen, streichelte mich sanft, bis ich entschloss, ihm eine Freude zu machen. Mit allen meinen Mut glitt meine Hand wieder an seinem Oberkörper entlang und umfasste ihn fest.
      Einige Minuten später schlich ich mich aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Erik. Zusammen standen wir in der Küche, ohne die Finger von dem anderen lassen zu können. Auch wenn ich mir gerade einen Kaffee zubereitete, wollte ich mehr von ihm. Die kurzen innigen Minuten gaben ihm eine körperliche Erleichterung, aber mir fehlte es an allem. Während der Kaffee durch den Filter lief, stand ich am Fenster und betrachtete die weiße Decke, die über die Nacht noch dichter wurde. Ich konnte nur schemenhaft durch die beiden Fenster erkennen, wie sehr unser Gelände davon eingenommen war, aber bemerkte, dass Folke mit Walker durch den Schnee fuhr, am Wagen Kufen befestigt anstelle von Rädern. Es sah nach Spaß aus, den ich mit Glymur gernhätte, aber mein Pony statt nicht mehr zur Verfügung. Jonina hatte in den letzten Tagen zu großem Vergnügen entwickelt, mir das Tier zu entziehen und mir fehlte es an der Energie, ernsthaft etwas dagegen zu unternehmen.
      Erik reichte mir den Kaffee. Eine Hand umfasste meinen Bauch, während sein Kopf sich auf meiner Schulter befand. Die Wärme des Getränks und seines Körpers gab mir die nötige Kraft in den Tag zu starten. Ich schloss die Augen, versuchte mir den Moment abzuspeichern und für immer in meinem Herzen zu halten. Leise flüsterte er in mein Ohr: “Ich muss dir etwas sagen”, dann schluckte er. Langsam drehte ich mich auf der Stelle um, sah direkt hoch zu seinem Gesicht. Auf seinen Lippen lag ein herzliches Lächeln, auch wenn seine Lippen nervös zuckten.
      “Sollte ich mir Sorgen machen?”, stammelte ich.
      “Nein, mein Engel”, holte er noch einmal tief Luft. Seine Stirn berührte meine, während seine Hände noch immer an meinem Rücken lagen. Ich versuchte zur gleichen Zeit die angespannten Finger an der Kaffeetasse zu beruhigen, um ihm die heiße Flüssigkeit nicht über den Körper zu schütten.
      “Es war gestern sehr unangenehm, als du das Gespräch angefangen hast”, seufzte Erik, “aber ich möchte, dass du weißt, dass ich weiterhin dahinterstehe. Ich möchte dich nicht beschränken. Du sollst den Raum haben, den du dir nehmen möchtest, auch wenn es für mich Schmerz bedeutet. Umso wichtiger sind mir die gemeinsamen Momente.”
      “Ich brauche den Raum nicht, aber es interessiert mich. Deswegen wäre es kein Problem –”, sein Finger bewegte sich auf meinen Mund, wodurch ich stoppte. Sanft schob er ihn in mein Mund. Ich schloss die Augen, erinnerte mich zurück an unsere Innigkeit. Wie nah ich mich zu ihm fühlte. Immer mehr viel die Spannung ab, der böse Gedanke, dass er nach seiner Abfahrt nie wieder kommen könnte, unerreichbar war und verloren.
      Die Bewegung seines Daumens wurde schneller und intensiver, so sehr, dass ich zwischendrin laut aufatmete und einen Verlust zur Realität erlitt. Mit seinem Mund liebkoste er meinen Hals, aber ich musste den Kaffee halten, eine ziemliche Herausforderung. Im Unterleib kam das Ziehen wieder, die glühende Leidenschaft in meiner Muskulatur. Mein Körper verlangte nach tieferen und festeren Bewegungen. Dann stoppte Erik, bevor meine Geräuschkulisse lauter wurde. Der Brustkorb bebte, die jungen Pferde kehrten zurück. Leidenschaftlich blickte er mich an, als ich Augen wieder geöffnete hatte. Seinem zufriedenen Gesichtsausdruck zu folgen, beobachtete er mich schon die ganze Zeit.
      “Du willst es so sehr, dass meine Hand an deinem Kopf ausreicht, aber sobald wir uns näherkommen, machst du einen Rückzieher. Was ist los?”, versuchte er eine Antwort zu bekommen auf eine Frage, die mich schon öfter stellte.
      “Es macht mir Angst”, sagte ich und wich seinem Augenkontakt aus, den er mit einer sanften Bewegung an meinem Hals wiederherstellte. Mist, er mich wirklich so sehr unter Kontrolle, wie er es behauptete.
      “Das sagtest du bereits, aber woher kommt die Angst”, blieb Erik hartnäckig. Ich schob meine Unterlippe zwischen den Zähnen entlang und holte tief Luft. Dabei schielten meine Augen zur Tür, die noch weiter offenstand. In den Ohren lag, bis auf das leise Dröhnen der Heizung und Eriks Atmung, kein einziges Geräusch. Nicht einmal die Hunde liefen durch das Gebäude. Stattdessen wirkte es beinah so, als hätte die Schneedecke alles unter sich verschluckt.
      “Es ist die Vorstellung, was passieren könnte und wie unweigerlich es mit uns endet. Ich möchte das nicht mit dir erleben, aber scheine es zu provozieren”, schluchzte ich. Es war einer meiner klareren Tage, in denen meine Gedanken sortierter daherkamen. Diese Sicherheit überspielte ich meistens, um schwächer zu sein.
      “Du denkst zu viel. Ich. Bin. Da. Und ich werde auch noch sehr lange da sein, also entspann dich. So schnell wird man mich nicht los, wenn sich so viel Mühe gibt, wie du es zeigst”, fuhr er erneut mit seinem Daumen über meine Lippen. Fest drückte er zu, dass mein Atem wie hypnotisiert erneut aussetzte.
      “Musst du wirklich heute schon zurück?”, funkelte ich ihn an. Seine Wange zuckte langsam, als versuchte er zu lächeln, aber die Erwartung blieb. Anstelle mir eine Antwort zu geben, setzte er die Verführung fort. Die Magie seines Körpers – seiner Überzeugungskraft setzte meinen Verstand außer Kraft, dass ich ihm nur folgen konnte. Sanft befreite Erik die Kaffeetasse aus meinen Fängen, während die Augen sehnsüchtig am schwarzen Keramik hingen und meine Hände weiter die Position hielten. Erneut setzte er die Lippen an meinen Hals, ohne dabei die Finger wegzunehmen. Stattdessen drückte er energischer zu. Diesmal lag es nicht an mir, dass die Luft wegblieb. Ich flehte, konnten wir die Zweisamkeit nicht in der Gemeinschaftsküche fortsetzen. Aber es war ihm egal. Seine Hand ließ locker und ich kam erneut zu Sauerstoff. Es hatte nur eine kurze Dauer, bis er mir bewies der stärkere zu sein.
      Erik führte seine Hand sanft unter meinem Pullover entlang, drückte mich währenddessen stärker ans Fenster, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab. Ich fühlte mich gefangen, aber nicht wie ein Tier im Zirkus, sondern viel mehr konfrontiert mit meiner Angst, den einzigen Weg, sie zu besiegen. Die Augen blieben geschlossen und ich übergab ihm die Macht zu tun, was er wollte.
      “Und jetzt sein ein nettes Mädchen”, flüsterte er in mein Ohr, öffnete die Hose und drückte mich nach unten. Meine Hände behielt fest im Griff, sodass es kaum Raum für mich gab. Leicht tränten meine Augen vor Schmerz und Anstrengung, aber ehrlich gesagt: Ich kannte das Gefühl schon. Derartige Momente fühlte ich in der Vergangenheit öfter, auch, wenn noch möglich, war, sie an zwei Händen abzuzählen. Was er im Bett noch zurückhielt, traf mich umso intensiver. Sein Körper war zum Zerbersten angespannten. Der süße Schmerz lockte mich. Es fühlte sich nach Zweisamkeit an, dem, was uns beide verband und motivierte.
      Aus der Ferne ertönten Schritte, die nur zaghaft lauter wurden. Erik hörte nicht auf, drückte sein Becken noch tiefer an mich heran. Um es für mich leichter zu machen, legte ich den Kopf noch weiter ins Genick. Kurz bevor die Schritte nur noch wenige entfernt lagen, kam es zum Höhepunkt. Er nahm mich von sich weg, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schloss die Hose. Meine Beine waren weich, so zittrig, dass ich auf dem Boden verblieb.
      Harlen trat herein. In seinen Augen entfachte sich umgehend ein Feuer aus Hass, dass er in Richtung meines Freundes richtete. Erik hingegen hob die Hände, wollte ihm vermitteln, dass alles gut sei, mein Bruder glaubte ihm nicht. Energisch kam er auf ihn zu, dass Erik mit seinen Rücken gegen den Kühlschrank knallte. Das Gesicht verzog sich schmerzerfüllt.
      “Lass ihn in Ruhe”, schrie ich aufgebracht und versuchte aufstehen, was mir meine Beine weiterhin verwehrten. Schließlich drehte Harlen zu mir um und reichte mir die Hand.
      “Es ist immer noch eine Gemeinschaftsküche, also merkt euch das fürs nächste Mal”, fauchte er, um sich ebenfalls eine Tasse Kaffee zu nehmen und aus dem Raum zu verschwinden. Wie ein kleines Kind trampelte er über den Teppich im Flur, als solle jeder aufwachen.
      “Du bist in Ordnung?”, hackte auch Erik nach. Vor Scham und Freunde begann ich lachen und schmiss mich um seinen Hals. Fürsorglich zog er mich an sich heran. Wieder hielten wir einander im Arm, als wäre es einen Abschied, aber ich war mir dem bewusst – es gab keinen Abschied.
      “Aber ich muss jetzt auch fragen”, blickte ich hoch zu ihm und setzte mich auf den Tisch. Damit waren wir beinah auf Augenhöhe, angenehm.
      “Ach ja? Da bin ich gespannt”, seine Finger strichen über den Stoff meiner Jogginghose. Doch anstatt weiter in seine Augen zu sehen, musterte ich erneut seinen Oberkörper. Ich begriff erst im Moment der Ruhe, dass er sich nicht bekleidet hatte. Erik war ein Rätsel, eins, dass ich auch bald lösen würde. Vielleicht würde ich dafür tief den Tunnel der Dunkelheit betreten, einen Weg der selbst Aufopferung. Ich hatte schmerzlich lernen müssen, dass es immer ein Licht gab, auch am dunkelsten Ort der Welt.
      “Das war das zweite Mal, wie oft noch, bist du Ruhe gibst?”, verschmitzt grinste ich ihn an. Er verschränkte die Arme und lehnte sich ein Stück nach hinten. Im Licht der warmen Deckenlampe funkelte er noch mehr vor Freude und sein Körper war so schön, dass sich die Begierde zur dritten Runde erhellte. Aber nein, ich musste mich in Zurückhaltung lernen.
      „Wir werden wohl herausfinden müssen“, lehnte er sich plötzlich nach vorn und stützte neben mir die Arme auf der Tischplatte ab. Nur wenige Millimeter trennten uns voneinander. Auf meinem Gesicht spürte ich den warmen Atem aus seiner Nase. Flüchtig gab ich ihm einen Kuss auf den Mund, ehe ich mich geschickt aus seiner Nähe heraus wendete und neben ihm stand.
      „Zieh dir was an, die Hunde wollen raus“, lachte ich und lief vor uns Zimmer.
      “Du bist ein Spielverderber”, quengelte nun er.
      Stolz auf meine Zurückhaltung, öffnete ich langsam und so leise wie möglich die Tür, hoffte, nicht die gleiche Erfahrung machenzumüssen, wie mein Bruder, der vermutlich noch die nächsten Tage meinen Freund hassen würde. Ich hingegen fühlte mich so glücklich wie lang nicht mehr. Aus meinem Regal nahm ich frische Kleidung und eine andere Reithose, während Erik aus seinem kleinen Koffer ein anderes Hemd nahm. Zusammen verschwanden wir im Badezimmer.
      “Komm Trymr”, sagte ich zu dem felligen Riesen, der schwanzwedelnd in der Küche lag. Sofort sprang er auf und schmiegte seinen Kopf an meinem Bein. Erik hatte dem Welpen ein Geschirr gekauft, das etwas zu groß an seinem Körper herumrutschte. Das nächste Problem hatte der Kleine mit der Leine, biss vergnügt daran herum und wollte nicht so recht die Grenzen einhalten, die ihm damit geboten wurden.
      “Wollen wir noch Maxou mitnehmen?”, schlug ich vor, beim Herunterlaufen der Treppen.
      Erik nickte und ich rannte vor zur Box. Das Pony schreckte zusammen, aber als sie sich zu mir umdrehte, wackelten die Ohren interessiert. Einmal rief ich sie. Tatsächlich drehte sie sich um und kam die wenigen trennenden Schritte auf mich zu. Ihre Oberlippe fummelte interessiert an meiner Hand herum.
      “Sie wohl so aus, als mag sie dich auch”, scherzte Erik hinter mir.
      “Ich füttere sie auch. Wäre blöd, wenn man den Futtergeber verachtet”, scherzte ich und nahm das Halfter zur Hand. Vorsichtig legte ich das Halfter um, doch sie schreckte wieder zurück und schlug nervös mit dem Schweif um sich. Das war gestern noch nicht. Vorsichtig legte ich es wieder zur Seite und bewegte meine Hand auf ihrem Kopf entlang. Sie senkte den Kopf, aber je näher ich zu ihrem Hals kam, umso stärker bewegten sich die Ohren. Zwischen der wüsten Mähne bemerkte ich eine kleine Beule. Sofort riss ich meinen Haargummi aus dem Haar und versuchte den Flausch in den Griff zu bekommen. Das Pony wehrte sich, als gäbe kein Entringen. Zusammen beruhigten wir das Tier, zeigten ihr die Sicherheit, die brauchte, um uns ihr zu nähren. Schließlich konnte ich die Mähne am Genick mit dem Haargummi hochstellen. Ich hatte das schon einmal in den Lehrbüchern gesehen, wenn auch deutlich stärker ausgeprägt. Es war eine Genickbeule im Anfangsstadium.
      “Was machen wir jetzt?”, fragte Erik und stützte sich auf der Boxentür ab.
      “Grundsätzlich habe ich noch einen Genickschutz im Schrank und ein sehr weiches Halfter, aber ich weiß nicht, ob ihr das so viel Erleichterung gibt”, überlegte ich laut.
      “Aber sie kann nicht dauerhaft hier im Gatter herumlaufen”, merkte er berichtigt an.
      “Paddockbox”, korrigierte ich.
      “Wie bitte?” – “Das Gatter nennt sich Paddockbox, aber ich gebe dir recht. Wir versuchen es.”
      Entschlossen lief ich zurück, an der Treppe vorbei und kam in den langen Flur an, der alle Sattelkammern miteinander verband. Durch das erste Glas lief ich hinein. Mein Handy bekam seinen Platz im Schrank zurück und ich suchte nach dem Genickschutz, den sonst für Glymur verwendete, um vor den Turnieren nutze, um die Mähne zu schützen. Zwischen den Gamaschen und eine Schabracke lag die kleine durchsichtige Tasche mit dem Schutz. Ich schnappte ihn mir und vom Haken ergriff ich das Lammfell-Halfter. Schnellen Schritten kehrte ich zurück.
      Maxou musterte alles sehr genau, zeigte sich erst skeptisch. Vorsichtig zeigte ich, dass von beiden Gegenständen keine Gefahr ausging. Sie gehorchte und ich konnte sie herausführen. Ihr Blick änderte sich. Das Pony schien wie ich wieder den Willen zu etwas gefunden zu haben. Sie schnaubte ab, beschnupperte die anderen Tiere, die aber nur ein kurzes Interesse auslösten.
      Vor dem Stallgebäude war es still. Die Schneedecke verschluckte alle Geräusche. Von den bewegenden Baumkronen rieselte der Schnee herunter, während der leichte Wind die lockere Schicht durch die Luft wirbelte. Es war nicht kalt, viel mehr fühlte es sich an, dass die Winterjacke mich zu sehr wärmte. Vom Hals öffnete ich langsam den Reißverschluss. Maxous Ohren bewegten sich wieder hektisch, bei dem Geräusch des aufeinander reibenden Plastik.
      Wohin mein Auge blickte, lag Schnee. Unter der Last hingen die Zweige der Tannen erschöpft nach unten, so weit, dass sie das frische Weiß berührten. Der Himmel über uns erstrahlte in einem kräftigen Blau, nur kleine helle Wölkchen erfrischten den Anblick. Durch die Sonne glitzerten die Schneekristalle und vor uns lag so viel, was man neu entdecken konnte. Es war mein zweiter Winter in Schweden, aber ein ganz anderer als zuvor. Eigentlich kannte jedes Details dieser Landschaft.
      Ich hatte mich weiterentwickelt, lief zusammen mit meinem Pferd und meinem Freund durch den hohen Schnee und genoss die neue Freiheit, oder das Gefühl davon. Man berief mich ins Nationalteam, wenn auch nur auf die Ersatzbank, ohne, dass ich wirkliche Erfolge nachweisen konnte. Meine Verbindung zum Tier sprach für sich, sagten damals die Trainer, als wir aufgereiht in der Mitte der mickrigen Reithalle standen. Ich hatte so viel, sollte mich glücklich schätzen, aber zweifelte an mir. Dadurch zog ich mehr Leute ins Verderben. Wieso konnte ich mich nicht zufriedengeben?
      “Du verlierst dich wieder”, ergriff Erik meine Hand und zog mich sanft an sich heran.
      “Woher weißt du was?”, wunderte ich mich. Maxou hielt neben uns an und schnaubte ab, ehe sie ihren Kopf wieder in den Schnee steckte. Laut atmete das Tier aus.
      “Wenn du schlechte Gedanken bekommst, beißt du auf deiner Wange herum und pulsierst mit deiner Hand”, erklärte er und drückte seine noch fester in meine. Ich dachte nach, bemerkte dabei, dass ich die genannten Verhaltensmuster wirklich zeigte. Offenbar eine schlechte Angewohnheit, die für die Narben auf der Innenseite meiner Wangen zeigte.
      “Und, was weißt du noch?”, erkundigte ich mich. Wir setzten den Weg durch die Endlosigkeit fort. Leise knirschte es unter unseren Schuhen, unter den Hufen der Stute und den Pfoten der Hunde. Als hätte es nie die Zweifel des Großen gegeben, tollte er mit dem Welpen durch die Berge des Schnees im Unterholz. Nur durch seine schwarzen Ohren zu sehen, hüpfte der Zwerg durch die Oberfläche, um im nächsten Moment, wieder darin zu versinken.
      “Dein linkes Augenlid zuckt, wenn du erregt bist und du beginnst, mit deinen Mundwinkeln zu zucken, wenn du glücklich bist. So wie jetzt”, erklärte Erik und legte seinen Finger unter mein Kinn, damit ich ihn wieder ansah. Ich spürte, dass sich Wärme in meinen Wangen ausbreitete und eine Spur aus roter Farbe hinterließ.
      “Wie geht es eigentlich bei dir weiter, wenn du nun nicht mehr im Außendienst bist?”, fragte ich, als die Färbung nachließ.
      „Zunächst konzentriere ich mich auf das Studium und hoffe, dass danach über die Suspendierung erneut besprochen wird“, aus seiner Stimme hörte ich Zweifel heraus, als gäbe es kein Zurück mehr für ihn. Es tat mir schon leid, dass er derartig von seinem Vater benutzt wurde, aber konnte es nachempfinden.
      „Die sollten dankbarer sein für ein Geschenk wie dich“, drückte ich intensiver meine Hand zusammen. Über seine Lippen huschte ein unsicheres Lächeln, das nach einem Wimpernschlag wieder verschwand.
      „Trotzdem habe ich gegen das Gesetz gehandelt und kann froh sein, dass es nicht zu einer Verhandlung kam oder Ähnliches. Sonst müsstest du mich jetzt im Gefängnis besuchen”, tauchte Grinsen wieder auf.
      “Und du denkst wirklich, dass ich das getan hätte?”, hakte ich pikiert nach. Herzlich begannen wir zu lachen, bevor die Stille wieder die Macht an sich riss. Zusammen entdeckten wir die Welt. Im Gleichschritt bewegten sich unsere Beine durch den knöchelhohen Schnee, der nur durch die Baumkronen so niedrig war. Auch über uns dehnten sich die Äste nach unten. Im leichten Wind bewegten sie sich, dabei rieselten kleine Flocken herunter. Eine fiel mir auf die Nasenspitze, was auch Erik bemerkte. Vorsichtig legte er seine freie Hand in mein Gesicht und strich den verbleibenden Wassertropfen herunter.
      “Ich wollte dir vorhin eigentlich etwas anderes sagen, aber als ich dich so sah, bekam ich Angst. Du wirkst immer so zerbrechlich”, seufzte er.
      “Sag’ schon, so dramatisch kann es nicht sein”, munterte ich ihn auf, ignorierte dabei die Herde in meiner Brust, die aus den Tiefen meines Unterbewusstseins wieder angaloppiert kamen. Als hörte Maxou es auch, bewegte sie ihren Kopf zu mir und drückte ihr Maul an mein Ohr. Sanft schob ich mit dem Strick wieder zur Seite. Er war genauso aufgeregt. Ich vernahm an der Hand, wie sie meine Finger zittern und ungleichmäßig zuckten.
      “Bitte”, nuschelte Erik kaum verständlich und drückte noch stärker zu, bis ich anhielt. Erwartungsvoll funkelte ich mit meinen Augen ihn an. Mit allem mir zur verfüngungstehenden Mittel, versuchte ich ihn wieder zu beruhigen. Ich befreite meine Finger aus seiner Hand und strich über den bedeckten Oberkörper. Seine Unsicherheit lichtete sich, als ich meine Lippen auf seine drückte.
      “Ich liebe dich”, stammelte er so leise, dass ich wie von einem Band noch einmal die Situation im Kopf abspielte, immer wieder und wieder. Hatte ich mich verhört? Hatte Erik etwas anderes gesagt? Ich konnte es nicht glauben, oder wollte ich es nicht?
      “Danke”, sagte ich perplex, doch wurde im nächsten Moment von ihm weggestoßen. Wie von einem Rochen gestochen, schreckte Erik zurück und strich sofort den Kopf seines Hundes, der genauso schlagartig angerannt kam. Dicht gefolgt vom Welpen.
      „Wie kannst du so herzlos sein?“, stammelte er zweifelt und nasal. Über seine Wange lief ein kleines Rinnsal aus Tränen herunter, als hätte ich ihm gerade gebeichtet - gute Frage. Mir fiel gar kein Vergleich ein, was in derartig schockieren könnte, dass er weinend vor mir stand. Eventuell, wenn ich gesagt hätte, dass er nur eine Affäre sei und aus meinem Leben verschwinden sollte. Doch das lag nicht vor. Zu sehr brannte meine Leidenschaft nur für ihn, auch, wenn ich vermutlich nie so viel darüber nachdachte, war Erik der Mann meiner Träume. Absurd, dass für ihn eine Welt zusammenbrach.
      „Hör mir genau zu“, versuchte ich ihn zu beruhigen und lief einige Schritte auf mich zu. Maxou folgte interessiert und stupste ihn an. Er schenkte dem Tier überhaupt keine Beachtung, als wäre die Freude an ihr wie Asche in der Luft zerfallen. Stattdessen wühlte er in der Innentasche, holte eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sofort eine an.
      „Wieso sollte ich das tun?“, zitterte Erik noch immer, hatte aber deutlich an Ruhe in der Stimme gewonnen.
      „Weil es mir wichtig ist.“ - „Ach, es geht wieder nur um dich. Ich gebe dir alles was du willst, diskutiere nicht einmal über die Notwendigkeit, obwohl es das in meinen Augen ist, und du? Du trittst mich mit Füßen als wäre ich ein dahergelaufener Kerl, der sich einen Dreck um dich schert, sowie mein Bruder. Der benutzt dich nur, siehst du das nicht?“
      Eriks Verzweiflung wandelte sich in Wut um, so rasend hatte ich ihn noch nie erlebt. Bei jedem seiner Worte setzte er weitere Messerstiche in meinen Oberkörper. Am liebsten würde ich mich nun umdrehen und durch unsere Spur den Weg zurück zum Hof finden, denn die Sonne machte es mir nicht leicht, etwas zu erkennen. Der Schnee blendete, brannte in den Augen. Wenn ich mich jetzt wegdrehte, war es vorbei. Das konnte sogar ich erkennen. Außerdem, was sagte vorhin noch? So schnell werde ich ihn nicht los? Es reizte mich schon diese Grenze auszutesten, aber meine Vernunft hinderte mich.
      „Du hörst mir jetzt zu, und dann darfst mich weiter beleidigen, wenn dir danach ist“, schluchzte ich, aber hielt die Tränen zurück. Es waren schon genug geflossen. Er atmete tief durch und nickte.
      „Ich hatte nicht damit gerechnet. Deine Einleitung dazu brachte mich so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dazu warst du offenbar selbst so sehr gefangen in dir selbst, dass ich kaum verstand. Du bist alles was ich mir in meinem Leben wünsche, niemand anderes kann mir das geben, was du bisher getan hast. Ich bin dankbar für jede gemeinsame Sekunde und trauere den Augenblicken nach, die ich nicht mit dir teilen kann. Also wirf mir nicht vor, dass ich herzlos sei, nur weil ich kurz nachdenken muss und mein Mund wirres Zeug von sich gibt. Natürlich liebe ich dich auch, seit dem Moment, an dem du vor mir an der Tür standest. Ich will nur dich und daran wird sich nichts ändern“, dann flossen doch meine Tränen. Wie starrten einander an. Nun war Erik vollkommen perplex. Die Zigarette ich seiner Hand verglimmt in der Mitte. Aber er hielt sie fest, als wäre es die einzige Möglichkeit nicht den Halt zu verlieren. Wieder stupste mich Maxou an, als solle ich endlich die letzten beide Schritte wagen, die uns voneinander trennten. Ich trat nach vorn, sah mich zu Maxou um, die erneut ihren Kopf gegen meinen Rücken drückte. Dann lagen meine Händen an seinen Hals, meine Augen sahen tief in seine, die stark gerötet waren.
      „Also Herr Löfström, ich liebe dich“, schmunzelte ich.
      „Sie, ich habe Ihnen nicht das Du angeboten“, scherzte er und drückte sofort seinen Mund auf meinen. Ich verspürte einen Schwall der Leidenschaft als wir uns trafen. Langsam kämpfte sich seine Zunge den Weg zu meiner. Eng umschlungen standen wir im Schnee, während von den Baumkronen kleine Flocken herunter rieselten und den Moment noch perfekter machten, als er ohnehin schon war. Nur schwer konnten wir uns lösen. Sofort ergriff er meine Hand, beinah so sehr, dass es leicht schmerzte. Verliebt liefen wir weiter. Kein Wort schwebte mehr zwischen uns, stattdessen trafen sich in regelmäßigen Abständen unsere Blicke. Dabei breitete sich ein Lächeln aus.
      „Das kann nicht sein“, sagte ich schockiert, als wir fast eine Stunde später nach dem kleinen Aussetzer unserer Gefühle am Hof ankamen.
      „Was ist los, mein Engel?“, küsste Erik meine Hand und blickte sich um.
      „Da oben“, zeigte ich zum Dach der Reithalle, „Tobias sitzt dort oben auf dem Vogt.“ Er kneisterte die Augen zusammen, aber schien den einbeinigen Falken nicht zu entdecken.
      „Wer soll Tobias sein?“, kicherte er kopfschüttelnd.
      „Ein Falke, der verfolgt mich und zeigt mir, was ich tun soll“, erklärte ich.
      „Bestimmt“, er wuschelte mir durchs offene Haar, „Du siehst Gespenster.“ Ich drückte meinen Kopf von ihm weg, versuchte dem Tier ein Zeichen zu geben. Tatsächlich funktionierte der Gedanke. Tobias erhob seine Flügel, drehte einige Runden über unseren Köpfen und setzte sich schließlich auf einen Pfahl des Paddocks ab. Positiv überrascht musterte Erik das Tier.
      „Er dürfte gar nicht in dieser Gegend wohnen“, stammelte er.
      „Du möchtest einem Vogel also seine Freiheit nehmen?“

