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Wolfszeit

Jokarie* [0]

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Jokarie* [0]
Wolfszeit, 24 Dez. 2021
Friese, Zion, AliciaFarina und 4 anderen gefällt das.
    • Mohikanerin
      Springen E zu A | 22. Februar 2022

      St. Pauli’s Amnesia // Dix Mille LDS // Jokarie // Jora // WHC’ Poseidon

      Auf dem Abreiteplatz tummelte sich eine Horde an Reitern. Ein untypischer Fuchs trabte um die Ecke, Raphael glänzte auf seinem Rappen und Jordan trieb sich auch irgendwo herum. Den Typen auf der Schecken Stute hatte ich bisher noch nie gesehen, aber das Pferd lief fröhlich vor sich hin. Nur ich stand am Zaun und hatte mein Pony in der Heimat gelassen. Einer nach dem anderen setzte sein Pferd auf den Sprung zu, nichts Großes, viel mehr war der Tag vor dem Turnier als einfaches Training angesetzt. Als Höhe lag die Stange auf einem Meter, sowohl das Rick als auch der Oxer waren von mir aufgebaut worden. Man hatte mich schnell als Turniertrottel aufgestuft.
      “Neele, oder?”, hielt der Große auf dem Schecken neben mir.
      “Ja”, sah ich vom Zaun auf und versuchte bei der niedrig stehenden Sonne sein Gesicht zu erkennen, vergeblich, aber sein breites Lächeln entging mir nicht.
      “Die Stange ist gefallen, würdest du sie wieder hochlegen?”, fragte er höflich.
      “Natürlich, sehr unaufmerksam von mir”, lachte ich und stieg durch den Zaun auf den weitläufigen Reitplatz, immer mehr an Fülle zunahm. Wenn sich meine müden Augen nicht irrten, ritten zu viele gut aussehenden jungen Herren mit ihren elitären Pferden auf dem Sand. Achtsam setzte ich einen Fuß nach dem anderen, konzentriert, keinen Huf abzubekommen. Nachdem die Stangen das Rick wieder auf dem Meter lag, flogen bereits die nächsten des Oxers. Kaum drehte ich mich um, hörte ich das Holz den Boden berühren.
      “Strengt euch doch mal an”, rief ich dem Kerl auf dem Fuchs nach, der nur niedlich lächelte und im Galopp seinen Weg fortsetzte. Offensichtlich machten sie sich einen Spaß daraus, mich von der einen zur anderen Seite zu schicken. So genau er auch es schaffte, die Stute auf das Hindernis hinzuzulenken, bockte sie im letzten Galoppsprung und riss damit die Stange zu Boden. Ich schüttelte nur den Kopf und stampfte wieder hinüber. Diesmal blieb ich einige Meter daneben stehen, wie von einem Wunder gesegnet, sprang das Pferd ohne zu reißen.
      „Geht doch“, lachte ich. Als der Schecke wieder bei mir auftauchte. Sofort begann das Pferd mich zu inspizieren, streckte mir das vollgesabberte Maul in mein Gesicht und wischte es schließlich an meiner Schulter ab, als wäre ich der persönliche Waschlappen. Der erste Tag und schon war mein Lieblingsshirt versaut. Kurz davor, es mir über den Kopf zu ziehen, begriff ich noch im richtigen Augenblick, dass ich irgendwo an der spanischen Küste auf einem Reitplatz stand. Im Vergleich zum Herbst an der Schweizer Grenze, brannte mir die Sonne auf den Pelz.
      “Willst du nicht mit Kinderpferd weiterüben? Du scheinst dich als einziger nicht über ein A Niveau Springen zu wollen, Angst?”, neckte ich ihn und lehnte mich leicht an die verschwitzte Stute an. Er ritt sie die meiste Zeit im Galopp auf den Zirkel, sprang von der einen Hand auf die andere. Die Beiden wirkten vertraut, aber distanziert.
      “Angst, vor einem Meter? Sehen wir so aus?”, schob er die Sonnenbrille von der Nase, wodurch ich den ersten Blick auf die wunderschön funkelnden Augen begann. In der Sonne glänzte der helle Braunton noch intensiver als jedes Gold der Erde. Sofort tadelte ich mich Geiste: Neele, du kennst den nicht mal.
      “Offenbar ja, weil dein Pferd langweilt sich”, merkte ich an, nach dem die Stute unaufhörlich an meinem Ohr knabberte, schob ich sie weiter zur Seite. Vergeblich.
      “Na dann”; schwang er sich aus dem Sattel und drückte mir im selben Moment die Zügel in die Hand, “dann viel Spaß.” Wie angewurzelt verharrte ich im Sand, konnte keine Worte finden, die auch gar nicht nötig waren. Mit seinen kräftigen Händen griff er nach meiner Hüfte und warf mich in den Sattel. Wie auf Wolken saß ich auf der Stute, die den Kopf locker hängen ließ und abschnaubte. Ich wusste nicht genau, wie mir geschieht, aber das Pferd lief wie von selbst los und im nächsten Augenblick trabte ich schon über die Stangen neben dem Oxer. Raphael pfiff mir anerkennend zu, als wären wir Freunde, oder kennen uns schon seit Ewigkeiten, obwohl gegenteiliges der Realität entsprachen.
      “Schönes Gefährt”, lachte er und trabte auf seinem Rappen neben mir her, auch Jordan auf Jora kam dazu, doch dieser schwieg. Seine Stute hatte wohl nicht genügend Schlaf, denn obwohl bei ihm keine einzige Stande im Sand landete, konnte er nur mit viel Aufwand, das Pferd auf einer klaren Linie führen. Gut, ich musste einsehen, dass ich die Stute so gut wie gar nicht kannte, nur als Turnierbegleitung meiner besten Freundin auf Abreiteplätzen beobachtet hatte. Wo steckte sie eigentlich? Ohne auf Raphael zu reagieren, ließ ich meinen Blick über den Platz schweifen. Dixie versuchte am Zaun die letzten Grashalme zu erhaschen, während ein offenbar sehr inniges Gespräch mit dem Fuchsjungen hielt. Auch seine rundlich anmutende Stute versuchte an den einen oder anderen Halm zu gelang, deutlich geübter wirkte ich Einsatz am Zaun. Das Funkeln in Alicias Augen konnte ich sogar aus der Ferne ausmachen.
      Weil ich nicht wusste, was ich überhaupt auf dem Pferd zu suchen hatte, trabte ich einfach weiter, schnappte hier und da einen freundlichen Tipp auf, bis ihr Besitzer auf mich zukam. Er tätschelte seinem Pferd den Hals, blickte immer wieder zu mir und auch ich konnte nicht von seiner herzlichen Art ablassen.
      “Vielleicht nimmst du jetzt mal den mickrigen Oxer und dann reden wir weiter”, grinste er. In meiner Brust klopfte das Herz wie wild, schon bei dem bloßen Gedanken an diesen Stangensalat.
      “Bereite Amy so lange vor, wie du dich wohlfühlst. Am wichtigsten ist es, dass du sicher bist und keine Panik bekommst. Sie spürt alles, was du fühlst”, rief er mir noch zu, bevor ich die Galoppsprünge auf einem Zirkel verkürzte. Sie galoppierte mit einer hohen Vorderhandaktion und setzte sich wie ein Profi auf die Hinterhand, als hätte das Pferd auch eine zielgerichtete Dressurausbildung genossen – dass die beiden für Schweden an den Start gingen, erfuhr ich erst später. Aus dem Gefühl heraus schloss ich die Augen und überließ dem Trakehner die Kontrolle. Ich konnte spüren, wie das Pferd im Takt meines Herzschlags den Sprung anvisierte und im nächsten Augenblick abhob. Die Welt zog in Sekunden an mir vorbei, stoppte, bevor die Hufe auf den Sand trafen. Ein Ruck ging durch meinen Körper und energisch zog ich an den Zügeln, aus der Angst, im Dreck zu liegen. Doch die Angst war unbegründet, denn Amy bremste umgehend ab und erhob den Kopf, um meinen Oberkörper aufzufangen.
      “Wow, das war cool”, schwärmte ich lachend und klopft ihr den Hals.
      “Dann spring doch noch ein paar Mal”, schlug er vor, was ich sogleich nutze. Von Sprung zu Sprung fühlte ich mich sicherer und verstand, wieso Alicia so großen Spaß auf Dixie im Springreiten hatten. Bis zu dem Moment hatte ich immer Bedenken, was alles passieren könnte, was wäre, wenn ich etwas falsch mache. An seiner Seite und in diesem Sattel fühlte ich mich gut, bekam Tipps, aber musste leider schneller wieder absteigen, als es mir lieb war. Er nahm sein Pferd entgegen und verschwand. Ich erfuhr nicht einmal seinen Namen, außerdem schwebte noch immer Vachel durch meinen Kopf.
      Ich setzte mich auf den obersten Balken des Zaunes und beobachtete, wie Alicia mit dem Fuchsjungen begann denselben Sprung zu nehmen, gleichzeitig. Faszinierend, wie die Galoppsprünge der Pferde sich synchronisierten und schließlich auf den Millimeter die Stange überquerten. Auch Raphael folgte mit Poseidon und Jordan auf Jora.
      “Komm’, ich bin fertig”, holte mich Alicia wieder weg, nur damit ‘ihre’ Jungs nicht näher betrate, frech, aber so kannte ich sie. Im Großen und Ganzen fand ich es sehr lustig, wenn Reiter aus dem hohen Springniveau plötzlich nur einen sprangen.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 7688 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Oktober 2020}
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    • Mohikanerin
      Springen A zu L | 15. März 2022

      Dix Mille LDS / WHC' Poseidon / Jora / Jokarie

      In den wenigen Tagen, die mir noch in dem großartigen Haus verblieben, saß ich die meiste Zeit auf der Couch herum. Monet befand sich in der Vorbereitung auf seine Abreise nach Schweden. Einerseits freute ich mich, schließlich wollte das Schicksal es so, dass ich offenbar näher bei Eskil war, doch brachte es mich in die Situation über tausende Kilometer zwischen Vachel und mir zu haben. Seufzend kippte ich mir zur Seite auf die Polster, blickte zum Laptop auf dem Tisch. Dieses Warten bereitete mir keinen Spaß.
      Ich hatte die Uhr vollkommen aus dem Blick verloren, als ein Schlüssel in der Haustür ertönte und sie sich öffnete. In einer schwarzen Jogginghose stand Alicia da, bewaffnet mit einer alkoholfreien Flasche Wein und Kuchen. Das war meine Rettung.
      “Wir müssen uns was angucken”, grinste sie, das konnte nur mit Matteo und Raphael zu tun haben. Immer mehr eiferte sie den beiden nach und hatte sich sogar dazu entschlossen, mit nach Schweden zu kommen, um dort mit Dixie weiter zu üben. Zum anderen wollte sie nicht allein bleiben. Sie sagte selbst über sich, dass sie gute Chancen hatte und sich bei verschiedenen Reitschulen bewarb. Was es damit auf sich hatte, wusste ich nicht genau, aber das würde sich noch zeigen. Papa freute sich, dass ich damit jemanden hatte, den ich kannte.
      “Dann zeig mal”, freute ich mich und beobachtete, wie sie mit den Fingern über die Tastatur huschte und es öffnete sich eine in schwarz getauchte Website. Darauf leuchteten die blauen Augen in der Frontansicht von Poseidon.
      “Was ist das?”, wunderte ich mich und beugte mich näher zu dem Gerät.
      “Raphael hat seit gestern eine Website und da habe ich ein Video gefunden, was du sehen solltest.” Sie klickte wie wild herum. Dann öffnete sich ein sehr hochauflösendes Video. Sein Hengst wirkte darin noch wie ein Baby, also musste es aus seiner Anfangszeit aus. Immer wieder tauchte auch Jordan mit Jora auf. Nach einander übersprangen sie ziemlich niedrige Hindernisse, also im Verhältnis zu dem, wie ich die beiden bisher erlebte. Poseidon wirkte unsicher, sogar etwas panisch, wenn er den bunten Stangen näherkam. Raphael beruhigte ihn in seiner sanftmütigen und äußerst liebenswürdigen Art. Immer wieder folgten zwischen den direkten Aufnahmen von Pferd und Reiter, Drohnenshots, Slow Motion. Ziemlich teuer und hochwertig. Nach einigen Minuten war es vorbei.
      “Das war cool”, sagte ich noch immer verwundert, welchen Mehrwert ich daraus ziehen sollte.
      “Neele, du bist wirklich schwer zu begeistern”, stöhnte sie. Vom Tisch krallte sie das Gerät und drückte auf dem Trackpad herum, bis ein dumpfes Tuten aus den Lautsprechern ertönte. Sie stellte das Laptop wieder auf den Tisch und schob sich dicht an mich heran. Erschrocken blickte ich zum Bildschirm, konnte das gesehene nicht richtig einordnen.
      “Warum rufst du Raphael an und wieso über mich?”, flüsterte ich in der Angst, dass er genau in dem Moment abhob.
      “Weil wir jetzt Unterricht haben”, grinste sie und dann leuchtete er auf dem Bildschirm. Freundlich winkte er in die Kamera. Schweigend saß ich neben meiner besten Freundin, die direkt fröhlich losplauderte von dem Video, was wir uns gerade angeschaut hatten und dass sie genau diese Übung auch mit Dixie gemacht hatte. Dadurch wurde die Stute so viel Feiner am Schenkel und riss keine einzige Stange von den leichten Hindernissen.
      Tatsächlich hatten wir kein Unterricht in dem Sinne, vielmehr war es ein kommentierter Ritt und zunehmend kamen auch weitere Leute in den Anruf. Auch Alicias anderes Schätzchen. Dieser erzählte ebenfalls von dem heutigen Trainingstag mit seiner Fuchsstute, die aktuell Winterpause hatte und ebenfalls unter einen Meter zwanzig überquerte. Für die kleinere Stute, im Vergleich zu Dixie, schon eine Herausforderung.
      Mich langweilige tatsächlich der Ritt, nur Alicia tauschte sich fröhlich mit den Anderen aus. Was hatte ich auch davon? Ich sprang nicht, es war eine Ausnahme auf Amy. Zwischendurch stand ich auf und holte eins der letzten Gläser. Kaum hatte ich mich umgedreht, um die Flasche zu öffnen, rief Alicia hektisch: “Dein Verehrer hat geschrieben.” Kurz blieb mir die Luft weg. Warum sollte mit Vachel schreiben? Und wieso wusste sie davon. Die Flasche noch mit dem Öffner im Hals ließ ich auf der Stelle in der Küche stehen und huschte zur Couch. Dort lag auch mein Handy, dass ich sofort ergriff. Eskil hatte mir geschrieben. Damit hatte ich wirklich nicht mehr gerechnet. Vor einigen Tagen schrieb ich ihm einige, nun im Nachhinein, seltsame Nachrichten. Ich wollte wissen, ob bei ihm unterkommen kann. Mein Vater hatte so spontan wie er war, ein Haus gekauft, irgendwo zwischen anderen neureichen Menschen, die ich ohnehin nie sehen würde. Auf dem Grundstück standen riesige Hecken, die jede Sicht bedeckte. Aber das Haus steht erst ab Dezember zur Verfügung und ich wollte, keine Ahnung ehrlich gesagt. Vielleicht wollte ich einfach ein Nein hören, doch Eskil stimmte zu.
      “Damit hatte ich nicht gerechnet, aber selbstverständlich. Ich freu mich. Du musst dann aber mit nach Stockholm kommen”, schrieb er. Ich versuchte mich zusammenzureißen, doch aus meinem Mund kroch ein hoher Schrei der Freude. Verwundert drehte sich Alicia um.
      “Was denn mit dir?”, fragte sie, aber verfolgte mit einem Augen den nächsten Ritt weiter. Das Bild hatte sich von Raphael auf Jordan gewechselt, der auch gerade mit dem Warmreiten fertig zu sein schien und locker über ein Rick sprang. Es war schon ziemlich erstaunlich, wie leicht es aussah, aber ich wusste von Alicia wie viel Training es bedarf.
      „Ich bin erst mal bei Eskil in Schweden“, flüsterte ich in Ohr, schließlich war das Mikrofon noch eingeschalten. Mit einem Tastendruck änderte sie das. Auch ihr Gesicht war geprägt von Erstaunen.
      „Oha, du gönnst dir. Du rufst mich dann jeden Abend an, ja?“

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 5807 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Oktober 2020}
      Wolfszeit gefällt das.
    • Mohikanerin
      Abschied in Spanien | 06. Mai 2022

      Monet / Dix Mille LDS / Jokarie / St. Pauli‘s Amnesia / WHC‘ Poseidon / Crystal Sky / Small Lady / Jora