      Etwas früher am Hof …

      Lina
      “Guten Morgen, mein Engel”, raunte Niklas mir sachte ins Ohr, die Stimme noch vom Schlaf belegt. Zart strich warmer Atem über meine Haut und die kurzen Bartstoppeln kitzelten, als sich seine Lippen zart niedersenkten. Von der Stelle, die sie berührten ging, ein sanftes prickeln aus, welches sich von dort aus wie eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Langsam wand ich mich in seinen Armen zu ihm hin, blickte direkt in zwei Augen von bezauberndem Blau, welches nahe der Pupille von sanftem braun durchbrochen wurde.
      “Guten Morgen”, wisperte ich noch ein wenig schläfrig, ein wohliges Lächeln auf den Lippen. Nach zwei Nächten wieder einige Stunden durchschlafen zu können, ohne von einem unruhigen Kleinkind oder einem wimmernden Welpen geweckt zu werden, war allein schon wundervoll. Diese dann auch noch in der warmen Umarmung meines Freundes zu verbringen, mit dem Wissen, dass mein Hengst wohlbehalten unten im Stall wartete, ließ mein Wohlbehagen ins unermessliche steigen.
      “Wie spät ist es?”, fragte ich, sobald ich die goldenen Sonnenflecken registrierte, die leuchtende Muster auf Wände und Möbel zeichneten.
      “Ungefähr viertel vor acht”, antwortete Niklas und strich mir eine der langen braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die vermutlich vollkommen wirr umrahmten.
      “Das müssen schöne Träume gewesen sein, so wie du strahlst”, drangen weiter Worte aus seinen perfekt geformten Lippen, die von einem lieblichen Lächeln umspielt wurden.
      “Wovon soll ich denn träumen, wenn du schon hier bist”, lächelte ich in den Kuss hinein. Das sanfte Prickeln unter meiner Haut intensivierte sich und sprudelte wie ein Tiefseevulkan durch meinen Körper.
      War es eben noch ruhig im Haus gewesen, schien es nun synchron mit meinem inneren Vulkan zum Leben zu erwachen. Annähernd im Minutentakt schienen Schemen an der Milchglastür vorbeizuhuschen, was wohl ein Zeichen sein sollte, an die Arbeit zu gehen. Widerstrebend versuchte ich mich von meinem Freund zu lösen, obwohl mein Körper mir eindeutig mitteilte, dass er lieber an Ort und Stelle verweilen wollte.
      “Warum willst du denn schön flüchten, wenn ich so traumhaft bin?”, fragte er neckisch und zog mich wieder näher an sich heran.
      “Arbeit und…”, entgegnet ich mit einem zuckersüßen Lächeln, “im Stall möchte noch ein anderer meine Aufmerksamkeit.”
      “Ein Anderer? Wer kann wichtiger sein als ich?”, wand Niklas empört ein, doch in seinen Augen konnte ich es schalkhaft funkeln sehen.
      “Oh, seine Statur ist göttlich, sag ich dir. Und niedlich Ist er… ”, schwärmte ich von meinem Hengst, jedoch ohne den Blick von seinen wunderschönen Augen zu lösen, "und zu guter Letzt hat er auch einiges an Talent zu bieten.".
      “Talentiert also, aber kann er auch das”, raunte er provokant so nah, dass seine Lippe sanft meinem Ohr entlang glitten. Um mich weiter zu quälen, verteilte Niklas eine Kette brennender Küsse auf meinem Hals. Unwillkürlich begann der faustgroße Muskel in meiner Brust, stärker zu pulsieren und das Blut durch meine Adern zu treiben.
      “Nein”, ich musste mich zusammenreißen, nicht wohlig aufzuseufzen, “das kannst du eindeutig besser.” Noch gab es ein Fünkchen Willensstärke, welches ihm widerstehen wollte, doch dieser erlosch bereits allein durch den betörenden Geruch, der von ihm ausging. Laute der Erheiterung drangen aus Niklas Kehle, die kaum merklich in seiner muskulösen Brust vibrierten.
      “Das hör ich gerne”, hauchte er ein wenig selbstgefällig in mein Ohr. Ich erschauderte, als er mit den Lippen an meinem Hals hinabglitt. Weiche Fingerspitzen glitten unter das weite Shirt, liebkoste die empfindliche Haut darunter. Auf unerklärliche Weise schaffte er es immer wieder, dass mein Körper selbst auf die zarte Berührung seiner Finger, unglaublich stark reagierte, ganz so als würde er nach der kurzen Zeit meinen Körper bereits besser kennen als ich selbst. Unerwartet ging ein kaum wahrnehmbares Zucken, durch die Muskulatur meiner Bauchdecke. Eine irrationale Angst rollte wie eine Lawine durch meine Adern, erstickten das Feuer darin vollständig.
      “Niklas, warte”, schossen die Worte beinahe aus meinem Mund und nur schwerlich konnte ich die unerklärliche Angst darin unterdrücken. Reflexartig stemmte ich meine Hände gegen seine Brust. Augenblicklich glitten seine Finger weg von meinem Bauch, bewegten sich wieder über den Stoff.
      “Alles okay?”, frage er verwundert. Leichte Besorgnis lag in seinem Blick. Das Verlangen, welches vor einem Moment noch seinen Ausdruck zu dominieren schien, glomm nur noch schwach in seinen Augen. Gehemmt versuchte ich, seinem Blick auszuweichen. Einige der Milliarden Zellen in meinem Hirn sponnen sie unwirklichsten Szenarien, ängstigten mich vor seiner Reaktion.
      “Lina, sprich mit mir”, forderte er mich sanft auf, “Ich kann keine Gedanken lesen.” Ich fühlte mich beschämt für das, was in meinem Inneren vorging. Was stimmte nur nicht mit mir, dass ich derartige Gefühle nicht zulassen konnte?
      “Es ist … Irgendwie … fühle ich mich noch nicht bereit für das hier. Es tut mir leid”, die Worte stolperten ungeschickt über meine Zunge, während meine Finger nervös auf seiner Brust herumdrückten, auf der sie noch immer lagen. Zaghaft erhob ich die Lider, versuchte in seinen Augen eine Reaktion zu lesen.
      “Das muss dir nicht leidtun, du hast schließlich nichts falsch gemacht”, sprach er ruhig, strich behutsam mit seinen Damen über meiner Wange, “wichtig ist nur, dass du mit mir sprichst.” Ich nickte verhalten, doch spürte, wie sich die Angst in meinem Inneren verflüchtigte, mein Herz wieder einen normalen Takt fand.
      “Und jetzt komm, mein Schatz, ich mach dir ein ordentliches Frühstück, bevor ich dich auf die Pferde loslasse”, lächelte Niklas und zog mich mit sich aus dem Bett heraus.

      Hochgestimmt hüpfte ich vor meinem Freund die Stufen zum Stall hinab und konnte es mir nicht nehmen lassen, die letzten beiden Stufen auf einmal zu nehmen.
      “Guten Morgen”, trällerte ich Samu entgegen, der wunderlicher Weise bereits auf der Stallgasse herumlungerte. Auch seine Freundin war dabei und freundet sich mit Nobel an, der sich gelassen kraulen ließ.
      “Da hat aber jemand blende Laune”, merkte Samu mit einem verschmitzten Grinsen und ließ für einen Moment davon ab, das dunkle Fell seines Hengstes zu striegeln.
      “Natürlich, gibt ja auch keinen Grund dafür diese nicht zu haben”, strahlte ich ihn an. Freundlich senke Legolas den Kopf ab, damit ich an seiner Lieblingsstelle unmittelbar zwischen den lagen Ohren kraulen konnte.
      “Zudem nach solch einem göttlichen Frühstück, hättest du auch gute Laune”, erweiterte ich meine Erklärung und schielte zu Niklas.
      “So ist das also”, lachte Samu, mit einem kecken Funkeln in den Augen. Mich beschlich das unbestimmte Gefühl, dass er nur nicht, an das dachte, was ich gemeint hatte. Noch bevor ich das richtig stellen konnte, sprach Samu weiter: “Ich würde gerne mit Lego gleich in die Halle, meinst du, das geht oder störe ich da irgendwen?”
      “Du willst Lego heute schon arbeiten? Ihr seid doch gestern erst gekommen?”, hinterfrage ich irritiert. Eigentlich hätte ich erwartet, dass er sich erst einmal eingewöhne solle.
      “Nur ein wenig. Nach der langen Reise und der Quarantäne hat er sicherlich einiges an Bewegungsdrang”, entgegne der Finne und tätschelte die Schulter des Hannoveraners, “Ivy solltest du auch ein wenig auslasten, ich glaube, du wirst dich freuen.”
      “Noch mehr freuen als jetzt? Wie willst du das denn schaffen?”, hinterfragte ich neugierig.
      “Setzt dich einfach auf deinen Hengst und finde es heraus”, entgegnet Samu, mit einem pikantesten grinsen auf den Lippen, welches davon zeugte, dass er sich der Zweideutigkeit seiner Worte bewusst war. Grinsend schüttelte ich den Kopf, Samu war zwar schon immer ein Schelm gewesen, aber Witze dieser Art waren neu. Genüsslich hatte Legolas die Augen geschlossen, während meine Finger noch immer seine Ohren massierten. Doch um nicht aus der Balance zu geraten, zog der Rappe den Kopf nach oben, als sein Besitzer nun eines seine Vorderbeine aufhob, um das Innere des Hufes zu reinigen.
      “Okay, ich frag ja schon nicht weiter, aber um auf deine Anfangsfrage zurückzukommen, natürlich kannst du in die Halle”, sprach ich zu ihm, bevor ein Klappern meine Aufmerksamkeit erregte.
      Neben uns, durch das kleine Rolltor, sprang Trymr in die Stallgasse hinein. In seinem Fell hingen viele kleinere und größere Schneeklumpen, während der andere Teil vollkommen durchnässt war. Ihm, dicht gefolgt, kam auch der Welpe, ebenso freudig erregt wie sein Kamerad. Gerade, als Middy begann in der Box aufgebracht gegen das Holz zu keilen, pfiff jemand, obwohl ich mir sicher war, dass das Geräusch nur von Erik stammen konnte, und das Knäuel rannte zurück. Dann kamen die Herrschaften. Vriska grinste breit von einem Ohr zum anderen, dabei klammerte sie fest an Eriks Hand und ihre andere hielt den Strick zu Maxou fest. Doppelt eingepackt trottete sie mit angelegten Ohren nach.
      „Volksversammlung?“, lachte Vriska und brachte Maxou zurück in die Box. Das Pony stürzte sich mit vollem Elan auf die Heulage, die bereits in der Ecke platziert lag.
      “Hat man dir was in den Kaffee gekippt oder warum strahlst du so?”, grinste ich ihr entgegen. Aufgeregt wuselte der Welpe zwischen den Personen in der Stallgasse umher, stupste jeden an, aber wuselte unmittelbar zum nächsten, als könne er sich nicht entscheiden, wen er zuerst begrüßen wollte.
      „Vielleicht gab es eine Überraschung“, kam Erik zu Wort. Vriska schien viel zu beschäftigt dem Pony die diversen Decken abzunehmen, die bei genauerer Ansicht nur vor Feuchtigkeit trieften. Etwas unbeholfen warf sie sich beide über die Schulter und tuschte heraus. Maxou blickte kurz auf, sah die offene Tür, aber senkte schnaubend den Kopf wieder ins Futter.
      “Das muss aber eine coole Überraschung gewesen sein. Darf man daran Teilhaben oder eher nicht so?”, hinterfragte ich neugierig geworden durch seine Worte. Ein kalte, nasse Hundenase drückte sich gegen mein Bein, unmittelbar gefolgt von einer Pfote. Das Fellknäuel stand wackelt vor mir, blickte mich aus seinen großen Augen zu mir hoch. Kaum hatte ich mich zu dem Welpen hingehockt, grub er auch schon den Kopf in meinem Schoß.
      Erik atmete mit suchendem Blick aus.
      „Vielleicht sollte sie das lieber sagen“, kamen seine Worte ungewöhnlich schwer aus dem Mund heraus, dabei begann er an dem Ärmel seines Mantels zu zupfen und einen Knopf nach dem anderen zu öffnen — nur, um ihn wieder zu schließen. Auch Niklas, der noch immer neben mir stand und Divine rhythmisch über den Hals tätschelte, wurde auf die Situation aufmerksam. Mit einseitig erhobener Braue musterte er Erik genau, bis beide gleichermaßen grinsten und Samu nicht anderes konnte, als der nonverbalen Kommunikation beizutreten. Fasziniert und irritiert zugleich blickte ich zwischen den drei Männer hin und her. Gab es eine Art telepathische, Verbindung, die auf das männliche Geschlecht beschränkt war? Doch auch der Blick zu Enya, die noch immer bei Nobel stand, vergrößerte das Unverständnis nur, selbst sie schien deuten zu können, was auch immer da vor sich ging. Äußerst suspekt.
      “Verstehst du die, Fred?”, raunte ich dem kleinen Lebewesen in eines der gefleckten Schlappöhrchen. Natürlich antwortete der Hund nicht. Stattdessen stürzte der Welpe sich mit einem Kläffen auf dem Lammfellhandschuh, der in Samus Putzkasten lag. In einer der leeren Boxen verstand er, nur leises Knabbern erklang zwischen den Fressgeräusche der Pferde. Dann stampfen und klirren. Vriska kam mit zwei anderen Decken wieder. Die Abschwitzdecke wirkte schon als Stoffhaufen deutlich zu klein, während die dicke Weidedecke einige Zentimeter zu viel hatte. Schweigend zischte sie an uns vorbei, den Blick verankert am Pony. Dass ihr die Männer grinsend nachsahen, bekam sie nicht einmal mit. Erst als das Tier eingepackt in der Box stand, die Ohren verärgert angelegt, und eher nach einem Weihnachtsgeschenk aussah, bemerkte sie die Anspannung.
      “Denkst du nicht, dass das etwas zu viel ist?”, hakte Erik nach und neigte den Kopf leicht zur Seite, als versuche er darin, eine Erklärung zu finden, doch Vriska kam ihm bereits entgegen.
      “Sie hat kein Fell und mir ist schon superkalt in der Jacke”, befestigte noch den Bauchgurt, mit leichter verzerrter Stimme fügte sie noch hinzu: “Und wenn ein Pferd dünnere Haut hat, dann wird ihr vermutlich kalt sein.”
      Verwundert nickte er mit aufgespannten Augen, aber war wie wir nicht im Interesse, das weiter zu hinterfragen.
      “Vriiiska, mag du mir jetzt verraten, warum du so fröhlich bist?”, versuchte ich nun erneut eine Antwort von ihr zubekommen, da ich von ihrem Freund schließlich keine zufriedenstellende Antwort bekam und mich offenbar auch sonst keiner der Anwesenden aufklären wollte.
      “Dafür gibt es verschiedene Gründe”, spannte sie uns alle weiter auf die Folter, aber immerhin verließ sie die Box und fummelte nicht weiter an dem Deckenberg herum.
      “Also”, kam sie zu mir und legte den Arm gekonnt um meine Schulter, “wie viel möchtest du denn wissen?”, flüsterte Vriska deutlich leiser in mein Ohr. Noch immer verwirrt von der Berührung, blickte ich sie von oben bis unten an.
      “Alles …?”, formulierte ich es eher als Frage, überlegte gleichzeitig, ob die klug sein und entschied mich letztlich, die Frage noch einmal näher zu differenzieren in Erinnerung daran, dass sie solche Forderungen stets mit äußerst viel Detailreichtum beantwortet.
      “Alles, wichtige”, korrigierte ich die Aussage.
      “In meinen Augen wichtig, oder in deinen?”, wirkte sie sich bewusst, dass es Dinge gab, die ich wohl besser nicht wissen wollte, aber auch Niklas kam neugierig einige Schritte näher. Ihre letzte Frage hatte er wohl mitgehört und streckte den Kopf ebenfalls in kleinen entstehenden Kreis.
      “Wir wollen es alle wissen”, grinste er frech.
      “Mein wichtig ist vollkommen ausreichen”, entgegnete ich Vriska, meinen Freund ignorierend. Der wusste doch scheinbar ohnehin schon, worum es geht, also was wollte er noch.
      “Er hat ‘ich liebe dich’ gesagt”, quietschte sie derartig hoch, dass mein Hirn Sekunden benötigte, bis es die Information verarbeitete. Niklas drehte nur gelangweilt die Augen und beschloss, sich wieder dem eigenen Pferd zu widmen, das neugierig den Kopf durch die Gitter steckte.
      “Nawww, das freut mich für dich”, frohlockte ich und schlug aufgeregt die Hände zusammen. “Erzähl’ mehr! War so schön, wie man sich das immer vorstellt? Ihr zwei allein im Wald, eng aneinander gekuschelt gegen die Kälte, um euch herum nicht als das Glitzern unberührter Schneeflächen zischen den dunklen Tannen”, begann ich die rührseligen Szenen auszuschmücken, die mir in den Kopf kamen. Vriska zog die Brauen zusammen, aber suchte, mit gepressten Lippen zu ihrem Freund, der bereits hochrot angelaufen war.
      “Linchen?”, bedachte Samu mich mit einem teils belustigen Blick, “Du weißt aber schon, dass wir uns in der realen Welt befinden und nicht in einem deine Bücher?”
      “Man Samu, du musst einem auch jegliche Fantasie zerstören”, quengelte ich und rollte mit den Augen, “ich bin ja schon still.” Schmollend wand ich mich meinem pelzigen Einhorn, ähm Pferd zu, welches mit dunkel schimmernden Augen bereits sehnsüchtig auf meine Aufmerksamkeit wartete.
      “Da hast du also die Idee her”, wendete sich Vriska Erik zu, der nur mit den Schultern zuckte, “also Lina hat damit schon vollkommen recht, tut mir leid Samu, dass ich deine Realität wie eine Plattenbausiedlung daherkommt.”
      “Siehst du Samu!”, grinste ich ihn triumphierend an, bevor ich mich an Enya wandte, “Ich glaube, du musst deinem Freund mal ein wenig mehr Romantik nahebringen.” Die große Blonde lachte herzlich, woraufhin der Finne ein weniger begeisterten Eindruck machte. Der weiße Hengst nabelte derweil an meine Jackentasche herum und versuchte den Zipper des Reißverschlusses zu erhaschen, um an die Leckerlis im inneren heranzukommen.
      “Lacht nur, wer hochfliegt, wird tief fallen”, entgegnet Samu nahezu gleichgültig. Von einem Moment auf den anderen war all die Wärme aus seinem Blick gewichen und darin lag nur noch kaltes Eisblau, bevor er sich abwandte und den Deckel des Putzkoffers etwas lauter, als nötig zufallen ließ. Zu genau war mir bewusst, worauf mein bester Freund anspielen wollte.
      “Ich glaube, dein Pferd möchte sich endlich bewegen”, sprach ich knapp, um die Lage zu entschärfen. Erleichtert entwich die Luft aus meinen Lungen, als seine Schritte sich in Richtung der Sattelkammer entfernten. Das verschaffte mir den nötigen Augenblick, um mich emotional von besagtem Ereignis abzuschotten, bevor Samu weiterhin in der Vergangenheit herumrühren konnte. Irritiert von dem Stimmungsumschwung hatte Ivy aufgehört an mir herumzuspielen, stand nun ganz still neben mir, nur seine Ohren bewegten sich wachsam in alle Richtungen, als würde er eine Gefahr erwarten.
      “Alles gut, hübscher”, sprach ich sanft zu dem Hengst, strich langsam über die samtweichen Nüstern, die sich gleichmäßig aufblähten. Das Rascheln, welches ich erzeugt, als ich in der Jacke nach einem Leckerbissen angelte, lockte seine kleinen Öhrchen wieder nach vorne. Gierig, wie immer klaubte er das Pellet aus meiner Hand und nahm analog zu meiner wiederkehrenden inneren Entspannung auch wieder eine entspannte Haltung ein. Leise erklang das Klimpern des kleinen Anhängers, der gegen die metallenen Beschläge pendelte, als ich das Halfter von seinem Haken nahm. Es wirkte beinahe gespenstisch, wie still die Stallgasse nun wieder war. Nicht mal vom Vriska war ein Laut zu vernehmen, die sich normalerweise nur schwer zurückhalten konnte.
      Bereitwillig streckte Divine die Nase ins Halfter und wartete geduldig, bis ich seine Haarpracht auseinander sortiert hatte. Samu kehrte gerade mit dem Sattelzeug seines Rappen wieder zurück, als ich den Freiberger auf den freien Platz neben Legolas stellte. Er schenkte mir keinerlei Beachtung, begann stattdessen in Schweigen gehüllt seinem Pferd den Sattel aufzulegen. Der wird sich schon wieder einkriegen, dachte ich und schlug meinerseits den Weg in die gut sortierte Kammer ein, um mein Putzzeug zu holen.
      Bei meiner Wiederkehr hatte der Blonde seinen Hengst bereits fertig gesattelt und verschwand mit seiner Freundin und dem Tier in der Reithalle.
      Ivy hingegen hatte sich einen der herunterhängen Stricke geschnappt, wippte mit dem Kopf, sodass das Metallende immer wieder gegen etwas stieß und terrorisiert mit dem entsenden Lärm den gesamten Stall.
      „Divine“, ermahnte ich den Hengst, während ich die kleine Alukiste auf den Boden abstellte. Augenblicklich stellte der Hengst den Lärm ein und blickte mir treudoof entgegen, als habe er nie etwas getan, nur der Strick hing noch immer zwischen seinen Zähnen. Bevor ich mit dem Putzen begann, zog ich ihm das Seil aus dem Maul, nicht dass er gleich am ersten Tag seiner Anwesenheit etwas zerstörte, das würde der kleine Tollpatsch sicherlich noch früh genug tun. Kaum begann ich, damit das weiße Fell zu bürsten, hatte der Hengst wieder den Strick im Maul. Mir schien es ganz so, als habe er ein gewaltiges Aufmerksamkeitsdefizit.
      Das dicke, vom Schnee feuchte Winterfell sauber zu bekommen dauerte eine Ewigkeit, weil ich das Gefühl hatte den Dreck eher tiefer in das Fell hineinzubürsten als hinaus. In einem eleganten Bogen flog plötzlich die Hufbürste durch die Luft, die Ivy sich als Alternative zu dem Anbindeseil aus der Putzkiste stibitzt hatte, was den Welpen dazu veranlasste aus seiner Ecke hervorzukommen. Freudig schnappte er sich die Bürste, flitzte eine Runde um den weißen Hengst herum und kam zwischen den Pferdebeinen wieder hervor gerannt. Vor den Hufen des Pferdes ließ das kleine Fellknäuel den Gegenstand fallen und bellte aufgeregt. Interessiert stellten sich Ivys Ohren auf und er streckte dem Welpen die Nase entgegen. Noch immer voller Energie hibbelte Fred umher und versuchte Divine dazu zu bringen, mit ihm zu spielen, doch das Pferd verstand natürlich nicht, was das kleine Tier von ihm wollte. Erneut versuchte es der Hund, bevor er von einem Geräusch abgelenkt wurde und in dessen Richtung sprang.
      Nach geraumer Zeit gab ich es auf den Dreck aus dem Fell des Hengstes zu entfernen, eine annähernd saubere Sattellage musste wohl ausreichen. Um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, ließ ich die Mähne in dem Zustand, wie sie war, las nur die Späne aus dem Schweif. Auch den Beinschutz sparte ich mir, machte einzig Hufglocken darauf, um zu vermeiden, dass der kleine Tollpatsch sich die Eisen runter trat. Sein Beschlag war schließlich auch so schon teuer genug.
      Auf dem Weg um den Sattel zu holen kam mir der Gedanke, dass es eigentlich schön wäre zum Aufwärmen eine kleine Runde draußen zu drehen, in der kleine winterliche Wunderwelt, in der das Sonnenlicht alles zum Funkeln brachte. Zudem bot es einen guten Weg Samu noch ein wenig aus dem Weg zu gehen, denn ehrlich gesagt empfand ich dieses komplette Ignorieren ein wenig unangenehm. Es kam nämlich nur äußerst selten vor, dass er so verstimmt war. Behutsam hievte ich den Sattel auf Divines Rücken und gurtete ihn vorsichtig locker an, darauf bedacht nicht Teile des langen Fells einzuklemmen. Zu meinem Erstaunen war ein leichtes Anlegen der Ohren, die einzige Reaktion, die er zeigte. Offenbar hatte Samu seinen Gurtzwang nahezu wegbekommen. Ausgiebig lobte ich Ivy und steckte ihn einen weiteren Leckerbissen in die Schnauze. Somit fehlte nur noch die Trense. Aber halt, wo war mein Freund eigentlich abgeblieben? Bereits ahnend, dass er noch immer bei seiner Stute war, steuerte ich ihre Box an, wo ich ihn schließlich auch fand. Launenhaft legte Smoothie die Ohren an und machte ein Gesicht, als wolle sie ein anderes Pferd vertreiben. Da sich ein solches, aber nicht in der Nähe befand, galt diese dramatische Geste wohl mit. Der Schimmel war eindeutig das eifersüchtigste Pferd, welches mir je begegnete, aber vielleicht mochte es auch einfach an der Tatsache liegen, dass ich noch nie eine solch innige Beziehung zu einem Pferdemenschen führte. Selbstverständlich war Smoothies Verhalten auch bei Niklas nicht unbemerkt geblieben, der sich erwartungsvoll zu mir umwand.
      „Ich wollte mit Ivy eine kurze Runde draußen drehen, so zum Aufwärmen“, informierte ich ihn über meine Vorhaben, „Willst du vielleicht mitkommen oder bleiben du und dein Pony lieber hier?“ Besagtes ‚Pony‘ sah noch immer so aus als fühle es sich gestört, weil es nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit seine Herrchen bekam und zupfte beständig an seinen Pullover herum.
      “Ich bleibe hier”, antwortete er und drehte sich zu mir um, “ihr kaputtes Gelenk bereitet mir zu großen Sorgen, dass etwas passiert.”
      “Okay, verständlich”, lächelte ich sanft. Ich hätte es mir zwar gewünscht, dass er mich begleitet, doch schon beinahe mit dieser Antwort gerechnet. Mit der Diagnose seiner Stute war es ihm auch nicht zu verübeln, dass er die Sicherheit selbiger vorzog.
      “Dann sehen wir uns später”, sprach ich und stahl mir noch einen Kuss von seinen Lippen, woraufhin sich Smooth lange Ohren wieder ihrem Hals annäherten.
      Leichtfüßig lief ich zurück zu meinem Hengst und ergriff die anatomische, englische Trense. Erst als ich dem Hengst das Metallstück in den Mund legen wollte, bemerkte ich, dass anstelle des einfach gebrochenen Olivenkopfgebisses, mit dem ich Divine zuletzt geritten war, nun ein Bauchergebiss an den Backenstücken hing. Bereitwillig senke das helle Pferd den Kopf ein wenig ab und öffnete sein Maul, damit ich ihn problemlos trensen konnte.
      Noch in der Stallgasse kletterte ich auf seinen Rücken und lenkte ihn in Richtung des großen Tores.
      Falles es noch möglich war, richteten sich Ivys kleine Ohren noch ein Stück mehr nach vorn, als wir das Tor durchschritten und seine Hufe mit einem leisen Knirschen im Schnee versanken. Vor uns eröffnete sich eine, nicht mehr ganz unberührte, Schneelandschaft, in der die Eiskristalle die Sonnenstrahlen reflektieren und in alle Richtungen verstreuten. Das strahlende weiß ließ unwillkürlich mein Herz höherschlagen, obwohl dies nicht der erste Schneetag war, denn die Landschaft bekam so noch viel mehr Ähnlichkeit zu denen in denen ich meine Kindheit verbrachte. Obwohl der Großteil der im gesamten Land beliebten Wintersportarten nicht zu meinen favorisierten Aktivitäten gehörten, waren die Tage der Winterferien häufig erfüllt von Heiterkeit, zumindest bevor das Schicksal entschied, noch mehr Chaos in die ohnehin schon schwierige Lebenssituation zu bringen. Ebenso wie ich schien sich auch der Hengst an dem Niederschlag zu erfreuen, denn er stapfte fleißig voran, ganz ohne, dass ich ihn dazu motivieren musste.
      Sobald wir die Gebäude des Hofes hinter uns ließen, überließ ich dem Pferd die Wahl des Weges. So schlug er einen Weg zwischen den Bäumen hindurch ein, von dem ich mir nicht mal sicher war, dass es ein wirklicher Weg war. Der Schnee schien hier höher zu liegen und es war ein Wunder, dass der Hengst dennoch so zuverlässig halt auf dem unebenen Boden fand. Ob dies eine Eigenschaft war, die alle Freiberger mit sich brachten? In vollem Vertrauen in mein Pferd ließ ich die Gedanken schweifen, fühlte einfach das Glück, das durch meine Adern strömen.
      “Das hier hat mir gefehlt, Ivy”, sprach ich zu dem Tier, fuhr versonnen durch das lange Fell, welches seinen Hals bedeckte, “nur wir zwei.” Statt zu antworten stieß er bloß weiße Wölkchen aus seinen Nüstern, die sich zwischen den kahlen Zweigen hindurch einen Weg nach oben suchten. Manch einer würde es vermutlich als seltsam betrachten, den ganzen Tag hatte ich Pferde um mich, mittlerweile sogar ein zweites dieser graziösen Tiere im Stall und dennoch gab es eine Leere meinem Inneren, die bisher nur Divine irgendwie füllen konnte. Divine, der mir von der unglaublich viel Liebe zugeben hatte und mit all seiner positiven Ausstrahlung selbst die dunkelsten Gedanken zu vertreiben mochte. Beeindruckend, wie dieses Tier mir von der ersten Sekunde an tiefstes Vertrauen entgegenbrachte, obwohl wir nicht einmal dieselbe Sprache sprachen. Und ich? Ich schaffte es nicht mal mich gegenüber einem Wesen meiner Spezies wirklich zu öffnen. Nein, Stopp! Hinfort mit den negativen Gedanken. Heute wird ein schöner Tag!
      “Heute wird ein schöner Tag”, wiederholte ich wie ein Mantra, “Heute wird ein guter Tag, weil alles da ist, was ich benötige, um glücklich zu sein.” Um mich selbst zu bestärken, wisperte ich die Worte wiederholt in die Stille hinein, die einzig durchbrochen wurde, von Divines Schnauben und den gedämpften Geräuschen des Schnees. Als wolle der Hengst mich ermutigen, verharrte er in der Bewegung, stupste mein Bein an und blickte mich aus seinem Dunkeln, sanften Augen an.
      “Was würde ich nur ohne dich tun, yksisarviseni”, lächelte ich sanft und kramte eins seiner heiß geliebten Pastinaken-Leckerlis aus meiner Jackentasche, welches unmittelbar den Weg in sein Maul fand. Manchmal kam es mir vor, als würde der Freiberger tatsächlich die Zauberkraft besitzen, das unausgesprochene wie gesprochen gleichermaßen wahrzunehmen.
      Über unseren Köpfen hüpfte ein Eichhörnchen geschickt von einem Ast zu anderen, woraufhin sich ein Teil der weißen Last löste und auf uns herabrieselte. Ein Teil davon blieb auf der dichten Mähne liegen, bis er die Flocken mit einer sachten Bewegung seines Kopfes abschüttelte und sich wieder in Bewegung setzte.
      Der Wald um uns herum veränderte sich allmählich. Das Unterholz wurde lichter und die Bäume bildeten immer größere Abstände, bis sie schließlich vollständig verschwanden. Der Hengst hatte uns zurück auf einen der Wege gebracht, die wie ich glaubte, zum Hof führten. Weniger Meter folgten wir dem Weg erst, als ich merkte wie Ivy hibbeliger wurde und seine Schritte bei aufmerksam nach vorn gerichtet Ohren, extrem verkürzte, seine Art einen Galopp anzufragen. Noch bevor ich überlegen konnte, ob das Galoppieren durch meterhohen Schnee, bei unbekannten Bodenverhältnissen eine kluge Idee sei, hatte das Tier bereits selbst entschieden und wechselte mittels weniger Trabtritte, direkt in die schnellste der Gangarten. Schon bei den ersten Sprüngen spürte ich, dass er sicheren Halt mit seinen Hufen hatte, sodass ihn sogar noch ein wenig mehr Freiheit gab. In gleichmäßigen Rhythmus drückte er sich vom Boden weg und ich spürte die angestaute Energie, die nun frei wurde. Wie bei einer Dampflok flogen kleine Wölkchen in die Luft, die der leichte Wind allerdings schnell verwirbelte. Wie sich bei dem Vierbeiner die Anspannung löste, schien mit jedem der Hufschläge sich auch in meinem Kopf etwas zu lösen. Es kam mir so vor, als müsse Ivy nur schnell genug laufen, um all der Negativität in meinem tiefsten Inneren zu entfliehen. Der Wind verwirbelte die langen Strähnen seiner Mähne, peitschte sie durch die Luft und brannte kalt auf meinem Gesicht. Für einen Augenblick konzentrierte ich mich einzig auf Ivys gleichmäßige Bewegungen, vergaß die komplette Welt um mich herum, fühlte mich einfach losgelöst von der Welt. Schwer amtete der Hengst, doch er pflügte sich unermüdlich weiter durch den Tiefschnee, der um uns herum aufstob und in kleinen Klümpchen durch die Luft flog. Divine an meiner Seite, hier in Schweden, bedeutete für mich ein Gefühl der Vollständigkeit erlangen. Dieses Gefühl auch mit Ivy hier genauso glücklich – Nein, um ein Vielfaches glücklicher – zu sein, bestätigte mich in der Entscheidung, die ich in Kanada traf, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Schon allein für das Gefühl, was genau jetzt von meinen Synapsen ausgesendet wurde, hatte es sich gelohnt. Ganz zu schweigen von all den anderen tollen Momente, die ich bereits erleben durfte, obwohl der Weg bis hierhin nicht der leichteste war. Aber genug von der Vergangenheit, jetzt war es Zeit in eine ungewisse, jedoch hoffentlich erfüllte, erlebnisreiche Zukunft zu blicken. Apropos nach vorne blicken, besser wäre es gewissen hätte ich das nicht nur bezüglich meiner Zukunft getan. Verloren in diesem Moment puren Glückes bemerkte ich die verdächtig hohe Schneeverwehung erst als wir geschätzte fünf Galoppsprünge entfernt waren. Die Schneeverwehung war sicherlich einen guten halben Meter höher als der umliegende Schnee, aber ich konnte nur schwer schätzen, über welche Breite es sich erstreckte. Nicht dass ich es für unmöglich hielt, dass der Freiberger ein solches Hindernis überwinden konnte, doch Schnee und Eis erschienen mir nicht wirklich als die geeigneten Bedingungen, diese Fähigkeit auszutesten. Zumal konnte ich nicht abwägen, was sich eventuell dahinter oder unter der Schneedecke verbarg.
      “Ivyyy, wir müssen anhalten”, rief ich, bemüht meine akute Panikreaktion im Griff zu behalten. Sofort setzte ich mich schwer in den Sattel, spannte das Kreuz an und erhöhte leicht den Druck auf den Zügel, bevor ich in den Fingern wieder nachgab. In ziemlicher Zeitverzögerung reagierte der Hengst auf meine Hilfen, reduzierte sein Tempo allerdings nur schleppend. Innerlich bereitete ich mich bereit darauf vor, dass der Freiberger doch springen oder eine recht heftige Drehung machen würde, schloss die Beine enger um den Brustkorb des Tieres, um im Zweifelsfall nicht einen Abgang zu machen. Rutschend und schlitternd, kam Divine knapp vor dem seltsam anmutenden Schneehaufen zum Stehen. Wie ein Denkmal stand er, da nur die Flanken pumpten noch von dem anstrengenden Galopp.
      “Wow, das war knapp, gut gemacht”, lobte ich das pelzige Tier, nachdem ich mich aus meiner Schockstarre losen konnte. Vielleicht mag meine Reaktion übertreiben gewesen sein, die Schneewehe könnte auch einfach nur Schnees sein. Doch wenn mein Pferd sich aufgrund meiner fehlenden Aufmerksamkeit verletzt hätte, weil doch ein Baumstamm oder sich sonst etwas darunter verbarg, wäre das für mich unverzeihlich gewesen.
      Das Pferd löste sich ebenfalls aus seiner Erstarrung, schüttelte sich wie ein Hund, dem etwas unangenehm gewesen war. Erneut klopfte ich loben seinen Hals, mit einem temperamentvolleren oder ängstlicheren Pferd wäre das sicherlich schiefgegangen. Außerdem musste mein Zauberpony in Samus Obhut einiges an Balance gewonnen haben. Mit dem letzten Trainingsstand, an den ich mich erinnern konnte, hätte Divine sich sicherlich auf die Schnauze gepackt, bei solch einem abrupten Stopp.
      "Ivy, ich glaube, wir sollten unseren restlichen Weg achtsamer fortsetzen, bevor wir noch einen richtigen Unfall bauen", sprach ich mehr zu mir als zu ihm, drehte ihn auf der Stelle, um den Schneehaufen zu umreiten. Im Vergleich zu August reagierte er relativ gut auf meinen Schenkel, bog sich darum, auch wenn immer noch Luft nach oben war. Den Weg zurück zum Hof legten wir in einem gediegeneren Tempo zurück und ich nutzte die Gelegenheit immer wieder kleine, einfache Dressurlektionen ab. Galant schlängelte sich der Weg zwischen Bäumen hindurch, fühlte sich erstaunlich lang an. Ob das hier wirklich der richtige Weg war? So kreuz und quer wie wir vorhin durch das Unterholz ritten, könnten wir auch ungefähr am anderen Ende der Insel sein. Kurz gesagt, ich war vollkommen orientierungslos. Unbeirrt, als hätte das Pferd sein Ziel bereits im Auge, spielte Divine entspannt mit seinen Ohren und trotte voran. Tatsächlich schimmerten nach einer Wegbiegung die Gebäude des Hofes durch die Bäume hindurch.
      “Hattest du Spaß mit Ivy? Ihr wart ja ganz schön lange weg”, empfing mich Samu in der Stallgasse. Offenbar hatte sich seine Laune deutlich gebessert, innerhalb der knappen… oh, fast anderthalb Stunden, die ich mit Divine in der winterlichen Wunderwelt verbracht hatte.
      “Oh ja, es ist so schön ihn wieder bei mir zu haben”, strahlte ich ihn an und rutschte aus dem Sattel meines Hengstes. Neugierig senkte dieser die Nase hinab, schnupperte an der Plastikschüssel aus der Legolas in aller Seelenruhe die letzten Krümel hinaus sammelte.
      “Hast du auch ein wenig von den Veränderungen bemerkt?”, erkundigte sich der Finne und verschloss den letzten Bauchgurt von Legos Decke.
      “Du meinst außer dem neuen Gebiss? Ja, einiges ist mir aufgefallen. Danke, dass du den Süßen so gut für mich betreut hast”, entgegnete ich und zog dem weißen Hengst die Trense vom Kopf. Sofort begann er selbigen, dort wo das Kopfstück saß, an einem der Pfosten zu schubbern.
      “Ich pack den großen schon einmal in seine Box”, grätsche Enya kurz in das Gespräch rein und schnappte sich den Rappen. Mit einem Nicken registrierte der Blonde
      “Danke, ich hatte ja auch ein kleines Helferlein, was ihn mit Vorliebe stundenlang geputzt hat. Dein Großer war für Aleen sogar spannender als ihr eigenes Pony”, grinste Samu, “Und warum auch immer hatte Jace den dringen Drang zu helfen, dabei hat der mit dem Team eigentlich genug zu tun. Der Kerl ist wirklich seltsam.”
      “Warum wollte der denn helfen? Er machte doch sonst nicht mehr als nötig”, fragte ich verwundert, lockerte den Gurt und hievte den Sattel hinunter auf einen der Halter.
      “Ich kann es dir auch nicht sagen, aber er war in letzter Zeit ohnehin seltsam drauf”, zuckte Samu mit den Schultern, “hab ihn aber ohnehin nicht gelassen, dein Babypferd war auch so schon genug ausgelastet mit dem, was ich mit ihm gemacht habe.”
      “Na ja, ist mir auch egal wer sich gekümmert hat. Das wichtigste ist, dass mein Ivy jetzt hier ist und besser aussieht als jemals zuvor”, grinste ich und steckte besagtem Tier ein weiteres Leckerli in die Schnauze, welches er zufrieden wegknusperte.
      “Aber Lina, du solltest aufhören, ihn so mit Futter vollzustopfen, ansonsten sieht er bald nicht mehr so gut aus”, feixte mein bester Freund. Maulig rollte ich mit den Augen: “Ja ja, elender Besserwisser. Du gönnst dem armen Pferd aber auch nichts.”