      Bereits am Flughafen stellte ich fest, dass meine dicke Winterjacke eine schlechte Wahl für Spanien war. Ich hatte nicht einmal so weit gedacht, eine dünnere Jacke im Handgepäck mitzuführen. Stattdessen zog ich sie auf und krempelte den Pullover an den Armen nach oben. Alicia scherzte bereits in Genf am Flughafen.
      „Die Pferde sind schon vor Ort, also kommt“, kam Lotye mit wedelnden Zetteln in der Hand zu uns gelaufen. Sie flog mit den beiden zusammen, was für große Diskussion gesorgt hatte.
      „Wie geht’s Monet?“, fragte ich umgehend. Es war sein erster Flug, während Dixie schon gut um die Welt kam, zumindest in Europa.
      „Alles bestens.“ Meine Trainerin legte ihren Arm um mich herum. Sie wusste, dass es unser letztes gemeinsames Turnier für die nächsten zwei Jahre sein würde, denn auch ich konnte nicht abschätzen, wie es weitergeht. Papa hatte bereits zwischen den Zeilen verlauten lassen, dass er in Schweden ein hervorragendes Angebot bekommen hatte. Ich seufzte. Dann schloss auch Alicia sich an. Inmitten der Menschenmassen standen wir in der Eingangshalle des Flughafens und umarmten einander.
      „Mir fehlt das hier jetzt schon“, sagte ich. Die beiden nickten.
      „Aber lasst uns nicht Trübsal blasen, sondern Spaß haben“, munterte Lotye uns auf. Zusammen suchten wir den nächsten Laden auf, der Kaffee in großen Bechern verkaufte, gar nicht so einfach. Schließlich wurden wir vor dem Gebäude fündig.
      Der Geruch aus dem Becher war mäßig, kein Vergleich zu meinem herkömmlichen Getränk. Stattdessen roch dieser bitter und kratzig, aber am Ende machte es keinen Unterschied. Alicia suchte zur gleichen Zeit nach einem Fahrer, damit wir auf das Turniergelände kamen. Wir fanden heraus, dass es nicht weit von hier war, aber die sommerlichen Temperaturen und unser Gepäck erschwerten einen Spaziergang. Endlich fanden wir ein freies Fahrzeug, dass uns zu dem abgesperrten Gelände brachte. Es lag abseits von der Stadt, aber direkt am Strand.
      „Ist das etwa?“ Mir blieb der Mund offen stehen, als ich das abgezäunte Dressurviereck direkt am Strand sah, umgeben von einer langen Tribüne.
      „Oh! Ich möchte auch am Strand reiten“, schwärmte Alicia.
      „Keine Sorge, das Springen findet auch dort statt“, beruhigte Lotye sie. In ihren Augen sah ich die Erleichterung. Wäre es nicht so gewesen, hätte meine Freundin mir wohl noch Wochen in den Ohren gelegen.
      Am Tor setzte man uns ab und mit den Ausweisen durften wir die Schranke durchqueren. Zwischen zwei Hotels im typischen andalusischen Baustil waren Zeltboxen aufgebaut, während auf einem großen Parkplatz die Transporter ordentlich in einer Reihe standen.
      „Lasst uns erst mal die Sachen wegbringen und dann gehen wir zu den Pferden“, sagte unsere Trainerin, als Alicia und ich schon an den Zelten entlang tigerten und unsere Nummer suchten.
      „Na gut“, gab ich nach. Wir betraten eins der Hotels und checkten ein. Die Einganghalle war nicht groß, aber hell. Durch eine bodentiefe Fensterfront konnte man den Pool sehen, an bereits ein paar Leute entspannten in der Sonne. Ich meine sogar, mir bekannte Gesichter gesehen zu haben, aber ich könnte mich auch irren. Bevor ich sie genauer inspizieren konnte, zog mich Alicia mit zum Fahrstuhl. Unsere Zimmer lagen in der vierten Etage und verfügten über einen kleinen Balkon mit Meerblick. Meine Freundin ließ ihre Tasche neben der Tür stehen und rannte sofort raus. Um Haaresbreite verfehlte ich ihr Gepäck, konnte mich noch am Türrahmen halten.
      „Hallo? Bist du bescheuert?“, fluchte ich und setzte gezielt meine Beine daran vorbei. Aber Alicia hatte recht. Die Aussicht war ein Traum.
      „Schau mal“, zeigte sie nach links, wo man den Reitplatz teilweise erkennen konnte, während der Rest von den überdachten Tribünen überdacht war.
      „Ich bin froh, doch mitgefahren zu sein“, sprach ich mit einem unberührten Lächeln auf den Lippen.
      „Eindeutig!“, schloss sie sich an. „Und wir suchen für dich einen besseren Kerl als Vachel!“

      Bei den sommerlichen Temperaturen am Mittelmeer, die selbst im Herbst aktuell bei knapp zwanzig Grad Celsius lagen, konnte ich nicht in der langen Jogginghose bleiben. Mir vorher zu informieren, funktionierte nicht. Stattdessen bediente ich mich bei Alicia, die gefühlt ihren ganzen Kleiderschrank dabei hatte. Mit einer Hotpants bekleidet, einem Tank Top und einer leichten rosafarbenen Jacke darüber stiefelte ich zu Monet. Um meinen Hals trug ich die Karte, die mich für alle Bereiche berechtigte, außer den VIP, schließlich war ich nicht Raphael, die Alicia mit ihren Adleraugen bereits ausgespäht hatte und verschwand. Mir egal, schließlich wollte ich endlich meinen Hengst sehen! Er stand im mittleren Zelt, irgendwo weiter hinten, berichtete mir Lotye zuvor. Sie blieb in ihren Zimmern und war wirklich erschöpft von der Reise, was ich ihr nicht verübeln konnte. Tausenden Fragen über den Transport lagen auf meiner Zunge, lösten dabei ein ungestilltes Kribbeln aus, dass sie wie kleine Elektro-Schocks in Richtung meines Nackens ausbreitete.
      In der Gasse standen einige Menschen herum, die ich beim ersten Sichten noch nie gesehen hatte. Nur das Gesicht einer großen Blonden kam mir bekannt vor, vermutlich in einem Video. Aber mich interessierte im Augenblick nur mein Pony, das schon seinen Kopf aus der Box regte und sich mit der Zunge die Lippen leckte. Zwischen den ganzen Warmblütern wirkte er wie ein Baby, das hier nichts zu suchen hatte. Kurz fühlte auch ich mich so, die Gespräche um mich herum verstummten urplötzlich, als ich bei ihm anhielt. Liebevoll tätschelte ich seinen Hals und kramte aus der Jackentasche ein Leckerchen heraus. Gierig nahm er es von meiner Hand.
      „Die denkt doch nicht wirklich, dass sie was mit dem reißen kann“, hörte eine zu jemandem sagen. Diese lachte.
      „Wohl kaum. Vielleicht gehört sie zu dem Ponyreiten morgen“, feixte die andere.
      Ich drehte mich nicht mal zu ihnen um, zu sehr schmerzte es mich. Auch Monet schien die Worte verstanden zu haben und stupste mich voller Inbrunst an. Ein zartes Lächeln huschte über meine Lippen. Fürs Erste entschied ich, ihm das Halfter umzulegen und eine Runde über den Veranstaltungsort zu drehen. Nach dem Flug musste er sich sicher mal die Beine vertreten, vor allem, wenn er nun für mehrere Tage nur in der Box stehen würde. Sicher sehnte er sich schon nach seiner Weide.
      Die beiden Mädels verzogen sich aus dem Zelt und ich verließ es ebenfalls, nach dem ich den feinen Staub aus seinem Fell entfernt hatte. Folgsam lief er am Strick neben mir her. Wir folgten dem Weg. Überall standen Schilder, wo man mit einem Pferd hin durfte und wo nicht, dem kamen wir nach. Nach und nach trudelten mehr Transporter ein und am Horizont senkte sich die Sonne in Richtung mehr. Ein wunderschönes rötliches Licht spiegelte sich auf der malerischen Oberfläche, tauchte dabei hellen Häuser am Hafen in warme Töne. Ich musterte jede Fassette am Himmel, während Monet nur Augen für das Grün am Boden hatte. Es schmerzte inzwischen doch. Wieder kam Vachel in mein Gedächtnis, wie er ganz trocken sagte, verlobt zu sein. Unbegreiflich war das alles für mich, noch nie hatte ich von der Dame gehört, die Alicia zu kennen schien. Im Stall verhielt ich mich normal ihm gegenüber, nur er suchte Abstand, was ich verstand. Eigentlich hätte es offensichtlich sein müssen, was für Gefühle ich ihm gegenüber pflegte. Wir lagen oft am Abend auf der Couch, ich in seinen kräftigen Armen und er strich mir den Bauch. Es war zu schön, um wahr zu sein.
      Lange standen wir noch an der Uferpromenade. Ich hatte mich mittlerweile auf den Boden gesetzt und fröstelte. Wir bekamen Gesellschaft. Schritte näherten sich und sogar mein Pony hob den Kopf. Leise brummte er, wodurch auch in mir die Neugier Funken sprühte. Allerdings nur für den Hauch einer Sekunde. Ich verfluchte ihn, aber was wollte Vachel überhaupt hier? Sky hatte bis Februar erst einmal Pause und erst dann wollte er mit der Qualifikation für diese wirklich großen Dressurturniere bekommen, bei denen man Punkte bekam. Die ganzen Arten der Turniere durchblickte ich noch nicht, aber ich war ohnehin glücklich genug, dass Monet sich mit Warmblütern messen konnte.
      „Hey“, sagte ich mit zu Versagen drohender Stimme. Dabei versuchte ich ein Lächeln aufzusetzen, dass mir nur mäßig gelang. Er hingegen strahlte und löste damit ein Schlagzeugsolo in meiner Brust aus. Die Hände steckten locker in der leicht nach oben gekrempelten Anzughose, darüber, ein wirklich sehr enges Poloshirt. Ich schluckte.
      In meinem Kopf leuchtete ein Szenario auf, wie er sich zu mir runterbeugte, die Lippen trocken und die Augen glasig. Eine Strähne hatte sich hinter meinem Ohr gelöst, die er vorsichtig zurücklegte und die Hand am Kiefer behielt. Das Trommeln in meiner Brust wurde stärker, bis sich schließlich alles löste und unsere Münder aufeinanderlagen.
      Natürlich passierte das nicht, stattdessen blieb er auf Abstand bei mir stehen. Vachel drehte die Daumen und schien nicht so ganz entschlossen, was er bei mir wollte. Einen wirklichen Grund dafür verspürte ich nicht, nur die Enttäuschung, dass wir einander so fern waren.
      „Ich wollte nur sagen, dass ich hier bin. Damit“, Vachel hielt für einen Wimpernschlag inne, „es nicht seltsam ist, wenn du mich mit Giada siehst.“
      „Alles klar.“ Zustimmend nickte ich, als wäre ich dankbar über diese Geste, auch wenn es in mir ganz anders aussah. Schließlich wusste ich nicht einmal, wer sie war, doch offenbar ritt sie auch. Nach Alicias Reaktion hatte ich mir das bereits denken können, aber ich wollte mich damit ehrlich gesagt, nicht auseinandersetzen.
      Stumm stand er noch Minuten lang bei mir, wischte mit dem Fuß den Kies von einer Seite zur anderen, während Monet den Kopf wieder ins Grün gesteckt hatte.
      „Ich werde dann mal wieder gehen“, sagte Vachel.
      „Okay“, sprach ich abwesend. Mein Blick lag wieder auf dem Meer, das die Sonne verschluckt hatte.
      „Wir sehen uns noch“, verabschiedete er sich.
      „Bestimmt.“
      Lange saß ich noch neben der Palme und Monet graste weiter. Immer wieder tauchten andere Menschen mit ihren Pferde auf und ließen sie ebenfalls am Gras zupfen, aber nur kurz, als wäre es eine Süßigkeit, wovon das Tier zunahm. Grauenhaft. Ich hatte währenddessen mein Handy hervorgezogen und schrieb Eskil: „Wenn du das sehen könntest, warte“, dann machte ich ein Bild. Am Himmel leuchteten ein paar Wolken in ehrlichen Violetttönen und spiegelten sich auf der bewegenden Wasseroberfläche.
      „Erlkönig hätte sich sicher über etwas mehr Heimatgefühl gefreut“, antwortete er und erzählte mir mehr über seinen Hengst. Dieser stammte auf Portugal. Auch dort müssten aktuell dieselben Temperaturen herrschen, wie am Mittelmeer, überlegte ich. Dann suchte ich danach. Tatsächlich war etwas kühler, durch irgendwelche andere Wasserströme schätzte ich, aber Geografie war ein Rätsel für mich.
      Monet stand wieder in seiner Box und war wenig überzeugt von dem Heu, ändern konnte ich nichts. Für mich stand auch Essen auf dem Plan. Ich folgte dem steinigen Weg zurück ins Hotel, durch die Einganghalle und kam im Speisesaal an. Die Tischen waren zahlreich besetzt, überall aßen Leute, tranken und sprachen. Und obwohl ich nur wenige verstand, wirkten alle sehr fröhlich. Obwohl mich die Gesellschaft zwischen glücklichen Menschen stets in den Bann zog, verlor ich immer mehr den Hunger. Es drehte sich, kniff unsanft in der Magenregion und wanderte wie eine Schlange nach oben. Auch der Anblick der Weinflaschen ekelte mich.
      „Neele, hier“, winkte Alicia, nach dem ich schon den ganzen Raum abgesucht hatte. Unser Tisch war ebenso zahlreich besetzt, auch mit einem Typen, den bisher noch nie gesehen hatte. Freundlich hob ich die Hand als Begrüßung und setzte mich stumm zu Lotye.
      „Für mich ist es mehr Spaß an der Freude“, setzte der Unbekannte das Gespräch mit meiner Freundin fort. „Schließlich ist Karie alles andere als typisch.“
      Offenbar sprach er über sein Pferd.
      „Ach, sah doch super aus beim Training“, sagte Alicia mit funkelnden Augen. Mit dem Typen aus dem Nebenstall war es nur eine kleine Liebelei, wie sie mir vor einiger Zeit erzählt hatte. Es tat ihr aber nicht einmal leid, dass ich dementsprechend vernachlässigt wurde. Sie dachte nie weiter als ein Meter Feldweg, dennoch wünschte ich mir Rücksicht. Mich wunderte es aber nicht, dass sie wieder jemand anderes im Auge hatte. Währenddessen sortierte sie mit der Gabel die Lebensmittel um, ohne etwas davon zu essen. Das vertrieb mir noch mehr den Appetit.
      „Und, mit Monet ist alles gut?“, schmunzelte Lotye.
      „Ja, ich habe ihn grasen lassen“, erklärte ich kurz.
      „Sehr schön“, sie nickte, „morgen um neuen Uhr würde ich noch mal mit dir die Kür durchgehen, schließlich ist am Abend schon deine Prüfung.“
      Tatsächlich hatte ich diese Tatsche vollkommen verdrängt in meinem Gedankenzirkel. Schon morgen war die Prüfung. Obwohl es in Genf nur schlecht für uns lief, sah sie das Potenzial in uns beiden und auch das Training half und bei der Verbesserung, allerdings hatte ich da noch ein positives Bild im Kopf. Jetzt leuchtete nichts in mir, es war ein Ringen um Trauer und Enttäuschung. Lotye wusste das alles nicht. Bestmöglich überspielte ich das Grauen.
      Die anderen am Tisch aßen auf, während ich stumm dabei saß und weiter Nachrichten tippte, mit Eskil. Ich hatte mich gegen Essen entschieden, obwohl meine Trainerin versuchte, dass ich zumindest eine Kleinigkeit zu mir nahm. Das Buffet hatte einiges zu bieten, nur mir drehte noch immer der Magen.
      „Wir gehen noch zur Bar, kommst du mit?“, fragte Alicia. Lotye sah kritisch zu mir.
      „Nein, ich brauche Ruhe für morgen“, sagte ich und sie verschwand mit dem neuen Typen.