      Vriska
      „Bist du dir sicher? Ich kann auch“, stammelte Erik unsicher und hörte erst auf, als mein Zeigefinger auf seinen Mund drückte. Die zarten Lippen krümmten sich zu einem selbstsicheren Lächeln, bevor er mich an der Taille zu sich heranzog. Vollkommen überwältigt von den ganzen Gefühlen ihm gegenüber, drückte ich mich noch mehr in seinen Mantel herein, als versuchte ich, darin zu versinken. Obwohl mir eine Stimme im Kopf noch immer versuchte mitzuteilen, dass Erik unerreichbar war, ignorierte ich sie. In meinem Herz brannte ungehindert ein großes Feuer, das wie ein Waldbrand die schlechten Gedanken mit sich zog.
      „Und du hältst dich an die Abmachung, va?“, fragte er mich das Gefühlte tausendmal an dem Tag, nach dem ich schon hoch und heilig versprach, nicht mehr als das Nötigste mit Niklas zu tun zu haben. Er verstand, dass ich ihn nicht vollständig ignorieren konnte, schließlich waren wir noch immer im selben Team. Außerdem wusste ich es. Auch, wenn meine Erinnerungen an den Abend nur begrenzt waren, konnte ich die Nachrichten von Eskil auch am nächsten Tag lesen.
      „Du weißt es nicht“, lachte ich boshaft und grinste ihn genauso an. Erik runzelte die Stirn.
      „Was weiß ich nicht?“, sprach dieser unsicher. Seine Hand griff noch enger an meine Hüfte, um mich näher an sich heranzuziehen.
      „Ich denke, dass die Informationen deinen Horizont übersteigen“, provozierte ich ihn weiter. Ungeduldig kreiste sein Daumen über meinen Rücken, währenddessen wendete ich den Blick wieder hoch in den Himmel, um vor Lachen nicht zu ersticken. Ich empfand die Situation deutlich amüsanter, als sie war, aber man sollte mir den Spaß lassen. Meinem Freund standen die Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben.
      „Wenn du es mir nicht erzählst, dann bleibe ich hier“, sprach er, ohne dabei die Ironie wahrzunehmen.
      „Und das soll jetzt eine Drohung sein?“, scherzte ich weiter.
      „Dann komme ich nicht wieder, besser?“, versuchte Erik den Schein vom kühlen Gelehrten zu machen, während jede seiner Aussagen den Beigeschmack eines Kindes bekam, das sein Weihnachtsgeschenk wissen wollte. Auf Zehenspitzen lehnte ich mich näher an ihn heran, um ihn durch Liebkosen am Hals noch weiter aus dem Konzept zu bringen. Mein Plan ging deutlich schneller auf, als ich dachte. Nur stammelnd kamen weitere Worte aus seinem Mund und seine Versuche, mich von ihm wegzudrücken, waren viel zu sanft, als dass sie eine glaubhafte Intention hatten.
      „Du kannst froh sein, dass auf der Rückbank Trymr liegt“, kroch ein verständlicher Satz über seine Lippen, wodurch ich erst aufhörte, „also mein Engel, wenn du schon so anfängst, liegt es dir doch förmlich auf der Zunge. Oder muss ich auch erst mit Spielchen anfangen?“
      Ich hatte diese Gespräche wirklich vermisst. Prickelnd zog es überall in meinem Körper und mein Verlangen nach ihm, war nie so stark wie in dem Augenblick, obwohl mir in dem kühlen Wind zunehmend kälter wurde.
      „Lass mir doch mal den Erfolg, dass ich etwas weiß, was du nicht weißt“, schmollte ich. Er schwieg und sprach dann: „So, du hattest dein Erfolg. Also erzähl jetzt, bitte.“
      „Interessant, du kannst auch unterwürfig sein. Du bringst ganz neue Dinge ans Licht, wenn man dich an der Schnur zappeln lässt wie ein Fisch.“
      „Angel, man sagt, an der Angel zappeln lassen“, rollte er mit den Augen. Ihm überlegen zu sein, gefiel ihm nicht, aber das Spiel abzurunden, legte er seine Lippen auf meinen Hals, während eine seiner Hände ebenfalls nach oben wanderte. Schließlich kam er an, drückte leidenschaftlicher seinen Mund auf meinen und die Finger in meine Haut, dass leises Stöhnen aus mir herauskroch. Seine Kunst des Verführens musste Erik perfektioniert haben, als hätte er vom Besten gelernt. Ich schloss meine Augen und genoss die letzten Minuten mit ihm, bis er plötzlich von mir abließ. Beinah leer stand ich vor ihm, verstand nicht, wie mir geschieht. Sehnsucht füllte meine Augen und Verlangen.
      „Jetzt weißt du, wie ich mich fühle, wenn du mich provozierst“, kam seine Selbstsicherheit wieder.
      „Und du, wie ich mich fühle nur durch deine Anwesenheit“, musste ich die Haltung bewahren, um nicht doch noch den Hund aus dem Auto zu lassen.
      „Engelchen, du bist alles, was ich je wollte“, sagte er, gab mir erneut einen Kuss. Ich konnte nur zustimmend nicken.
      „Na gut, ich sag es dir, bevor wir Trymr noch verstören“, Erik biss sich vor Vorfreude auf der Unterlippe herum und legte einen Teil seines Mantels über mich, sonst könnte ich in jeder Sekunde erfrieren. Ich sah mich noch um, doch wir standen allein auf dem verschneiten Parkplatz.
      „Niklas hat sich von Eskil verführen lassen“, flüsterte ich ihm zu.
      Eriks Gesichtszüge entglitten.
      „Das ist kein Scherz?“, sprach er nach einer Pause, um das erst einmal zu begreifen. Noch immer bildeten sich tiefe Furchen auf seiner Stirn, als würde ein Bauer das Feld pflügen.
      „Nein, tatsächlich meine ich es Ernst. So was würde ich mir nie ausdenken“, seufzte ich beinah enttäuscht. Mein Gegenüber begann aus tiefstem Herz anzulachen, dass sogar Trymr im Fahrzeug sich erhob und neugierig durch das verdunkelte Glas blickte.
      „Der hat ziemlich viel in der Hose, um auf die Art seiner Freundin etwas vorzumachen“, gerade als ich meinen Mund öffnete, um ihm beizupflichten, legte nun er seinen Finger auf meine Lippen, „Engelchen, das möchte ich gar nicht so genau wissen.“
      “Na gut”, grinste ich vergnügt und gab ihm noch einen Kuss. Es wurde Zeit, dass er nach Hause kam, nicht dass ihn loswerden wollte, aber Fredna wartete sicher schon sehnsüchtig auf ihren Vater.
      “Ich liebe dich”, sagte ich noch, bevor Erik die Autotür schloss und im nächsten Moment über den geräumten Schotterweg vom Hof fuhr. Mit einem quälenden Drücken in der Bauchregion stand ich wie angewurzelt in der Kälte und folgte mit meinen Augen dem Auto, bis es zwischen dem Weiß am Horizont verschwand. Nur ein Seufzer verließ meine Lippen, bevor ich mich endlich löste und zurück in den schützenden Stall lief.
      Leise Kaugeräusche klangen durch den Stall und Hufschlag auf dem kalten Beton. Weit und breit niemand zu sehen, bis um die Ecke bog und Niklas an der Box seines Schimmels entdeckte. Gerade als ich die Flucht zurück in die Kälte einschlagen wollte, drehte er sich zu mir um. Er schloss die Box und trat die Schritte zwischen uns an. Es wäre meinerseits ziemlich unhöflich gewesen, einfach zu den Zimmern zu verschwinden, um mir einen weiteren Kaffee zu holen.
      „Ist dein Göttergatte in seinem heiligen Gefährt geflüchtet?“, grinse Niklas und verschränkte die Arme vor mir. Im Vergleich zu Erik war er wirklich groß. Kurz überlegte ich, ob dieses Gespräch zu dem nötigsten gehörte, aber ich konnte ihm ohnehin nicht entfliehen.
      „Andere sagen, dass er nach Hause gefahren ist, aber ja“, versuchte ich ihm keine weitere Bedeutung zu schenken. Wie ich bereits annahm, würde er jeden meiner Versuche unterbinden und so kam es auch. Gerade als ich einen Fuß vor den anderen setzte, stellte sich der Riese mir in den Weg. Nicht, dass ich versuchte ihm auszuweichen, aber er konnte mit einem Schritt mehr Distanz gut manchen als ich. Seufzend gab ich mich geschlagen.
      „Was ist denn noch?“, rollte ich mit den Augen.
      „Ich möchte wissen, was du mit ihm getrieben hast, wenn du es nicht vor versammelter Mannschaft erzählen möchtest“, bettelte mich dieser an. Aber mir war ein derartiges Gespräch nicht wohl, vor allem dem geschuldet, dass es keinen Grund gab ihm private Details zu schildern. Einige Tage zuvor hätte ich mich vermutlich noch darum gerissen, mit ihm Erfahrungen auszutauschen, doch plötzlich erschien es mir so unwichtig, wie darüber nachzudenken, welche Wäsche gewaschen werden sollte.
      „Vielleicht solltest du dir lieber überlegen, was mit dir gestern los war in der Umkleide“, selbstsicher und erfreut über den Sieg, setzte ich ein boshaftes Grinsen auf. Niklas stand regungslos vor mir, schwieg endlich. Über die Treppe ertönten helle Schritte auf dem Hartholz, die ich sofort Lina zuordnen konnte.
      „Woher“, noch bevor er die Frage beenden konnte, schien er selbst auf die Antwort zu kommen, „ich sage dir, wenn du es jemanden erzählst.“
      Ich ließ ihn gar nicht ausreden, sondern berührte überlegen seine kräftige Schulter.
      „Keine Sorge, nur Erik weiß es und wir wollen doch alle, dass es so bleibt.“ Ein großartiges Gefühl zog durch meinen Körper, als hätte ich die Meisterschaft gewonnen.
      Ohne große Umschweife setzte ich den Weg zur Küche fort und musste mit Enttäuschung feststellen, dass die Kaffeekanne vom Morgen bereits geleert wurde. Nur der Welpi sah mit müden Augen von dem riesigen Kissen auf, das eigentlich Trymr gehörte, und versank umgehend darin. Um ihn nicht weiter zu stören, entschied ich eine andere Koffeinquelle zu suchen. Eine Schranktür nach der anderen öffnete ich, bis es in einem reinsten Chaos endete.
      „Das kann doch nicht sein“, murmelte ich leise vor mich hin, wenn ich zwischen all den Konserven nach einem Energy-Drink suchte. Tatsächlich fand ich einen, tief vergraben inmitten der Reiniger. Skeptisch musterte ich die Dose, die mit einem Edding beschriftet war: „Harlen“, las ich. Noch als ich überlegte, sie wieder zurückstellen, tauchte dieser hinter mir auf.
      „Du findest auch wirklich alles“, lachte er und nahm mir sanft das Getränk aus der Hand.
      „Aber“, schmollte ich, „sie hat nach mir gerufen.“
      „Das glaube ich dir gern. Wenig geschlafen?“, fragte Harlen höflich nach.
      „Nicht weniger als sonst“, zuckte ich mit den Schultern und versuchte meine Lebensenergie zurückzubekommen, die er triumphierend in die Luft streckte. So hoch, dass ich hätte auf den Tisch klettern müssen, aber mein Körper teilte mir bereits mit, dass die Kraft für solche Aktionen fehlte.
      „Unter einer Bedienung kannst du sie haben“, spielte er weiter mit seinem brüderlichen Charme.
      „Welcher?“, haste ich und sprang unaufhörlich an ihm hoch.
      „Ich möchte mehr über deinen Freund wissen, weil ich mir Sorgen mache.“
      „Sorgen? Klar, frag, was du willst, aber gib mir die blöde Dose“, mit meinen Händen fuchtelte ich weiter an ihm, bis er endlich den Arm senkte und ich sie zurück in der Hand hatte. Vorsichtig öffnete ich den Clip am Deckel und klopfte vorsorglich, damit die Blasen nach oben stiegen. Endlich nahm ich einen kräftigen Schluck. Obwohl das Getränk Zimmertemperatur hatte, fühlte ich mich erfrischt und Tatendrang löste sich in meinem Kopf aus.
      „Vivi, was willst du denn mit so einem Slipsträger? Nutzt du ihn nur aus für die Pferde?“, musterte Harlen mich ganz genau. Ich schwieg zu nächsten, um die Situation besser begreifen zu können, aber es klang ganz danach, als würde er mir vorwerfen wollen, kein ernsthaftes Interesse an ihm zu haben.
      „Bist du des Wahnsinns? Ausnutzen? Ich liebe ihn“, stammelte ich aufgebracht. Die Blöße wollte ich mir nicht weiter anhören, jemanden seine Gefühle erklären zu müssen, schließlich hatte schon genügend Zeit totgeschlagen mit der Gurke. Meine Berittpferde bewegten sich schließlich nicht von selbst auf dem Reitplatz, also im übertragenen Sinne versteht sich.
      Wieder stellte sich jemand mir in den Weg, nur nutzte mein Bruder erneut den Größenvorteil aus.
      „Er passt nur irgendwie nicht zu dir“, führte er weiter das Gespräch.
      „Was weißt du schon!“, schnaubte ich, „du hast nicht einmal eine Freundin, oder Freund, was auch immer. Stattdessen drückst du jedes Mal auf, wie ich handeln soll.“
      „Ganz ruhig mit den jungen Pferden, du steigerst dich schon wieder in falsche Tatsachen hinein“, stoppte mich Harlen in meiner Rage, die wirklich ausuferte. Bewusst atmete ich ein und wieder aus.
      „Warte, hast du jemanden?“, fiel es mir wie Schuppen von den Augen und auch er hatte eher weniger damit gerechnet, dass ich diese Schlussfolgerung traf.
      „D-Das habe ich damit nicht sagen wollen“, stammelte er. Welpi, der vermutlich der Aufregung geschuldet, wach wurde, taumelte noch verschlafen über die Fliesen des Küchenbodens. Abgelenkt kniete ich mich hinunter zu dem kleinen Tier, das quengelnd um mich herum tollte und die hängenden Ohren durch die Luft warf.
      „Warum muss ich alles aus meinem Privat offenlegen, wenn du mir nicht einmal die simpelsten Dinge erzählst?“, sah ich hoch zu ihm. Harlens Abwendung mit der Hüfte zur Tür schrie förmlich danach, dass er abhauen wollte. Meine Frage brachte ihn in Verlegenheit. Eine leichte Röte legte sich auf seine Wangen, während seine Hand nervös am Hemdärmel zupfte.
      „Weil man sich um mich keine Sorgen muss“, brachte er das altbewährte Thema auf, als gäbe es sonst keine Gründe dafür.
      „Dir ist schon klar, dass ich dich auch Frage, weil es mich interessiert und nicht um die Vorzuschreiben, wen du im Bett hast. Schließlich war Owen auch kein guter Umgang“, erinnerte ich ihn an zu liegende Zeiten. Bis heute wurde das Ende der jahrelangen Freundschaft totgeschwiegen, während es zwischen Jenni und mir offensichtlicher hätte nicht sein können, auch wenn ich es oft noch verdrängte. Seufzend nahm ich den Hund auf den Arm und stand auf aus der Hocke. So langsam schmerzend die Knie von der engen doppelten Lage an den Beinen.
      „Das war was ganz anderes“, versuchte Harlen erneut aus der Angelegenheit zu verkrümeln, „wir haben uns auseinandergelebt.“
      „Auseinander gelebt also?“, hackte ich verwundert nach, im Bewusstsein darüber, dass es nur eine billige Ausrede war. Man konnte sich nur schwer auseinander leben mit meinem Bruder, dafür war er viel zu sehr darauf bedacht, dass es allen in seinem Umfeld gut ging und passte sich jederzeit an.
      „Genau, auseinandergelebt. Andere Interesse, neue Freunde“, baute er den Gedanken weiter aus.
      „Ich glaube dir nicht.“
      „Ich weiß, tust du nie“, lachte er und legte seine Hand auf meine Schulter. Hastig drückte sich der Welpe zu ihm, um wild daran herumzulecken.
      „Doch, wenn du die Wahrheit sagst, denn deine Lügen sind zu offensichtlich“, erinnerte ich ihn.
      „Was immer“, winkte er erneut ab. Mit einem Seufzer beschloss ich, das Thema würdevoll beizusetzen. Es hätte ohnehin keinen Zweck, wenn er mir jedes Mal auswich. Also konnte ich mich meiner Arbeit widmen, zumindest versuchte ich es. Im Flur pfiff Harlen mich zurück.
      „Wir müssen noch über offene Posten in der Abrechnung sprechen und Unterlagen, die ich von dir brauche“, rief er. Bei Papier war mein Bruder Feuer und Flamme, unglaublich wie viel Herzblut man in derartig langweilige Tätigkeiten investierte.
      „Ja, okay“, folgte ich ihm ins Büro.
      Dort zeugte Harlen mit einige Dinge. Einiges konnten wir schnell klären, während andere noch diskutiert werden mussten. Unter anderem zählte auch Lubi dazu, die nicht ganz günstig in der Einzelbox war. Meine Augen drifteten in dem Programm ab, dabei entging mir nicht, dass Niklas ebenfalls horrende Summen für die Einzelhaltung zahlte.
      „Familie Westerdahl wird sicher kein Problem haben“, hoffte ich, als ich zähneknirschend loslief und aus dem Zimmer ihren Equidenpass holte. Keine wirklich sinnige Aktion, schließlich musste ich diesen in weniger als drei Stunden wieder einpacken, um mit der Stute zum Training zu fahren.
      „War’s das?“, fragte ich nach ich den Pass direkt in die bunte Keramikschale legte auf dem Apothekerschrank.
      „Nein, tatsächlich nicht“, sprach Harlen und sah vom Computer zu mir, „du solltest mitbekommen haben, dass Colin und Valeria den Hof verließen“, ich nickte, „Eine der Drei-Zimmer-Hütten wurde deshalb frei und wäre nun einzugsbereit. Möchtest du sie?“
      Kurzzeitig fehlten mit dir Worte. Ehrlich gesagt fühlte ich mich wohl mit Lina in dem Zimmer, auch wenn es deutlich an Privatsphäre haperte, aber das war ohnehin ein Art Problem auf dem Gestüt, keins für mich, jedoch hatten wir schon Mitarbeiter, die sich nicht in dieses Familienkonstrukt einlebten.
      „Ich weiß nicht genau“, zitterte meine Stimme deutlicher, als ich wollte, „möchte ich noch mit Lina besprechen.“
      „Aber ich sag mir bitte heute Bescheid, sonst kommt sie in die Vermietung, schließlich gibt es genug Anfragen“, sagte mein Bruder unbeeindruckt und begann wieder auf der Tastatur zu tippen. Klares Zeichen dafür, den Raum zu verlassen. Gerade als ich den Weg hinaus antrat, kamen erneut Worte. Auf der Ferse drehte ich mich um und blickte zur Tür hinein: „Ich dachte, es sei alles geklärt?“
      „Ich wollte mich noch mal bedanken bei dir. Dein Einsatz in der Art war nicht okay, aber hat funktioniert“, funkelte Harlen mit den Augen, allerdings mir standen die Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben.
      „Du weißt nicht, was ich meine, stimmt’s?“, hakte er nach.
      „Damit liegst du vollkommen richtig“, sagte ich.
      „Mit Vidar“, murmelte er kaum hörbar. Ich holte einmal tief Luft und spürte, dass meine Hand wieder zum Arm wanderte und langsam in die Haut zwickte.
      „Ich hatte es gerade wieder aus den Gedanken heraus“, log ich mich selbst an. Zwischendurch dachte ich noch daran, hauptsächlich im Bett, aber es war keine Scham, wie es jeder von mir erwarten würde. Immer mehr aus dem Aussetzer schwappte wie bei einer Regentonne über den Rand. Täglich prasselten mehr Dinge auf mich ein, die dafür sorgten, dass mein Unterbewusstsein aussortierte, um es zu meinem Gehirn weiterzuleiten und was soll ich sagen? Vielleicht gehörte er zu den Gründen, weshalb Erik mir dermaßen den Kopf verdrehte.
      „Dann tut es mir leid“, versuchte Harlen die Fassung zu bewahren, als hätte ich einen Fehler gemacht, „möchtest du darüber reden?“
      „Sollte ich?“, schoss es wie ein Pfeil aus meinem Mund heraus.
      „Wenn es dich belastet?“
      „Ehrlich gesagt, nein. Es hat mir gefallen“, ein Seufzer verdeutlichte, dass wie eine Last von mir fiel, „und ich mache mir Gedanken, dass ich deshalb nur mit Erik so …“ Mir fiel es schwer, das auszusprechen, denn es wirkte so absurd. Vor einigen Minuten hätte ich mir niemand anderes in meinem Leben vorstellen können, doch als seines Vaters Name fiel, erinnerte ich mich an alles. Dieses Gefühl, das durch meinen Körper rauschte, jede Zelle bewegte und elektrisierend den Motor auf Trab hielt. All das und die Tatsache, dass beinah jeder in der Familie mein Herz im Sturm eroberte. Wie konnte ich nur so ein schlechter Mensch sein?
      „Das ist Irrsinn, Vivi. Du liebst ihn und er dich. Es sind nur die Erfahrungen, die dich an seltsamen Dingen festhalten. Nimmst du noch deine Medikamente?“, lächelte mein Bruder zuversichtlich, aber traf einen anderen wunden Punkt in meiner Gedankenwelt.
      „Ähm“, stammelte ich und suchte nach der passenden Ausrede, „nein. Schon seit einem Jahr nicht mehr.“
      „Ein Grund mehr, dass du sie wieder nehmen solltest. Du weißt noch, wofür sie sind, oder?“, versuchte er an mein Gewissen zu appellieren.
      „Ja, weiß ich, aber ich hatte keine manischen Episoden mehr“, erklärte ich zuversichtlich, konnte allerdings aus meinem Tagebuch entnehmen, dass dem nicht so war. Seit dem Absetzen gab es immer wieder Phasen, vor allem Depressive, in denen ich die Kontrolle verlor. Aber meine Therapeutin in Deutschland wollte, dass ich mir hier jemanden suchte – was ich nicht wollte.
      „Okay, aber denk bitte darüber nach, es wäre besser für alle“, nickte Harlen. Das Thema wurde mir wieder einmal zu viel. Aus dem Wissen heraus, dass er alte Situation erwähnen könnte, rannte ich den Flur entlang, direkt die Treppe hinunter, zu meinem Enttäuschen in Niklas‘ Arme. Warum stand der Kerl eigentlich immer im Weg herum?
      „Hui, was denn mit dir? Hat dich eine Tarantel gestochen?“, hielt er mich weiterhin fest und ich spürte, dass die Trense, die er in seiner Hand hielt, nass an mein Bein tropfte.
      „Fast“, grinste ich und drückte mich willkürlich an seinen Oberkörper. Ja, ich hatte mir nichts mehr als eine innige Umarmung von meinem Bruder gewünscht, die mir nun wohl woanders holen musste.
      „Wenn du weiter so andrückst, wird es unangenehm“, lachte er, aber strich mir mit der freien Hand durchs Haar.
      „Ach ja?“, funkelte ich nach oben. Das Gespräch ordnete ich als nötig ein, schließlich brauchte ich das Gefühl von Nähe in dem Moment und niemand anderes am Hof, meinen Bruder ausgeschlossen, konnte mir genau das geben. Sosehr ich Lina schätze, hatte sie keine kräftigen Arme.
      „Lass uns die Trense von Smoothie wegbringen und du erzählst mir, was du auf dem Herzen hast“, offensichtlich wollte jeder heute sich unterhalten. Es gab so Tage und dieser gehörte offenbar dazu. Folgsam lief ich ihm nach zur Sattelkammer, in der das Zeug seiner Stute so etwas wie ein Ehrenplatz hatten. In der Mitte, direkt, wenn man dem Flur folgte und in den ersten gläsernen Raum hineinkam, hing ein großes Schild über seinem Sattelhalter. Darauf stand der Name seiner Stute, danach folgte ein kleines Regal, wie unnötiger Kram lag und alles andere. Die anderen Sättel im Raum hingen übereinander und hatten keinen Schrein. Ich glaube, Lina hatte ihm das eingerichtet. Zumindest sprach die kleine Malerei auf dem Schild dafür. Niklas hängte die Trense zurück an die vorgesehene Halterung, während ich nur danebenstand und ihn dabei beobachtete. Jede seiner Bewegung begnügte mich und als er sich hinsetzte, überkam es mich. Anstelle mich neben ihn zu setzen, wie er es durch Klopfen symbolisierte, setzte ich mich auf seinen Schoß. Das seine Hände wie automatisch an meine Hüfte fassten, bestärkten mich hoch mehr. Ich schwieg und legte nur meine Lippen an seinen Hals. Aber es kam anderes. Die kräftigen Hände hoben mich hinunter und platzierten mich, wie ein Kran, auf besagten Platz. Verblüfft sah er mich an.
      „Warte, du sagst mir, dass du das von Kili weißt, stirbst beinah vor Freude mit Erik und machst dich trotzdem wieder an mich ran?“ Seine Stimme klang so viel ernster und gleichzeitig besorgt, dass das Gefühl bekam, dass er mir nicht böse war.
      „Ihr habt schon Spitznamen füreinander?“, aus tiefster Seele brach Gelächter aus mir heraus, mehr um mich selbst von den Fakten abzulenken.
      „Nein … ja, vielleicht. Ich weiß es nicht“, grinste er. Dieser konnte mir offenbar nicht böse sein.
      „Aber Vivi“, ach, sind wir jetzt auch bei Spitznamen? Ganz seltsam, wo ich es bisher doch nur seinem Kili anbot und Erik es adaptierte, aber es betraf mich emotional überhaupt nicht.
      „Ja, Niki?“, böses Funkeln huschte durch seine Augen, die sich deutlich verfinsterten, als ich die Stiefel am Reißverschluss öffnete und vor den Polstern Auszug. Die Beine schlang ich in den Schneidersitz und drehte mich mit der Sicht in seine Richtung.
      „Du bist seltsam, weißt du das?“, schüttelte dieser mit dem Kopf und überschlug seine Beine, während ein Arm locker auf der Lehne thronte.
      „Als wäre es etwas Neues. Ich höre das öfter, als du denkst“, zuckte ich unbekümmert mit den Schultern.
      „Dann sag mir eins. Wieso sitzen wir nun hier, als wäre nichts geschehen?“
      „Dasselbe könnte auch dich fragen, aber du scheinst etwas auf dem Herzen zu haben, sonst wärst du wortlos verschwunden“, hielt ich meine Neugier aufrecht. Von Eskil wusste ich nur die Grundaussage, aber es interessierte mich enorm, was sie miteinander trieben. Ich erwischte mich dabei, die beiden mir im Kopf vorstellen, mit dem typischen Männerumkleiden Geruch in der Nase und anderen Feinheiten, die noch aus dem Internat wusste. Dort war ich öfter in den Herren als bei den Damen, wenn ich so darüber nachdachte.
      „Vermutlich hast du damit recht, aber ich weiß auch nicht. Es war spannend mit Kili, so … anders, auf eine Art berauschend und entspannend“, blickte Niklas hoch zur Decke, um die Röte seiner Wangen zu verbergen, aber natürlich fiel es mir auf. Schließlich sprach er dazu, wie ein Jugendlicher, was er nicht mehr war.
      „Und was denkst du, wie es weitergeht? Willst du eine Affäre oder es bei einem einmaligen Ereignis belassen?“, kurzzeitig fühlte ich mich wie Amor, der wild mit Liebespfeilen um sich warf und endlich einen Treffer erzielte. Dabei verlor ich seine bestehende Beziehung außer Acht.
      „Ich möchte es auf mich zukommen lassen und die Eventualität warm halten“, erklärte er weiter, als gäbe es bereits einen weitgefächerten Lebensplan, „aber jetzt zu dir. Warum kommst du immer wieder an? Also versteh mich nicht falsch, ich erfreue mich an jedem Augenblick, aber das mit uns war doch von Anfang locker und nichts Ernstes.“
      Ich schluckte. Tatsächlich fühlte es sich nie locker an, im übertragenen Sinne. Krampfhaft hielten meine Gefühle an ihm fest. Es war, wie er es selbst mit Eskil beschrieb, spannend und berauschend. Mit Erik auch, aber anderes. Ob es ein Ranking dafür gab, wusste ich nicht. Mich verwirrte das alles, so wollte ich am liebsten immer das, was ich für den Augenblick verlangte. Teilweise zweifelte ich sogar an meinem Dasein als Pferdemensch.
      „Weil du mir geben kannst, was ich brauche“, jammerte ich und legte meine Hände auf seinen Beinen ab, die immer wieder nach Aufmerksamkeit heischten. Ich spürte, wie ein Zucken durch seinen Körper ging.
      „Erik auch, du musst es ihm nur sagen, sofern ihr … aber ja. Er will dich auch so sehr“, versuchte er erneut meinen Blicken auszuweichen und die Hände bei sich zu halten, aber seine Finger bewegten sich wie hungrige Schlage auf der Pirsch an seinem eigenen Körper entlang.
      „Und das weißt du woher?“
      Das Gespräch verlief in eine andere Richtung, als ich dachte.
      „Moa“, sagte Niklas bestimmt und richtete sich im Sitzen wieder auf. An dem engen Oberteil bemerkte ich, dass seine Atmung schneller wurde, je zarter meine Hände sein Bein umspielten.
      „Und was hast du mit seiner Ex zu tun?“, versuchte ich die Fassung zu wahren. Ich kannte die Dame nicht persönlich, aber konnte mir gut vorstellen, dass sie ein unangenehmer Mensch war, zumindest aus meiner Sicht.
      „Wir kennen uns gut, also vertrau mir“, huschte erneut ein zartes Grinsen über seine Lippen. Ich konzentrierte mich zu sehr auf ihn, umso stärker wuchs auch das Pflänzchen der Verlangens wieder an.
      „Das ergibt alles keinen Sinn. Hast du ihm die Freundin ausgespannt?“, vollkommen verwirrt zog ich mich näher an ihn heran. Oh ja, sein Körper war bis zum Zerbersten angespannt.
      „Nein, also nicht, dass ich es versucht hätte, aber sie wollte mich nicht und wenn ich ehrlich bin auch nicht Erik. Sosehr ich ihn auch verabscheue, er hätte es nicht verdient, wenn du ihn anlügst“, gab Niklas keine Ruhe.
      „Also soll ihm meine Gefühle für dich überlassen?“, kullerte auch eine kleine Träne über die Wange, suchte sich den Weg am Kind entlang und tropfte auf die Hose. Ungewöhnlich still wurde es, aber meine Hände kreisten noch immer auf dem Oberschenkel.
      „Ja, bitte. Niemand hätte es aktuell mehr verdient. Also Vriska, liebe ihn, nicht mich“, appelliert er weiter an meine Vernunft, als gäbe noch Hoffnung für mich.
      „Ich liebe dich nicht“, drückten sich meine Augenbrauen fest zusammen, „nur verlangt dieses Drücken in meinem Unterleib nach dir.“
      „Sag es Erik, dann entfernt er es und glaub mir. Er ist kein Idiot“, schelmisch feixte er. Währenddessen versuchte Niklas meine Hände zum Stillstand zu bewegen, was nur dafür sorgte, dass ich mich schlagartig umdrehte und meinen Kopf auf seinen Schoß legte. Unheimlich bequem!
      „Aber du“, jammerte ich zaghaft weiter.
      „Hör auf zu diskutieren, sonst fahre ich dich umgehend zu ihm und sperre euch ein. Meinetwegen halten wir vorher noch an der Tankstelle, aber ich denke nicht, dass da was passiert“, seine offene und teuflische Art, konnte einem ziemlich nerven, besonders wenn man sich selbst in einem derartigen Dilemma befand.
      „Geht nicht, ich muss gleich los“, sagte ich und verabschiedete mich bereits von dem Gedanken, dass ich Blávör noch bewegen wollte.
      „Ach, wohin?“, fragte Niklas interessiert
      „Zu deinem Kili“, kam auf das ursprüngliche Thema zurück. Erneut warf er einen Block zu Decke, die noch immer daherkam, wie zuvor. Es hatte sich weder die Farbe geändert, noch sonst etwas.
      „Ach so”, musterte er meine Blicke genau, die aber nur wenig aussagten, “du hast Training?“
      „Ja, aber ich weiß, dass du ihn gerne bei dir hättest, um“, dabei drückte ich meine Hand provokant zwischen seine Beine. Mich begnügte auf zweierlei Weisen, doch tatsächlich nickte Niklas.
      „Dann komm doch mit, er würde sich sicher auch freuen mehr von dir zu spüren“, konnte ich nicht anders, als ihn anzustacheln.
      „Vriska, hör auf, es belastet mich schon genug.“
      Langsam wurde mir einiges klar.