      Im Bett, es müsste tief in der Nacht gewesen sein, wachte ich kurz auf. Alicia stolperte ins Zimmer und brachte eine unbeschreibliche Wolke an Gerüchen mit – Schweiß, Alkohol, Zigarettenqualm und Deo, alles strömte durch den Raum. Es roch so widerlich, dass ich beim Wachwerden mich erinnerte. Ich stand also auf und öffnete als Erstes das Fenster, schon dafür auch die Vorhänge beiseite.
      „Wie spät ist es?“, fragte Alicia heiser und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Sieben Uhr“, murmelte ich. Mir war schlecht. Ob es von der Luft im Raum kam oder dem fehlenden Abendessen, konnte ich nicht genau einordnen. Beides vermutlich. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Wir waren nicht zum Feiern hier, erst recht nicht, wenn noch keiner eine Prüfung geritten war. Auch unter der Dusche überlegte ich noch lange, was sie in der oben solchen Teufelskreis zog, aber mir fiel beim besten Willen kein Grund ein. Nach dem Zähne putzen, zog ich mir die blaue Reithose an, ein frisches Poloshirt und griff noch meine Jacke, bevor ich leise den Raum verließ zum Frühstücken. Lotye wartete am Eingang auf mich.
      “Guten Morgen”, lächelte sie freundlich und legte die Hand auf meine Schulter. “Ich hoffe, dass du Hunger mitgebracht hast.”
      “Guten Morgen. Nicht wirklich”, ich seufzte, “Alicia roch wie eine Kneipe und jetzt habe ich Kopfschmerzen.”
      “Was ist denn mit ihr los?”, fragte sie kritisch nach, als hätte ich Ahnung. Ich zuckte mit den Schultern. Sie nickte nur verständnislos und zusammen suchten wir einen Tisch.
      “Oh, bei Vachel sind noch zwei Plätze frei”, sprach meine Trainerin und lief schnellen Schrittes dazu. Natürlich wusste sie um unsere Situation nicht, was ich auch dabei belassen wollte. “Ist hier noch Platz?”
      “Ja, setzt euch”, sprach er freundlich und klopfte mit der Hand auf die Tischplatte. Meine Beine bewegten sich nicht, hielten mich wie ein Zweikomponenten-Kleber auf dem Boden. Die Finger zitterten, während es bis in meinen Hals klopfte. Wahrlich verschlug es mir den Atem und Hunger. Lotye sprach kurz mit ihm, aber suchte danach das Buffet auf. Eindringlich trafen mich ihre Blicke, als würde sie mich erinnern wollen, dass Essen wichtig war.
      “Wie lange möchtest du noch herumstehen?”, hakte Vachel nach, obwohl sein Gesichtsausdruck zufolge, er wusste schon, was das Problem war.
      “Ich weiß nicht”, sagte ich unentschlossen. Dann setzte ich mich ihm gegenüber. Wehmut überkam mich bei jedem Wort, das wir wechselten, obwohl ich mich versuchte von meinen Gefühlen zu entreißen. Der Kampf war aussichtslos, aber mit jedem Atemzug der meine Luft durchströmte, zog ich neue Kraft in meinen schlappen Körper. Selbst die wunderschöne Aussicht aufs Meer und die Palmen machte es nicht erträglich.
      “Das ist doch idiotisch.”
      “Wie bitte?”, fragte Vachel nach. Mist! Hatte ich das gerade laut gedacht? Schockiert hielt ich mir die Hände vor den Mund, als hätte ich sonst was gesagt, allerdings konnte ich auch nicht genau einschätzen, wie viel der Gespräche in meinem Inneren nach außen traten.
      “Ach nichts”, versuchte ich vom Thema abzulenken, als ich meinen Augen nicht trauen wollte. Eine blonde, langbeinige Dame kam näher an den Tisch heran, mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Sie musterte mich ebenfalls. Egal, was ich sagen würde, sie hatte mich bereits verurteilt. Ich hatte ihr nichts Böses getan, als ein Welsh Pony zu besitzen. Dass ich als Einzige in dem Jungen Reiter Grad Prix kein Warmblut unter dem Sattel hatte, sprach sich offenbar herum wie ein Buschfeuer.
      “Was macht der Ponyreiter hier?”, zischte sie und kam näher zu uns. Ihre Hände fasten auf seine Schultern, wanderten dann langsam über seine Brust. Sie küssten sich. In mir zog sich abermals alles zusammen. Wo blieb Lotye? Suchend wanderten meine Augen von links nach rechts, aber ich fand sie nicht.
      “Giada, das ist Neele”, erklärte er.
      “Ah”, sie schnappte verächtlich nach Luft. „Kommst du, mein Herz?“
      „Eigentlich nicht, wieso?“, fragte Vachel verwundert. Er verstand genauso wenig wie ich, wieso sie sich nicht einfach mit zu uns setzte.
      „Caro wartet schon auf uns, komm doch bitte“, setzte sie noch eine Schippe darauf. Sie sprach vermutlich von der Brünetten, die mit Zelt lungerte. Es dauerte nicht lange, dann verabschiedete Vachel sich. Ihm war die Diskussion ebenso unbequem wie mir.
      „Viel Erfolg“, sagte er noch beim Vorbeigehen und verschwand mit ihr. Verloren saß ich weiter am Tisch. Was tat ich hier eigentlich? Meine Hände stützten meinen Kopf.
      „Neele, du hast immer noch nichts gegessen“, mahnte Lotye.
      „Man. Ich habe keinen Hunger, mir ist schlecht!“, schimpfte ich jämmerlich.
      Ihre Stimmung wechselte im nächsten Augenblick. Sie legte das Besteck klappernd zur Seite und richtete ihre Augen zu mir. Die Ernsthaftigkeit löste sich in Luft auf.
      „Was ist los? Bist du so aufgeregt?“, fragte sie fürsorglich.
      „Ja, auch“, ich seufzte und erzählte ihr alles von Vachel, von hinten bis vorn und die Gesichtszüge entglitten immer wieder. Besonders sauer stieß ihr das Verhalten seiner Verlobten hier am Tisch auf.
      „Kann doch nicht wahr sein“, brummte sie kopfschüttelnd.
      „Leider schon, aber was soll‘s?“, sagte ich teils enttäuscht, teils erleichtert.
      „Lass den Kopf nicht hängen, nimm dir ein Brötchen und dann üben wir noch mal die Übergänge, dann machst du die platt!“, lachte Lotye. Sie war nur einige Jahre älter als ich, Ende zwanzig, und konnte entsprechend nachvollziehen, wie es mir ging. Für sie gab es nur die Pferde, auch wenn sie schon vereinzelt mal einen Kerl ans Land gezogen hatte. Wie sie sie sagte, es passte nie. In meinem Alter stand Lotye am Scheideweg, ob sie ihr Geld in ein teures Turnierpferd steckte oder in Trainerscheine, nach dem ihr Hengst urplötzlich einer Kolik erlag. Ich war froh über ihre Entscheidung, denn der begleitete mich schon einige Jahre und hatte sehr daran gefeilt, dass ich mit Monet so weit kam.
      Ihrem Rat mit dem Brötchen kam nach und aß sogar zwei, damit fühlte sich die Leere in meinem Magen bereits besser. Dann schnappte ich mir noch eine große Wasserflasche und verließ den Raum mit Lotye zusammen. Wir sprachen mittlerweile die Aufgabe durch, welche Abfolgen besonders schwierig für mein Pony und mich waren. Im Zelt wurde es zunehmend mehr Leute, doch der Gang war breit genug, dass man noch zu seinem Pferd durch kam.
      „Die?“, flüsterte Lotye in mein Ohr, als Giada auftauchte, mit ihrem Anhängsel. Ich nickte unauffällig.
      „Dann sehen wir mal“, sagte sie entschlossen und zog das Handy hervor. Natürlich startete sie auch bei den jungen Reitern und war nur drei Starts vor mir dran. Das Grummeln in meinem Magen begann wieder.
      „Vielleicht sollte ich zurückziehen“, rückte ich direkt mit meinen Bedenken raus, noch bevor ich überhaupt auf dem Pferd saß.
      „Schwachsinn“, schimpfte sie lächelnd. Monet spitzte seine Ohren und streckte sich in ihre Richtung, als würde es Leckerlis bedeuten. “Siehst du, selbst er ist überzeugt.”

      Wenig später war der Unmut über die ganze Situation wie verflogen. Jeder federnde Schritt durch den weichen Sand setzte Glückshormone frei, die mir ein Lächeln auf die Lippen legten. Fröhlich strich ich Monet immer wieder über den Hals und fummelte an den Strähnen herum, die später noch Zöpfe werden wollten.
      „Mehr zurücknehmen, damit er von hinten kommt“, sagte Lotye durch das Funkgerät in meinen Ohren. Mit einer halben Parade nahm ich seinen Rahmen deutlicher zusammen und trieb gleichmäßig am Bauch. Der Hengst richtete den Rumpf auf, trat dabei gezielter unter. Erneut lobte ich ihn. Wir setzten das Programm fort mit Verkürzungen im Trab und auch Galopp. Die Seitengänge legten wir hauptsächlich zum Lockern ein, denn in der Box bekam er nicht Auflauf den er sonst hatte und am langen Zügel trabte er locker in der Dehnungshaltung. So konzentriert mein Pony in allen Möglichkeiten der Reitkunst für die Prüfung vorzubereiten, bemerkte ich nicht, dass der Platz immer leerer wurde und sich am Zaun eine Traube gebildet hatte. Selbst im Schritt fiel es mir erst sehr spät auf, genauer gesagt, als ich die Bügel überschlug und abritt. Ich sah in überraschte und glückliche Gesichter, als hätte Monet Kapriolen geschlagen.
      „Was wollen die alle?“, fragte Lotye durchs Mikrofon.
      „Dich in der Prüfung gewinnen sehen“, ich sah zu ihr und sah ein strahlendes Grinsen über ihr ganzes Gesicht.
      „Aber man muss doch nicht immer gewinnen“, merkte ich beiläufig an. Wir hatten das Training gebraucht, vordergründig ich, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Obwohl ein Sieg etwas Schönes wäre, konnte ich mir nicht vorstellen, das wir uns zwischen den fünfundfünfzig Teilnehmern diesen ergattern konnten. Es war auch nicht mein Ziel. Ich wollte nur unter die ersten zwölf kommen und da sah ich uns. Monet hatte in dem tiefen und feinen Sand sehr zu kämpfen, dennoch war ich nach dem Training zuversichtlich.
      „Du willst nicht gewinnen?“, hakte Lotye nach, als wir im Stall Monet den Sattel abnahmen und im Anschluss zur Waschbox liefen.
      „Nein. Das Ziel wäre deutlich zu hoch gesteckt, wenn ich an die neunundvierzig Prozent in Genf denke“, erklärte ich ruhig.
      „Aber du würdest dich dennoch freuen?“, eine Augenbraue hob sich bei ihrer Frage.
      „Natürlich! Ich würde vermutlich heulen vor Freude, aber ich möchte mit einem guten Gefühl in das Programm gehen und wieder heraus. Dafür ist kein Sieg von Nöten.“
      „Sehr reflektiert“, stimmte sie mir zu.
      Vor der Waschbox hatte sich eine Schlange gebildet. Unruhig trampelten Pferde von Links nach Rechts und auch Monet wirkte von den Tieren sehr abgelenkt. Seine Ohren bewegten sich hektisch in alle Richtungen, der Kopf nach oben gestellt und der Strick bis zum zerbersten gespannt.
      „Gibt es noch eine andere?“, fragte ich meine Trainerin. Diese nickte und auffällig folgten wie ihr. Am anderen Ende des Platzes fanden wir diese tatsächlich, leer und einsam lag sie vor uns.
      „Faules Pack“, lachte ich.
      „Ja, die wollen sich doch heute alle nicht mehr bewegen. Ich habe sogar gesehen, dass einige schon Groomer haben.“ Sie meinte damit Leute, die die Pferde für den Reiter beschäftigten und betreuten.
      „Sowas werden wir nie brauchen“, dachte ich laut nach und Lotye lachte.
      „Du reitest auch nur ein Pferd, aber teilweise sind die Leute mit mehreren Tieren hier im Auftrag der Besitzer. Sie arbeiten.“ Gespannt lauschte ich ihrer Erklärung. Obwohl Turniere für mich kein Neuland waren, kannte ich besonders die Atmosphäre bei den wirklich großen Veranstaltungen nicht, Lotye hingegen begleitete viele Leute, deswegen musste sie auch gleich verschwinden. Sie hatte noch drei weitere Reiter vor Ort.
      „Danke dir!“, rief ich ihr noch nach und begann das Silber Shampoo aus seinem schneeweißen Fell zu waschen, das bis auf einiger Punkte, beinah rein war.
      Von Kopf bis Fuß tropfte das Wasser an und herunter, aber es fühlte sich erfrischend an. Was nicht vom Schweiß getränkt war, wurde durch Monet nass. Schon am Vormittag herrschten über fünfzehn Grad, was ich aus dem Gebirgsvorland im Herbst nicht kannte. Ich flocht ihm kleine Zöpfe und begann sie zu vernähen, als jemand dazu kam, mit einem Schecken. Das Pferd musterte meins, das interessierte brummte.
      „Lass das“, zischte ich Monet an. Der zuckte mit dem Kopf und das Metall klapperte aneinander.
      „Ach, ist doch alles gut“, sagte der Mann, der dazu kam. Dieser war riesig, gut aussehend, aber tätowiert, die Arme voll von oben bis unten. Ich meinte, ihn schon mal gesehen zu haben, aber nicht auf einem Turnier, sondern in einem Video, das Alicia mir gezeigt hatte. Regungslos sah ich ihn an, der Schlauch plätscherte fröhlich vor sich hin und mein Pony wusste auch nicht so genau, was ich tat. Der Herr grinste weiter und tätschelte dabei den weißen Teil des Halses vom Pferd.
      Erst als Monet sich schüttelte und abermals das Wasser an mir verteilte, erwachte ich aus der Starre. Größtenteils war meine Kleidung abgetropft, aber das wusste er, natürlich zu ändern.
      „E-Es tut mir leid“, stammelte ich verlegen. Ich spürte, wie die meine Haut glühte, obwohl die Knie zitterten vom kühlen Wasser und Luftzug, der an mir vorbeihuschte.
      „Was tut dir leid?“, musterte er mich und lachte dabei. Sein Lachen war herzlich und offen. Ich mochte sein Lachen, die gleichmäßigen tiefen Atemzüge, bei denen ein Ton auftrat, der nicht passender hätte sein können zu seiner Stimme und Äußerlichkeit. Wie ein Virus fühlte ich mich davon angesteckt und musste nun auch über meine dämliche, jugendliche Art Lachen.
      „Ich bin Neele“, beschloss ich mich vorzustellen, anstelle ihm zu erklären, dass es mir peinlich war, vollkommen durchnässt vor ihm zu stehen.
      „Juha, aber jeder sagt einfach Ju“, stellte er sich vor. Der Händedruck fühlte sich gut an, wie schon sein Lachen zuvor, rückten mehr Glückshormone in meinem Gehirn zur Arbeit aus. Sie setzten damit weitere Prozesse in Kraft und die blöden Gedanken vom Frühstück rückten immer weiter in den Hintergrund.
      „Nett, dich kennenzulernen“, strahlte ich.
      „Ebenfalls.“
      Wir tauschen die Plätze, aber verschwand nicht sofort mit Monet. Stattdessen unterhielten wir uns. Ich erfuhr, dass seine Stute nicht nur unheimlich gut aussah, sondern auch ein Sankt Pauli Pferd war, erstes Grades. Den Rapphengst kannte man Weltweit, vor allem, da er nur wenige Nachkommen hatte. Die Besitzerin wollte nicht, dass es wie bei Totilas enden sollte mit der Genverteilung. Stattdessen wählte sie die Stuten gezielt aus und schaffte damit einen kleinen Kult. Fasziniert lauschte ich seinen Erzählungen. Er kannte sich wirklich aus mit Pferden, aber wirkte auch, als würde er Eindruck schinden wollen. Später endete die Unterhaltung eruptiv. Alicia kam, noch ziemlich verschlafen, zu uns gelaufen, mit Dixie am Halfter. Die Stute trat mit bebenden Nüstern neben ihr her, reckte den Kopf nach oben.
      „Ach, was haben wir denn hier?“, schmunzelte sie. Auf ihren Lippen lag ein schmieriges Lächeln.
      „Ein geschecktes Pferd“, antwortete Ju schlagfertig.
      „Seh ich“, lachte sie, „aber ich meinte, euch beide.“ Ihre Augen wanderten hin und her, nur wir wussten nicht so recht, was sie uns damit sagen wollte.
      Ich half meiner besten Freundin, ihre Stute fertig zu machen. Im Gegensatz zu mir lag vor ihr ein entspannter Tag. Sie wollte gleich noch auf den Platz, den ein paar Sprünge wurden dort aufgebaut, für die Reiter der morgigen Prüfung. Auch Ju kam mit und immer mehr Reiter wurden es im fließenden Licht der Mittagssonne. Mich hatte man zum Stangen aufheben beauftragt, obwohl es noch genügend andere Menschen am Zaun gab. Einige bekannte Gesichter begrüßten mich, darunter auch Raphael mit seinem blauäugigen Hengst, der Amy, Jus Stute, die Show stahl. Mit Leichtigkeit sprang dieser über den niedrigen Sprung, der kaum höher als ein Meter war. Zur Gymnastizierung war dieser, wie Alicia mir erklärt hatte und wieder bei ihrer neuen Bekanntschaft landete. Damit stand ich allein da, hob immer wieder die Stange aus dem Sand. Wie konnte es eigentlich sein, dass die Pferde diese immer wieder rissen, aber auf dem Platz beinah das Doppelte an Höhe erwartete? Besonders Alicias Typ, der wohl Mateo hieß, hatte seine Fuchsstute nicht wirklich im Griff. Es waren Freudensprünge, wie man mir im Nachhinein erklärte. Er hatte Karie zuvor rasiert und damit kam auch unerwartete Energie aus dem schweren Warmblut, richtig. Sein Pferd passte genauso wenig in das Bild eines Startes hier vor Ort. Ich versuchte mehr Informationen zu bekommen über ihn, aber es wurde mir verwehrt.
      „Neele, komm, setz‘ dich mal auf Amy“, sagte Ju später zu mir. Ich gluckste verwirrt herum, aber schwang mich schließlich auf die Stute. Amy war bequem und nicht nur das, nein, das Pferd schwebte durch den Sand. Ju gab mir mehrere Anweisungen, die ich herzlich annahm und schließlich setzte ich sie sogar über den Sprung. Es war eine Leichtigkeit für das Tier. Sie lief Gehorsam an den Hilfen, reagierte schon auf den Gedanken.
      „Das war toll“, bedankte ich mich bei Ju und schlang sogar meine Arme um ihn. Für mich war springen nichts, aber dass mir ein beinah fremder junger Mann sein Pferd anbot, geschah auch nicht alle Tage.
      „Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich, als wir zurück ins Stallzelt liefen.
      „Aus Schweden, offensichtlich“, lachte er und zeigte auf die Flagge an seinem Ärmel. Wie blöd war ich eigentlich? Demonstrativ fasste ich mir an den Kopf, während Amy genüsslich auf ihrem Gebiss kaute.
      „Oh“, glitt es über meine Lippen. Obwohl ich mittlerweile jede Facette seines Körpers genau unter Lupe genommen hatte, entging mir dieses kleine Detail. So oberflächlich es auch klingt, er war wirklich heiß. Ein Grund mehr, wieso es im Inneren raste und Alicia mich ignorierte. „Offenbar zieht mich das Land magisch an.“
      „Sachen gibt's. Aber wie kommst du darauf?“, hackte er nach. Ich erzählte ihm alles, von Eskil in Genf und auch dem Umzug auf das riesige Gestüt. Nervös drückte Ju seine Lippen zusammen als würde er etwas sagen wollen, aber lauschte weiterhin meiner Erzählung bis ich zum Ende kam. Zur gleichen Zeit nahm er den Sattel vom Rücken und machte einen der Zöpfe neu.
      „Dann sehen wir uns wohl bald öfter“, grinste er verlegen und ich denke, dass die Röte auf seinen Wangen nicht durch die Temperaturen allein kamen.
      „Ach ja? Wieso denn das?“, fragte ich verwundert nach. Schweden war riesig und meine Zeit begrenzt. Außerdem konnte ich nicht ahnen, was mich dort erwarten würde. Auf den Karten lag das Gestüt mitten im Nirgendwo, umgeben von Wald und Wasser.
      „Wir stehen dort als Einsteller.“
      Mir rutschte das Herz in die Hose und ein flaues Gefühl legte sich auf meinen Magen, während Amy aus einer blauen Schüssel ihr Mittag genoss. Ich tätschelte sie am Hals, in der Hoffnung, wieder einen normalen Herzschlag zu bekommen. Ju war der Hammer: Offen, lustig und höflich. All diese Eigenschaften hatte Vachel auch, aber es gab einen Unterschied. Zumindest hoffte ich das.
      „Hast du eine Freundin?“, rutschte es mir ungeschickt über die Lippen. Selbst er zog eine Braue hoch.
      „Das kam unerwartet, aber nein. Schon länger nicht mehr“, erklärte Ju. „Interesse?“
      „Ähm“, stammelnd schnappte ich nach Luft, aber winkte ab.
      „Das war ein Scherz.“
      „Ich frage nur lieber vorher“, dann beugte ich mich näher an ihn heran, „meine letzte Bekanntschaft war urplötzlich verlobt und nannte alles einen Ausrutscher. Das ertrag ich nicht noch einmal. Ich bin so jemand nicht.“
      Die Wände könnten Ohren haben, deshalb drehte ich mich mehr als herum, um alles im Blick zu haben. Wir waren, bis auf einen Spanier, allein. Dieser fütterte sein Pferd und beachtete uns nicht.
      „Ich bin so jemand nicht“, wiederhole Ju nüchtern. „Das höre ich oft.“
      „Gut, die Wortwahl stimmte nicht ganz“, entschied ich, die Situation umgehend klarzustellen. „Ich meinte damit, dass ich in keine Beziehung funken möchte, deshalb habe ich mich umgehend von ihm angewendet.“
      „Okay.“ Ju schien weiterhin nicht mehr interessiert an einer fortlaufenden Unterhaltung. Stattdessen brachte er die Stute in die Box. Stillstand ich bei ihm und betrachtete jeden seiner Schritte, hatte ich was Falsches gesagt? Meine Hände fummelten das Shirt nach unten, aber gehen wollte ich auch nicht. Noch eine Weile stand ich da, bis Ju sich verabschiedete.
      „Eine Freundin wartet noch“, erklärte er und verschwand durch den Ausgang.
      Erst dann setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Bis zur Prüfung lagen noch Stunden vor mir und Monet nun auch nervös zu machen, sollte kein Plan sein. Also begutachtete ich das Gelände. Auf dem Prüfungsplatz ritt eine junge Dame auf einem Schecken in der Pony Dressur. Das Tier stand gut an den Hilfen, keine Höchstleistungen von den beiden, aber nett anzusehen. Also lief ich weiter und bemerkte den kleinen Markt, der nicht weit von Tribünen aufgebaut war. Schabracken lächelten mich an, allerdings lag mein Geld auf dem Zimmer.
      „Kann ich mir diese zurücklegen lassen?“, fragte ich den Verkäufer, dieser nickte und schrieb meinen Namen auf. Bis zum Abend hatte ich Zeit, gut.
      Auf dem Gelände gab es nicht viel zu sehen, dennoch drängten Menschenmassen durch die liebevoll eingerichtete Marktstraße. Auch einheimische Händler standen dort, boten Essen und Getränke an. Beinah verloren irrte ich umher, bis schließlich vor unserem Hotel stand. An der Seite warteten Reporter, blickten auf den kleinen Bildschirm der Kameras und schenkten mir nicht mal einen Hauch von Aufmerksamkeit. Man kontrollierte meinen Ausweis und ich kam in den kühlen Vorraum an der Rezeption. Nach einem kurzen Wortwechsel bekam ich die Schlüssel fürs Zimmer. Im Fahrstuhl schossen so viele Gedanken durch meinen Kopf, dass ich nicht mit in der richtigen Etage ausstieg und heimatlos durch die Flure irrte. Zu meinem Bedauern traf ich bekannte Gesichter.
      „Was willst du hier?“, zischte Giada, als wäre ich auf dem Weg zu Vachel.
      „Ich suche mein Zimmer“, jaulte ich förmlich und sah mich weiterhin eilig um. Die Zahlen stimmten nicht, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Nach der 1052 folgte eine 389, sehr willkürlich.
      „Hier ist es nicht“, sagte sie unverändert.
      „Schatz, jetzt lass doch mal in Ruhe“, mischte Vachel sich schließlich ein. Sie rollte die Augen, gab zu meiner Überraschung keine Widerworte. Da zog sich auch meinerseits eine Braue nach oben. Mir war nicht ganz wohl, also drückte ich wieder hektisch die Taste für den Fahrstuhl, der nicht kommen wollte.
      “Wo musst du denn hin?”, sagt er und begutachtete meinen Schlüssel. Mit seinem Finger malte er in der Luft herum, bis ein erleuchtendes Stöhnen seinen Mund verließ. Selbst dieses kleine Geräusch löste in mir das Feuerwerk aus, das eigentlich in Kisten verstaut war. Es brodelte und kochte, die kleinen Funken der Zündschnüre sprangen auf weitere über, sodass in wenigen Sekunden jede noch so kleine Zelle unter der Haut kribbelte.
      “Also weißt du, wo ich hin muss?”, zitterte meine Stimme bei der Frage.
      “Ja”, er nickte zustimmend und setzte den erste Fuß in den Fahrstuhl, “oder willst du auf einmal nicht mehr in dein Zimmer?”
      Flink folgte ich ihm und Giada stand kopfschüttelnd da. Aus ihren Augen sprühten Blitze in meine Richtung. Sie ertrug es nicht, dass er mit mir sprach oder ich sogar existiere. Ich spürte, dass es heute noch einen riesigen Streit geben würde, aber ich wollte doch nur in mein Zimmer.
      „Das hier.“ Vachel schmunzelte. Meine Orientierungslosigkeit bei hohem Stress kannte er schon.
      „Danke“, sagte ich und überspielte die aufgewühlte Stimmung im Inneren.
      Er legte seine Hand auf meinen Arm. Sofort brach das nächste Feuerwerk aus und ich schloss die Augen. Es könnte so einfach sein, aber nein. Ich landete im größten Drama, das man sich hätte vorstellen können. Um uns herum wurde es still, nur mein Herzschlag drückte unangenehm am Hals und irgendwo an der Decke hörte man das Flimmern eines Leuchtmittels.
      „Ist noch was?“, stammelte ich.
      „Ja.“ Vachel seufzte. „Aber können wir das … Drinnen besprechen?“
      Im Zimmer schloss ich die Tür und lief mit weichen Knien zum Tisch hinüber, an dem er sich gesetzt hatte. Er wirkte zerbrechlich und rastlos, ihm machte es vermutlich zu schaffen, dass es mit uns beiden wieder stiller wurde. So viel hatte er für mich getan, mich unterstützt, wieder aus dem Loch geholt und was die Pferde angeht mal ganz zu schweigen. Wir waren perfekt füreinander, aber das Kapitel endete schon vor Wochen. Alles, was noch blieb, war die Enttäuschung.
      „Ich liebe sie nicht“, brach es aus ihm heraus und er vergrub sein Gesicht in den Händen.
      „O-oh okay?“, tastet ich mich langsam heran, denn ich wollte nicht schweigen.
      „Es ist schwer zu erklären. Wir haben uns auf dem Turnier kennengelernt, ihre Eltern haben Geld und“, Vachel atmete durch, bevor das unaussprechliche folgte. Ich wusste, worauf er hinaus wollte, aber ich ließ ihn sprechen. „Sie sorgen dafür, dass Sky noch bei mir ist. Ich hatte große Probleme nach der Trennung von Alicia, nein, eigentlich schon in der Beziehung. Meine Ausbildung hat ein Haufen Geld gefressenen, dann das Auto, Skys Behandlung, weil er Druse hatte und die Scheidung meiner Eltern. Luise nervt auch immer mehr.“ Tränen drangen aus deinen Augen hervor. Mindestens die Hälfte davon wusste ich nicht und bezweifelte auch, dass er Marin davon erzählt hatte. Vielleicht öffnete Vachel sich Giada gegenüber, aber das Weib machte nicht den Eindruck, überhaupt Gefühle zu besitzen.
      „Ich geriet in finanzielle Schwierigkeiten, deswegen verkaufte ich Sky. Giada Eltern sind hohe Leute im Reitsport und haben mir das Angebot gemacht, dass ich einen geringen Teil von Sky zu behalten, ihn weiter reiten dürfte, aber sie trugen fortan die Kosten. Es war für sie unbegreiflich, wieso ich zu euch wollte“ beendete er seine Erzählung. Das Schluchzen wurde immer intensiver, bis ich es nicht mehr ertrug und meine Arme um seinen Hals schlag. Vachel erwiderte die Umarmung. Dann platze Alicia rein, sah uns schockiert an.
      „Was denn hier los?“, stammelte sie erbost. „Ich dachte, dass ihr beide klug genug seid und Abstand nimmt.“
      „Alicia, bitte. Halt die Klappe“, fauchte ich. Eigentlich war es nicht in meinem Sinne ihr so den Ernst der Situation zu vermitteln, doch ihr Gesicht lockerte sich umgehend, als Vachel sie mit roten Augen anblickte. Hinter ihr fiel die Tür zu. Niemand sagte mehr etwas, nur noch sein Schluchzen dröhnte dumpf durch das Hotelzimmer. Ich konnte ihn nicht aufmuntern, nur für ihn da sein, denn was sollte die Lösung dafür sein? Würde er nicht mehr mit Giada zusammen sein, wäre auch Sky für immer verloren. Weder er noch ich hatte das Geld. In dem Augenblick kam mir die Idee.
      „Was ist, wenn ich Papa nach Geld frage?“, schlug ich vor. Innerhalb von Sekunden erhob Vachel seinen Kopf.
      „Denkst du, dass er das macht?“
      „Worüber sprecht ihr?“, mischte sich auch Alicia wieder ein. Ruhig erklärte er ihr alles, worauf hin sie meine Idee befürwortete. Papa kannte meine Freunde mindestens genauso lange wie ich und war für gewöhnlich sehr hilfsbereit. Wie viel dieses Pferd für uns alle bedeutete, konnte man gar nicht in Zahlen zusammenfassen, dennoch war ich mir sicher, dass es im Rahmen der Möglichkeit stand. Lange schmiedeten wir noch Pläne und in Vachels Augen leuchtete wieder Hoffnung. Voller Tatendrang griff ich nach meinem Handy, als die Tür sich öffnete. Lotye blickte überrascht uns alle an.
      „Schön, dass ihr euch wieder vertragt, aber Neele, du solltest eigentlich Monet fertig machen“, mahnte sie. Die Augen huschten zur Uhr, Mist! In knapp dreißig Minuten war mein Start. Ich rannte ins Badezimmer, zog mich um und lief zusammen mit meiner Trainerin zum Zelt. Zu meiner Überraschung blickte mich Monet alpinweiss und gesattelt an, einzig seine Kandare hing am Haken vor der Box.
      „Ich hatte Hilfe“, funkelte Lotye und Ju trat von der Seite heran.
      „Wir wussten nicht, wo du bist, deshalb habe ich kurzerhand geholfen“, grinste er. Herzlich bedankte ich mich und sprang in die Box, um noch den Zaum zu befestigen. Lotye reichte mir meinen Helm. Noch einen tiefen Atemzug nahm ich, dann musste ich nur noch funktionieren. Wie von selbst trug mich mein Pony auf dem Abreiteplatz, auf dem sich viele Reiter tummelten. Zwischen all den riesigen dunklen Pferden war Monet der Hingucker. Es wurde gekichert. Ein Vater sagte am Zaun zu seiner Tochter: „Die traut sich aber was.“ Dann lachten sie. Aber für Prüfungsangst gab es keinen Platz in meinem Kopf, obwohl schon auf den ersten Blick jeder einen besseren Eindruck machte, als ich. Ich wollte Spaß haben und keinen Sieg, das sagte ich mir immer wieder, bis mein Name aufgerufen wurde von einer Dame am Zaun. Die Reiterin vor mir hatte den großen Platz betreten und damit musste ich mich als Nächstes für den Start vorbereiten. Ich war nur einige Runden locker getrabt und etwas galoppiert. Für mehr hatte ich keine Zeit, aber ich glaubte an Monet und mich.
      Lotye hakte den Strick am Gebissring an. Ju folgte uns.
      „Musst du nicht zu deinen Freunden?“, fragte ich mit zittriger Stimme nach.
      „Müssen tue ich nichts und offensichtlich brauchst du mich“, grinste er zuversichtlich. Obwohl meine Trainerin es bevorzugte ihre Schützlinge allein vor Prüfung zu haben, grinste auch sie. Offenbar war er ihr sympathisch und sie sah darüber hinweg, ihn wegzuschicken. Netterweise entfernte er die schwarzen Gamaschen von den Beinen und brüstet noch mal über. Dann waren wir so weit.
      Giada hatte hohe Maßstäbe gesetzt und lag momentan auf dem ersten Platz, wie hätte es auch anderes sein können. Allerdings blieb die Vermutung, dass Vachel wohl noch mit Alicia oben im Zimmer saß, denn keinen der beiden konnte ich, am Rand entdecken der Tribünen. Ein letzten hilfesuchenden Blick lenkte ich zu Ju, der seinen Daumen in die Luft streckte. Die Musik ertönte und auf der Vorbereitung neben dem Viereck galoppierte ich den Hengst an. Erst vor der Ecke, bevor ich Eintritt, versammelte ich ihn und hielt schließlich auf den Mittelpunkt an. Selbstverständlich platzierte er die Füße nebeneinander und kaute entspannt auf dem Gebiss, keine wippende Unterlippe, nur aktives Ohrenspiel. Mit einem leisen Schnalzen trieb ihn wieder in den Trab, setzte mich tiefer in den Sattel, um ihn zu versammeln. Dabei reichte der Gedanke. Meine Muskeln sendeten die richtigen Impulse und ich konnte immer mehr in dem Takt der Musik versinken. Aus der Versammlung kam eine Verstärkung, dann wieder zurückholen, auf die Mittellinie – Traversalverschiebungen. All diese Lektionen und Bahnfiguren ritt ich nacheinander ab, fühlte mich dabei wie auf Wolken im weichen Sand, der Meeresbrise in der Nase. Es war schöner als Urlaub, auch wenn ich unter dem Jackett ziemlich schwitzte, wünschte ich mich nirgendwo anders hin. Ich spürte, wie das Strahlen in meinem Gesicht auf die Zuschauer übertrug, die gespannt meiner Passage folgten, die das Pony perfektioniert hatte. Auch in der darauffolgenden Piaffe konnten sich die Warmblüter noch etwas anschauen. Gleichmäßig reagierte er auf meine Hilfen und setzte willig die Übergänge zur Passage um. Dabei war ein deutlicher Unterschied zu erkennen, nicht nur in Kadenz. Wie es noch heute in der Reitkunst praktiziert wird, tänzelte er auf der Stelle, ohne dabei langsam vorwärts zusetzen. Lotye legte großen Wert darauf. Nach dem Mitteltrab folgte die vorherige Abfolge der Lektion, nur auf der anderen Hand, bevor ich ihn sanft in den starken Schritt zurückholte. Monet trat fleißig voran, schnaubte einmal ab, hielt sich dabei wie von Selbst. Der Zügelkontakt hatte bei ihm nur ein äußerliches Erscheinungsbild. Hier und da erinnerte ich ihn durch leichtes zupfen, wie er das Genick stellen sollte, doch ansonsten achtete er auf die Gewichts- und Schenkelhilfen. Willig galoppierte er rechts an und zeigte sich von seiner besten Seite. Eine seiner Stärken lag im starken Galopp, der durch die ganze Bahn folgte. Obwohl wir uns auf einem zwanzig mal sechzig Viereck befanden, konnte Monet eine deutliche Rahmenerweiterung zeigen, die in den weiten Sprüngen gipfelte. Leider kam nun der schwierigste Teil für uns. Ich verpasste die erste Hilfe für den Wechsel und büßte dabei an Punkten ein, auch der Übergang zur Versammlung war nicht ganz sauber. So drückte ich ihn zu schnell zurück, dass er mit dem Kopf schlug und seine Ohren anlegte. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber davon ließen wir uns nicht einschüchtern.
      Wie in der Halle, sagte ich zu mir und erinnerte mich an das Training im strömenden Regen, als Papa mich abholte und erzählte, dass es nach Schweden gehen würde. Krampfhaft drückte sich mein Kiefer zusammen, aber die Galopptraversale nach links saß auf dem Punkt genau. Wohingegen die Pirouette noch deutlicher sein hätte können. Im Programm waren sechs bis acht Sprünge vorgesehen, wie mein Pony nicht schaffte, stattdessen wurden es zehn.
      „Du hast es gleich geschafft“, erinnerte ich Monet. Bei C angekommen bogen wir nach links ab und dabei spürte ich, dass die Kraft in den Hinterläufen abnahm. Meine Motivation galt gleichermaßen mir. Fröhlich sprang der Hengst auf der Mittellinie die gewünschten Serienwechsel. Einmal verpasste ich die Hilfe und so wurden es anstelle der zwei Sprünge drei. Und erst, als wir nach der erneuten Abfolge zu dem Sprung zu Sprung wechseln kam, verspürte ich, welche Herausforderungen wir uns zumuteten. Nur einmal waren wir alle Teile am Stück durchgeritten und das lag weit in der Vergangenheit. Ungefähr vor zwei Monaten müsste es gewesen sein, kurz nach dem Reit in Genf. Gleichwohl ritten wir noch die restlichen Aufgabenteile zu Ende und kamen nach der Passage von X zu G an, hielten an und grüßten. Das Publikum tobte, während mir vor Erleichterung Tränen die Wange herunterliefen. Wir hatten es wirklich geschafft. Beinah fehlerfrei schafften wir das Programm und ich konnte nichts mehr tun, außer meinem Pferd liebevoll den Hals zu tätscheln.
      „Na das kann sich doch sehen lassen“, grinste mich Ju beim Ausreiten vom Platz an und zeigte dabei auf die Leinwand. Wir hatten zwar nicht Giada eingeholt, aber dennoch mit 71,23 % eine persönliche Höchstleistung aufstellt und kletterten damit auf die dritte Platzierung.
      „Danke“, sagte ich erschöpft.
      „Am besten geht ihr beide jetzt zum Abreiteplatz“, gab Lotye ihren Senf dazu und tätschelte ebenfalls seinen verschwitzten Hals. „Ich habe jetzt zwei andere Leute zu betreuen, bis später.“
      Dann verschwand sie den Weg entlang zum Vorbereitungsplatz. Ju stand weiterhin neben mir, hielt den Strick und halte im Gebissring der Kandare ein.
      „Keine Sorge, ich lass dich nicht zurück“, sprach er und führte Monet. Erst jetzt bemerkte ich meine zitternden Hände, wie meine Knie sich am Sattel drückten und die Füße vor Aufregung im Bügel schlotterten. Das Pony folgte ihm. Kein einziger Impuls kam von mir, eher saß ich wie eine Dreijährige auf dem Rücken und sprach kein Wort. Auch nach einigen Runden im Schritt auf dem überfüllten Reitplatz, kam mein Selbstvertrauen nicht zurück. Was stimmte nur nicht?