      Später in Kalmar

      Was ein Tag. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magenregion fuhr ich mit dem riesigen Auto im Schritttempo die Ausfahrt entlang, um das Gespann nur einige Meter entfernt vor der Reithalle abzuparken. Im Anhänger war es ruhig wie immer.
      „Pünktlich. Da kann man fast stolz auf dich sein“, begrüßte mich Eskil der aus dem Eingang der Reithalle herauskam. Vollkommen überschwänglich sprang ich zu ihm hinüber, um mich im nächsten Moment freundschaftlich an seinen Hals zu werfen. Mir war heute nicht nach reiten, aber es nutzte nichts.
      „Welch eine freudige Begrüßung“, stellte beiläufig fest und klopfte mir beherzt auf den Rücken, als wäre ich ein Pferd.
      „Zu viel?“, fragte ich zaghaft nach.
      „Nein, alles gut. Hatte ich nur nicht erwartet. Das ist alles“, lächelte er und half mir dabei, die Klappe zu öffnen. Interessiert dreht sich Lubi zu uns um. Ihre sanften Augen sprachen zu mir, als würde sie mich beruhigen wollte.
      „Wie sieht sie eigentlich aus?“, musterte Eskil die teils sehr verstaubte Stute, die im Stall den Kontakt zu ihren Artgenossen suchte. Von allen Seiten brummte es leise, dass sie umgehend erwiderte.
      „Dreckig“, zuckte ich unbekümmerte und nahm eine Bürste. Schließlich hatte sie nicht vor dem Verladen geputzt, wozu auch. Sie trug nicht einmal Transportgamaschen für den Weg. Nur das Nötigste an Staub entfernte ich aus dem Fell, damit sie keine Druckstellen bekam, kratzte die Hufe aus und holte aus dem Kasten die Bandagen. Nur mit wenig Engagement winkelte ich das Fleece über die Unterlagen, um wenig später ein gesatteltes Pferd vor mir zu stehen haben. Gerade als ich meinen Helm aufsetzte, zog mich Eskil zur Seite.
      „Und so möchtest du wirklich aufsteigen?“, fragte dieser scharf nach. Verwundert blickte ich hoch zu ihm.
      „Wieso nicht? Der Sattel ist korrekt hinter der Schulter und das Reithalfter locker genug“, versuchte ich den Fehler zu finden, aber in meinen Augen gab es kein. Sogar die drei Späne hatte auch aus dem Schweif entfernt, die ich zu Hause ignoriert hätte.
      „Das Pferd sieht furchtbar aus“, lachte Eskil und vergrub vor gespielter Verzweiflung das Gesicht in den Händen.
      „Armes Lubi“, drückte ich die Unterlippe zu einem Schmollmund, „es ist wunderschön, wie eine Giraffe.“
      „Eine Giraffe also?“, verblieb er in der Position.
      „Setze deinen Helm wieder ab und dann werden die Bandagen neu gewickelt“, erklärte Eskil, als ich nicht reagierte.
      „Wieso? Das ist ätzend“, jammerte ich.
      „Tja, wir üben das jetzt, bis es gut aussieht, vorher setzt du dich nicht in den Sattel“, klopfte mir dieser auf die Schulter und gab mir einen kleinen Schubser, damit ich mich zum Pferd bewegte. Mein Gewissen sagte mir bereits, dass es länger dauern würde, weshalb ich ihr die Trense wieder aus dem Maul nahm.
      Nacheinander wickelte ich Beine ab, um sie im Anschluss wieder festzumachen. Gemein, wie Eskil war, bekam ich erst ein Kommentar, wenn alle Vierbeiner fertig waren.
      „Nein, noch schlimmer als vorher“, sagte er belustigt und hatte sich bereits einen Stuhl aus der Sattelkammer geholt. Damit begann das Spiel von vorn. Immer und immer setzte ich das Fleece an, nur um in einige Minuten später wieder als Rolle in der Hand zu halten. Meine Knie schmerzten durch das stetige Hocken, weshalb ich mittlerweile auf Lubis Abschwitzdecke saß und dann die Beine wickelte. Der Muskelkater war, wenn nicht durchs Reiten, hiermit vorprogrammiert.
      Ich hatte zwar aufgehört zu zählen, nach dem zehnten Mal, aber die Zeit pro Bein ins Verhältnis zur aktuellen Uhrzeit zu stellen, gelang mir noch. Einer meiner Dozenten an der Universität verlangte immer, dass wir zehn Nachkommastellen berechnen im Kopf, da stellte das hier keine Schwierigkeiten dar. Es müsste das fünf zwanzigste Mal gewesen, als ich erschöpft nach hinten kippte und Lubi sich verwundert zu mir nach unten umsah. Eskil hatte ihr ein befülltes Heunetz angehangen, denn sie wollte so gern das Lammfell-Halfter verspeisen oder zumindest versuchen.
      „Reicht das jetzt?“, wendete ich mich zu ihm auf seinem Stuhl zu. Kritisch beäugte er jedes der vier Beine.
      „Für heute ja“, grinste er und reichte die Trense, die neben ihm hing. Beinah eingeschnappt riss ich ihm diese aus der Hand, also wollte ich. Denn gerade als Zugriff zog er sie an sich heran. Mehr als Luft verspürten meine Finger nicht.
      „So nicht“, tadelte Eskil.
      „Was wird das hier? Erziehungsmaßnahme?“, jammerte ich und schmerzerfüllt von dem Pochen meiner Finger.
      „Dein Mann meinte, ich soll alles vermitteln“, grinste er wieder und reichte die Trense. Dankend nahm ich sie entgegen. Nachdem ich letzten Halm zwischen den Zähnen herauszog, legte ich die Trense an und setzte mir wieder den Helm auf.
      „Ach, und du denkst, dass Erik etwas zu sagen hat?“, sagte ich beim Aufsteigen.
      „Da er bezahlt, vermute ich das“, zuckte er mit den Schultern. Mitleid schwang mit wehenden Fahnen. Der bloße Gedanke seiner Aufopferung brachte ich mich zum Zweifeln. Ich gab ihm nicht eins, was ihn voranbrachte – vielmehr verbaute ich seinen Weg in eine bessere Zeit. Einmal schlug das Metall noch gegen die Gitter, als Lubi sich an dem Netz bediente, ehe wir den Weg zur Reithalle einschlugen. Auf dem Weg begegneten wir noch einigen anderen aus dem Verband, die nur mit erhobener Nase uns drei betrachteten. Phina, die ohnehin mit den meisten auf dem Kriegspfad stand, schnaubte bei unserem Anblick, aber schwieg glücklicherweise. Mir bedarf es nicht, mich über sie aufzuregen.
      “Woran würdest du gern arbeiten?”, fragte mich Eskil, nach dem ich mit Lubi die Arbeitsphase einleitete. Tatsächlich hatte ich mir zuvor bei Niklas nie Gedanken darüber gemacht. Ich saß auf der Stute und setzte seine geforderten Lektionen um, bekam Tipps und Hilfe, diese besser umzusetzen, aber eine genaue Vorstellung gab es nicht. Im Vordergrund stand lernen und vorbereiten für die kommende Saison, in der ich die Qualifikation für die Turniere bekommen wollte.
      “Ähm”, stammelte ich und trabte auf dem Zirkel um ihn herum.
      „Wenn du es nicht weißt, kann ich dir auch nicht helfen“, setzte er schulterzuckend den Weg zum Tor an, „dann kann mir auch einen Kaffee holen gehen.“
      „Oh, bringst du mir ein mit?“, begannen meine Augen förmlich zu Funkeln bei dem bloßen Gedanke an das bittere Dunkel.
      Er schüttelte den Kopf.
      „Du sollst reiten und kein Kaffee trinken. Also Hopp. Hol sie mehr zu dir heran und versuche deine Arme ruhiger zu halten“, schallte es aus dem Flur zu mir, als die Schritte zunehmend stiller wurden. Unglaublich, da ging Eskil sich einen Kaffee holen. Welch ein grandioser Unterricht, dachte ich und trieb Lubi etwas energischer.
      Schnaufend trabte die Stute voran, ehe ich mit Übergängen vom Schritt in den Galopp begann. Es war noch immer für mich schwierig punktgenaue, flüssige Übergänge zu erreichen, also setzte ich dort an. Meine kurzen Beine lagen zwar am Rippenbogen der Stute, doch bekam ich das Gefühl, dass Lubi meine Hilfen kaum wahrnahm, egal, wie sehr ich meine Ferse einsetzte. Zugleich musste ich den Sitz beibehalten und wollte ihr keine Schmerzen zufügen, ein Grund mehr, weshalb ich den Einsatz von Sporen verweigerte. Langsam wurde ich allerdings das Gefühl nicht los, dass es besser wäre.
      Eskil kam wieder, zu meinem Erstaunen, mit zwei Tassen Kaffee. Diese hielt er wie einen Triumph in die Luft, grinste dabei äußerst raffiniert.
      „Ich schätze, dass Schwarz korrekt ist?“, reichte er mir eine Tasse, als ich neben ihm anhielt. Direkt musterte Lubi die weiße Keramik, aber schreckte bei dem bitteren und rostigen Geruch zurück. Stattdessen laute sie laut auf dem Gebiss herum und schnappte nach dem Zügel. Leicht zog ich daran, während meine andere Hand die Tasse an den Mund ansetzte. Ihn dafür zu bezahlen, klang tatsächlich nach einer guten Tat. Ich habe Eskil die Tasse zurück, um Lubi wieder aufzunehmen. Es fühlte sich an, als würde ich all die Zeit nur bummeln und wenig Ernsthaftigkeit hineinlegen. Doch was soll ich sagen? Lust trieb mich heute nicht an. Für die letzten zwanzig Minuten trabte ich noch, galoppierte einige Runden und ritt ab.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 99.188 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel nitton | 04. Juni 2022

      Snotra / Lubumbashi / Maxou / Glymur / Moonwalker LDS / Planetenfrost LDS / Wunderkind / Harlem Shake LDS / Waschprogramm / Form Follows Function LDS / Satz des Pythagoras/ Lu’lu’a / HMJ Holy / Sturmglokke LDS / Enigma LDS / Millennial LDS
      Einheitssprache / Caja / HMJ Divine / Legolas / Ready for Life / Benjamin