      Missgünstig beobachtete ich Giada bei ihrer letzten Runde über den Reitplatz. Sie hatte den zweiten Platz belegt, denn der letzte Teilnehmer, ein Portugiese, überholte sie.
      „Die steht zum Verkauf“, funkelten Alicias Augen, als die hübsche Schimmelstute im lockeren Zügel einhändig galoppierte.
      „Und was willst du damit?“, antwortete ich nüchtern, ohne den Blick von Giadas Hengst zu nehmen, der nervös auf der Stelle tänzelte und die Schleife an seinem Zaum überhaupt nicht wohlgesonnen war. Immer wieder gab sie heftige Paraden, zog dabei auch am Kandarenzügel.
      “Was ist denn mit dir los? Der sechste Platz ist doch wunderbar”, jammerte Alicia weiter. Ich hatte ihr nicht mehr zugehört, hing in Gedanken nur an meiner Schwäche und Unfähigkeit fest, insbesondere, weil Vachel so ein Modepüppchen ertragen muss.
      “Nichts”, murmelte ich und erhob mich aus dem Sitz. “Es ist mir nur egal, ob das Pferd zum Verkauf steht oder nicht. Das kostet bestimmten Millionen und die habe ich nicht.”
      “Du redest gerade über Sky, habe ich recht?” Alicia hatte auf den Punkt getroffen, natürlich ging es um diesen Schimmel und nicht die hübsche Andalusier Stute, die noch immer sehr aufmerksam an den Hilfen ihres Reiters lief, der ebenfalls grob die Sporen in die Seite stemmte. Es gab überhaupt keinen Grund, aber soll jeder machen, ich konnte daran nicht viel ändern.
      “Ja”, antwortete ich. Dann seufzte ich abermals.
      “Das wird schon, aber wir können auch nicht so viel tun. Er hat sich das selbst eingebrockt”, erinnerte sie mich. Das Gespräch verstummte umgehend, denn von der Seite kam der blonde Typ wieder an.
      “Kommt ihr mit? Ich habe uns einen schönen Platz am Wasser gesucht”, fragte er.
      “Natürlich”, strahlte Alicia und sah zu mir.
      „Nein, ich bin müde“, antwortete ich.
      „Ju ist auch da“, versuchte er mich zu überzeugen, aber ich blieb dabei. Also verabschiedete sich beide, ich verblieb allein am Zaun. Da kamen mir wieder Alicias Worte entgegen. Eskil suchte doch eine Stute? Schnell machte ich noch ein paar Bilder und schickte sie ihm, bevor der Typ vom Platz verschwand, mit den anderen beiden Platzierten. Auf der Tribüne lichtete es sich, denn nun war Pause, ehe die Abendvorstellung um 21 Uhr begann.

      Am nächsten Morgen las ich erst Eskils Antwort. Die Stute sei nicht sein Beuteschema, aber er kenne jemanden. Um ihm zu helfen, setzte ich mir auf den Plan, den Herren zu finden und mehr Informationen zu bekommen, aber dafür musste ich erst einmal aufstehen. Langsam tastete ich das Bett ab, stellte fest, dass ich allein war.
      „Ach Alicia“, murmelte ich und setzte die Füße nacheinander auf den Holzboden. Leise knarrte die in Jahre gekommenen Dielen bei jedem Schritt, die mich direkt ins Bad führten.
      Ein nächster sinnloser Tag würde anstehen, auch wenn heute Vachel ritt. Mit gemischten Gefühlen stand ich unter Dusche.
      „What are you waiting for“, sang ich die Musik aus den Lautsprechern mit, wollte so gern mehr von meiner besten Freundin haben. Sie war offen, wusste, was sie wollte und nahm es sich. Ich schwieg stattdessen und verkroch mich, eigentlich sollte damit Schluss sein, aber Veränderungen stellten mich immer vor eine Herausforderung. Egal, ich hatte mein Laptop dabei und würde sicher, ein schönes Plätzchen finden, zum Videos schauen.
      Frisch geduscht, schlüpfte ich meine Reitsachen und lief aus dem Zimmer heraus. Heute ging es meinem Magen schon besser und ich entschied allein etwas zu frühstücken. Kurz nach Zehn saßen kaum noch Leute im Speisesaal, den die erste Prüfung hatte bereits begonnen. Ich suchte mir keinen Tisch, sondern direkt am Buffet einen Teller. Unentschlossen tigerte ich um die Auslage. Einige Brötchen lagen noch da, die aber größtenteils an ihrer knusprigen Oberseite eingedrückt waren und bei den Körnerbrötchen fehlten die meisten dieser. Also nahm ich mir einen leichten Salat und Ei, dazu noch einen Joghurt mit Erdbeeren. So gesund aß ich nicht einmal zu Hause! Dann trugen mich die Füße nach draußen. Am Himmel stand bereits die Sonne und zauberte ein warmes Licht auf das Meer, das sich in den Fenstern spiegelte. Im Gegensatz zu drinnen, waren hier fast alle Tische belegt und als meine Augen so wanderten, winkte mich jemand zu sich, Raphael saß mit einigen anderen an einem großen Tisch direkt an der Umrandung der Terrasse. Wie von selbst, mit einem Grinsen auf den Lippen, lief ich hinüber.
      “Guten Morgen”, grüßte ich alle und setzte mich neben eine junge Dame, die wohl seine Freundin sein musste, so verliebt wie sie ihn anstarrte und über den Witz kicherte. Wenn ich das Alicia erzähle, wird sie sicher traurig sein, aber sie hatte sich ohnehin verdünnisiert. Bestimmt verbrachte sie die Nacht bei dem Typen, der eigentlich ganz freundlich war.
      “Guten Morgen, ich glaube, wir haben uns noch nicht kennenlernen dürfen. Ich bin Quinn”, entgegnete sie direkt freundlich und stellte sich in dem Zuge auch direkt vor.
      “Nett dich kennenzulernen”, reichte ich mir die Hand, “man kennt mich als Neele”, grinste ich höflich.
      “Dann warst du das gestern mit dem kleinen weißen Pony in der Dressur, richtig? Ich finde es richtig cool, dass du die Konkurrenz mit den Großen aufnimmt”, entgegnete sie anerkennend.
      “Da muss ich Quinn zustimmen, es sollte mehr von deiner Sorte geben. In meinen Augen sahst du mit deinem Pony deutlich harmonischer aus als so manch anderer”, stimmte Raphael seiner Vorrednerin mit einem breiten Lächeln zu.
      “Auf YouTube habe ich schon einige Ponys in den hohen Klassen gesehen. Es ist nun mal blöd, dass es die schwierigen Lektionen nicht separat gibt. Wer will denn sein Leben lang im leichten Niveau reiten?”, untermalte ich den Standpunkt und schob einen Löffel voll mit Salat mir in den Mund.
      “Niemand, der Sinn und Verstand hat”, nickte Quinn zustimmend, bevor sie einen großen Schluck aus dem weißen Porzellan nahm. Noch eine Weile diskutiert wir darüber, wie sinnlos die Ausschreibungen der Weltorganisation waren, in der sich sogar vom Nebentisch ein Richter einmischte, der unsere Meinung teilte. Der Herr hatte sogar mich gestern benotet, wie ich im Nachhinein erfuhr.
      „Und, was steht bei euch heute auf dem Plan? Oder reitet ihr erst morgen bei den Großen mit?“, fragte ich später, schließlich wusste ich nicht wie Alicia über jeden Bescheid. So war Raphael in meinen Augen irgendwas zwischen Anfang oder Ende zwanzig, wohingegen seine Freundin auch minderjährig sein könnte, ohne jemandem etwas vorzuwerfen. Wenn sie das überhaupt war, doch an dem Gedanken hielt ich fest. Letztere blickte fragend zu ihrem Freund, der offenbar für die Tagesplanung verantwortlich war.
      “Heute Abend steht das drei Sterne Springen an und bis dahin heißt es Poseidon bei Laune halten. Ich denke, zu diesem Zweck werden wir später ans Wasser gehen und was hast du so vor?”, erläuterte der Dunkelhaarige den Tagesablauf.
      “Auf den Flug morgen warten”, ich seufzte und wollte eigentlich kein Mitleid erregen, allerdings drückte Jordan seine Unterlippe vor die Obere. Quinn drehte sich auch zu ihrem Freund, der die Augenbraue liftete. Aufklärungsbedarf. “Aber alles gut, Alicia spring nachher auch.”
      “Das klingt ja nicht gerade begeistert. Ist springen nicht so deins?”, hakte Raphael behutsam nach, ohne gleich zu aufdringlich zu sein zu wollen.
      “Ich möchte mich jetzt nicht unbeliebt bei euch machen, aber es sind in jedem Ritt dieselben Sprünge, die in der richtigen Reihenfolge überquert werden müssen, so schnell wie möglich. Spätestens nach dem vierten Reiter, weiß man schon, was kommt, erst wenn was passiert, wird es interessiert. Aber ich möchte nicht, dass jemanden etwas passiert”, erläuterte ich. Mir war bewusst, dass es sehr oberflächlich von mir war, schließlich ritten in den festen Dressurprüfungen das gleiche Programm.
      “Alle gut, ich denke, wir können nachvollziehen, was du meinst, schließlich wird der Nervenkitzel nicht an die Zuschauer transportiert”, schmunzelte Jordan amüsiert.
      “Genau”, nickte ich. „Solang seid ihr auch keine Konkurrenz, nur nette Menschen, die man mal trifft.“ Beinah rutschte mir ‚Freunde‘ heraus, was ich im letzten Moment noch verhinderte.
      “Nur nette Menschen, hast du das gehört. Da ist mal jemand, der nicht deinem Charme erliegt, Rapha”, feixte Jordan und schlug Teamkameraden spielerisch auf die Schulter. Angesprochener schüttelt nur schmunzelnd den Kopf: “Hör nicht auf den, der ist nur neidisch, dass er keinen Fanclub hat.”
      „Raphael, da muss ich dich leider enttäuschen. Ich musste mich nicht an dir satt sehen, denn Alicia kann gar nicht genug von dir bekommen“, platze es lachend aus mir heraus, „da trete ich lieber dem Jordan Fanclub bei. Kleine, aber feine Gemeinschaft.“ Demonstrativ zog ich den Kugelschreiber aus meiner Jackentasche heraus, den ich immer bei mir trug, und schrieb auf eine Serviette so etwas wie einen Mitgliedsausweis für mich.
      “So sieht’s aus, Qualität statt Quantität”, sprach der junge Mann und bedachte mich dabei mit einem schiefen grinsen.
      “Als würde ich etwas dafür könnte, wer mir alles nachrennt”, erklang ein warmes Lachen aus Raphaels Brust. Einzig Quinn schien nicht ganz zu wissen, wie sie reagieren sollte, überspielte es allerdings mit einem höflichen Lächeln.
      “Keine Sorge, ich renne dir nicht nach, auch wenn man einen anderen Eindruck im Augenblick haben könnte”, versuchte ich Quinn zu beruhigen, als Raphael ein gegenteiliges Bild zu zeigen.
      “Alle gut, mich stört das nicht, auch wenn es so wäre”, zuckte er mit den Schultern und schob den Stuhl nach hinten, um aufzustehen, “Ich hol mir noch nen Kaffee, soll ich sonst noch wem was mitbringen? Dir vielleicht?” Bei der letzten Frage blickte er spezifisch Quinn an, die ihm auch sofort ihre leere Tasse über den Tisch hinweg reichte.
      „Nein, alles gut“, winkte ich ab, blickte dabei auf den leeren Teller. Hunger hatte ich keinen mehr, aber als Beschäftigung während des Gesprächs, wäre es dennoch cool gewesen. Essen aus Langeweile stellte mich immer wieder vor Gewissenskonflikten.
      „Und du? Reitest du auch?“, fragte ich Quinn, als ihr Freund verschwunden war.
      “Grundsätzlich ja, aber hier bin ich nur zur Begleitung”, antwortete sie offen.
      “Ach, das ist aber schön. Da freut sich dein Freund sicher”, grinste ich und bemerkte, wie Jordan seine leuchtenden Augen aufriss und ein verschmitztes Lächeln aufsetzte.
      “Mein Freund?”, frage Quinn ein wenig irritiert, bis ihr einige Sekunden später ein Licht aufzugehen schien.
      “Oh, du denkst Raphael und ich … also nein, wir sind nicht zusammen”, korrigierte sie das Missverständnis, richtete leicht verlegen den Blick zur Tischplatte. Beinah hätte ich nach dem ‘Warum’ fragen wollen, aber da wurde mir klar, dass es mich weder etwas anging, noch passend wirkte.
      “Entschuldige meine forsche Art”, sagte ich, “manchmal trete ich in böse Fettnäpfchen.” Mit besten Gewissen versuchte ich die gedrückte Stimmung wieder aufzuheitern, aber dafür sorgte Raphaels Rückkehr wie von allein. Er reichte seiner Nicht-Freundin die Tasse, die sie umgehend umklammerte und versuchte daraus zu trinken, aber noch deutlich stieg der Dampf heraus auf. Etwas Missgunst kam nun doch in mir hoch, aber ich überspielte es mit einem freundlichen Lächeln.
      “Wie ist das eigentlich mit so einem hellen Pferd, ist das nicht anstrengend das sauber zuhalten? Gerade jetzt so auf Turnier?”, erkundigte sich Raphael und machte es sich wieder auf seinem Stuhl bequem.
      “Ach, ich wasche ihn und die meiste Zeit trägt er seinen Sleezy”, erklärte ich ganz selbstverständlich, als gäbe es nichts Einfacheres im Leben. Mit seinem Rappen kannte er die Probleme natürlich nicht.
      “Interessant, ich glaube, bei Jora würde so etwas nicht lange dran bleiben”, lachte Jordan, “Sie schafft es schon sich aus Decken herauszuwinden, wie so ein Wurm.”
      “Dann wäre das vermutlich eine unkomfortable Situation”, merkte ich an und er nickte zustimmend.
      “Deine Stute ist auch einfach besonders. Dass aus der mal ein vernünftiges Sportpferd wird, hätte auch keiner geglaubt, so Verhaltens-kreativ wie sie ist”, trug auch der Dunkelhaarige grinsend seinen Teil zu der Konversation bei.
      “Aber die reine Anwesenheit auf einem Turnier, macht es auch nicht zum vernünftigen Sportpferd”, scherzte ich in den Dunst hinein. Schließlich hatte ich Jora nur einmal gesehen und das war gestern auf dem Platz, auf dem die Stute von Alicias Typen sich deutlich kreativer vorwärtsbewegte.
      “Wenn du heute Abend zum Springen kommts, wirst du schon noch sehen, was sie so drauf hat. Auch wenn wir noch nicht ganz so gut sind wie Rapha mit seinem Gott”, entgegnete der junge Mann ganz von sich und seinem Pferd überzeugt.
      „Ich weiß nicht, ob ich so lange das Hüpfen von A nach B ertrage“, gab ich provokant zurück, mit dem Hintergedanken es mir in jedem Fall anzusehen, schließlich würde Alicia mich dazu zwingen.
      „Deine Entscheidung, ob du dir das Beste entgehen lässt“, zuckte Jordan mit den Schultern. Dennoch lag ein schelmische Glitzern in seinen Augen, „Aber eigentlich ist das Pflicht für Exklusiv-Mitglieder des Fanclubs.“ Um die letzten Worte zu unterstreichen, tippte er auf die bemalte Servierte vor mir.
      „Tendenziell hat er recht, allerdings möchte Amy bewundert werden und nicht der Bauerntrampel“, ertönte eine bekannte Stimme hinter uns und beinah synchron drehten wir uns um. Ju kam, zu uns gelaufen, mit einer hübschen, groß gewachsenen, blonden Dame, gegen die ich wohl keine Chance haben würde. Allerdings erhellten seine Worte meinem Kopf, dass er keine Freundin habe. Für den Augenblick stockte meine Atem, aber ich versuchte gelassen zu bleiben. All das Drama um irgendwelche Typen, stieg mit langsam zu Kopf, meine Gefühle waren unreflektiert und willkürlich. Konnte ich nicht einfach etwas gefasster sein und klarkommen wie jeder andere auch?
      „Leider muss ich zu Jordan halten und seinem Bauerntrampel, der mit hoher Wahrscheinlichkeit dich schlagen wird“, schmunzelte ich besagtem zu, bevor mein Blick wieder zu Ju fiel.
      „Ach, Jungs, sicherlich gibt es für euch alle genug Bewunderung, ihr seid ja nicht alle gleichzeitig auf dem Platz“, schaltete Quinn sich in das Gespräch. Sie schien sichtlich amüsiert von dem Wetteifern der Jungs und ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Aber genauso sicher war ich mir, dass sie ihren heimlichen Favoriten bereits hatte, denn auch jetzt huschten ihrer Augen immer wieder zu Raphael, obwohl die Brünette das Gespräch mit dem Blick verfolgte.
      „Abwarten“, zuckte Ju mit dem Schulter.
      „Also ich wäre auf jeden Fall da sein“, schmiegte sich die Blonde noch enger an seine Brust und klimperte vertraut mit den Augen. Damit strich ich in meiner gedanklichen Liste die nächste Person weg. Ein Gefühl der Einsamkeit und Leere überkam mich urplötzlich, aber ich musste durchhalten. Morgen Nachmittag ging der Flug zurück und dann würde ich schon fast bei Eskil sein.
      „Dann scheint meine Anwesenheit wohl nicht nötig“, wiederholte ich, nur dieses Mal mit mehr melancholischen Unterton. „Schließlich verstehe ich das nicht mal.“
      „Das erkläre ich dir“, setzte sich Ju ohne zu fragen neben mich und im Wechsel sprach jeder am Tisch über die Disziplin. Unregelmäßig schielte ich zu ihm hinüber. Ich spüre, wie sich die Leere füllte, mit einem Gemisch aus Freude und Sehnsucht. Es stach, es drückte und schnürte mich den Atem ab. Sehnsucht, ein Gefühl, das ich so oft verspürte, aber nur schwer einordnen konnte. Ich sehnte mich nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Mit all den elitären Reitern am Tisch zu sitzen fühlte sich echt an, aber es war nur eine Moment aufnahm. Ein Moment, der jederzeit verfliegen könnte, ohne wirklich dagewesen zu sein. Schwer ums Herz traf es auch ein prickelndes Stechen im Bauch, das sich intensivierte, wenn sich die Blicke von Ju und mir trafen. Er bot mir so viel mehr Vachel, allem voran: Ruhe, Geborgenheit – Dabei kannte ich ihn kaum. Es war die Art, wie ihr zu mir stand, Dinge erklärte und nicht davor zurückschreckte, wenn ich einen blöden Witz machte.
      “Malst du dann auch ein Schild?”, unterbrach Jordan meinen Gedanken. Irritiert wanderten meine Blicken zwischen den Parteien, die mich wie ein gespannter Bogen auf mich gerichtet waren.
      “Was für ein Schild?”, fragte ich vorsichtig. Alle lachten, nur Jordan schüttelte amüsiert den Kopf. “Wir brauchen klare Regeln im Fanclub.”
      “Am besten beginnen wir mit dem Transfer zu mir. Schließlich konnte Neele schon in den Genuss kommen, mein edles Ross zu besteigen”, gab Ju seinen Senf dazu. Das Gelächter platzte aus allen Nähten. Mittlerweile waren wir allein auf der Terrasse, dass keiner am Nebentisch sich gestört fühlen konnte. Mein Gesicht nahm einen leichten rosafarbenen Teint an und ich vergrub es hinter meinen Händen. Das Balzverhalten der jungen Männer überforderte meine Gefühlswelt.
      “Man gewöhnt sich daran”, legte Phina, wie sich die Blonde später vorgestellt hatte, ihre Hand auf meinen Arm.
      “Ich glaube nicht”, murmelte ich.
      “Wer gefällt dir denn besser? Ju oder Jordan?”, nahm sie kein Blatt vor den Mund, aber ich musste nach Luft schnappen, wie ein Fisch am Trocknen. Für einen Augenblick verstummte es am Tisch, alle starrten mich intensiv an, aber ich fühlte mich wie in der Schule, wenn man Vokabeln aufsagen sollte. Das quälende Gefühl der Unwissenheit jagte mein Blut durch die Adern. Aber ich rappelte mich auf.
      “Von welchem Standpunkt aus?”, hakte ich nach und musterte beide intensiv, als würde ich eine Checkliste erstellen. Ju lag vorn, ganz klar. Jordan war zwar sympathisch und deutlich attraktiver als sein charmanter Kollege, dennoch für meinen Geschmack, zu selbstbewusst. Vielleicht sogar selbstverliebt.
      “Das Gesamtpaket, wer von den beiden macht den besten Eindruck?”, lächelte Quinn freundlich und spezifizierte ihr Interesse.
      „Ihr setzt mich ziemlich unter Druck, wisst ihr das?“, schüttelte ich spielerisch enttäuscht mit dem Kopf. „Aber dann muss leider Schweden den Punkt bekommen, schließlich empfing er mich nach der Prüfung. Zudem wäre es blöd, wenn ich es mir damit vermassel, schließlich muss ihn bald öfter sehen.“
      Ein verklemmtes Grinsen legte sich auf seine Lippen und ich spürte, wie sich seine Hand auf meinen Oberschenkel legte. Ich schluckte, aber wollte es mir nicht anmerken lassen, wie meine Finger zitterten. Deswegen schloss ich sie ineinander und drückte die Unterarme leicht auf die Holzplatte.
      „Ju! Die kleine ist scharf auf dich“, feixte Phina beinah diabolisch.
      „So habe ich das gar nicht gesagt“, verteidigte ich mich mit zittriger Stimme. „Nur, dass er deutlich mehr effort zeigte als Jordan.“
      “Lasst Neele doch einfach in Frieden, ihr müsst doch nicht aus allem einen Wettbewerb machen”, rollte Raphael mit den Augen, dem die Diskussion langsam zu bunt zu werden schien.
      “Danke”, murmelte ich und wollte am liebsten im Boden versinken vor Pein. Tatsächlich schob sich mein Po etwas tiefer in den Sitz, aber Jus Hand hielt mich fest, damit ich nicht im Dreck landete.
      “Vielleicht sollten wir dann langsam auch zu den Pferden”, versuchte Phina die Situation zu entschärfen.
      “Richtig”, nickte Raphael und erhob sich von seinem Stuhl, “Kommst du Quinn? Poseidon wartet sicherlich schon.” Eifrig nickte seine Begleitung und leerte den Rest ihrer Tasse, bevor sie sich ebenfalls erhob.
      “Einen schönen Tag euch noch”, verabschiedete sie sich freundlich, bevor sie sich an Raphaels Seite heftete und die beiden in Richtung der Stallzelte verschwanden. Ohne etwas zu sagen, sprang auch Phina ihnen nach. Plötzlich saß ich allein mit Ju auf der Terrasse, mit dem Blick zum Meer und wenn man den Kopf etwas senkte, dann konnte man den aktuellen Reiter auf dem Platz sehen.
      „Vielleicht sollte ich auch langsam“, stammelte Ju unentschlossen, nach einigen Minuten der Stille.
      „Okay.“
      Er stand auf.
      Ich blieb sitzen, wie anklebt.
      „Na komm schon, Monet möchte sich sicher auch die Beine vertreten“, munterte er mich auf, als würde er spüren, dass in mir ein Roman geschrieben wurde.
      Nun war ich die, die seinen Arm um sich trug. Mich erfühlte es mit Stolz, als wir zu den Ställen lief, obwohl uns niemand Beachtung schenkte, nur Giada schaute nicht schlecht. Sie stand bei ihrem Hengst und Vachel hielt diesen fest, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Der Kleidung zur Folge hatte er ihr auch das Pferd sauber gemacht. Leise knurrte sie, was ich aber nicht genauer verstanden hatte.
      „Ich würde dann hinüber zu Amy gehen“, sagte Ju, aber ich hielt ihn sanft am Arm zurück.
      „Kannst du bitte bleiben, bis die weg sind?“, funkelte ich mit meinen Augen. Grinsend stimmte er zu und begrüßte Monet. Dieser stand in seinem hübschen rosafarbenen Ganzkörperanzug in der Box und mümmelte am Heu. Lotye hatte ihn wohl gefüttert, den so viel bekam er sonst nicht von mir. Davon könnte vermutlich tagelang fressen.
      Ich führte ihn aus der Box und entfernte erst einmal seinen Anzug. Mürrisch brummte Monet, als das Ding an den Ohren hängenblieb und er für länger als sonst nichts sehen konnte. Ju, der sich auf meine Putzkiste gesetzt hatte, kam dazu und half mir. Befreit, schüttelte Monet sich und die dicke, kurz geschnittene Mähne fiel wellig auf beide Seiten.
      „Die müsste mal wieder geschnitten werden“, stellte ich, flüsternd zum Pferd, fest.
      „Der Arme“, bemerkte Ju schmollend, „dabei sieht er so viel niedlicher aus.“
      „Du hast doch Amy auch die Mähne abgesäbelt.“
      „Leider muss ich dich enttäuschen, aber das war ich nicht, sondern die Tante vom Beritt“, bemerkte Ju ziemlich abfällig, aber ich konnte es nachvollziehen. Mich hätte es auch genervt, das eigene Pferd plötzlich verändert zu sehen.
      „Tut mir leid“, zog ich meine Aussage zurück. Aber er lächelte nur warm. Das Prickeln sprang wie in der Luft elektrisiert zu mir hinüber und unsere Blicke trafen sich wieder. Etwas sagte mir, dass zwischen ihm und mir noch so viel mehr gab, als den gleichen Pferdehof. Schon aus dem Grund musste ich meine jungen Pferde in der Brust zügeln.
      Endlich verzogen sich Giada und Vachel aus dem Stall, nach dem ich wieder mal Getuschel vernahm. Offenbar war ich das große Thema hier, ohne sonderlich einen Beitrag zu leisten.
      „War das besagter Typ mit Freundin?“, hackte Ju nach.
      „Ja, leider“, seufzte ich.
      „Ach, ist doch alles in Ordnung. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Aber jetzt, braucht mich mein Pferd.“