      Vriska
      “Du wolltest doch nur schnell deine Haare neu machen”, jammerte Lina hinter der geschlossenen Badtür.
      “Jaha, ich bin doch gleich so weit”, rief ich langgezogen, mit dem Blick auf mein Handy gerichtet. Beinah sekündlich aktualisierte ich die Instagram Startseite und beobachtete, die Zahl neben dem kleinen Herz, das aufleuchtete, stieg. Wir hatten Tyrell von dem kleinen nächtlichen Ritt in der Halle erzählt und er wollte sich am gestrigen Tag selbst davon überzeugen, nur hatte ich dieses Mal den Sattel auf die Stute gelegt. Seiner Begeisterung über meine Leistung folgte der Einsatz der Kamera. Die Ergebnisse waren großartig, landeten deshalb nicht nur auf der Seite vom Gestüt, sondern auch auf meiner. Und was soll ich sagen? Niklas war hoch im Rennen, sich positiv darüber auszusprechen. Selbst Lina, die es sonst kritisch sah, dass ihr Freund Sympathie für mich hegte, freute sich daran.
      Deshalb saß ich auf dem geschlossenen Deckel der Toilette und wollte nicht zur Teambesprechung. Wollen, war eventuell der falsche Ausdruck, denn ich fand keine Motivation durch den angetauten Schnee wieder zurückzulaufen. Wir hatten schon einiges geschafft. Lina machte große Fortschritte im Umgang mit Rambi und ich war mit Snotra ausreiten, die einen anderen Sattelgurt benötigte. Dieser wurde zunehmend zu kurz. Lina scherzte bereits, dass Glymur mehr Erfolg hatte, als vermutet, doch ich bezweifelte es. Dafür war die Zeit zu kurz auf der Weide gewesen. Aber was wusste ich schon.
      “Ich schneide sie dir ab, wenn du jetzt nicht kommst”, ermahnte sie mich noch einmal und nun öffnete ich doch die Tür. Sie stürmte sofort hinein.
      Einen Moment später patschten wir durch den Matsch auf den Wegen zur Halle. Am Himmel zogen kleine Wolken vorbei, der ansonsten verdächtig blau leuchtete. Ein vereinzelter Vogel kreiste über den Bäumen. Der Hof lag still, getaucht in einer wässrigen Decke und umschlossen von Ästen. Alles wie immer, es war ein typischer Montag.
      Im warmen Raum der Mitarbeiter saßen wir als Erstes an unseren Plätzen. Folke trafen wir noch mit Dustin in der Stallgasse und mein Bruder verbrachte womöglich mit Jonina, die sich beide außergewöhnlich nahe standen seit dem Geburtstag. Ich beäugte die Beziehung kritisch, aber äußerste mich nicht dazu.
      „Oh, ihr seid da“, sagte Tyrell und klatschte erfreut die Hände zusammen. Dann begann er mit einer ganz simplen Sache: Neue Berittpferde.
      „Lina, bist du bereit, dich einer Herausforderung zu stellen? Caja ist nicht ganz einfach, schrieb man mir im Voraus und schickte anbei einige Videos“, erzählte er eher, als dass es eine Frage darstellte.
      “Wie darf man ‘nicht ganz einfach’ verstehen?”, hinterfrage Lina mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ihr schien bereits klar zu sein, dass es bei solch einer Ankündigung nicht nur um eine einfache Lappalie handeln konnte.
      „Fuchs mit großer Blesse?“, fragte ich verwirrt. Das Pferd war nur bedingt unbekannt in der Region, primär in meinem Umfeld.
      „Ja?“, schloss er sich unserer Stimmung an.
      „Ich habe Gerüchte gehört“, grinste ich teuflisch, als hätte ich mir insgeheim bereit gewünscht, dass etwas daran wahr war. „In Spanien soll Mika schwer mit ihr gestürzt sein beim Vortraining und seitdem kommt keiner mehr an sie heran.“
      „Fast. Der Hauptgrund sind wohl Männer, denen sie nicht mehr vertraut und ihr Besitzer möchte ihr nun ein besseres Zuhause schenken“, erläuterte Tyrell weiter. Linas Augen wurden größer.
      „Aber du schaffst das. Wir haben so viel Zeit wie nötig ist, bekommen, also Stress dich nicht“, blieb er zuversichtlich. Cash reihte sich damit in eine lange Liste von schwierigen Pferden ein, die wir am häufigsten am Gestüt hatten. Vermutlich sprach sich herum, dass wir es eine gute Adresse dafür waren.
      “Wenn du das sagst”, entgegnet meine Kollegin, die noch nicht so ganz überzeugt schien, dieser Aufgabe wirklich gewachsen zu sein, aber auch nicht zu widersprechen wagte.
      „Wenn nicht, kann das bestimmt auch Mateo machen“, sprach er weiter, „ach ja, ihr wisst das noch gar nicht. Diesen sammeln wir in Kiel auf. Mit euch wird er dort die Woche verbringen und macht dann im Anschluss bei uns seinen Bereiter und Trainerschein. Vielleicht möchte er auch bleiben, das hat er sich noch nicht überlegt.“
      Oh, jemand Neues im Team? Das klang interessant. Tyrell hatte ein gutes Gespür dafür, wer zu uns passte und wer nicht. Deshalb bereitete die mir Tatsache keine Bedenken.
      „Und eine Praktikantin bekommen wir auch, aber die wird bei Bruce im Stall sein. Mal schauen, es gibt noch weitere Anfragen für alles Mögliche, jedoch sind so gut unsere Zahlen auch nicht, dass wir jeden und alles einstellen können, vor allem, wenn jeder seine Pferde mitbringt“, dabei blickte er uns beide an, aber begann dann zu lachen.
      “Ach, die zwei Ponys fallen doch gar nicht auf, die futtern auch nur ganz wenig”, scherzte Lina, wohl wissend, dass allein Ivy schon das Doppelte an dem verspeiste, was Maxou zu sich nahm.
      „Natürlich, es sind Shetlandponys“, beschwichtigte Tyrell, „aber noch etwas anderes. Ich bitte euch nicht jedes Pferd in Kiel zu kaufen.“ Seine Augen schielten mehr zu mir als zu Lina.
      „Aber eigentlich staune ich ohnehin, dass du jetzt erst eins hast“, fügte er hinzu.
      „Wirklich?“, hakte ich nach.
      „Wenn du könntest, wäre der Stall voll. Zu gleichen Teilen muss das Pferd aber auch für dein Verständnis perfekt sein.“ Ein belustigtes Lächeln umspielte seine Lippen.
      „So groß sind meine Ansprüche nicht, nur wusste ich bisher nicht, in welche Richtung es gehen sollte. Kein Fuchs, kein Kerl und eigentlich Isländer, doch das ist jetzt durch“, zählte ich die kleinen Feinheiten auf.
      „Aber sowohl Glymur als auch Capi zählen doch zur Gattung Kerl?“, traf Tyrell ins Schwarze.
      „Ja, aber die gehören nicht mir. Es geht vielmehr um das drumherum“, versuchte ich nicht vorhandene Gründe der Geschlechterwahl zu finden.
      „Welches Drumherum? Hier ist Hengsthaltung doch gar kein Problem und Wallach werden meistens bevorzugt.“
      „Schon, aber woher soll ich wissen, wie lange ihr mich ertragt und halbe Kerle sind so langweilig. Außerdem will ich die nicht so intim waschen“, lachte ich.
      “Also, dass man Wallache langweilig findet, kann ich noch verstehen, aber Intimpflege, ernsthaft? Eine wirklich seltsame Begründung”, schmunzelte Lina.
      „Das interessiert mich jetzt, aber auch sonst bist du doch recht offen, was männliche Intimzonen betrifft“, musste Tyrell natürlich noch eine Schippe drauflegen. Ich schloss verzweifelt die Augen und versteckte die ansteigende Röte meiner Wangen hinter meinen Händen. Natürlich hatte er mehr von Harlen erfahren, ansonsten – denken wir besser nicht darüber nach.
      „Man kann doch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen! Obendrein finde ich es einfach eklig, okay? Ich möchte nicht mit meinen Händen in dem Bereich an einem Pferd fummeln“, gab ich ihnen meinen Grund dafür mit kratziger Stimme.
      “Ist ja okay”, grinste Lina, “dann hoffe ich mal für dich, dass dir nicht doch mal eines Tages ein Hengst zuläuft.”
      „Das wird nicht passieren“, blieb ich überzeugt, dass nichts im Leben etwas daran ändern könnte. Es gab so viele Pferde, da würde ich eine andere Möglichkeit finden.
      „Spannend“, blieb Tyrell ebenfalls behaglich, „die Größe scheint doch sonst eher in deinem Blick zu sein.“
      Die Röte intensivierte sich.
      „Tyrell! Das sind Pferde“, versuchte ich an seinen verlorenen Verstand zu appellieren.
      “Gibt es, außer diese Sache sonst noch etwas zu besprechen?”, startete Lina, ein feistes Grinsen auf den Lippen, einen Versuch wieder die essenziellen Dinge zu thematisiert und mich damit aus der seltsamen Situation zu befreien. Zum Glück hakte sie nicht weiter nach, vorher seine wirren Behauptungen stammten. Erleichtert atmete ich aus.
      „Tatsächlich, ja“, sagte Tyrell. „Ihr könntet Divine und Legolas heute mal in die Herde packen und dann schauen, wie die beiden sich machen. Irgendwer von den beiden hat die Selbsttränken beschädigt, deswegen steht dort der Eimer.“
      “Okay, cool. Ich hoffe nur, dass mein Spielkind noch nichts überflutet hat”, kommentierte sie.
      “Leider muss ich dich enttäuschen, noch bevor ihr im Stall wart, haben Folke und ich alles getrocknet. Aber alles gut. Kommt vor”, zuckte unser Chef, wenn er das überhaupt noch war, mit Harlen als Geschäftsführer, mit seinen Schultern.
      Sonst stand nichts mehr an und wir bewegten uns nacheinander aus dem Raum heraus. Im Flur kam uns aufgeregt, der junge Hund entgegen, als er unsere Stimmen hörte. Freudestrahlend bewegte sich sein Schwanz, ehe er sich vor unseren Füßen auf den Boden warf. Wir knieten uns hin, um dem Tier einen Augenblick der Aufmerksamkeit zu schenken, doch mussten dann schon weiter. Die Halfter hingen ohnehin an der Box, wodurch wir geradewegs weiterkonnten.
      “Hallo”, begrüßte Lina ihren hellen Hengst spielerisch und war direkt verloren. Noch einige Male versuchte ich eine Antwort auf meine Frage zu bekommen – vergeblich. Damit wir hier keine Ewigkeit verbrachten, legte ich dem Rappen sein blaues Halfter um, das schon bessere Zeiten gesehen hatte.
      “Also, wann kommt Samu endlich wieder?”, nahm ich einen letzten Anlauf, als ich kurz den Paddock standen und die darin befindenden Pferde interessiert ans Gatter kamen. Leise brummten sich die Tiere an, quietschten und verteilten sich wieder vereinzelnd.
      “Mittwoch kommt er definitiv und wenn es zeitlich passt, wollte er vielleicht heute noch kurz hereinschauen”, antworte sie fröhlich.
      “Oh toll, ist da etwas Besonderes?”, fragte ich.
      Lego rieb seinen Kopf an meiner Schulter, bekam einen Klaps, aber ignorierte diesen konsequent. Immer wieder schob ich ihn zur Seite, bis Lina ihm kurz in die Schranken weißte. Der Hengst spitzte die Ohren und gehorchte ihr.
      “Nicht, dass ich wüsste, aber es wäre nicht ausgeschlossen, dass der schon wieder mit irgendwelchen Überraschungen ankommt”, entgegnet sie frohen Mutes, während sie beiläufig die Haarpracht des Freibergers ein wenig ordnete, obwohl dies vermutlich ohnehin gleich wieder durchgewirbelt werden würde.
      “Als hättest du eine Vermutung”, nickte ich verstehend, zumindest versuchte ich es. Die Beiden waren mir ein Rätsel, aber ich finde sie so niedlich zusammen.
      Aber zunächst mussten die Pferde auf dem Paddock. Deswegen öffnete ich am Griff die Litze. Nacheinander führten wir die Hengste hinein, lösten die Stricke und schon bewegten sie sich zu den anderen. Dominant trabte Rambi aus der Gruppe heraus, um ihnen gegenüber dem Mann zu stehen. Er scheuchte die Beiden herum, aber als Benjamin dazu kam, wurde die Gruppe ruhiger.
      “Ja, Intuition”, lächelte sie, “aber ist mir eigentlich auch egal, Hauptsache, er lässt sich gelegentlich hier blicken.”
      “Er ist auch ein Sahnestückchen. Das schaut man gern an”, sprach ich meinen Gedanken aus, ohne die Augen von den Hengsten zu lösen. Lego hatte sich zwischen zwei anderen Warmblütern begeben und zupfte an dem Heu.
      “Na, lass das mal nicht deinen Freund hören”, feixte sie, “aber Unrecht hast du nicht.”
      “Mein Freund will, dass ich mich mit einem Typen treffe, den ich nicht kenne, nur damit ich mit dem Schlafe, anstelle dass er es tut, also bitte”, wurde ich zum Ende leiser. Ein Hauch von Enttäuschung schwang mit, denn eigentlich wollte ich den Satz eher als Scherz klingen lassen, doch alles daran entsprach der Wahrheit. Den Moment nutzte ich, um mein Telefon zu prüfen, stille. Nicht einmal Instagram unterbreitete mir eine erfreuliche Nachricht, einzig die Uhrzeit und das heutige Datum leuchtete mich an. Dennoch lächelte ich. Obwohl ich beschlossen hatte, meinem Sperrbildschirm wieder eine normale Optik zu verpassen, zeichnete sich dort noch immer besagtes erstes Bild, das mir gesendet wurde. Ich mochte es, nicht nur aus emotionaler Sicht, sondern auch aus ästhetischer.
      “Wie oft hast du schon an Samu gedacht, also aus anderen Gründen?”, fragte ich noch nach, als das Handy wieder in der Jackentasche verschwand.
      “Ich fürchte, eine genaue Anzahl ist schwer zu ermitteln”, scherzte sie, “aber oft, gerade in der hochpupertären Phase, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.”
      Versichert huschten meine Augen von links nach rechts, während meine Zähne die Unterlippe hindurchzogen. Kein Thema war so schwierig in meinem Leben wie diese, doch sie konnte das nicht wissen.
      “Von meinen Freunden weiß ich das, ja. Ansonsten habe ich davon einiges Übersprungen und verpasst”, gab ich zu. Aus Serien und Büchern wurde mir das Thema Jugendliebe auch schon nähergebracht, grundlegend nichts, worauf ich neidisch war.
      “Oh, entschuldige, ich wusste nicht, dass das so ein sensibles Thema für dich ist. Aber ich kann dir sagen, es ist keine Lebensphase, die ich gerne wiederholen würde”, setzte sie beschwichtigend nach.
      “Kann ich mir vorstellen”, nickte ich, “aber du und Samu? Grandiose Vorstellung.” Ein freches Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. Vermutlich wäre sie auch deutlich glücklicher mit ihm als mit Niklas, aber das hatte ich nicht zu beurteilen.
      “Findest du? Ich weiß ja nicht so recht”, antwortete sie argwöhnend, schien aber dennoch über meine Worte nachzudenken. Ihr Blick blieb bei ihrem Hengst, der noch immer von ihrem anderen Schützling über den Paddock gescheucht wurde. Keine Bisse, keine Tritte, also hielten sich die Rangdiskussionen noch im Rahmen. So färbte sich aber das saubere helle Fell, immer mehr zu einem Leoparden.
      “Willst du jetzt hören, wie schön eure Kinder aussehen könnten?”, begann ich zu lachen.
      “Ach, jetzt sind wir schon bei Kindern”, amüsiert funkelte es in ihren Augen, “Offenbar hast du genauere Vorstellung über mein Leben als ich selbst.”
      “Natürlich. Grund eins: Hast du dich mal richtig angeschaut? Du bist niedlich. Grund zwei: Dein Leben ist so viel interessanter als meins, deswegen mache ich mir Gedanken, um äußerst seltsame Dinge”, baute ich die Diskussion aus. Sie konnte nicht direkt einordnen, was ich meinte, aber nickte einmal sehr lang, als es im Kopf ankam.
      “Ich habe ja bereits vieles gehört, was ich sein soll, aber niedlich war selten dabei, aber danke”, lächelte sie geschmeichelt, “Aber was ist an meinem Leben dann so viel spannender? Es kommt mir nicht so vor als würde bei dir so wenig passieren.” Sie klang wirklich interessiert an meinem Gedankengang, auch wenn sie stets die Tiere im Auge behielt. Immerhin arbeiteten wir, während die nette Unterhaltung geführt wurde. Viel stand heute ohnehin nicht auf dem Plan.
      “Meine Wortwahl war interessanter und nicht weniger. Dennoch ist es ziemlich einfach, weil es bei dir so geregelter wirkte, bisher und die Erzählungen von deinem Umfeld immer so mitreißend ist”, erläuterte ich.
      “Wenn das so interessant ist, sollte ich vielleicht schon einmal an meiner Biografie arbeiten”, scherzte sie, “Aber Danke für das Kompliment?” Irritiert schielte sie kurz zu mir hinüber, bevor die felligen Vierbeiner wieder die Aufmerksamkeit bekamen.
      „Ich war ein Jahr im Literaturkurs, das könnte helfen“, offerierte ich.
      “Nette Angebot, aber ich glaube, das ist ziemlich viel Aufwand dafür, dass es vermutlich nur dich interessiert”, lächelte sie sanft.
      „Ach, Niklas sollte dafür auch sehr zu haben sein und der kann vermutlich die komplette erste Auflage kaufen“, bemerkte ich beiläufig und verfiel wieder darin, dass ihr bester Freund offenbar auch ihre Jugendliebe darstellte. Romantische Vorstellung, wie ich feststellte und meine womöglich erste und einzige Liebe als kribbelndes Gefühl unter der Haut spürte. Natürlich, Erik war großartig und ich wollte auf eine gewisse Art und Weise für immer bei ihm sein, aber er war nicht … Ich gab mir einen kleinen Klaps auf die Wange, um den Blick wieder für die Tiere zu haben und davon abzukommen. Der Schmerz war stets präsent, aber versteckt, wie chronische Kopfschmerzen.
      “Ich glaube, so funktioniert das nicht, wenn man halbwegs erfolgreich sein wollen würde”, sprach sie grüblerisch und gerade die letzten Worte klangen eher als sei es eher ein hypothetisches Gedankenspiel als eine ernsthafte Überlegung.

      Nach einer weiteren verstrichenen halben Stunde setzten wir uns wieder in Bewegung. Lina nahm sich ihrem Schützling Rambi an, während ich in der Sattelkammer saß und klägliche Aufgaben wie Sattelzeugpflege verrichtete. Eine Trense nach dem anderen nahm ich auseinander, fettete sie ein und baute alle Einzelteile wieder zusammen. Bereits nach der Vierten verlor ich die Lust daran, obwohl noch mehr als zwanzig Stück vor mir lagen.
      „Du bist aber fleißig“, sagte Tyrell und legte den Sattel zurück auf seinen Platz. Seine Schritte hatte ich bereits vernommen, aber man hörte andauernd welche. Selbst über mir knarrte es unregelmäßig.
      „Offensichtlich“, murmelte ich nur. Dabei schloss ich das Reithalfter wieder am Genickstück an.
      „Das war vorhin Spaß“, kam er sofort auf das Thema zu sprechen, was immer wieder in meinem Kopf aufblickte, als wäre es der nervige Wecker am Morgen, der alle neun Minuten ans Aufstehen erinnerte.
      „Freut mich, dass es dir Spaß bereitete“, drehte ich mich zu ihm, mit einem aufgesetzten Lächeln. Widmete mich im Anschluss wieder der Trense, die an ihren Platz zurückkam.
      „Eigentlich wollte ich noch etwas anderes ansprechen“, setzte sich Tyrell mit ernstem Blick neben mich. Wachsam spitzte ich meine Ohren. Die Finger fummelten eine weitere Trense auseinander, aber meine Augen sagen gespannt in seine Richtung.
      „Folke und Hedda werden zurückgehen nach Kalmar, auch Holy lassen sie hier und ich überlege, die Traber nach und nach zu verkaufen“, sagte er mit einem Seufzer. An den Tieren lag ihm viel, umso schwerer wirkte die Entscheidung.
      „Und, was soll ich nun tun?“, versuchte ich mehr in Erfahrung zu bringen.
      „Wäre es möglich, dass du wieder fährst?“, kam er zum Punkt.
      Nein, sagte ich in Gedanken, aber meine Lippen blieben geschlossen. Neben dem harten Training mit Lubi und der anderen Pferde nun auch noch, die Traber in Form zu halten, überstieg deutlich meine Leistungen. Außerdem kam ich selbst kaum auf das nötige Gewicht, wodurch die Rennen für mich nichts sein würden.
      „Es ist in Ordnung, wenn du nicht möchtest. Aber ich würde deine Hilfe benötigen bei der Suche nach jemand Neues“, wartete Tyrell nicht einmal auf meine Antwort.
      „Keine Ahnung, wie ich dir dabei eine Hilfe sein soll, aber ja“, stimmte ich nickend zu, „ich kann auch erst mal, zumindest hier, die Pferde fahren, aber rennen werde ich nicht nennen.“
      Er nickte.
      „Was passiert mit Holy und dem Fohlen?“, kam mir umgehend die Plüschkugel in den Kopf.
      „Die werden wir übernehmen, aber später dann schauen, ob wir sie behalten. Für die Reitschule könnte sie schwierig werden“, erklärte Tyrell. Sprach er von der Reitschule, die bisher nur Ausrede für Pferde war, die er kaufte und keine Notwendigkeit hatten? Gerade mal zwei Reitschüler kamen in der Woche, nichts Nennenswertes für einen weiteren Ausbau.
      „Okay“, nickte ich. Tyrell verließ den Raum und ich widmete mich wieder den Trensen. Aktuell schien sich alles zu ändern. Es kamen immer mehr neue Menschen und im selben Zuge verließen uns andere. Dass es innerhalb weniger Monate derartig viele Veränderungen geben würde, hätte ich nicht denken können. Immer mehr verfiel ich wieder in meinen Trott aus schlechten Gedanken, aber versuchte mich mit den Trensen abzulenken.
      „Die Leute lieben dich“, hörte ich hallend im Flur vor der Sattelkammer. Harlen unterstrich seine Freunde mit seinem Handy hoch in Luft gereckt. Er hatte wohl auch von den Bildern mitbekommen und gesellte sich zu mir.
      „Scheint so“, antwortete ich abwesend, ohne das Zaum aus der Hand zu legen. Den Blick behielt ich ebenfalls daran, um wirklich jede noch so kleine Verschmutzung zu entfernen. Nur noch fünf Stück lagen vor mir.
      „Was ist los?“, fragte er ernst.
      „Nichts.“
      „Für ‚nichts‘ bist du ziemlich seltsam und in dich gekehrt“, merkte Harlen an. Womöglich wieder eine seiner brüderlichen Instinkte, die ihn dazu anstifteten, hartnäckig zu bleiben.
      „Alles wie immer“, konnte ich mich nicht auf ein tiefgründiges Gespräch über meine Gefühle einlassen. In seinem Kopf ratterte es. Seine Hand fuhr durch das nach oben gegeltem Haar und richtete er sich auf.
      „Wir haben mitgeteilt bekommen, welche Pferde ihr in Kiel betreut“, wechselte Harlen gekonnt, das Thema.
      „Cool“, blieb ich desinteressiert. Kiel lag emotional noch so weit entfernt, dass ich darüber noch gar nicht nachdenken konnte. Letztlich war es nur arbeiten an einem anderen Ort, mit weniger Freiheiten.
      „Vivi, könntest du bitte mehr Interesse zeigen?“, appellierte er, aber kam damit nicht wirklich bei mir durch. Die nächste Trense baute ich nach dem Einfetten wieder zusammen. Ich stand auf und hängte sie zurück an ihren Platz. Es müsste jene sein, die wir an Götterdämmerungen verwendeten, zumindest nahm ich sie.
      „Okay, Harlen. Wenn du mich dann in Ruhe lässt, rede ich mit dir darüber“, gab ich schließlich nach. Er verhinderte, dass ich mit der nächsten Trense fortsetzen konnte.
      Zustimmend nickte er.
      „Tyrell musste mal wieder alte Wunden aufreißen, du verheimlichst mir Dinge und ich weiß nicht, wofür mein Herz schlägt“, ratterte ich im Akkord herunter.
      „Du hast recht“, seufzte mein Bruder, „ich war nicht ehrlich zu dir und das tut mir leid.“
      „Und welchen Grund sollte es dafür geben?“, seufzte ich.
      „Es ist kompliziert, deshalb wollte ich nicht darüber reden.“ Seine kurze Aussage klang nach weiterem Schweigen darüber, aber er überlegte auch. Ich hatte mir wieder eine Trense geschnappt, als er weitersprach: „Eigentlich wollte ich nicht hierbleiben, nachdem es mit der Firma geklärt war, aber einige Sachen verhinderten dieses Unterfangen. Papa sieht es nicht gern, dass ich von hier ausarbeite und nun auch noch als zweifacher Geschäftsführer agiere. Ich habe entschieden, dass mein Verwalter das Familienunternehmen vertritt und ich hierbleibe.“
      Harlen sprach um den heißen Brei. Nichts davon wirkte kompliziert oder verriet, wieso er die Entscheidung traf.
      „Du wirst wohl kaum geblieben sein, weil Schweden so schön ist. Dafür sitzt zu viel im Büro“, merkte ich an.
      „Aber das Wetter ist etwas besser.“ Er grinste. Gut, Punkt an ihn.
      „Willst du wirklich wie ich hier auf dem Hof verschimmeln?“, fragte ich.
      „Wieso sollten wir hier verschimmeln? Du planst gerade deine Karriere und ich führe ein erfolgreiches Gestüt, das eine große Zukunft vor sich hat, vor allem, wenn die Weltreiterspiele hier stattfinden sollen. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?“ In Harlens Augen funkelten förmlich die Geldscheine, aber er sah auch nur das große Ganze, nicht die Arbeit mit den Tieren.
      „Ich denke nicht, dass ich es so weit schaffe und die ganze Arbeit!“, jammerte ich.
      „Es geht nun mal nicht von heute auf morgen. Für dich ist es immer so einfach.“

      Tatsächlich hatte ich alle Trensen geschafft, noch vor sechs Uhr am Nachmittag. Damit blieb noch genug Zeit, um mich im Stall umzusehen, wer beschäftigt werden wollte. Von Folke verabschieden, stand ebenfalls noch auf dem Plan. Heute war sein letzter Tag, hatte mir noch Harlen mitgeteilt. Dass es so schnell gehen würde, dachte ich nicht. Veränderungen. Allein diese Tatsache lag mir schwer im Magen, aber ich konnte dagegen nichts tun.
      „Rambi war gut?“, fragte ich Lina in der Stallgasse, die gerade Walker gesattelte hatte und den Kappzaum verschnürte.
      „Ja, super“, antwortete sie kurz. Am Sattel passte sie die Bügellänge ein und verschwand im Schritt durch das große Tor. Ihr Zeitplan schien auch voll zu sein. Indessen stand ich am selben Punkt: Welches Pferd sollte noch geritten werden? Lubi hatte Pause, schließlich stand morgen ein intensives Training mit Eskil an und Maxous Beule wurde wieder größer, wodurch ich zunächst auf den Befund der Biopsie wartete. Unser Tierarzt hatte Zweifel geäußert zwischen den Zeilen, aber ich versuchte optimistisch zu bleiben.
      Also schlich ich durch Aufgang der Hengste, sah wie Plano an der Mähne von Wunderkind knabberte, Shaker an der Selbsttränke spielte und jedes Mal zusammenzuckte, wenn knarrend das Wasser zischte. Von der Seite kam Waschprogramm dazu, das seltsame Barockpferd, dass Tyrell einfach so gekauft hatte. Übersät von Matsch, erkannte man kaum die Punkte in dem Fell.
      „Na komm, dann machen wir mal was“, sagte ich entschlossen und stieg durch die Gitter auf den Paddock. Im Handumdrehen lag das Halfter an seinem Kopf. Treudoof folgte mir das Tier in den Stall.
      Nach einer halben Stunde putzen, verlor ich die Lust noch mehr der riesigen Sandflecken zu entfernen und führte ihn einige Meter weiter zur Indoordusche. Langsam schaltete ich den Wasserhahn an, bis es für mich eine angenehme Temperatur hatte. Waschprogramm jedoch machte seinem Namen keine Ehre. Wie ein kleines Kind hampelte er von links nach rechts, um dem lauwarmen Strahl zu entkommen. Vorsorglich entledigte ich mich der Jacke und Pullover. Im nächsten Augenblick stellte es sich als eine gute Entscheidung heraus. Der Hengst schnappte in den Schlauch und mich überkam ein Schwall aus Wasser.
      “Toll gemacht”, sagte ich zynisch und betrachtete mein tropfendes T-Shirt. Unter mir bildete sich eine kleine Pfütze. Gerade, als ich das Shirt auch noch zur Seite gelegt hatte und das Seitentor geschlossen, ergriff Waschi erneut den Schlauch. Ein bitterlicher Kampf um die Hoheit über die gelb-rote Schlange begann. Kurze Zeit dominierte ich den Besitz, konnte große Teile seines Körpers zumindest anfeuchten, bis er mit gestrecktem Kopf das Gummi in die Luft ragte. Zum Glück war die Dusche großzügig angelegt, dass im Hauptgang alles trocken blieb.
      Eingeseift und wie ein begossener Pudel stand der Hengst vor mir, den Hals gesenkt und die Augen mitleidig nach oben gedreht. Als ob es so ein Problem war, dachte ich insgeheim. Aber kaum floss das Wasser wieder, setzte der Kampf fort. Schritte nährten sich, die ich im Eifer des Gefechts kaum für voll nahm. Besagte Person stoppte. Waschprogramm hatte zu dem Zeitpunkt wieder den Schlauch im Maul und musste umgehend dafür sorgen, dass auch wirklich jeder in seinem Umfeld von seinem Leid etwas zu spüren bekam.
      “Gib zu, das macht er in deinem Auftrag”, ertönte Niklas tiefe Stimme hinter mir. Verlockt, der Tatsache zuzustimmen, drehte ich mich zunächst um. Ich schluckte.
      “Ohne meinen Anwalt sage ich nichts. Ich kenne meine Rechte!”, scherzte ich und griff zu dem Handtuch, das allerdings genauso nass war wie das Umfeld. Ich schmiss es zurück über die Stange. Ungewöhnlich schnell hatte er die durchnässte Jacke in der Hand. Das Shirt darunter wies nur kleine Flecken auf, was Waschi schleunigst zu ändern wusste. Einmal wippte er mit seinem Kopf und schon bekam Niklas die nächste Dusche ab.
      “Es tut mir leid, aber du hättest damit rechnen müssen”, sprach ich schulterzuckend und versuchte den Schlauch zu erobern. Dafür schaltete ich diesen aus, schon hatte ich ihn zurück. Zumindest das Shampoo sollte aus dem Fell heraus, dann wäre er von seinem Leid erlöst.
      “Dann muss ich mich wohl von noch mehr trennen”, lachte Niklas und warf mir sein Shirt entgegen. Ein intensiver Schweißgeruch gemischt mit Deo lag mir in der Nase. So schnell ich konnte, legte ich es wieder weg.
      “Nur das Nötigste”, ermahnte ich ihn, aber konnte auch mein Lachen nicht verdrängen.
      “Oh nein, bringe ich dich etwa in Schwierigkeiten?”
      “Eher du dich selbst. Lina könnte jeden Augenblick wieder kommen”, setzte ich die Grenzen. “Aber, was machst du hier?”
      “Eigentlich wollte ich mein Pferd bewegen, aber jetzt muss ich erst mal neue Sachen aus dem Auto holen”, sprach Niklas.
      Ich drehte mich von ihm weg, um nicht noch bei den auffälligen Blicken auf seine Tattoos eine Anmerkung zu kassieren. Verlegen biss auf meiner Unterlippe, schaltete das Wasser ein und entfernte den restlichen Schaum aus dem Fell des Pferdes. Der Abstand zu ihm verhinderte, dass er in den Schlauch schnappte.