      Am Abend saß ich nervös auf der Tribüne, direkt neben dem Eingang. Gerade zeigte Raphael auf seinem Poseidon, wofür sie oft trainiert hatten. Mit Leichtigkeit peilten sie ein Sprung nach dem anderen an, ließen dabei nicht nur jede Stange an Ort und Stelle liegen, sondern setzten eine nur schwer zu schlagende Zeit an. Begeistert sprang ich auf, als seine Runde beendet war und er im Schritt vom Platz ritt. Seine Nicht-Freundin empfing ihn mit hochroten Kopf, als hätte sie auf dem Rappen gesessen. Die beiden wirkten so vertraut und glücklich miteinander, dass abermals Missgunst in mir aufkam. Es lag nicht daran, dass Raphael ein sympathischer und gut aussehender junger Mann war, der auch reiterlich neue Maßstäbe setzte, sondern er interessierte sich für jemanden, der selbiges zurückgab.
      Der nächste Starter sprang bereits, aber ich beachtete ihn nicht sonderlich. Jordan war demnächst an der Reihe, weshalb ich die Tribüne verließ und auf dem Vorbereitungsplatz nach ihm Ausschau hielt. Obwohl es mit dem Fanclub nicht mehr als blöder Scherz war, würde es ihn sicher freuen. Mein Eindruck trübte. Zwei Damen standen kichernd am Rand und unterhielten sich rege mit ihm, während seine Stute ungeduldig zur Seite tänzelte und dabei mit dem Schweif schlug. Ihre Ohren lagen im Genick und immer wieder schnappte sie nach anderen Pferden, wenn diese Vorbeiritten. Vermutlich ein Teil davon, was vorhin am Tisch berichtet wurde. Damit hatte sich meine Idee erledigt. Ich drehte mich gerade weg, als die hübsche gescheckte Trakehner Stute ihren ersten Huf neben uns setzte und ihr Reiter zu mir sagte: „Schön, dass du da bist.“
      Eiskalt lief es mir den Rücken herunter, aber sofort wandte ich mich ihm zu und strahlte über beide Ohren.
      „Natürlich, ich möchte doch wissen, was dein Papier kann“, scherzte ich. Er drückte seine Ferse in den Rumpf seiner Stute, die sich gehorsam vorwärtsbewegte. Aufmerksam folgten meine Augen den grazilen Schritten, auch im Trab und Galopp machten beide eine gute Figur. Nebeneffekt meines Besuchs am Vorbereitungsplatz war, dass ich Jordans Ritt verpasste, aber die Zeit sah im Nachhinein betrachtet, einwandfrei aus. Er rutschte damit auf den aktuellen vierten Platz.
      Endlich wurde Ju aufgerufen und ich lief mit ihm zusammen an den Einlass. Ein älterer Herr folgte uns unauffällig, der sich später als Herr Holm vorstellte und sein Trainer war.
      Im gleichmäßigen Galopp begann er den Parcours und das Rick überquerte Amy wie eine Elfe. Nach fünf weiten Sprüngen folgte ein Oxer. Ju holte sein Pferd zu früh zurück, wodurch sie deutlicher weiter springen musste, aber diesen Fehler ihres Reiters ausglich. Immer wieder kam es zu Wackelpatien, in denen die beiden eine Stange berührten mit den Hinterläufen. Diese blieb liegen bis auf einmal. Ju verschätzte sich abermals mit den Abständen, was zum Verhängnis in der Kombination wurde. Amy kam mit den Vorderbeinen gegen die obere Stange. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber es jubelte trotzdem, als er durchs Ziel ritt. Die Zeit konnte sich sehen lassen, aber mit den vier Fehlerpunkten rutschte er auf den achten Platz. Am Ausgang empfing ich ihn freudig, doch er beachtete mich nicht. Stattdessen ritt Ju stillschweigend an mir vorbei und zog genervt am Zügel herum.
      „Denk nicht so viel nach, Juha kann speziell sein. Er braucht jetzt Ruhe und Zeit für sich“, erklärte mir Herr Holm. Zustimmend nickte ich und kletterte durch den Zaun vom Gang hinaus, lief zurück auf meinen Platz, der noch immer leer war.
      Die restlichen Teilnehmer sah ich mir noch an, auch wenn ich Alicia nicht entdecken konnte. Was auch immer es mit dem Typen auf sich hatte, offenbar gehörte ich nicht mit in die Rechnung. Hinter mir sprachen zwei Menschen über Jus Ritt, kritisierten ihn bis aufs Äußerste.
      „Vielleicht solltet ihr das erst einmal reiten, bevor ihr so das Maul aufreißt“, drehte ich mich verärgert um. Wie Autos blickten die beiden in meine Augen und verstummten.
      Bei der Siegerehrung musste sich Raphael mit dem dritten Platz zufriedengeben, denn ein Deutscher und ein Belgier hatten ihn vom Thron verdrängt. Ein Hauch von Wehmut schwang in mir, aber als ich sein Strahlen und das von Quinn erblickte, verschwand es. Laut jubelte ich, freute mich wirklich für ihn. Den Moment wollte ich so gern mit jemanden teilen, aber ich hatte niemanden. Lotye war außerhalb meiner Sichtweite, Alicia ging vermutlich ihrer Natur nach und Ju verschwand wie von Erdboden.
      Just in dem Moment fiel mir wieder der eigentliche Plan vom Morgen ein: Ich wollte für Eskil mehr Informationen über die Stute besorgen. So gut ich konnte, kämpfte ich mich durch die Ränge heraus und folgte dem Weg zu den Zelten. Es dauerte nicht lange, bis ich bei den Stuten das Schimmeltier entdeckte, das hektisch mich anblickte und weiter den Kopf ins Heu steckte. Ein Zettel hing davor mit oberflächlichen Informationen und einer Email sowie Webadresse. Mit einem Foto leitete ich all das an ihn weiter und schoss noch mehr vom Pferd. Die Stute war mir gegenüber sehr skeptisch, zuckte immer wieder zusammen, wenn sie gegen meine Hand kam und legte bei jeder meiner Bewegungen die Ohren an.
      „Gefällt sie dir?“, kam ein Mann freundlich zur Box gelaufen.
      „Schon, ja, aber ein Freund von mir ist interessiert, deswegen bin ich hier“, erklärte ich höflich und wie ein Wasserfall begann er über die Stute zu Sprechen. Sie hieß Small Lady und war, wie bisher angenommen, ein Andalusier. Ihre Abstammung sagte mir nichts, aber klang nach sehr talentierten Pferden. Lange lauschte ich seiner Erzählung, die immer weiter abdriftete und schließlich bei dem Gestüt endete, auf dem er lebte und seinen Eltern gehörte. Die Stute gehörte zu einem der wenigen Andalusiern dort, weshalb sie ein anderes Zuhause finden sollte.
      „Scheren vermutlich“, antwortete ich, als er fragte, wohin sie denn kommen sollte.
      „Ah, das ist cool. Mein Ex-Freund lebt dort jetzt“, quasselte er frohenmutes weiter, aber ich konnte nicht mehr genau zuhören. Immer wieder nickte ich, bis er endlich zum Ende kam. Dennoch bedankte ich mich für die ganzen Informationen, bevor ich so schnell wie möglich aufs Zimmer ging.
      Der nächste und letzte Tag kam viel zu schnell. Die halbe Nacht schaute ich eine Dokureihe über Tiere in Afrika, bis ich einschlief. Auch nach dem Schlafen setzte ich an der Stelle fort. Alicias Ritt verlor ich aus den Augen, denn sie hatte auch diese Nacht auswärts geschlafen. Auf meine Nachrichten gab es keine Antworten. Zum Frühstück ging ich nicht, genoß viel mehr das schöne Wetter auf dem Balkon.
      „Wo ist denn Alicia?“, fragte ich Lotye nervös, als ich mit einem Koffer vor der Rezeption stand und nicht so wirklich wusste, mit mir anzufangen. Sie seufzte.
      „Also, sie fliegt mit mir morgen, entschied sie gestern.“ Aufmunternd klopfte Lotye meine Schulter, aber das brauchte auch nichts. Abermals stand ich allein da, nur weil Alicias Interessen offenbar einen höheren Stellenwert hatten, als meine. So hätte ich auch schon früher nach Hause fliegen können. Im Stall verabschiedete ich mich von meinem Pony und stieg im nächsten Augenblick in das Taxi zum Flughafen. Auf einmal fühlte ich mich so unglaublich unwichtig, dass all die Glücksgefühle sich in Luft auflösten.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 76.797 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Oktober 2020}
    • Wolfszeit
      Springen L zu M | 30. Juni 2022


      “Das ist schon ziemlich hoch”, sage ich Lina, die aufregt neben mir hampelt, als würde sie selbst auf der dunklen Fuchsstute sitzen. Sie und Sam hatten zusammen eine mittlere Springtoure aufgebaut, die Mateo mit Jokarie vorzeigen wollte. Der Aufbau stammte aus einem Buch, das die beiden vollkommen verstaubt aus dem Bücherregal in der Sattelkammer gezogen hatte. Dort standen diverse Bücher, vom Springen über Dressur und Rennpferde-Training, alles konnte man darin finden, wenn man nur lang genug schaute.
      Die ersten Hindernisse im vorderen Bereich der Reithalle waren etwas niedriger, dennoch sahen sie im Vergleich zu dem schwerfälligen Warmblut mächtig aus. Ich traute der Sache nicht ganz. Das eine war mein Hengst, der lange Beine hatte und mit Leichtigkeit die Anfänger-Sprünge vor Wochen nahm, dem Lina das nicht zutraute. Aber was vor uns lag, war ein riesiger Unterschied.
      “Ach, die schaffen das schon”, grinste sie und folgte mit wachen Augen den beiden, dabei kam ein glückliches Funkeln hervor. Es schien, als würde sie damit die ganze Halle erleuchten.
      Jedes Mal, wenn Jokarie mit den Hufen gegen das Holz schlug, schlossen sich meine Augen panisch, als würde mein Unfall sich abspielen. Aber Mateo saß fest im Sattel und die Stangen blieben in der Halterung.
      Nach einer Stunde war der Horrorfilm vorbei. Lina hatte mich an Ort und Stelle behalten, drohte mir mit verschiedenen Sachen. Ihre Hartnäckigkeit schüchterte mich tatsächlich etwas ein, deshalb schlug ich Wurzeln. Erleichtert atmete ich durch, um endlich meine Pferde zu arbeiten.