      Lina
      Beinahe wie ein Geist hob, sich die helle Gestalt des Hengstes von dem strahlend blauen Himmel ab, der sich in der Pfütze spiegelte.
      “Großer, da ist nichts zu sehen, außer dir selbst”, sprach ich ruhig zu dem Tier. Seit einigen Minuten stand Walker vor der großen Pfütze, die das leichte Tauwetter auf dem Weg hinterlassen hatte und bewegte sich keinen Zentimeter vorwärts. Immer wieder senkte der Schimmel den Kopf, um mit weit geblähten Nüstern in das Wasser zu starren, ganz so als würde gleich ein Hai daraus emporspringen, um ihm in die Nase zu beißen.
      Mit sanftem Druck in die Flanken, forderte ich Walker erneut auf, sich zu bewegen und tatsächlich setzte der Hengst vorsichtig einen Huf in das Wasser.
      “So ist es brav.” Mit lobenden Worten strich ich über das dichte Fell, welches den Hengst umhüllte wie eine weiche Decke. Der Hengst setzte weiter Hufe in das Nass, auch wenn er die reflektierende Oberfläche nicht aus den Augen ließ. Nach der Durchquerung bekam der Hengst ein Leckerli für den Heldenmut sich dem gefährlichen Miniozean zu stellen.
      Weitere Gefahren begegneten uns auf dem Weg in den Stall nicht, allerdings eröffnete sich ein ziemlich seltsames Bild beim Betreten der Stallgasse. Aus der Waschbucht blickte Waschprogramm, mit hängenden Ohren und ließ sich Schicksalsergeben von Vriska abduschen, die dies aus nicht ersichtlichen Gründen ohne Shirt tat. Sollte ein warmer Wintertag doch nicht gleich ein Grund sein, alle Hüllen von sich zu schmeißen. Als sei das nicht bereits fragwürdig genug, stand mein Freund ebenso unbekleidet da, auch wenn er gerade auf dem Weg nach draußen zu sein schien.
      “Habe ich den Sommeranfang verpasst?”, kam mir, schneller als dass ich es überdenken konnte, ein spitzer Kommentar über die Lippen, bevor ich Walker energisch an den beiden vorbei, zum Putzplatz trieb.
      „Schön wäre es!“, schnaubte Vriska, „Der wollte unbedingt, dass wir auch sauber sind.“ Dabei zeigte sie auf Waschi, der die Augen langsam die Augen nach oben schon und schlussendlich in den Schlauch biss. So schnell konnte man Vriska gar nicht folgen, da ließ der Wasserdruck nach und das Pferd vom Gummi.
      “Ah ja”, argwöhnte ich, denn so wirklich sinnig erschein mir diese Erklärung dennoch nicht, “und weil Waschi meint alle wässern, zieht man sich gleich aus?” Auf die Antwort wartend, ließ ich mich aus dem Sattel des hellen Hengstes gleiten. Seine blauen Augen beharrlich auf mich gerichtet, die Ohren spielend, beobachte er, wie ich um ihn herumtrat, um das Halfter zu ergreifen, welches dort an einem Haken hing.
      „Also ich habe mich vorsorglich ausgezogen“, erklärte sie schließlich. Der Hengst hatte sich geschüttelt und sie nebenbei mit dem Schweißmesser das überschüssige Wasser entfernt. „Dein Freund hat es ungeschickter getroffen, deswegen ist er zum Auto.“
      Unverändert nickte ich. Dann nahm ich den Sattel vom Rücken. Im Flur kam Welpi wie ein Pfeil angeschossen, fußelte um meine Beine herum, noch bevor ich überhaupt in der Sattelkammer ankam. Ungewöhnlich frisch roch es, aber nicht so wie Wäsche duftet, wenn man sie aus der Waschmaschine nahm, sondern eher nach Seife und … Lederfett? In der Kammer bestätigte sich meine Vermutung, die Trensen hingen alle ordentlich geputzt und an der Wand und erstrahlten in fettigen Glanz. Hier musste jemand ziemlich fleißig gewesen sein oder hatte viel Langeweile, wobei mir in letzterem Fall ungefähr hundert andere Dinge einfallen, die mehr Spaß machen würden. Schwungvoll hievte ich den Sattel auf seinen Platz und fiel beinahe über den Hund, der mir noch immer zwischen den Füßen herumlief.
      „Vorsicht Kleiner“, lächelte ich und ging mit ihm auf Augenhöhe. Sofort grub der kleine Rüde seinen Kopf in meinem Schoß, während seine Rute wie ein Propeller durch die Luft flog. Freudige Laute drangen aus dem kleinen Brustkorb, während ich ihn ausgiebig kraulte. Nach einem Moment schob ich ihn von mir, schließlich wartete Walker noch auf sein Futter, bevor er zurück zu den anderen in das Matschwetter durfte. Der Welpe schien nicht der Meinung, dass ihm bereits genug Aufmerksamkeit zukam, denn er setzte sich unmittelbar auf meine Füße. Seinen großen Runden Welpenaugen beobachtet jede Bewegung, während ich das Gebiss auswusch.
      “Fred, so geht das nicht, du bist nicht der Einzige, der heute noch meine Aufmerksamkeit möchte”, versuchte ich den Welpen zu erklären. Natürlich verstand er kein einziges meiner Worte und fühlte sie dadurch, genauso wenig inspiriert sich zu erheben. So schob ich den Hund von meinen Füßen herunter auch, bemüht seinen Kugelaugen zu widerstehen.
      “Ach, wer möchte die denn noch?”, drang eine dunkle Stimme schäkernd an meine Ohren. Ich hatte gar nicht wahrgenommen, dass jemand den Raum betreten hatte. Erschrocken fuhr ich herum: “Gott, schleiche dich doch nicht so an.” Im Türrahmen stand Niklas, ein charmantes Grinsen auf den Lippen und vollständig bekleidet. Zugegebenermaßen müsste ich eigentlich leider sagen, denn ohne den verhüllenden Stoff …
      “Habe ich doch gar nicht. Vielleicht solltest du mehr auf deine Umgebung achten, bei deinen tierischen Gesprächen”, unterbrach mein Freund diesen Gedanken, bevor er weitere Form annehmen konnte. Von dem Neuankömmling begeistert, tapste der Welpe ihm entgegen und hüpfte wie ein Flummi an ihm hoch. Mich beschlich das unbestimmte Gefühl, dass Niklas sich auf meine Kosten amüsierte.
      “Das war kein Gespräch”, verteidigte ich mich, “dafür hätte nämlich eine Antwort erfolgen müssen.” Leicht pikiert wand ich mich von ihm ab, um Walkers Trense ordentlich zwischen den anderen zu platzieren.
      “Nicht immer alles so ernst nehmen, Engelchen. Ich scherze doch nur”, beschwichtigte Niklas direkt und hatte mit wenigen Schritten den Raum durchquert. Unmittelbar hinter mir konnte ich seine Präsenz spüren, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, die starken Hände, die sich auf meiner Taille ablegten.
      “Eigentlich ist das sogar ganz niedlich”, flüsterte er mir sanft ins Ohr. Die glühenden Funken, welche in seiner Nähe stets durch meine Adern tanzten, wurden immer mehr, bis eine Flamme zu lodern begann. Es waren weniger die Worte selbst, die all diese Empfindungen anfachten, als mehr die Offenherzigkeit, die in diesem Moment zu liegen schien. Langsam wand ich mich zu ihm um, blickte in seine strahlenden Augen, in denen die Begierde aufblitze. Worte waren nicht vonnöten, denn wie von selbst fanden unsere Lippen zueinander und die Welt um mich herum verschwamm. Sein Geruch, die kurzen Bartstoppeln, die über meine Haut kratzten, jeder einzelne Muskel, von dem mich nur dünner Stoff trennte – all das wirkte so berauschend. Rau und zart zugleich, war die Haut seiner Finger, die zärtlich den Konturen meiner Lippe folgte, als ich den Kuss für eine Atempause unterbrach. Wohlige Schauer rieselten meine Wirbelsäule hinab. Unglaublich, wie viel so eine winzige Berührung auslösen konnte. Erneut senkte er seine weichen Lippen auf meine, diesmal wenige sanft, irgendwie fordernder. Bereitwillig öffnete ich sie, sodass unsere Zungen sich wie in einem Tanz umspielten. Meine Hände glitten aus seinen Nacken hinab, wanderten an seinem muskulösen Oberkörper hinab, bis er meine Finger stoppte. Ganz langsam lösten sich unsere Münder voneinander, doch unsere Blicke hielten einander fest. Das Herz in meiner Brust schlug wild, drohte beinahe aus meiner Brust zu springen und gleichzeitig regten sich noch ganz andere Dinge in meinem Inneren.
      “Weißt du eigentlich, wie wunderschön du gerade bist?”, flüsterte Nik sacht und strich mir eine der dunklen Haarsträhnen aus der Stirn. Dick eingepackt in mehrere Schichten Kleidung, um dem schwedischen Winter zu trotzen, bedeckt mit Matsch und Pferdehaaren. Nicht einmal meine Haare, die ich jeden Morgen zu bändigen versuchte, verweilten lange in gewünschter Ordnung. Alles in allem eher ein Zustand, den ich mit einer anderen Wortwahl, als wunderschön beschreiben würde. Dennoch versuchte ich den Drang ihm zu widersprechen zu unterdrücken und nicke zustimmend. Noch immer loderten die Flammen in meinem Inneren, erweckten eine Sehnsucht. Sehnsucht nach mehr von dem, was er in mir bewegen konnte, mehr Niklas.
      “Ich finde es so schön, wenn du hier bist”, sprach ich schließlich aus, was immer mal wieder in meinem Kopf herumgeisterte, ”kannst du nicht vielleicht öfter vorbeikommen?” Eigentlich kannte ich die Antwort bereits. Neben seiner Arbeit war das Training ziemlich zeitintensiv und irgendwo dazwischen wollte man selbstverständlich auch noch Zeit für Freunde und Familie haben, oder was auch immer mein Freund in seiner Freizeit anstellten. Da sich an diesen Umständen nichts verändert haben würde, war es ziemlich naiv zu glauben, dass seine Zeit mehr geworden sein sollte.
      “Da wirst du spätestens im Frühling glücklich sein. Dann wechseln wir aus Kalmar her”, grinste Niklas.
      “Na gut, dann hoffe ich, dass der Winter schnell vergeht”, lächelte ich zurückhaltend. Wir hatten gerade einmal Anfang November, was bedeute, dass es noch einige Monate bis zum Frühling hin sein würde. Noch viel länger konnten die nordischen Winter werden, wenn man in einen alltäglichen Trott verfiel. Wenigstens gelegentlich vermochten Niklas Besuche ein wenig Licht in die dunkeln Wintertage zu bringen.
      “Apropos Zeit”, er räusperte sich, “kommst du dann mit nach Stockholm?” Natürlich musste diese Frage über kurz oder lang kommen. Ewigkeiten hatte ich mir den Kopf über diese Entscheidung zerbrochen, denn sowohl für Kiel als auch für Stockholm hatte es gute Argumente gegeben. Letztlich war die Entscheidung jedoch auf Kiel gefallen. Denn auch wenn Stockholm mit einer sagenumwobenen Show lockte, bot die Auktion die einmalige Chance einiges zu lernen und Einblicke in eine Welt zu bekommen, die bisher weit jenseits meiner Vorstellungen lag.
      “Ich wäre so gerne mitgekommen, aber leider sind Vriska und ich da bereits auf einer Art Fortbildung”, entgegnete ich bedauernd. Es war auch einfach nicht fair, dass die Ereignisse in denselben Zeitraum fielen.
      Niklas nickte verständnisvoll. “Immerhin sitzt du nicht traurig hier in der Einöde. Aber ich kann dir sicher einen Code besorgen für die Onlineausstrahlung.” Sofort erhellte ein Lächeln mein Gesicht, denn auch wenn es gestreamt nicht ganz dasselbe Erlebnis sein würde, war es immerhin eine Möglichkeit, die beiden Veranstaltungen zu vereinen. Am allerwichtigsten natürlich war es, dass ich Niklas Auftritt mit seiner neuen Stute nicht verpassen wollte.
      „Traumhaft, ich bin schon gespannt, wie Form sich machen wird. Aber sicherlich wirst du wie immer alle umhauen”, schmunzelte ich. Leider bekam ich nur ziemlich wenig von Nikis Training mit seiner schwarzen Schönheit mit, schließlich wollte ich Vriska nicht ständig auf die Nerven gehen, wenn sie mit Lubi zum Training fuhr. Dabei faszinierte es mich immer wieder, wie leichtfüßig und elegant solch ein gigantisches Warmblut wirken konnte, wenn nur der Richtige im Sattel saß.
      “Anders feilt aktuell noch an der Kür für den Freestyle, aber im Großen und Ganzen bin ich zuversichtlich”, blieb er zuversichtlich, obwohl seine Finger ungeduldig am Shirt fummelten.
      “Alles okay? Wenn ich dich aufhalten sollte, kannst du ruhig zu deinem Pferd gehen”, bot ich entgegenkommend an, denn einen anderen Grund für seine Unruhe konnte ich nicht erkennen.
      “Du hältst mich nicht auf”, das Grinsen auf seinen Lippen wurde größer, “nur wollten meine Kollegen nachher noch in eine Bar.”
      “Und deshalb hibbelst du hier so rum?”, hinterfragte ich kritisch, denn mich beschlich das Gefühl, dass der Kerl noch irgendetwas anders im Sinn hatte.
      “Was willst du denn hören?”, er zuckte mit den Schultern und nahm den innigen Blickkontakt von mir. “Ich habe noch anderes zu tun, als hier herumzustehen, auch wenn es nicht nett klingt.”
      Dass seine Stimmung urplötzlich kippte, konnte nichts Gutes bedeuten. Aus dem Regal nahm er den Putzkasten heraus, sowie die Trense der Schimmelstute.
      “Du bist seltsam heute”, sprach ich offen aus, was mir durch den Kopf ging. Dennoch beschloss ich nicht weiter nachzuhaken, wollte ich nicht noch durch meinen Argwohn das Gefühl in ihm erwecken, dass ich ihm nicht vertrauten würde. Wenn es etwas zu bereden gab, würde er das schon ansprechen.
      “Aber dann werde ich Walker mal sein Futter bringen, viel Spaß mit deinem Pony”, setzte ich nach, verharrte noch kurz, ob es noch eine Antwort geben würde oder das Gespräch nun tatsächlich beendet war.
      “Danke dir auch”, drehte Niklas sich noch einmal um und verschwand.
      Auf der Stallgasse wurde ich bereits von dem Schimmelhengst erwartet, der auch sogleich die Schnauze in der Plastikschüssel versenkte. Im Zuge der Überlegung, welchen Vierbeiner ich mich als Nächstes widmen wollte, zog ich mein Handy aus der Tasche. Unmittelbar unter der Verknüpfung zum Hofsystem leuchtete aufdringlich ein roter Punkt in der Ecke der stilisierten Polaroidkamera, den ich geflissentlich ignorierte. Nach einem kurzen Blick vor einigen Stunden hatte ich bereits wahrgenommen, dass meine DMs unter den zahlreichen Reaktionen auf die Story von heute Morgen beinahe explodierten. So viel Aktivität hatte dort zuletzt geherrscht, als das HMJ noch aktiv am Laufen war und ich konnte mir nicht so recht erklären, was die Leute dazu bewegt hatte. Schließlich waren ein paar Pferde, die im Matsch spielten, nicht gerade außergewöhnlich, auch wenn eines davon ein weißer Freiberger war.
      Aber zurück zum eigentlichen Thema. Mit wenigen Klicks hatte ich auch bereits das Tier im Blick, mit welchem ich mich als Nächstes beschäftigen wollte.
      Binnen weniger Minuten hatte Walker sein Futter eingesaugt und sowohl Schlüssel als auch Boden vollkommen Krümel frei zurückgelassenen. So entließ ich den Schimmel zurück auf seinen Paddock, wo er zielstrebig zum Heu und sich zwischen Lu und Plano drängelte. Von den Hengsten aus lief ich unmittelbar weiter zu Holy. Mit jedem Tag schien die Stute runder zu werden, was nicht allein an dem guten Heu lag, welches sie haufenweise futterte. Nein, auch die Überraschung in ihrem Bauch ließ sich nun nicht mehr verstecken. Geschickt schlüpfte ich durch den Zaun zu den Stuten hinein.
      Die geschenkte Plüschkugel stand gemütlich unter dem Dach und knabberte an ihrem Heunetz.
      "Na, Mausi", begrüßte ich den Tinker, "Lust dich ein wenig zu bewegen?" Neugierig drehte sich der dunkle Kopf in meine Richtung. Zart kitzelte der kleine Schnurrbart, der der Stute an der Oberlippe gewachsen war, über meiner Hand, als Holy zart meine Finger beknabberte. Seltsamerweise hatte die Stute sich dieses Verhalten angewöhnt, seitdem es weniger Leckerlis gab. Routiniert zog ich das Halfter über den breiten Ponyschädel, während selbiges geduldig wartete, was Vriskas Aussagen nach, einiges an Zeit und Nerven gekostet hatte. Ich dachte beinahe, dass sie mir artig in den Stall folgen würde, doch Holy schien es eilig zu haben und drängelte an mir vorbei. Dreimal musste ich sie korrigieren, bevor sie sich fürs Erste fügte.
      Freundlich, wie immer, legte Smoothie die Ohren an, als ich Holy an ihr vorbei auf den freien Putzplatz führte. Bis heute war es mir unerklärlich, warum Niklas Stute mit jedem Tag, den ich mit ihr arbeitete, zickiger wurde, interessanterweise nur mir gegenüber. Alle anderen Menschen wurden ignoriert oder, was sie hauptsächlich bei Ju häufig tat, auf Leckerbissen hin untersucht. Meine Hypothese, lautete, dass Smooth eifersüchtig war, weil ich ihr wertvolle Zeit mit Niki stahl, denn sowohl in Kanada als auch noch so lang wie sie in Kalmar stand, war sie noch nicht so launisch gewesen. Wie auch immer. Bei Smoothie konnte ich tun, was ich wollte, sie blieb immer abweisend, was ich mittlerweile so hinnahm.
      Seufzend betrachte ich Holy. Bis zum Bauch war sie bedeckt mit grauen Matschspritzern, die langen Haare an ihren Beinen klebten aneinander und ließen die eigentliche Farbe darunter nur noch stellenweise erahnen. So schön die Puschel an den Füßen auch waren, für so ein Matschwetter schienen sie nur wenig geeignet. Dennoch entschied ich mich dagegen, der Stute die Füße zu waschen, sie würden ohnehin wieder nass und eklig werden.
      Mit einem mehr oder minder sauberen Pony, ausgestattet mit Kappzaum und Longiergurt, ging es schließlich in die Halle.
      “Tür frei”, rief ich, bevor ich das Hallentor langsam aufschob. Bis auf meinen Freund, der mit seiner Schimmelstute gerade an der gigantischen Fensterfront entlang schritt, war die Halle leer. So führte ich Holy in die Zirkelmitte, um dort erst einmal die Doppellonge einzufädeln. Diese notwendige Vorbereitung dauerte heute allerdings besonders lang. Und zwar nicht, weil Holy sich wieder ungeduldig zeigte, nein, viel mehr, weil Niklas Gegenwart ein wenig ablenkend war. Immer wieder zog es meinen Blick auf den definierten Oberkörper, dessen Muskeln sich deutlich unter dem dünnen Shirt abzeichneten. Verführerisch lockten die tintenschwarzen Linien, die sich kunstvoll über seiner Arme wanden, damit ihren Weg bis unter den dünnen Stoff zu verfolgen und die Gebiete zu erforschen, die darunter verborgen lagen. Willkürlich biss ich mir auf die Unterlippe, um die kleinen Flammen zu zügeln, die sich in meinem Innerem entfachen wollten. Stattdessen versuchte ich, mich auf die Leinen in meinen Händen zu konzentrieren.
      “Ich glaube, dafür muss man sich bewegen”, unterbrach seine Stimme die Stille der Halle. Süffisant grinsend hatte er seine Stute unmittelbar vor mir angehalten. Als wolle er seiner Worte noch unterstreichen, ließ er seine Muskeln spielen. Augenblicklich breitete sich Hitze in mir aus und brachte meine Wangen zum Glühen. Beschwerlich wand ich die Augen von Niklas ab und richtete sie auf meine Finger, in denen ein kleiner Leinensalat gebildet hatte.
      "Das tun wir schon fast", entgegnete ich und versuchte die Longen zu sortieren, die sich bei den hastigen Bewegungen allerdings nur weiter ineinander verheddern. Was war nur los, dass meine Hormone heute dermaßen unbeherrschbar schienen. Sonst brachte mich die Anwesenheit meines Freundes nicht so verheerend schnell aus dem Konzept und das, obwohl er zu jederzeit äußerst anziehend wirkte.
      “Soll das eine neue kreative Art werden, eine Longe zu halten?”, stichelte Niklas, bequem auf seiner Stute thronend, die neugierig die Nase zu dem Tinker hinstreckte.
      “Nein”, fluchte ich leise, “ich versuche diesen verdammten Knoten zu lösen.” Frustriert löste ich die innere Leine wieder vom Kappzaum in der Hoffnung so besser zum Knotenpunkt vorzudringen. Weiter erhitzte sich mein Gesicht, diesmal allerdings vor Schmach.
      Sicher war niemand so unfähig, eine Longe bereits beim Einhängen zu verknoten.
      “Na gib schon her, ich helfe dir.” Schneller als dass ich es hätte ablehnen können, war mein Freund bereits aus dem Sattel geglitten und nahm mir den Wirrwarr aus den Händen. Mit zwei Handgriffen hatte er den Knoten bereits gelöst und fädelte die Longe wieder dort ein, wo sie hingehört.
      “Jetzt kommt das hier, in das kleine Händchen”, sprach Niklas ganz nah an meinem Ohr und griff von hinten um mich herum,” und das in das andere.” Der Protest lag mir schon auf der Zunge, als jeden meiner Finger einzeln um die Stränge legte, als würde er mit einem Anfänger arbeiten, doch mein klopfendes Herz ließ mich verstummen.
      “Und jetzt nicht wieder verknoten, Engelchen”, raunte er an meinem Ohr, ein unverhohlenes Grinsen in der Stimme. Kein Zweifel bestand darin, er sich seiner Wirkung bewusst war. Vermutlich hätte er sein Spiel noch weitergetrieben, wäre da nicht die Pferdeschnauze, die sich ungestüm, zwischen uns drückte. Smoothie hatte entschieden, dass es genug war. So entschwand mein Freund aus meiner unmittelbaren Nähe, ließ nur eine Wolke betörenden Duftes zurück. Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich meinen Herzschlag, wieder herunterzubringen und das Gefühl zu durchdringen, welches wie dichter Nebel durch meinen Kopf waberte. Erst als Niklas die Arbeit mit seiner Stute wieder aufnahm, hatte ich so viel Klarheit erlangt, dass ich mich auf den gescheckten Kaltblüter konzentrieren konnte. Unaufmerksam stolperte Holy los und ließ die Hufe unmotiviert durch den Sand schleifen, sie hatte eindeutig keine Lust darauf. Erst nach einiger Schrittarbeit wurde, der Tinker aufmerksamer und begann eine vernünftige Haltung einzunehmen. Aufgrund dessen wie lang es dauerte, bis die junge Stute mir zuhörte, fragte ich im Trab nur kurz eineiige leichte Lektionen ab, bevor ich die Einheit beende. Sichtlich angestrengt gähnte sie, während ich die Longe wieder abbaute und die Anstrengung damit nachließ.
      Ein Blick zu Niklas verriet mir, dass er lange noch nicht fertig war. Smoothie schien jetzt erst richtige wach zu werden und begann mit ihrem typischen rebellischen Verhalten, welches er deutlich besser zu händeln wusste, als ich es tat. Mir tanzte die große Schimmelstute regelmäßig auf der Nase herum und brachte mich damit an manchen Tagen nahe an den Rand der Verzweiflung. Doch auch wenn es sicherlich die bequemere Lösung wäre, die Verantwortung für Smoothie abzugeben, wollte ich nicht schon aufgegeben. Meinen Fähigkeiten vertraute ich dabei zwar nur bedingt, aber dafür vertraute ich auf Niklas Urteil, der mir sein Pferd sicher nicht anvertraut hätte, würde er denke ich würde nicht mit ihr fertig werden. Einen letzten Blick warf ich auf Pferd und Reiter, die, einiger Uneinigkeiten zum Trotz nicht besser zusammenpassen könnten, bevor ich mich widerwillig von dem Anblick löste. Wenn es nach mir ging, könnte ich meinem Freund den ganzen Tag lang zuschauen.
      Mit der müden Plüschkugel im Schlepptau verließ die Halle. Unter dem dicken Winterfell hatte Holy ordentlich zu schwitzen gefangen, sodass ich sie direkt unter dem Solarium parkte. Erschöpft hängte das Tier den Kopf in das Halfter, sobald die beiden Stricken diesen bequem hielten und schloss die Augen. Von der Seite schlich sich Vriska an, die offenbar den Welpen aus dem Büro geholt hatte. Freudig sprang er in unsere Richtung, während sie alles andere als ein Kind der Fröhlichkeit war. Der Uhrzeit zur Folge fehlte das Nachmittagskaffee, deshalb sparte ich mir eine Nachfrage, die ohnehin von nur wenig Erfolg gekrönt sein würde.
      Schweigend stand Vriska neben der Tinkerstute, zupfe aus der Mähne einige lockere Strähnen heraus und ließ sie zu Boden fallen. Ich war zeitgleich mit dem Welpen beschäftigt. Mit dem Schwanz schob er den Dreck von einer Seite zur anderen und sorgte damit, für unschöne dunkle Flecken im weißen Fell.
      „Ich weiß nicht, wie viel du heute aus den Stallgesprächen aufgeschnappt hast, aber“, Vriska nahm einen kräftigen Atemzug, als gäbe es Anlass zur Sorge. „Holy bleibt erst mal, bis das Fohlen da ist, dafür gehen Folke und Hedda zurück nach Kalmar.“
      Sie wich dauerhaft meinem Blickkontakt aus, ohne dabei die Hände von der ohnehin dünnen Mähne zu lassen. Immer mehr Haare landeten auf dem Boden, selbst den Schopf verschonte die Blonde nicht.
      „Oh, das ist schade. Warum gehen die beiden?“, fragte ich nach. Auch wenn zu meinen anderen Kollegen deutlich weniger Austausch bestand als zu Vriska, war das Team dennoch so etwas wie eine kleine Familie, in der jeder seinen festen Platz hatte. Selbst der rebellische Rotschopf, dessen anfänglich Passion für Holy deutlich nachgelassen hatte, hatte seine Platz darin gefunden.
      „Den genauen Grund habe ich schon verdrängt, aber ich schätze, dass er sehr an Kalmar hängt. Schließlich war Folke sein Leben lang bei ihnen auf dem Hof und Hedda hat es weniger weit zur Schule“, sprach sie gezielt, als würde jedes Wort zunächst aus den Untiefen ihr Gedächtnis gezogen werden. Immerhin hatte Vriska vom Langhaar die Finger genommen und massierte die Stirn der Stute. Holy stand mit aufgestelltem Bein, unter dem wärmenden Licht, unter das sich auch der Welpe gelegt hatte.
      „Nachvollziehbar“, nickte ich und begann allmählich zu realisieren, dass diese Nachricht nicht nur einen Verlust, sondern viel mehr einen Wechsel im Team bedeuten würde. Folke war schließlich der Einzige, der sich um das Training der Rennpferde kümmerte und auch wenn Vriska wohl in der Lage dazu wäre, glaubte ich nicht, dass sie den Sattel gegen den Sulky tauschen wollte oder sollte sie doch? Lag darin der Grund für ihr gedämpfte Verhalten?
      „Wie stellt Tyrell sich das mit den Rennpferden kommen? Wird dafür jemand Neues kommen?“, beschloss ich dieser Frage auf den Grund zu gehen.
      “Für dieses Jahr stehen ohnehin nur noch zwei Rennen auf dem Plan, dafür ist Folke genannt und er wird sie fahren, allerdings nur als Jockey. So lang werde ich mich den Tieren widmen müssen, bis jemand gefunden ist. Mein Bruder hatte schon Andeutungen gemacht, dass es über den Verband Kandidaten gibt, allerdings hat Tyrell gesagt, dass es nicht leicht ist, wen zu finden. So, I do not know”, sprach sie weiterhin niedergeschlagen. Ihre Erzählung durchkreuzte tiefe Atemzüge, die geräuschvoll durch ihre Nase kam, die etwas verstopft war. “Immerhin sind es aktuell nur zwei aktive Hengste, denn einige wird Tyrell mit nach Kiel nehmen. Lu und Sturmi laufen zwar noch, aber ist wohl nur von wenig Erfolg gekrönt. Die Stuten Mill und Enigma sind für März oder April geplant auf Rennen, aber mit Jungpferden am Sulky kann ich nicht so gut”, fügte sie noch hinzu. Also doch. Zumindest für eine Weile würde Vriska mit dem Reiten etwas kürzertreten müssen. Dabei schien sie, seit Lubi nicht nur Spaß an der Dressur zu finden, sondern entwickelte regelrecht Ehrgeiz, mit dem sie sicher einige erreichen könnte.
      “Oh, das klingt nicht so gut”, bekundete ich meine Anteilnahme, “Ist sonst alles in Ordnung mit dir?” Es berührte mich, sie so niedergedrückt zu sehen, vor allem weil dieser Zustand schier endlos wiederzukehren schien und ich wirklich ratlos war, wie sie wohl möglich aufzuheitern vermochte.
      “Wenn in Ordnung ‘Es ist immer dasselbe Chaos’ bedeutet, dann ja”, zuckte Vriska mit den Schultern. Aus ihrem Gesichtsausdruck konnte ich unmittelbar ablesen, dass es sie sehr belastete und ich ihre Unsicherheit über die kommende Zeit nachvollziehen konnte. Auch für mich war es noch immer schwer begreiflich, wo ich mich befand, umso komplizierter, musste es für sie sein. Wir hatten jeder für sich diese Entscheidung getroffen, nur aus anderen Beweggründen.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 53.776 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang November 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tjugofyra | 31. Juli 2022