      © Mohikanerin // Vriska Isaac // 1560 Zeichen
      zeitliche Einordnung {März 2021}
    • Mohikanerin
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      kapitel tjugofem | 11. August 2022

      Satz des Pythagoras / Jokarie / Pay My Netflix / Maxou / Ready for Life / Northumbria
      Ours de Peluche LDS / Spök von Atomic / Nachtzug nach Stokkholm LDS / Mondlandung LDS / Kría von Atomic / Yumyulakk LDS / Heldentum LDS / Halldór von Atomic / Anthrax Survivor LDS / Liv efter Detta LDS / CHH’ Death Sentence / Kempa


      Lina
      So gut wie heute hatte sich die Schimmelstute vermutlich noch nie unter mir bewegt. Sie lief locker, kaute zufrieden auf dem Metall in ihrem Maul und selbst die Gespenster, die häufig für unvorhersehbare Hopser sorgten, schien heute vollkommen unsichtbar. Warum diese Einheit dennoch so ziemlich alles von mir forderte, war ausnahmsweise nicht Smoothies Kreativität, sondern viel mehr der kritische Blick meines Freundes. Konzentriert auf die Lektion galoppierte ich den Schimmel auf einer großen Kreislinie. Drei, zwei, ein Sprung und … Smoothie sprang bereits um. Natürlich blieb dabei nicht unbemerkt, dass die erfahrene Stute, den Wechsel vorwegnahm, bevor ich überhaupt die Hilfe gab.
      “Noch einmal und diesmal bestimmst du den Wechsel, nicht das Pferd”, schallte Niklas Anweisung durch die Halle, die ich nur nickend zur Kenntnis nahm. Den Wechselpunkt fest im Blick versuchte ich die Bewegung der Stute bewusst wahrzunehmen, um den vorherigen Fehler zu vermeiden. Diesmal sprang Smoothie den Wechsel tatsächlich erst auf meine Hilfen hin, wenn auch nicht so schön wie den vorherigen. Zwei weitere Wiederholungen wurden verlangt, dann war der Herr für heute endlich zufriedengestellt. Wo die Stute gerade so wirkte, als würde sie noch eine ganze Weile so fortfahren könne, war meine Energie erschöpft. Langsam ließ ich Smoothie die Zügel aus der Hand kauen, während sie locker vorwärts trabte. Runde um Runde streckte die Stute den Kopf tiefer zum Sand hin, schnaubte ab, bis ich schließlich zum Schritt parierte.
      “Lina, schau mal, was hältst du davon”, kam Niklas aus der Ecke herangelaufen, wo er es sich bisweilen gemütlich gemacht hatte und hielt mir sein Handy vor die Nase.
      “Du hast es aber eilig mit dem neu einrichten”, schmunzelte ich und betrachte den Inhalt des Bildschirmes genauer, auf denen sich mir offenbar Einrichtungsideen eröffneten.
      “Klar, ich möchte, dass wir es hübsch haben, wenn wir jetzt endlich allein sind”, sprach Niklas, beinahe, als sei Vriska ein lästiges Insekt gewesen, was es loszuwerden galt. So wirklich verstand ich noch immer nicht, weswegen seine Aversion derartig ausgeprägt war. Doch imstande, etwas daran zu verändern, war ich nicht. Als Lars darum bat, ob ich sie beide auf die Bahn begleitete, weil Vriska Unterstützung gebrauchen könnte, hatte ich ziemlich mit mir gerungen. Noch immer verspürte ich ein unangenehmes Drücken in der Brust, weil mein Kopf unwillkürlich negative Bilder mit ihrem Erscheinen verknüpfte, die nur sehr langsam verblassen wollten. Hinzukam, dass Orte mit angeschirrten Pferden nur bedingt zu meinen Lieblingsorten zählten. Die Traber mit ihrer bunten Ausrüstung lagen noch recht weit von meinem persönlichen Albtraum entfernt, erinnerten mich aber dennoch an die Dinge, die ich einst unwiederbringlich verlor. Zudem mochte ich mir nicht ausmalen, welche Gefahren die unheimlich hohe Geschwindigkeit in Kombination mit nervösen Pferden wohl mit sich bringen mochten. Warum ich dennoch mitging? In der Art und Weise, wie Lars um den Gefallen bat, wurde mir klar, dass es nicht einfach um Hilfe mit den Pferden ging, sondern dass er um meine Unterstützung als Freundin fragte. Das könnte nur heißen, dass es Vriska nicht wirklich gut ging. Ich konnte nachvollziehen, dass es für sie belastend sein musste, gerade erst wieder angekommen zu sein und dann solch eine Abweisung zu erfahren. Auch mir fehlten die täglichen Interaktionen mit ihr, so wollte ich zumindest versuchen über die Bilder, die mir klebrig und zäh wie Baumharz im Gedächtnis klebten hinwegzusehen.
      “Und, was sagst du jetzt dazu?”, erinnerte mich Niklas daran, dass er immer noch auf eine Antwort wartete.
      “Es ist ziemlich schlicht”, äußerte ich diplomatisch. Was ich sah, war ästhetischen ansprechend, aber ziemlich unpersönlich und minimalistisch.
      “Also dir gefällt es nicht?”, schlussfolgerte mein Freund aus der eher Verhalten Reaktion und nahm sein Mobilgerät wieder an sich.
      “Na ja, schon, aber es könnte alles ein wenig wohnlicher sein. Aber können wir uns damit nicht später befassen?”, bat ich ihn erst einmal in Ruhe seine Stute abzureiten und wegzubringen.
      “Natürlich, mein Engel”, gab er nach und steckte das Handy weg. Stattdessen holte er ein Leckerli auf der Tasche und steckte es Smoothie zwischen die Lippen. Genüsslich kauend trotte die Stute neben ihrem Herrchen her, stupste ihn immer mal wieder spielerisch an mit dem Ziel eine Reaktion zu erhalten. Bereits seit einigen Wochen beobachtete ich, dass die Schimmelstute deutlich ausgeglichener war. Selbst mir gegenüber war sie weniger unwirsch, was ziemlich sicher mit Niklas vermehrter Anwesenheit zusammenhing. Was ein Glück, dass dies nun ein dauerhafter Zustand sein würde.
      “Ich wette morgen wird mir alles wehtun, aber allein das Reitgefühl heute war es wert”, grinste ich zufrieden, als ich zwanzig Minuten später aus dem Sattel glitt. Bereits jetzt spürte ich die leichte Verhärtung in meinen Muskeln, die den Muskelkater nahezu ankündigten.
      “Schön, dass es dir offensichtlich Spaß gemacht hat”, sprach mein Freund und nahm mir die Zügel seiner Stute aus der Hand, “Das kannst du öfter haben, wenn du nicht gleich alles vergiss und schön weiterübst.”
      “Ob ich mir das alles bis nächstes Jahr behalten kann?”, scherzte ich munter, “Ich weiß ja nicht.” Während Niki, bereits damit begann die Stute vom Sattelzeug zu befreien, lief ich fröhlich vor mich hingrinsend, direkt in die Futterkammer. Mit wenigen schwungvollen Bewegungen war die Schüssel mit gut duftendem Hafer befüllt und zurück zu dem Pferd getragen. Kaum hatte die Schüssel den Boden berührt und das Standardbred verdient seine Schnauze darin versenkt, vibrierte es an meinem Oberschenkel. Kaum hervorgezogen, leuchtete der Bildschirm auch schon mit einigen Benachrichtigungen auf. Zu Oberst leuchtet Instagram, welches mir mitteilen wollte, dass nach wie vor meinen Notifikationen explodierten. Aus mir nicht ganz erklärlichen Gründen löste das bisher erste und einzige Reitvideo von dem kleinen Weihnachtsauftritt eine wahre Lawine an Likes und Kommentaren aus, deren Inhalt ich allerdings nicht näher betrachtet hatte. Zu groß war, meine Sorge, weniger erfreuliche Worte darin zu entdecken. Das soziale Netzwerk weiterhin ignorierend, öffnete ich stattdessen die Nachricht von Mateo, die ebenso dort aufleuchtete.
      “Hast du Karie schon bewegt?”, war alles, was dort zu lesen war. Verwundert zog ich die Augenbrauen. Für gewöhnlich war es nicht die Art des Schweizer mit der Tür direkt ins Haus zufallen. Zudem hatte er gestern erst angekündigt, dass er heute wiederkommen wollte, also warum fragte er dann nicht einfach, wenn er da war?
      “Nein, habe heute Morgen nur nach dem Rechten gesehen. Sah happy aus, dein Pony”, tippte eine schnelle Antwort. Kaum war die Nachricht versendet, sprangen die Haken hervor und änderten ihre Farbe.
      “Perfekt <3”, war alles, was darauffolgte und prompt, war er wieder Offline. Normal war dieses Verhalten nicht. Untypisch war nicht nur die Wortwahl, sondern auch die Nutzung des leuchtenden roten Herzens. Hatte er sich plötzlich eine neue Persönlichkeit zugelegt oder was stimmte nicht mit ihm nicht? Wenn er später kam, sollte ich diesem Mysterium auf den Grund gehen.

      Zur gleichen Zeit, einige Meter weiter

      Vriska
      Über tausend Ecken hatte ich erfahren, dass ich selbst von meiner Familie zurückgelassen wurde. Sie fuhren nach Stockholm, um den Jahreswechsel zu erleben. Der Schmerz saß tief, zwischen all den anderen Päckchen, die ich mit mir trug und verdrängte. Ich war immer außen vor, egal, was mich betraf. Vermutlich hatte keiner überhaupt einen Gedanken verschwendet, ob ich mitkommen wollte. Das Gespräch konnte ich mir förmlich schon vorstellen, wenn ich Mama sagen würde, dass ich es nicht nett fand. „Du kommst doch nie mit“, wäre ich ihre Standardantwort und dann verlässt sie den Raum. Somit konnte ich es mir sparen, überhaupt was zu sagen.
      Seit Stunden saß ich allein in der Küche, goss mir ein Glas Wein nach dem anderen ein und versuchte im Internet einen Ausgleich zu finden. Aber ich kam in ein Rabbit Hole, das mich minütlich in tiefere Ebenen zog. Zufällig wurde mir Moa auf Instagram empfohlen und ich sah hunderte Bilder mit Erik, auch aus Zeiten, als wir miteinander gingen. Anhand des Datums identifizierte ich auch, dass es Tage waren, an denen er ‚wegen des Studiums‘ nicht herkommen konnte. Schön wäre gewesen, wenn ich nicht noch mehr entdeckte hätte, wie, dass er einen Account hatte, diesen mir aber bis heute verschwieg. Nein, er hatte mich sogar blockiert. Mit zittrigen Fingern tippte ich durch seine Beiträge über einen anderen Account von mir, den ich mal mit Jenni erstellt hatte. Es schien, als hätte ich nie existiert, aber den Eindruck vermittelte mir jeder im Umfeld. Anstatt es hinzunehmen, trank ich einen kräftigen Schluck und holte mein Handy von der Couch. Keine einzige Nachricht leuchtete mich an, aber ich wusste es zu ändern. Im Chat prangerte noch immer seine Bitte auf Abstand. Aber ich machte mir nichts daraus, stattdessen fotografierte ich kommentarlos sein Profil ab und sendete es ihm. Kaum wurde aus einem Haken, ein Zweiter änderte sich ‘online’ auf ‘schreibt’.
      „Du hast nie danach gefragt“, kam es als Antwort. Damit hatte er recht. Ich wusste nicht, was nicht erwarten würde, andererseits schätzte ich ihn nicht als so eine Person ein, die auf Instagram Bilder veröffentlichte. Aber dem war nicht so, stattdessen waren es sehr viele, teils freizügig. Seltsam, wenn ich bedachte, dass er beim Schwimmen nicht einmal, sein Hemd ausziehen wollte.
      „Du hast mich blockiert“, antwortete ich.
      „Ja“, leuchtete sofort auf. Mir fehlten die Worte hierfür. Also schloss ich den Chat nur und schaltete das Handy auf Bitte nicht stören. Es verstummte, obwohl es zuvor kaum mehr von sich gab. Zumindest gab es mir auf diese Weise die Möglichkeit, ein Gefühl von Kontrolle zu erfahren. Erik schien die Angelegenheit wichtig, denn auf meinem Laptop leuchtete eine Nachricht von ihm auf, aber unter seinem Pseudonym, dass ich aus nicht erkenntlichen Gründen, noch in meinen Kontakten aufführte.
      „Deine Berührungen fehlen mir“, schrieb er. Misstrauisch beäugte ich seine Nachricht und war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte. Mit Abstand hatte das wenig zu tun, deshalb ignorierte ich es und schloss das Rabbit Hole, genauer gesagt alle vierzehn Tabs, die ich mittlerweile angesammelte hatte. Unter seinen Zweitnamen, wie ich im Laufe der Recherche herausfand, eröffnete sich eine ganz andere Person vor mir. Erik hatte mir Dinge nicht nur einfach verschwiegen, sondern gelogen. Mehrfach. Ich stieß auf Bilder aus jüngeren Jahren, Geschichten aus der Zeitung und es mutete eher so an, als wäre er in einem glücklichen Familienbild aufgewachsen. Kein Übergewicht, nur ein Autounfall mit achtzehn Jahren. Er hatte ein Fahrzeug auf einem Parkplatz geklaut und sich damit um eine Laterne gewickelt. Selbst dazu fand ich Bilder, die mir ein elendiges Drücken im Magen auslösten. Aber damit sollte Schluss sein. Nur noch ein Tab lag offen vor mir und das war Niklas’ Instagram Profil, auf dem er sich mittlerweile mit eiserner Brust und Lina an der Seite präsentierte. Die Beiden sahen glücklich aus, mit den zwei hellen Pferden neben sich. Davon bekam ich jedoch nur noch wenig mit. Seine Aktion, immer weiter einen Keil zwischen uns zu treiben, gipfelte nun in seiner bereits angesprochen Drohung, dass ich ausziehen müsse. Gestern aus heiterem Himmel kam Lina her, erzählte von seinen Plänen und sagte dazu: “Es wäre doch für uns alle nicht ganz angenehm.” Nickend und mit einem aufgesetzten Lächeln nahm ich es hin. Eine Diskussion würde nichts nutzen, zu dem wirkte sie so glücklich über seinen Einzug, dass ich ihr die Freude nicht nehmen wollte. Damit verzichtete ich auf meine Bedürfnisse, aber die verloren ohnehin an Wert.
      Noch einen prüfenden Blick erhaschte ich auf Niklas‘ straffen Oberkörper, bevor auch dieses Tab in der Versenkung landete. Seufzend lehnte ich mich zurück in den knarrenden Stuhl und klammerte mich fest an dem Weinglas, das beinah leer war. Unter dem Tisch erwachte der Rüde zu leben. Langsam hob er den Kopf und schaute mich mit müden Augen an, schlappte dabei mit der Zunge seine Nase. Vermutlich wollte Dog seine Abendrunde. Mir fehlte leider die Motivation, weshalb er noch eine Stunde warten musste, bevor er seine Nase in den Schnee stecken konnte. In der Zwischenzeit packte ich das Worddokument aus, das als meine aktuell einzige Ablenkung herhielt. Nach meiner Recherche fühlte es sich an, als wäre alles für den Mülleimer. Nichts daran stimmte mehr, noch schlimmer, brachte mir den sehnsüchtigen Wunsch nach Erik zurück. Trotz all des Schmerzes vermisste ich ihn fürchterlich und selbst Lars, der je her weitere Annäherungsversuche in Kauf nahm, änderte nichts daran. Nur ein Gedanke verdrängte diese Gefühle – Der Herr von Rennbahn, der eigentliche Grund, weshalb ich das Laptop gestartet hatte. Ich hatte einen Namen, sowie den seines Hengstes, damit würde ich weit kommen, dachte für einen Augenblick, bis die Suchmaschine mir gegenteiliges bewies. Augenscheinlich war er ein unbeschriebenes Blatt und Netflix ebenfalls. Mit den Erfahrungen, die bei Erik gesammelt hatte, wurde ich suspekt. Was verheimlichte er?
      Bevor ich der Sache auf den Grund gehen konnte, meldete sich Dog zu Wort und legte seine Vorderpfoten auf meinen Beinen ab. Die kastanienbraunen Augen leuchteten im warmen Licht der Deckenlampen und drückten das Weiß nach oben.
      „Lass uns herausgehen“, schlug ihm vor und stand auf. Der Rüde rannte schwanzwedelnd zur Tür und sprang dabei immer wieder um meine Beine herum. Da ich erneut umgeben von Kisten war, hatte ich keinen Überblick in welcher mein Anzug lag, also schnappte ich mir Lars Thermohose und meine dicke Hofjacke, darunter mehrere Schichten aus Shirt und Pullover. Über den unordentlichen Zopf setzte ich eine Mütze und verließ letztlich die Hütte. Sofort drückte sich ein kalter Windzug in mein Gesicht. Doch den Hund schien das kalte Wetter nicht zu interessieren. Fröhlich sprang er von einem kleinen Schneehaufen zum nächsten.
      An den Weiden gab es so gut wie mein Licht, aber im Schein des Mondes erkannte ich die Facetten der Jungpferde. Neugierig treten die Hengste heran und musterten das seltsame kleine Wesen, dass seine Nase zu ihnen streckte. Besonders Halldór, ein vierjähriger Isländer Hengst, konnte es kaum abwarten, das Tier zu sehen. Mit einem lauten Quietschen setzte er nach vorn und verdrängte die anderen neben sich. Aber Dog wollte lieber weiter. Zusammen liefen wir den Weg zum Hof entlang, unter uns knarrte der Schnee und vereinzelte Flocken rieselten herunter. In den Ohren lagen das Schnauben der Pferde, aneinanderreibende Baumkronen und zwischendurch meine ich einen Uhu gehört zu haben. Wenn es nur nicht so kalt wäre, könnte es idyllisch sein.
      In der Reithalle leuchtete noch die komplette Deckenbeleuchtung. Durch die großen Glasfenster rauschten undeutliche Facetten vorbei, die aber auf Lina hinwiesen und vermutlich ihren Göttergattern.
      „Komm Dog, wir gehen hier lang“, wies ich den Rüden auf einen schmalen Weg entlang, der entlegen vom Hof zu den Wohnhäusern führte.
      „Hast du gar keinen Besuch?“, merkte Tyrell an, als wir bei ihm vorbeikamen. Er stand mit einer halb abgebrannten Zigarette auf der Terrasse und überblickte sein Schaffen.
      „Nein“, antwortete ich knapp, ohne Blickkontakt zu suchen.
      „Dann komm doch zu uns. Bruce ist da, Eve -“, bevor die Aufzählung beendete, unterbrach ihn.
      „Passt schon, ich habe zu tun“, grinste ich aufgesetzt.
      „Kartons mal wieder ausräumen?“
      „Jein, mein Buch“, erklärte ich kurz und damit endete das Gespräch. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und verschwand ins Innere der Hütte, aus der tiefe Basstöne dröhnten. Allein der Musik wegen wollte ich nicht dabei sein, obwohl ich die letzten Jahre immer bei ihnen saß, konnte ich die Fassade nur schwer aufrechterhalten.
      Dog trocknete ich im Flur ab, bevor er wie von einer Tarantel gebissen ins Wohnzimmer hetzte und sich über die Couch drückte. Ich hatte mir in der Zeit das Handy genommen. Unter Avledning begrüßte mich noch eine weitere Nachricht: „Ein Wort und ich stehe vor deiner Tür.“
      Er bekam keins von mir, stattdessen verdrehte ich die Augen und wischte auf dem Homescreen herum, als eine weiße Eins in einem roten Kreis ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Eigentlich gar keine schlechte Idee, vielleicht wäre in der Nähe jemand, der heute noch Zeit hatte. Deswegen aktualisierte ich meinen Standardort auf Kalmar, den in Vadstenalund und Umgebung würde sicher niemand sein.
      Eine Weile wischte nach links, bis mich ein attraktives Bild gegrüßte und gerade dazu einlud, die Automatik zu stoppen. Niklas, 26 Jahre. Mit offenem Mund starrte ich auf den Bildschirm, versuchte mich zu irren, aber ihn konnte ich zwischen Tausenden erkennen. Der blaue Haken neben seinem Namen sprach ebenfalls Bände. Aus reiner Neugier drückte ich mich durch sein Profil und alles daran klang nach ihm, selbst Wagner als „Lieblingsmusiker“ abzugeben, würde nur ihm einfallen. Geplagt von Trauer und Verlust, drückte ich den Sperr- und Lauterbutton, um den Screenshot ohne weitere Nachrichten an Lina weiterzuleiten. Allein das gab mir Genugtuung für den Abend und ich lehnte mich in die Couch. In zwanzig Minuten war es so weit. Ein weiteres schreckliches Jahr würde sich in mein Leben schleichen, ohne etwas ändern. Ich würde älter werden, vielleicht eine neue Frisur haben und eine weitere hoffnungslose Bekanntschaft. Nichts Nennenswertes, wenn es mit dem Leben anderer verglich. Aber es sollte endlich was werden, also wischte Niklas nach rechts und schaute weiter. Immer mehr Nichtigkeiten eröffneten sich vor mir, bis wieder mein Finger stoppte. Dieses Mal musste ich mich zusammenreißen, nicht sofort nach rechts zu wischen und zu hoffen, dass er antworten würde. Ein Gefühl von drängender Lust schoss von einem zum anderen Augenblick durch meine Finger. Seine Hilfsbereitschaft hatte mir Geld beschert, dass ich für ein richtiges Turnierpferd gebrauchen konnte. Aber bevor ich zusammen hätte, wäre Maxou sicherlich so weit. Wie es mit der Stute weitergehen würde, wusste ich nicht. Schließlich teilte ich sie mir noch mit Erik, der vermutlich nicht mehr lange so gnädig mit mir sein würde. Zweifel kamen, doch als ich den Blick wieder zum Handy hinabsenkte, verflüchtigten sie sich, wie eine Mücke im Tornado. Interessiert öffnete ich sein Profil und verschlag all die mir gezeigten Inhalte. Er war genauso, wie ich ihn mir unter der Bedeckung vorgestellte hatte. Sein Gesicht zeichnete ein fröhliches und ehrliches Lächeln, mit kleinen Grübchen am Kinn. Der Bart stoppelig rasiert. Auf dem Bild trug er sogar Reit-Stiefeletten und neben dem Bier auf dem Tisch, lag ein Führstrick. Egal, wie schwer es werden würde, ich wollte ihn, auch wenn es verrückt klang.