      Osvominae / Planetenfrost LDS / WHC’ Golden Duskk / Moonwalker LDS / Maxou

      Vriska
      Zugetraut hätte ich Lina das Durchhaltevermögen nicht. Seit vier Tagen schlief ich nun bei Lars auf der Couch und gewöhnte mich sogar langsam an den ekligen Filterkaffee, der mich jeden Morgen auf anderem Weg wach machte. Ihm kam meine Anwesenheit allerdings sehr entgegen. Wenn er von einem Training in der Kälte am Abend kam, stand Essen auf dem Tisch. Selbst Bruno, der dem „Gemüsezeug“ kritisch gegenüberstand, aß es mit vollkommenem Genuss. Es war eine Tradition der Familie am Abend zusammen zu essen, was mich in der konsequenten Umsetzung ziemlich überraschte. Sie unterhielten sich über die Pferde, was auch sonst. An den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr herrschte nicht viel Abwechslung. Ich hörte gespannt zu, aber schwieg die meiste Zeit. Mein Alltag bestand daraus, mit meinem Pony spazieren zu gehen und das Findelkind mitzunehmen. Aber was war in den Tagen passiert?

      „Papa, was ist eigentlich mit Osvo?“, fragte Lars dann, als wir auf das Thema Reiten zurückkamen.
      „Nun“, der ältere Herr seufzte, „ihr beide saht toll aus, aber Osvos Gelenke, wenn der ständigen Belastung nicht standhalten. Du hast wohl – “
      „Nein, habe ich nicht“, beendete mein Sitznachbar den Satz. Obwohl es mich brennend Interessierte, wovon sie sprachen, hielt ich mich zurück. Ich wollte mich nicht in fremde Angelegenheit einmischen.
      „Sie hatte einen Unfall mit Mama“, erzählte Nour dann. Es klang grausam, zumindest, was folgte. Wochenlang statt die damals noch sehr junge Rappstute in der Klinik, nach dem sie sich am Sulky überschlug und eine Böschung herunterrollte. Damit erledigte sich rasch die Karriere als Rennpferd und erst viele Jahre danach, traute sich jemand, das Pferd von der Weide zu holen. Osvo hatte sich prächtig entwickelt, aber die Angst blieb.
      „Du kannst sie aber zum Training nutzen“, bot Bruno dann an.
      „Von der kannst du noch einiges Lernen“, fügte dann auch Lars hinzu. Mit gedrückter Stimmung nickte ich höflich.
      Nach dem Essen räumte ich auf, die Familie verließ die bescheidene Hütte wieder. Viele Stunden war ich wieder allein, tippte eine oder zwei Seiten auf meinen Laptop, bevor ich es zur Seite legte und die Couch zu meinem Bett formierte.
      Der kleine Zeiger zeigte auf Zehn, als ich im Halbschlaf die Tür schließen hörte und Dog, der zweimal aufgeregt bellte. Lars kam wieder, der zuvor noch mit Freunden in einer Bar war, wie die letzten Abende auch.

      Besten Gewissens arbeitete ich mit Osvo, die sich noch immer nicht ganz sicher unter mir fühlte. Tyrell gab mir Unterricht, während meine Familie am Rand saß. Selbst Madly, die die Pferde noch immer eklig fand, sah mir bei der Arbeit zu. Ich hatte mich heute überwunden und sogar Dustin an der Doppellonge longiert. Der junge Traber Hengst, mit hohem Vollblut-Anteil, trabte mit weit geöffneten Nüstern vor sich. Es dauerte, bis er zur Ruhe kam und geduldig meinen Gymnastizierungshilfen folgte.
      Nach dem Warmreiten wurde ich lockerer, was auch Osvo zu besseren Leistungen bewegte. Der Trab war schwungvoll und punktgenau, wenn ich die Beine anlegte. Nur die Bremse fanden wir noch nicht.
      Lina sah ich kaum. Ihr Freund hatte es wirklich geschafft, dass ich die Blöde war, was auch immer seine Beweggründe dafür waren. Eine Möglichkeit zum Nachfragen bekam ich nicht. Selbst, als ich Osvo absattelte und das Zeug in Kammer brachte, strafte mich Lina weiterhin mit schweigen. Für einen Augenblick waren wir allein, aber als ich nach ihrem Wohlbefinden fragte, lief sie mit gesenktem Kopf an mir vorbei, als wäre ich Luft. Ich sah mich noch um, aber akzeptierte ihre Stille. Vermutlich berichtete Niklas ihr von den anfänglichen Eskapaden mit ihm am Hof, die ich tatsächlich etwas vermisste. Mit Lars war es ziemlich leicht, aber nach der einen aktiven Nacht, bebte meine Brust nicht mehr bei seinem Anblick. Damit verliefen sich alle weiteren Aktionen des Herren, nach meiner Aufmerksamkeit buhlend, in den Sand. Anfassen und Nähe gab es noch, aber Intimität wollte ich nicht.
      Die Stute kam zurück auf den Paddock und ich fütterte noch Heu bei allen, dann beendete ich meinen Arbeitstag. Im Bad trocknete ich den Hund, bevor ich eine Waschmaschine anstellte und mich mit einem Kaffee auf die Couch setzte. Unmotiviert tippte ich an meiner Geschichte weiter, die aktuell von Monotonie nicht zu übertreffen war. Jeder hatte Schreibblockaden und mit dem Gedanken, landete ich bei YouTube.
      „Vriska?“, stürzte Lars in die Hütte und erschreckte nicht nur den Hund. Sein Gesicht so rot wie seine Hände. Rote Flüssigkeit tropfte auf den hellen Holzboden und Dog verteilte natürlich überall Pfotenabdrücke.
      „Was ist passiert?“, krächzte ich noch verschlafen, nach einer Ruhepause auf der Couch. Auf dem Laptop dudelte noch ein Video vor sich hin.
      „Erzähle ich später, aber wollte nur Bescheid sagen, dass du nicht direkt für uns kochen brauchst. Wir müssen mit Nour in Krankenhaus“, sprach Lars so schnell, dass ich nur die Hälfte verstand. Aus der Aussage entwickelte sich eine Dynamik, die noch nicht wahrnahm. Mitten in der Nacht kamen alle drei zurück. Ich saß wach am Tisch, ziemlich besorgt, denn so viele Unfälle hatte ich bisher nicht erlebt. Das Blut war beseitigt und eine kalte Platte vorbereitet.
      „Wir lassen dich nicht mehr mit dem Traktor fahren“, lachte Bruno.
      „Ja, dachte ich mir“, stimmte Nour noch benommen von den Schmerzmitteln zu. Sie erzählte dann im Halbschlaf davon, dass sie es aus unergründlicher Weise geschafft hatte, sich den Arm zwischen der Schaufel und Fahrzeug einzuklemmen. Er war ausgeschalten, aber in der Panik verletzte sie sich schwer am Fleisch. Gebrochen war nichts, aber sie trug zum Schutz einen dicken Verband und wurde mit mehr als zwanzig Stichen genäht.
      „Und was machen wir wegen Mittwoch?“, fragte dann Lars und belegte sich ein Brot.
      „Wir können beide nicht als Amateur starten“, zuckte Bruno mit den Schultern. Beinah synchron bewegte sich ihr Blick zu mir. Ich zog meinen Kopf an den Hals und schüttelte diesen sehr langsam.
      „Vivi, bitte“, jammerte die schlappe Brünette und schob sich eine lockere Strähne aus dem Gesicht.
      „Ich habe aber doch keine Ahnung“, versuchte ich den Gedanken aus dem Kopf aller zu bekommen. Aber es hatte keinen Zweck. Einer nach dem anderen erklärte mir die Umstände und welche Aufgabe ich bei dem Rennen hätte, aber im Groben wusste ich es.
      „Ist doch gut“, sagte ich irgendwann genervt, denn es nahm kein Ende, „ich tu‘s.“
      „Super“, Lars grinste überzeugt und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Meine Augen folgten dieser. Er brauchte sich nicht einbilden, dass heute noch mehr laufen würde, aber den Moment ließ ich ihm.
      Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis Nour mit Bruno in die eigenen Vier Wände verschwanden. In meinem Magen spürte ich deutlich den Zwiespalt. Dem Rennsport hatte ich bereits nach einem halben Jahr den Rücken gekehrt, auch, weil ich Angst hatte. Mit den eigenen Augen sah ich, wie sich zwei Pferde ineinander verfingen, kurz vor der Zielgeraden. Vintage, der mittlerweile verkauft wurde, erschrak, aber ging damit als Erster ins als Schlusslicht ohne Fehler. Nur noch zögerlich setzte ich mich in den Bock und bevorzugte das Training auf der eigenen Bahn. Obwohl ich für kurze Zeit als eine der gefragtesten Fahrer für Hengste galt.
      Viele Stunden dachte ich darüber nach, auch am nächsten Tag konnte ich an nichts anderes mehr denken. Lars bot mir an, mit Walker noch ein Jogging zu fahren, aber ich hielt es für das Beste, dass der Hengst in dem Aquatrainer lief. Stattdessen begleitete ich ihn auf Dustin. Er hatte sich Plano angespannt, der ebenfalls morgen laufen würde auf 2150 m.
      „Ich muss jetzt mal fragen“, kam Lars nach dem Trab wieder auf meine Höhe und zog das Tuch herunter, das er als Windschutz vor dem Mund trug.
      „Dann hau raus“, antwortete ich. Unbestimmt zupfte ich an den Leinen, damit Dustin sich mehr streckte. Er hob den Kopf, aber schnaubte dann ab. Nur noch das letzte Ende umschlossen meine Finger, damit hatte der Hengst volle Bewegungsfreiheit.
      „Möchtest du nicht öfter fahren? Du wirkst so viel glücklicher auf dem Bock als im Sattel und wir haben doch Spaß zusammen.“ Tatsächlich spielte ich mit dem Gedanken auch schon, aber mir fehlte der Reiz am Rennen. In der Dressur konnte man sich etwas beweisen und genauer an sich arbeiten, als zu hoffen, dass das Tier im vollen Tempo nicht hinausfiel.
      „Lass uns, wann anderes darüber sprechen, erst mal möchte ich morgen überleben“, lachte ich, trieb Dustin voran durch eine Wellenbewegung in den Leinen.
      „Also bist du nicht abgeneigt?“, konnte er es nicht ruhen lassen. Deshalb gab noch etwas mehr Tempo, bis der braune im langsamen Tempo antrabte. Dem nachzukommen, gelang Lars mit Plano problemlos.
      „Ich komme aus dem Gangsport“, begann ich meinen Werdegang zu erzählen. Er hörte aufmerksam zu, obwohl er die Hälfte davon schon gehört hatte. „Deswegen lag es damals nah, mich auf den Sulky zu setzen und dass einige so schön locker Tölten, beglückt mich.“
      „Du wirst schon wissen, was du tust, aber ich glaube, dass du gut in unsere Truppe reinpasst. Die Schnösel aus Kalmar sind schon ziemlich weit weg von deinem Temperament“, pflichtete Lars bei.
      „Ganz falsch liegst du damit auch nicht. Aber ich mag die meisten, wenn da nur Niklas nicht wäre“, murmelte ich. Dann trabten wir noch etwas flotter, wodurch das Gespräch beendet wurde. Am Stall fragte Lars erst wieder nach, denn auf dem Rückweg erklärte er noch einmal einige Sachen in Bezug auf das Fahren und korrigierte minimale Fehler meiner Art und Weise. Dankend nahm ich seine Tipps an.
      Bei einem Schluck Wein am Abend verriet mir Lars die beste Strategie für Walker. Der Hengst bevorzugte es ein oder zwei Pferde vor sich zu haben und erst im letzten Bogen vorzusetzen. Je weiter hinten er lief, umso weniger Motivation bekam er. Also sollte ich bereits am Anfang des Rennens Gas geben und mich auf jeden Fall zur dritten bis vierten Position kämpfen. Das notierte ich mir noch im Handy. Hilfesuchend blickte ich zum Regal und realisierte, dass das nicht mein Haus war.
      „Ich müsste noch mal zu Lina hinüber, weil da liegt mein Buch“, erklärte ich.
      „Vielleicht besser nicht, Niklas ist noch immer da, aber sie könnte es dir morgen geben. Sie kommt mit.“ Mir rutschte das Herz einige Zentimeter tiefer und setzte augenblicklich aus. Dann sprang es, wie von einem Blitz getroffen, nach oben und ich spürte den Schlag bis zum Hals.
      „Wie, Lina kommt mit?“, wiederholte ich strauchelnd seine Worte.

      Noch ein Rennen in dem Jahr zu fahren, hätte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen können oder überhaupt vom Regen in die Traufe zu fallen. Für einen Augenblick schloss sich mein Leben zu einem Kreis. Das Jahr endete, wie es begann: große Veränderungen. Es fühlte sich noch wie gestern an, als ich meinen Amateurfahrer antrat und nun, wusste ich gefühlt nichts mehr. Zudem saß ich noch nie mit Walker angespannt im Wagen. Mir schlotterten die Knie beim bloßen Gedanken, aber Lars begleitete mich, der jedoch nur seinen Start im Kopf hatte. Seit dem Aufstehen sprach er von nichts anderem mehr. Dieser junge Herr reduzierte sich so gern auf sein Alter, verhielt gleichzeitig sich wie ein Kind bei der Einschulung, eigentlich sehr süß, wenn es dabei nicht darum ging, welche Bekanntschaften vor Ort waren.
      Mein Blick hielt ich fest zur Straße gerichtet, denn entgegen aller anderen Männer im Umfeld fuhr er ungern und Lina mied ebenfalls hinter dem Lenker des Transporters zu sitzen. Mehr waren wir heute nicht, denn Tyrell musste mit Bruce zu unserem Bauern fahren, um etwas wegen des Heus zu klären.
      „Hier müssen wir rein“, rief Lars auf einmal und versperrte mir die Sicht mit seiner Hand. Voller Panik drückte ich auf die Bremse und spürte den Widerstand. Auf dem Bildschirm sah man die Hengste von einer Seite zur anderen treten.
      „Bist du des Wahnsinns?“, fauchte ich.
      „Tut mir leid“, gab er umgehend nach und im Schritttempo setzte ich das Fahrzeug zurück. Sooft ich auch schon in Kalmar war, kannte ich diesen Weg noch gar nicht, dabei fuhr er sich deutlich angenehmer und wir kamen ebenfalls am Hof an. Überall reihten sich Transporter aneinander, Fahrer führten ihre Pferde entlang und Trainer brüllten unverständlich. Ich hatte das alles anders in Erinnerung, romantischer. Zudem senkten wir den Altersdurchschnitt auf ungefähr 45 Jahre.
      Lars stieg früher aus, um die drei Hengste bei den Organisatoren anzumelden und unseren Fahrerwechsel zu melden. Bei Walker im Equidenpass steckte ein Zettel, auf dem alle wichtigen Daten von mir waren. Vorbildlich, wie mein Bruder war, hatte er das vorbereitet.
      „Bist du soweit?“, grinste ich Lina an, als wäre nie etwas vorgefallen. Gleichzeitig wirkte sie, nicht ganz bei der Sache, starrte auf ihr Handy und wich meinen Blicken im Rückspiegel aus. Dabei lag es nicht nur an den vielen Sulkys, sondern auch meiner Präsenz. Immer noch besser, als allein am Hof zu sitzen, würde ich behaupten. Zusammen luden wir die drei Hengste aus dem Transporter, die uns geduldig nachliefen, und stellten sie in die vorbereiteten Außenboxen. Dustin musterte interessiert eine Stute, während Plano nicht ganz wohl bei dem niedrigen Band der Box war. Mehrmals schlug er mit seinem Bein dagegen und erschrak, wenn es nachgab. Ich war eingetragen für das zweite Rennen, in knappen anderthalb Stunden.
      Wir warteten auf Lars, der einfach nicht kommen wollte. Als wir den Transporter geleert hatten und ein weiteres Mal die Pferde geputzt, saßen wir neben ihnen. Lina schwieg die meiste Zeit oder richtete den Blick auf ihr Handy, grinste zwischendrin. Im Vorbeigehen lobten verschiedenen Menschen den hellen Hengst, der anmutig den Kopf hob und mit den blauen Augen funkelte.
      „Einen Perlino sieht man nicht alle Tage“, sagte ein älterer Herr, der bei uns anhielt. „Hengst?“
      „Ja, Moonwalker LDS aus der eigenen Zucht“, berichtete ich und strich ihm über den Nasenrücken.
      „Super, man findet euch im Internet?“, fragte er noch. Ich nickte zustimmend und deutete auf den Transporter, auf dem groß aufgedruckt alle Informationen standen. Rasch fotografierte er die weiße Schrift auf grauem Grund und verschwand in einer Menschenmasse.
      In Kreisen lief ich vor der Box weiter, hielt zwischendrin an, um eventuell Lars zu entdecken. Doch er war wie von Erdboden verschluckt. Die Zeit lag mir im Nacken, in vierzig Minuten begann das Rennen und ich musste Walker noch warm fahren.
      „Irgendwie muss ich das schaffen“, murmelte ich und nahm die dunkle Decke von seinem Rücken. Langsam hob er den gesenkten Kopf, wachte dabei aus seiner Trance auf.
      „Wird schon“, sagte Lina missmutig und reichte mir einen Haufen aus Leder, den ich eigentlich sortiert hatte. Also begann ich von vorne. Zunächst fischte ich den Gurt heraus und legte ihn diesen um. Dann suchte ich nach dem Schweifriemen.
      „Das ist cool, da steht sein Name drauf“, bemerkte Lina. Sie drückte mir das bunte Brustblatt in die Hand, dass sie aus dem Haufen herausnahm. Die besetzten Pailletten als Buchstaben bemerkte sie offenbar nicht, dabei hatte ich mir in der Nacht so viel Mühe gegeben, zum Entsetzen Lars’, der lieber schlafen wollte.
      „Ja, und auf dem Stirnriemen auch“, zeigte ich ihr stolz an der Trense, was auch ungeachtet blieb. Ich bewegte ein weiteres Mal meinen Daumen über den Schriftzug, in der Hoffnung, dass sie noch etwas sagen würde, aber Lina wendete sich ab. Das Handy hörte man in ihrer Tasche vibrieren. Damit hatte sich auch unser Gespräch.
      Mit leicht getrübter Stimmung trat in den Transporter ein. Es fehlte nur noch der Sulky am Gurt und meine richtige Kleidung. Am Haken hing alles, was ich suchte. In Windeseile steckte ich in der weißen Hose und schwarz-grünen Jacke, die zu unseren Stallfarben gehörte. Selbst der Helm war dem angepasst und mit meinen Anfangsbuchstaben gestaltet. Gerade, als ich den Clip an meinem Kinn zu schließen versuchte, spürte ich, wie meine Knie versagten. Noch im richtigen Augenblick fand einen Platz zum Sitzen. Vor meinen Augen funkelten helle Punkte, schwebten wie losgelassene Glühwürmchen durch den Raum. In den Ohren mischte sich die undefinierten Gespräche vor der Tür zu einem monotonen Rauschen, verstummten beinah. Einzig die Stimmen in meinem Kopf schrien noch, lauter als je zu vor. Ich war verrückt, stellte ich abermals fest. Mit einem erhellenden Bildschirm erinnerte mich mein Handy an die augenscheinlich ungelesenen Nachrichten von Erik. Wie ein Mahnmal prangerte sie mich an. Der Inhalt war grauenhaft. Er wollte mit mir abschließen, auch wenn es für uns beide Schmerzhaft sei. Der letzte Funken Hoffnung und Mut verglühte schon vor Stunden, als ich seine Nachricht empfing. Nicht, dass es mich verwunderte. Seit Tagen versuchte ich mich so zu verhalten, wie es Leute von mir erwarteten. Ein klares Beispiel hierfür war mein Bruder, der bei jeder Begegnung nachfragte, ob es mir gut ginge nach der Trennung. Dass dabei nie zur Rede kam, was überhaupt der Grund war, zerrüttete mein Inneres. Wenn ich an Erik dachte, hing ich nur noch dem Gefühl nach, das ich bei ihm hatte, konnte es aber durch Lars besser einordnen. Auch bei ihm schlich es sich an die Oberfläche, ohne dabei ein ernsthaftes Interesse an mehr vorauszusetzen. Ich versuchte mich daran, Schmerz zu fühlen, aber alles, was ich in mir fand, war Leere. Es fehlte mir an nicht, grob betrachtet.
      Von draußen ertönte Linas Stimme und ich begriff, dass mich in Gedanken verrannte. Mit einem tiefen Seufzer stieg ich die Stufe hinunter, oder mehr fiel ich und konnte mich an der Halterung auffangen. Noch immer hatten meine Beine nicht die gewohnte Stabilität erreicht. Dann schloss erst die Tür und meinen Helm. Lina blickte mich irritiert und zugleich besorgt an, während sie den Hengst tätschelte.
      Am Himmel stand noch die Sonne, wenn auch hinter dicken Wolken verhangen. Der Schnee lag nur an unberührten Stellen und tauche den Rest in ein tiefes dreckiges Loch. Es grauste mich schon, danach alles zu reinigen.
      „Du hast noch“, ein weiteres Mal holte meine Kollegin ihr Handy hervor, „zwanzig Minuten.“
      Im Magen krampfte es. Wie sollte diese Zeit ausreichen, den Hengst aufzuwärmen? Ich nickte nur und holte den Sulky heran, während Lina das Pferd herausholte und festhielt. Die eine Seite schloss sich wie gewohnt in den Clip, doch rechts wollte nicht so recht. Er schloss nicht bündig, rutschte stattdessen aus der Verankerung. Damit konnte ich nicht fahren und dass Lars noch immer vom Erdboden verschluckt wurde, löste Panik aus. Immer wieder versuchte ich das Metallstück in die Verankerung zu rütteln, drückte es besten Gewissens zu, aber er wollte nicht. Auf den ersten Blick war das Teil vollkommen intakt, schaute auch, ob Dreck darin steckte. Selbst Moonwalker, der durch Linas Präsenz ziemlich ruhig war, hob den Kopf und legte die Ohren an.
      „Okay, ich breche ab, das wird nichts“, sagte ich erschüttert und ließ den Sulky los. Eines Tages musste das Halterungssystem von Finntack auch versagen, das spürte ich schon beim Kauf.
      „Denk gar nicht daran, warte“, kam auf einmal ein Herr von der Seite, das höfliche Lächeln hinter einem Mundschutz versteckt, aber seine Augen strahlten. Ein erfrischender Schauer zischt wie vom Blitz getroffen von Kopf zu Fuß. Nach nur einem kurzen Zupfen und Drehen hakte sich der Verschluss mit einem Klicken ein.
      „Bitte schön, und jetzt los.“ Er schon das Tuch herunter. Zwischen den tiefen Wolken löste sich ein Sonnenstrahl und brachte ein verstecktes Herzklopfen hervor, das lieblich in den Fingerspitzen kribbelte. Die Füße schlugen Wurzeln in der Matschpfütze.
      „Danke“, stammelte ich heillos überfordert von Gefühlen und erhabenen Gedanken, die sich schützend wie eine Salbe auf jeden schmerzlichen Riss meiner Selbst legten.
      In seinem eher hageren Gesicht verlor ich mich, unbeachtet seines kräftigen Körpers, wusste nicht mehr, mit der plötzlich aufkommenden Motivation umzugehen. Es kochte und brodelte.
      „Du bist neu, oder?“, hakte er nach und strich Walker über den Hals.
      „Kann man so sagen“, stotterte ich noch immer.
      „Dann viel Erfolg“, grinste er, zog das Tuch wieder hoch und drehte sich um. Nur meine Beine versagten abermals. Wie vom Regen in die Traufe gefallen, wusste ich mit all den Emotionen nicht umzugehen, verspürte ein Gefühl von undefinierter Euphorie, die eigentlich gestoppt werden sollte. Offenbar hatte das Glück nichts mit meinem Kopf zu tun, vielmehr mit Trubel.
      „Vriska? Willst du nicht langsam? Du hast noch fünfzehn Minuten“, mahnte es plötzlich von Seite.
      „Ähm ja“, sagte ich wie aus der Trance erwacht und stieg auf den Bock. Walker wippte mit dem Kopf, aber ließ sich mit einer leichten Bewegung der Leinen direkt in Bewegung setzen.
      Eine dicke, dunkle Wolke lag vor der tief stehenden Sonne und brachte einen kalten Windzug mit. Unsanft brannte die Luft an den freiliegenden Stellen im Gesicht. Warum genau hatte ich dem hier zustimmend? Im Schritt begann ich eine Runde, vielmehr sollte ich ohnehin nicht in der kurzen Zeit schaffen. Es ärgerte mich, dass Lars nicht kam und mich mit der großen Aufgabe allein ließ. Lina war schließlich auch nicht in der Lage, mir Tipps zu geben. Seufzend tuckerte ich über die Bahn, den Blick zu dem Po vor mir gerichtet, dass jemanden neben mir erst bemerkte, als eine Schnauze versuchte Walker zu zwicken.
      „Fünfzehn Minuten also?“, lachte die Stimme von eben.
      „Ja, leider“, fehlten mir die Worte.
      „Mutig, wirklich. Aber keine Sorge, es ist ohnehin erst Parade und dann noch mal fünf Minuten bis zum Start. Und eine Verspätung gibt es auch schon“, munterte er mich auf. Ich wusste enttäuschender Weise seinen Namen nicht, aber schämte mich auch, danach zu fragen. Mit einem Nicken verabschiedete er sich und trabte seinen Rappen an. Sehnsucht und Neugier lag mir im Herzen, sorgte für weitere Verwirrung, aber mit einem einfachen Gedankenspiel, wie ich es in Therapie öfter tat, richtete ich meine Energie zurück auf das Tier vor mir. Walker machte seinem Namen allen Ehren und lief im ruhigen Tempo voran. An mir trabten mehrmals hektisch andere Pferde vorbei, denen er keine Beachtung schenkte.
      Noch in der Parade setzte auch ich den Hengst eine Gangart höher. Obwohl ich zunehmend in Materie hereinkam, beschäftigte mich sein Tempo nicht. Ich versuchte, ihn möglichst regulierbar zu halten, bis die Startankündigung folgte. Um den Anschluss zu finden, gab ich ihm mehr Leine und der junge Hengst legte los. Es war zu spüren, dass er wusste, worauf es ankam. Vermutlich hätte Lars sonst auch die Idee nicht gehabt. Mit sechs anderen Amateuren platzierten wir uns hinter dem Auto und mein Startplatz, die vier, hätte mich schlimmer treffen können. Gefangen im Rausch, setzten wir vor. Um mich verschwamm es, einzig die Geräuschkulisse drang noch zu mir vor. Wie ich es gelernt hatte, lenkte ich den Perlino an den anderen vorbei, um nur noch zwei andere vor mir zu haben.
      Schon nach der ersten Runde kristallisierte sich heraus, dass ich kaum noch eine Chance haben würde für den ersten Platz. Zudem zog der Fuchs hinter an und überholte uns noch. Erst im Schlussbogen kam unsere Möglichkeit. Der aktuell Führende sprang in den Galopp und zog auch den Zweiten mit sich. Damit entstand ein Kopf an Kopf rennen mit dem Fuchs, den dieser für sich entschied. Walker war dennoch nicht zu stoppen. Erst nach dem zweiten Bogen gelang es mir, den Hengst wieder zu zügeln und damit in den Schritt zu parieren. Zufrieden lobte ich ihn. Mit einem Sieg rechnete ich ohnehin nicht, zudem könnte man es als Fügung des Schicksals ansehen, dass die beiden Pferd sprangen. Am Tor nahm mich Lars in Empfang, der offenbar doch noch lebte. Für einen Augenblick hatte ich bereits abgeschlossen, ihn heute anzutreffen.
      „War doch ziemlich vielversprechend für deine lange Pause“, lachte er und nahm den Hengst entgegen.
      „Ich hätte dich gebraucht, vor allem, weil du versprochen hast, da sein“, murmelte ich teils verärgert, teils enttäuscht.
      „Es tut mir leid, ich habe die Zeit aus den Augen verloren“, versuchte Lars zumindest, die gedrückte Stimmung zwischen uns einzunehmen. Ich wischte mir zeitgleich den Dreck aus dem Gesicht, der durchs Rennen auf mir landete. Auch Moonwalker sah so aus, als wäre er hoch oben im Orbit unterwegs gewesen, auch wenn dort kein Wasser gab.
      „Der Sulky wollte nicht in die Halterung und ich hätte beinah das Rennen verpasst“, berichtete ich von dem Zwischenfall.
      „Aber hast du doch noch geschafft?“, wunderte er sich und sah noch einmal prüfend zum Gurt.
      „Nur, weil mir jemand geholfen hat.“
      „Jemand, so so“, schmunzelte er, als hätte er eine Vorahnung. Fragend drückten sich meine Augenbrauen zu einer Falte auf der Stirn.
      „Du bist rot wie eine Tomate, dafür dass es jemand war“, klärte Lars auf. Sofort hielt ich meine Hände schützend vor mein Gesicht, die gröbste Verschmutzung brachte wohl eine ganz neue Färbung mit sich, dass er meine Hitzewallung bei dem bloßen Gedanken sah. Auf seine Anspielung ging ich jedoch nicht weiter ein, sondern entfernte, angekommen an der Box, den Sulky vom Gurt. Vorher nahm ich noch die Startnummern ab, die ich vor dem Betreten des Geläufs befestigt hatte. Auch Lina kam aus dem Transporter hervor, als sie den hellen Hengst erblickte. Wohl kaum würde sie den warmen Ort meinetwegen verlassen. Oder lag ihr Interesse bei Lars? Mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen, musterte ich ihren Gesichtsausdruck, der sich ebenfalls fragwürdig verzog.
      „Gibt es da etwas, was du erzählen willst?“, lachte ich beim Wegstellen des Gefährts.
      „Ähm“, sie kratzte sich am Kopf und wirkte nicht sonderlich Redebedarf, „aber du siehst ganz danach aus.“
      „Beispielsweise von deinem jemand“, griff Lars direkt ein, als wäre es so eine große Sache. Aber ich drehte mich nur kopfschüttelnd weg, keine gute Idee, wie ich im nächsten Augenblick feststellen musste.
      „Vriska? Musst du uns was erzählen? Deine nonverbale Kommunikation spricht Bände“, scherzte Lina und nahm mir dabei die Trense aus der Hand, die vom Kopf des Hengstes entfernte. „Dein Gesichtsausdruck kennen wir beide gut genug.“
      „Ja, mich hast du auch schon so angesehen“, konnte auch der Herr in der Runde nicht Ruhe geben.
      „Ich verstehe euch nicht“, nebenbei öffnete ich die Gurtung am Pferd, „der Typ war nur nett zu mir und aus unerklärlichen Gründen, gefällt er mir. Was geht euch das an?“ Als würde Walker meine Aussage unterschreiben wollen, schnaubte er zur Belustigung aller ab. Offenbar war die Sicht meiner Begleitungen eine ganz andere und ich verstand, dass es Angesichts meiner bisherigen Tat, auch nicht gern lag. Eigentlich stürzte ich mich von einem Drama ins nächste, doch dieses Mal sollte es anderes werden. Zumindest nahm ich mir das vor. Da die Beiden einfach keine Ruhe haben, erzählte ich weiter.
      „Schwarze Pferde gibt es hier einige“, merkte Lars an. Er und Lina hielten schon Ausschau, als würde sie besagten jemand ermitteln wollen, aber gingen dabei ziemlich willkürlich vor. Schließlich traf ich ihn zuletzt auf der Bahn, auf der er sich womöglich noch befand.
      „Und seine Startnummer?“, kam Lina nun auf eine andere Idee, um des Rätsels Lösung näherzukommen. Ich achtete auf ganz andere Dinge, als mir die Nummer an seinem Pferd zu merken. Nicht einmal wusste ich, ob es ein großes oder kleines Kopfabzeichen war, nur bei einer Blesse konnte ich mir sicher sein.
      „Zwei, glaube ich“, antwortete ich nach reichlicher Überlegung, „oder drei.“
      Lars ergriff sofort sein Handy und schaute sich die aktuelle Rennliste an. Seine Finger schwebten wie wild über dem Display, bis er wieder zu mir aufsah.
      „Blau oder Lila?“, fragte er dann.
      „Wie bitte?“, vor Verwunderung verzog ich das Gesicht, auch die Brünette blickte ihn mit Fragezeichen in den Augen an.
      „Sein Oberteil, Dummerchen“, schüttelte Lars den Kopf, „wenn du schon nicht das Pferd beachtest, klebten deine Augen wohl an ihm.“
      „Blau, schätze ich. Lila wäre mir im Sinn geblieben“, gab ich zu, dass auch dieser Fakt außerhalb meines Wirkungskreises lag. Er senkte wieder den Kopf über den Bildschirm und zeigte im nächsten Wimpernschlag einen hübschen Rappen, der exakt so aussah, wie das Pferd, was Walker in den Po zwickte.
      „Ja, das Pferd“, stieß ich kraftvoll heraus, dass auch Leute neben uns, kurz den Kopf zudrehten. Lina nahm ihm sofort das Gerät aus der Hand, um das Pferd genau zu betrachten.
      „Der ist wirklich schick“, merkte sie an.
      „Dann weiß ich, wer“, grinste Lars aufgesetzt. „Aber lass es, was auch immer du vorhast. Spar dir deine Energie, bei dem ist jede Hoffnung verloren.“
      „Wie heißt er?“, fragte ich zeitgleich und überhörte seinen Zusatz komplett.
      „Das Pferd ist Pay My Netflix“, beantwortete er nur halb meine Frage. Aber bevor ich weitere Informationen bekam, legte er seine Hand auf meine Schulter. Ein kalter Schauer breitete sich aus, verursachte wie eine Lawine kleine weitere Wellen, die eine Gänsehaut am ganzen Körper verteilten.
      „Denk gar nicht daran, außerdem bin ich da, wenn du mehr brauchst“, flüsterte Lars in mein Ohr und lief weiter zu Dustin, mit dem er gleich starten würde. Das Angebot wusste ich zu schätzen, und ich würde vermutlich auch noch darauf zurückkommen, aber sein unbemerkter Anfall von Konkurrenzdenken entfachte ein kleines Feuer, das den Schnee zu schmelzen wusste.
      Walker trug in Zwischenzeit seine Decke und hatte sein vorbereitetes Futter verschlugen. Zu guter Letzt holte ich noch die Bandagen aus dem Transporter, damit seine Beine warm blieben, und nicht schlagartig abkühlten, wickelte ich sie deutlich höher, als in der Dressur. Dazu gehörten auch das Kapalgelenk. Lars hatte mir am Stall auch noch weitere Gründe der Notwendigkeit genannt, die ich in meinem Kopf nicht wiederfand. Im Gegensatz zu Eskil interessierte ihn auch nicht, wie das Werk am Ende aussah, nur halten sollte es und das tat es. Mit gesenktem Kopf zupfte der Hengst das Heu, während ich meine Arbeit ausübte.
      „Jetzt hat er Kniestrümpfe“, bemerkte Lina beiläufig, hing allerdings wieder an ihrem Handy.
      „Jetzt“, ich atmete noch einmal tief durch, „musst du aber herausrücken, was so spannend ist“, sagte ich zu ihr und versuchte dabei ein Blick auf das Gerät zu erhaschen, aber sie drückte den Bildschirm direkt zur Brust.
      „Kannst du vergessen“, grinste sie schelmisch.
      „Das ist unfair. Ihr habt mich ausgequetscht, wie eine Zitrone und du sagst mir nicht einmal, wer oder was dich so ablenkt“, jammerte ich. Mein Bein trat energisch auf den Boden, als wäre ich ein Kind im Supermarkt, das keine Süßigkeiten bekommt.
      „Okay, nur so viel. Es geht um ein Pferd“, entlockte Lina zumindest eine Information.
      „Ich wusste nicht, dass du schon wieder nach einem suchst“, zuckte ich mit den Schultern, denn das Thema schien mich nicht sonderlich zu betreffen. Bestimmt war es wieder eins von diesen Kaltblüter-Verschnitten, die sie vergötterte. Sie waren hübsch, ja, aber vielmehr konnte ich ihnen nicht abgewinnen. Die flauschigen Traber von Lars sowie seiner Familie waren eher mein Fall, denn sie liefen deutlich eleganter und leichtfüßig. Sie erinnerten mich an große Isländer, ohne Tölt.
      Nachdem Lina mich wieder mit Schweigen gestraft hatte, entschied ich die dreckige Kleidung abzulegen, die langsam trocknete. Vor dem Eintreten warf ich die Überzieher ab und stand mit Leggings und kurzem Shirt im Eingang. In den kargen Bäumen rauschte der Wind hindurch und trug eine kleine Schneeböe zu mir. Als ich mich hinunterbückte, um meine Sachen aufzusammeln, sah ich Lars aus dem Augenwinkel herantreten.
      „Also jetzt ist ungünstig“, lachte er und klatschte mir dabei auf den Po.
      „Das tut mir aber wirklich leid“, spielerisch setzte ich einen Schmollmund auf.
      „Na gut, wenn du schnell bist.“ Lars war im Begriff den Knopf seiner Hose zu lösen, als ich seine Hand griff und ihn aufhielt.
      „Denk gar nicht daran, ich wollte mich nur umziehen und mein Geld abholen gehen“, grinste ich. Nun schmollte er. Während ich die Sachen aus der Tür herausschüttelte, nahm Lars seinen Helm aus dem Schrank und Handschuhe.
      „Zweiter Platz sollte nicht einmal so wenig sein“, bemerkte er nebenbei.
      „Was war denn die Gewinnsumme?“, halte ich noch, schließ war ich nur für Nour eingesprungen und hatte mir nichts angeschaut. Unvorbereiteter konnte man vermutlich nicht ins Rennen gehen.
      „52.500 SEK, wenn ich mich nicht irre.“
      „So viel?“, baff stand ich am Tisch, klammerte mich an der Kante. Kurz überschlug ich Walkers Gewinnsumme im Kopf. „Das sind dann 13.000 SEK für uns, oder?“
      „Ja, das sollte passen“, nickte er grob, als wäre es Kleingeld. Dann lief er hinaus. Bei einem so hohen Betrag hätte ich vermutlich etwas mehr Gas gegeben, aber ich wusste natürlich, dass besonders die Rennen in Schweden nicht niedrig dotiert waren. Im Kopf rechnete ich weiter. Tyrell war großzügig, was den Anteil der Fahrer betrifft und gab uns dreißig Prozent ab. Somit konnte ich knapp 4000 SEK behalten, also rund vierhundert Euro. Dieser Schadensersatz war es mir tatsächlich wert.
      Bevor mich meine Beine zur Kasse bewegten, setzte ich mich auf die schmale Bank am Tisch im Transporter ab. Es gab noch etwas, was ich wissen wollte, nach dem mit Lars einige Dinge unterschlagen hatte. Des Herren’ Pferdename war mir bekannt, somit sollte sein Name nur wenige Klicks entfernt sein. Die eigentliche Hürde bestand darin, das richtige Rennen zu finden. Mir fehlte eine Gesamtübersicht, musste mich also von eins zu zwei und so weiter klicken, tippte dabei natürlich auch Links doppelt an. Nirgendwo fand ich dieses Pferd, aber bei bestem Willen konnte ich mir vorstellen, dass jemand aus Spaß durch den Matsch fahren würde am Renntag.
      “Vriska”, jammerte es beinahe kläglich, “warum muss man hier denn erfrieren?”
      „Zwingt dich keiner draußen zu sitzen“, rief ich abwesend und blickte kurz zur Tür, an der sie noch nicht stand.
      “Ja, doch, die Langeweile”, beschwerte sie sich weiter, “auch wenn hier eindeutig zu viele von den gruseligen Dingern sind.” Unwirsch trampelte sie die Stufe in den Transporter hoch.
      “Du hast recht, Männer sind schon sehr gruselig”, schmunzelte ich und machte auf der Bank etwas Platz, damit sie sich setzen konnte. Das Handy lud ohnehin noch die Seite.
      “Du weißt genau, dass ich das nicht meine, außerdem sind alle Fremden zu einem gewissen Grad gruselig”, fuhr sie fort.
      Auf dem weißen Bildschirm kam erst die Navigationsleiste zu sehen und dann die Startliste von Rennen fünf, dass ich fünfzehn Minuten die Parade hatte. Darin starte nicht nur Lars mit Dustin, sondern auf gesuchtes Pferd. Unbestimmt spürte ich wärme aufkommen, begleitet mit einem Ziehen um Unterleib. Ich schluckte, um auch die trockene Kehle loszuwerden. Lina wollte sich gerade zu mir setzen, als ich panisch aufsprang und meine Jogginghose griff.
      “Ich muss los”, stammelte ich dann und sah fragend in ihre Richtung.
      “Was hat dich denn auf einmal gebissen?”, blickte sie mich verwirrt an, “Wo willst du hin?”
      “Pferd, Schwarz”, kamen einzig noch Schlagwörter über meine Lippen, aber Lina hatte bereits das Handy entdeckt, das vor ihr leuchtete. Ich konnte beobachten, wie ihre Augen den Bildschirm überflogen.
      “Du willst Netflix sehen?”, schlussfolgerte sie aus den zusammengebrachten Informationen. Hektisch nickte ich, nahm noch die dickere Jacke und warf Lina die von Lars zu.
      “Außer, du möchtest nicht mitkommen”, blieb ich in der Tür stehen.
      “Was glaubst du denn, natürlich lasse ich mit Jemand nicht entgehen”, entgegnete und folgte mir in die Jacke schlüpfend.
      “Mir geht es nur ums Pferd”, fügte ich noch hinzu. Warm angezogen, ging es auf die kleine Reise. Hinter uns hatte ich noch den Transporter abgeschlossen und Lina die beiden Hengste in der Box angeschaut. Aus den Lautsprechern ertönte bereits die Ansage in der Parade, so unklar und schnell gesprochen, dass ich nichts verstand. Zur Tribüne schafften wir es nicht, aber im letzten Bogen, wo auch Ein- und Ausfahrt war, stand ein längliches Bierzelt mit Bänken. Einige Leute saßen dort und ich zog Lina unverfroren am Arm mit in die erste Reihe.
      In dem Rennen gab es acht Starter, einer davon Dustin, der mit der höchsten Quote angesetzt war. Netflix hingegen, galt als Außenseiter und viel Hoffnung steckten die Wetten nicht in ihn, aber mir war das egal. Ich saß mit wippendem Bein auf der Bank, starte an die große Leinwand uns gegenüber, in der gerade ein Fuchs gezeigt wurde.
      “Ist hier auch so gruselig?”, fragte ich Lina, die ihre Arme um die Brust geschlungen hatte.
      “Schon ein wenig”, antwortete sie. Ihr Blick hefte kaum mehr als wenige Sekunden auf dem Renngeschehen, bevor er argwöhnisch umherwanderte.
      „Du musst nicht hier sein“, versuchte ich besten Gewissens ihren Gemütszustand zu beachten. Aber ich konnte auch nichts daran ändern, zu sehr raste mein Herz und an jeder noch erdenklichen Körperstelle pochte es.
      “Ich schaue mir die lebensmüde Geschwindigkeit da, einfach nicht so genau an, dann geht das schon”, entgegnete sie und versuchte einen halbwegs entspannten Eindruck zu erwecken. Es klingelte einmal zur Startfreigabe. Kaum erreichte sie die Startmarke, wurde die Gruppe schneller. Dustin setzte stark voran, aber fiel schon nach dem zweiten Bogen zurück. Der Rappe hielt sich konstant auf dem Vierten, aber müsste auch nach einer Runde diesen Platz ein.
      „Ach, die sind nicht mal so schnell“, untermalte ich die Aussage von Ansager, der von 1:14,2 sprach.
      “Nicht so schnell, sieht in meiner Welt aber anders aus”, sprach sie zweifelnd. Beinah rutschte mir heraus, dass sie keine Ahnung hätte, aber im richtigen Moment hielt ich den Mund geschlossen. Ich wusste ebenfalls nicht so viel, vermutlich konnte einer der Männer hinter uns deutlich mehr darüber erzählen.
      “Verständlich”, murmelte ich nur. Netflix legte zu und kam nach dem vorletzten Bogen an die Spitzen, doch dann schoss der Fuchs vor, zog Dustin an der Seite mit sich. Ein enges Buhlen um die ersten Platzierungen kam, aber ich bedeckte die Augen. Die Spannung war mir zu viel und auch der Gedanke an einen Unfall, verschlug mir den Atem. Seufzen und stöhnen ertönte hinter uns. In den Verlusten meiner Selbststärke gelang es mir einen prüfenden Blick durch die Finger zu lassen. Mein Rappe lief als Erster durchs Ziel, allerdings im Galopp. Danach folgte der Fuchs und dann kam Dustin. Wieder ein zweiter Platz für den Hof. Unsere Statistik war gut.
      “Man”, stöhnte ich verschlossen und erhob mich von der Bank, um das Geläuf besser zu sehen. Wie in Luft schien sich das Wunschpaar aufgelöst zu haben.
      “Was ist denn, deine Rappe war doch vorne, ist das nicht das Ziel?”, fragte Lina verwirrt.
      “Ja, aber im Galopp. Das ist ein Trabrennen”, erinnerte ich sie. Ungeduldig tippte ich auf dem Boden und die Menschen hinter uns liefen hinaus, um einige der Fahrer entgegenzunehmen. Hektisch hoben die Tiere ihren Kopf, schüttelten sich und schlugen mit dem Schweif. Schön sah es nicht aus.
      “Oh, ja, logisch”, räumte sie ein, ”dass ja doof gelaufen irgendwie.”
      Niedergeschlagen senkte ich mich, als aus der Ferne bereits Dustin in seinen verschiedenen Brauntönen leuchtete. Aus dem Hochgefühl wurde eine tiefe, ziemlich unbegründete, Trauer, die sich wie ein dunklerer Nebel über mich legte. Ich konnte nicht einschätzen, woher das Gefühl kam, aber wollte es nicht. Also versuchte ich auf andere Gedanken zu kommen, was gar nicht so leicht war. Egal, was ich versuchte, zu fokussieren, wurde direkt überschrieben.
      “Da ist Lars”, sagte ich mit einem überspielenden Grinsen und stupste Lina an der Schulter an, die wie hypnotisiert über die Bahn schweifte.
      “Mhm, ja”, murmelte die Brünette halbwegs anwesend und schüttelte den Kopf, beinahe wie ein Hund, dem etwas unangenehm gewesen war. Zusammen standen wir auf. Ich nahm Lars sofort den Hengst ab, damit er noch Plano fertig machen konnte. Obwohl den Platz, sowie das Geläuf dauerhaft im Blick hatte, war mein Rappe wie verloren. Auch dem braunen Hengst nahm ich erst alles ab und wickelte schließlich die Beine ein. In der Zwischenzeit bereitete Lina das Futter vor. Kaum war Lars verschwunden, setzte auch Lina sich ins Warme. Aber ich hatte noch ein Ziel, gut, eigentlich waren es zwei, aber eins davon würde wohl kaum an dem Tag erreichbar sein, aber zumindest das Geld wollte ich.
      “Ich bin gleich wieder da”, sagte ich Lina Bescheid, dass ich zur Kasse ging. Über den matschigen Platz kam ich direkt an dem besagten Gebäude heraus und zeigte unsere Papiere vor, die uns ermächtigten, das Geld zu bekommen. Die Dame am Schalter inspizierte sehr genau die weißen Blätter und zählte ebenso lange die Scheine. Ich seufzte immer wieder genervt, was wenig mit ihrer Schneckentempo zu tun hatte, als mit meinem allgemeinen Unwohl. In meinem Magen knurrte es und ich wollte nur noch weg von hier.
      Endlich wurde sie fertig. Unbedacht lief ich los und zählte selbst die bunten Scheine in meine Hand, als ich plötzlich auf Widerstand traf. Geradewegs prallte ich an eine breite Brust und erst mit einem Blick nach oben, sah ich in wen ich hineingelaufen war. Besagter Fahrer stand vor mir und grinste.
      “Du hast es aber eilig”, scherzte dieser und trat einen Schritt zur Seite.
      “Es tut mir leid”, stammelte ich unsicher.
      “Schon okay, pass nächstes Mal besser auf”, sagte er und gab ebenfalls Unterlagen bei der Dame am Schalter ab. Wie angewurzelt, stand ich auf der Stelle und starrte ihn an. Das Magengrummeln wurde von einem Gefühl der Schwere abgelöst. Unbemerkt blieb ich nicht.
      “Ist noch was?”, fragte er höflich.
      Obwohl ich ihm mitteilen wollte, dass der Fehler seines Hengstes schade war, kamen andere Worte über meinen Mund: “Ich bin Vriska.” Warum genau wollte mein Kopf, dass ich mich ihm vorstelle?
      “Freut mich. Basti”, reichte er mir plötzlich die Hand und schwebte auf Wolke sieben.
      Bis am Transporter ankam, trug ich ein breites Grinsen auf den Lippen. Lina verlud gerade die Pferde, während Lars Plano alles abnahm. Er war gesprungen und damit disqualifiziert, aber es traf ihm wohl keine Schuld. Unser Kollege verhielt sich unachtsam und gab ihm zu viel Leine. Ihm im richtigen Moment eine Parade zu geben, verpasste er und dann kam Galopp. Ein häufiger Fehler, wie Lars uns näher erläuterte, aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu. In meinem Kopf leuchteten weiterhin Bilder von der Kasse auf und ich spürte noch deutlich auf der Haut seine Finger, die sich sanft in meine drückten.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 42.171 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Dezember 2020}
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  • Album:
    stall.
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    Mohikanerin
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    6 Dez. 2021
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  • Walker ist 6 Jahre alt.

    Aktueller Standort: Lindö Dalen Stuteri, Vadstenalund [SWE]
    Unterbringung: Hengstpaddock


    –––––––––––––– s t a m t a v l a

    Aus: Fly me to the Moon (DK) [Standardbred]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt


    Von: Outer Space (NZL) [Standardbred]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt



    –––––––––––––– h ä s t u p p g i f t e r

    Zuchtname: Moonwalker LDS
    Rufname: Walker
    Farbe: Perlino Schimmel
    [Ee AA CrCr Gg]
    Geschlecht: Hengst
    Geburtsdatum: Mai 2016
    Rasse: Standardbred [STB]
    Stockmaß: 158 cm

    Charakter:
    lauffreudig, ausdauernd, schreckhaft

    _2018
    Mai, Qualifikation in Hamburg (15,6s)
    Training bei Thomas Loewe
    Rennen in Deutschland und Schweden

    _2020
    März, Rückkehr auf das eigene Gestüt


    –––––––––––––– t ä v l i n g s r e s u l t a t

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    Dressur L [L] – Fahren E [E] – Rennen M [M] – Distanz E [E] – Gangreiten E [L]

    Ebene: National

    Dezember 2021
    Dressur E zu A

    Januar 2022
    1. Platz, 504. Distanzturnier
    3. Platz, 310. Gangturnier
    3. Platz, 570. Rennen
    3. Platz, 312. Gangturnier

    Februar 2022
    1. Platz, 313. Gangturnier
    3. Platz, 314. Gangturnier
    Rennen E zu A
    2. Platz, 510. Distanzturnier
    2. Platz, 315. Gangturnier

    März 2022
    1. Platz, 511. Distanzturnier

    Oktober 2022
    Jogging, Rennen A zu L

    Februar 2023
    Ausdauertraining, Rennen L zu M

    März 2023
    Gymnastizierung, Dressur A zu L


    –––––––––––––– a v e l

    [​IMG]

    Gekört durch HK 514 im Juni 2022.

    Zugelassen für: Traber aller Art; Barock-Reitpferd; Speed Racking Horse; Cruzado Iberico
    Bedienung: Keine Inzucht; Rennen mind. M
    DMRT3: AA [Fünfgänger]
    Lebensrekord: 1:09,2
    Decktaxe: 229 Joellen [Verleih auf Anfrage]

    Fohlenschau: 0,00
    Materialprüfung: 0,00

    Körung
    Exterieur: 7,23
    Gesamt: 7,81

    Gangpferd: 7,53


    –––––––––––––– a v k o m m e r

    Moonwalker LDS hat 3 Nachkommen.
    • 2019 Mitternacht LDS (aus: Nachtschatten)
    • 2019 Timetraveler LDS (aus: Middle Ages)
    • 2019 Khonshu Tröt (aus: Fieberglas)


    –––––––––––––– h ä l s a

    Gesamteindruck: gesund, im Training
    Krankheiten: keine
    Beschlag: Falzeisen [Stahl], Voll


    –––––––––––––– s o n s t i g e s

    Eigentümer: Lindö Dalen Stuteri [100%]
    Bezugsperson: Nour; Lina
    Züchter: Lindö Dalen Stuteri, Vadstenalund [SWE], Tyrell Earle
    [geb. in Deutschland]
    VKR / Ersteller: Mohikanerin

    Punkte: Gekört

    Abstammung [2] – Trainingsberichte [4] – Schleifen [9] – RS-Schleifen [0] – TA [2] – HS [2] – Zubehör [2]

    Spind – HintergrundKörung