      In der Reithalle

      Lina
      “Und ihr glaubt wirklich, dass das klappt?”, blickte ich zweifelhaft die Hindernisständer an, auf denen Mateo, gerade eine der bunten Stangen platzierte, “Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr gesprungen.” Die Stange lag nicht viel höher als dreißig Zentimeter und konnte somit locker mit einem normalen Galoppsprung überwunden werden, doch es bereitete mir dennoch ein mulmiges Gefühl. Zuletzt gesprungen war ich vor fünf Monaten mit Nathalie, auf die hundertprozentiger Verlass war. Die große Scheckstute sprang ausnahmslos jedes Hindernis, egal, wie schlecht man es anritt. Außer ein paar Minisprünge in meiner Jugend besaß ich auch kaum mehr Springerfahrung, als die mit Nathy.
      “Na, klar, klappt das. Es ist nur ein kleiner Hüpfer”, grinste Sam, die seit einigen Stunden auf das nächtliche Ereignis hinfieberte. Unerwartet war die junge Frau in meinem Wohnzimmer aufgetaucht und hatte mir noch, bevor sie erklärte, wer sie war, eröffnet, dass ich für dieses Jahr noch ein letztes Mal aufs Pferd musste. Niklas hatte sie auch überzeugen wollen, doch auch oder ganz besonders in der Silvesternacht wurde nach Sicherheit verlangt, weshalb er leider arbeiten musste. Auch wenn ich meinen Freund lieber dabeigehabt hätte, verhießen Mateo und seine aufgeweckte Schwester eine nette Gesellschaft für den Jahreswechsel zu werden.
      “Lina, komm mal her zu mir”, sagte Mateo freundlich und winkte mich zu sich heran. Sanft drückte ich meiner Stute die Waden in den Bauch, worauf hin sie freudig zu ihm hertippelte.
      “Ich weiß, du bist mit deiner Stute noch nie gesprungen, aber ich habe euch schon bei der Dressur gesehen, ihr passt gut zusammen. Außerdem sagtes du doch, Redo ist nicht nur ein Lehrpferd, sondern eines, welches auch noch bei der Polizei war”, sprach er mir Mut zu, “Ich bin mir sicher deine Stute macht das mit links und wenn du gleich auch so gut im Sattel sitz wie sonst, schaffst du das hier auch.” Ein bestärkendes Lächeln lag auf seinen Lippen, bevor er noch etwas hinzufügte: “Aber ich werde dich nicht mit diesen Steigbügeln springen lassen.” Sanft löste er meinen Fuß aus dem Bügel und machte sich wie bei einem Anfänger an den Reimen zu schaffen, um diese gute fünf Löcher kürzer zu schnallen.
      “Ja, so ist besser”, stellte er zufrieden fest und stellte mein Fuß zurück, bevor er sich auch an der anderen Sache zu schaffen machte.
      “Um das Pferd sorge ich mich auch weniger, aber was ist, wenn ich alles vergessen habe? Wie man sitzt, wie man den Sprung anreitet, wie man richtig mitgeht …”, äußerte ich weitere Bedenken.
      “Erzähl nicht so einen Quatsch, Lina, so schnell vergisst man, dass alles nicht und falls doch, bin ich ja auch noch da. Du fällst mir nicht vom Pferd, dafür sorge ich schon”, schlug Mateo meine Argumente voller Überzeugung nieder und zurrte so gleich auch noch den Gurt der Stute enger. “Und jetzt zeigt Ihr erst einmal das Hindernis und dann kannst du mal in Schritt und Trab darüber.” Kurz drückte er in einer Geste der Ermutigung mein Bein, dann trat er zu Seite. Erstaunlicherweise fühlten sich seine Gegenwart unheimlich vertraut an, obwohl er gerade erst seit Mitte November zum Team gehörte.
      “Na gut”, nickte ich und trieb die Rappstute einige Schritte vor. Hoch interessiert schnupperte sie an dem glänzenden Plastik und befand es ziemlich schnell als ungefährlich. Verfressen wie sie war, stupste sie nun Mateo an und verlangte nach einem Leckerbissen. Dieser schüttelte nur lachend den Kopf, griff in den Zügel und führte die Stute über die Stange. Artig folgte Redo dem jungen Mann, hob dabei die Füße allerdings nicht viel höher als notwendig, wodurch bei jedem Schritt ein dumpfer Laut erklang.
      “Siehst du Lina, dein Pferdchen langweilt sich dabei sogar”, grinste Sam und trabte mit der Stute ihres Bruders locker vorbei. Die dunkle Fuchsstute bewies auch heute Nacht wieder einmal ihr Temperament und stellte die Sattelfestigkeit ihrer Reiterin mit dem ein oder anderen Bocksprung infrage.
      “Du hast jetzt noch ungefähr acht Minuten, dich und dein Pferd mit dem Hindernis vertraut zu machen”, stelle Mateo nach einem Blick auf sein Handy fest.
      “Na gut, dann wollen wir mal”, sprach ich mehr zu mir selbst und brachte die Stute in den Trab. Während Samantha geradewegs den Spring ansteuerte, drehte ich zwei Runden außen herum, um mich an die neue Bügellänge zu gewöhnen.
      “Lina, lass dein Knie dran, wir reiten jetzt keine Dressur mehr”, wurde ich sogleich korrigiert, “und gib Redo ein wenig mehr Zügel.” Seine Kritik umsetzend, ritt ich gerade auf die bunten Stangen zu. Aufmerksam gingen die Ohren meiner Stute nach vorn und sie überwand einwandfrei die niedrige Stange. Begeistert klopfte ich den Hals der Stute, dass sie es nicht nur brav, sondern auch noch motiviert machte, hatte ich es nicht erwartet, denn in der Dressur war sie häufig ein wenig maulig.
      “Sehr gut, er wäre nur noch besser, wenn der Rhythmus gleichmäßig bleibt”, kam so gleich ein Lob von Mateo. Die vergehenden Minuten überwand ich im Wechsel mit Sam noch ein paar weitere Male die Stangen, bis ihr Bruder die letzte Minute ankündigte. In der Zwischenzeit hatte er eine Flasche Sekt herbeigezaubert und reichte jedem von uns ein Glas mit der perlenden, goldgelben Flüssigkeit. Gebannt starrten wir zu dritt auf sein Handy, auf dem sich der Zeiger der Uhr der Null immer weiter annäherte. Fünf, vier, drei, zwei, eins …
      “Ein frohes neues Jahr”, kam es beinahe gleichzeitig aus unseren Mündern, worauf wir anstießen. Leicht säuerlich rann das Nass meine Kehle hinab und sammelte sich blinzelnd in meinem Bauch.
      “Lina, der Neujahrssprung gebührt dir, wenn du möchtest”, bot Samantha mir freundlich an und ritt mit Karie ein wenig zu Seite. Ein wenig nervös war ich schon, so nahm ich noch einen kräftigen Schluck aus dem Glas, bevor ich es Mateo reichte. Direkt aus dem Stand brachte ich meine Stute in den Galopp. Motiviert sprang sie an, fand bereits nach wenig Sprüngen ihren Rhythmus. Auf einem weiten Bogen steuerte ich die Stute auf das Hindernis zu. Wie schon zuvor im Trab richtet Redo die Ohren steil nach oben, hob auch den Kopf ein wenig an und setzte leichtfüßig über die Stange. Überschwänglich lobte ich die Stute und lenkte sie auf einen großen Zirkel um das Hindernis herum. Es schien fast so, als, sei die Stute für das Hüpfen gemacht.
      “Prima, das klappt doch ganz wunderbar”, grinste Mateo, “Willst du den nächsten Sprung ein wenig höher haben?”
      “Ja, bitte”, rief ich ihm begeistert zu. Wer hätte nur gedacht, dass das Rückbesinnen auf etwas Altes so einen guten Start in das neue Jahr darstellen würde. Mit wenigen Handgriffen hatte der Schweizer dem Hindernis eine weitere Stange hinzugefügt. Erneut steuerte ich den Sprung an. Mit großen Sprüngen näherten wir uns dem Ziel, was die Stute auch dieses Mal einwandfrei überwand.
      “Platz da, jetzt komme ich”, rief Sam durch die Halle, die Karie bereits auf dem Zirkel am anderen Ende der Halle galoppierte. Bereitwillig räumte ich den Weg und parierte Redo durch.
      Die Fuchsstute quietschte freudig und machte einen mächtigen Bocksprung, bevor sie sich von Samantha bändigen ließ. Wagemutig stürmten die beiden auf den Sprung zu, den Mateo nicht einmal zurückgebaut hatte. Natürlich überwand Karie, die sonst deutlich höhere Hindernisse überwand, den Sprung mit knapp sechzig Zentimeter mit Leichtigkeit.
      “Springt deine Schwester öfter?”, fragte ich neugierig. Sam machte nämlich eine hervorragende Figur auf der kräftigen Fuchsstute.
      “Mittlerweile nicht mehr”, verneinte Mateo und tätschelte nebenbei Redo den Hals.
      “Mittlerweile, warum springt sie nicht mehr?”, versuchte ich mehr Informationen zu gelangen. Für gewöhnlich war mein Kollege nicht besonders redselig, wenn es um ihn ging. So war etwa offensichtlich, dass Karie ihrem Anschein zu trotz, ein ausgezeichnetes Springpferd war, aber dass er sogar international mit ihr unterwegs war, fand ich eher zufällig heraus.
      “Ja, bevor sie hier nach Schweden zog”, erklärte er und legte seine Schwester die Stange ein wenig höher, “Ihre Stute hat es inzwischen allerdings in den Gelenken.”
      “Hat sie auch ein Freiberger, so wie du?”, interessierte ich mich weiterhin.
      Mateo lachte: “Sie hat, wie du weißt, sogar mehr als einen Freiberger, aber nein, NAME WIRD NOCH GESUCHT, ist ein Schweizer Warmblut, aus der Zucht meiner Eltern.”
      “Quatschen könnt, ihr später noch, ich will dich lieber hüpfen, sehen”, unterbrach Sam, das Gespräch und parkte die Fuchsstute neben uns.
      “Mateo, würdest du dann vielleicht”, noch bevor ich den Satz beendete, hatte er bereits verstanden und baute das Hindernis wieder niedriger. Auch wenn das Springen Spaß machte, wollte ich das Jahr doch nicht gleich mit einer Portion Selbstüberschätzung beginnen. Bis halb eins trieben wir das Spektakel, bevor wir die Pferde auf ihre Paddocks brachten. Müde, aber zufrieden verschwanden die beiden Stuten in der Dunkelheit und mischten sich unter ihre Herdenmitglieder.
      “Kommst du noch mit rein?”, fragte Sam, als wir schließlich bei den Hütten ankamen. Dafür dass es Silvester war, war es relativ ruhig auf dem Hof, was vermutlich an der Abwesenheit von Vriskas Familie liegen mochte. Aus der Tatsache, dass in ihrer Hütte noch Licht brannte, schloss ich, dass sie selbst offenbar zurückgelassen wurde. Sie tat mir leid, ihre Familie war weg, auch Lars, an den sie sich seit Weihnacht anschloss, war ausgeflogen. Hoffentlich hatte sie den Jahreswechsel, trotzdem nicht allein verbringen müssen.
      “Ja, ich würde nur schnell rüber etwas anders anziehen”, stimmte ich zu.
      “Perfekt, ich sorge schon einmal für Nachschub”, wedelte sie mit der leeren Sektflasche umher und verschwanden in ihrer Hütte.
      In Hochstimmung lief ich zu meiner eigenen Hütte. Im Vorbeigehen ergriff ich das Handy vom Couchtisch, welch ich dort zurückgelassen hatte. Auf dem Pferd hätte es mir ohnehin nichts genützt. Direkt begrüßt wurde ich von den Neujahrsgrüßen meiner Schwester, die dem verwischten Selfie nach zu urteilen, mit ihrem Freund in einem Club feierte. Samu hatte ebenfalls eine Nachricht hinterlassen, allerdings ohne Bild. Zielsicher griff ich eine Leggings aus dem Regal, doch der Pulli, den ich suchte, war nicht aufzufinden. Während ich wie ein blindes Huhn durch die gesamte Wohnung rannte, scrollte ich weiter durch meine Nachrichten und stieß dabei auf einen Chat, der in der vergangenen Woche wie eingefroren schien. Vriska hatte ein Bild gesendet, offensichtlich ein Screenshot, von einem Trabrennen. Im Zentrum des Bildes stehen, war ein Rappe zusehen, der in vollem Renntempo neben einem großen Braunen hertrabte. Sonst gab es keinerlei weitere Information dazu. Verwirrt starrte ich das Bild an, hatte ich etwas übersehen? Was wollte sie mir damit mitteilen? Vielleicht war es der Einfluss des Alkohols oder auch der, der körpereigenen Drogen, die noch immer durch meine Blutbahnen wallten, doch ich hielt es für eine grandiose Idee unmittelbar zu Vriska hinüberzugehen und nachzufragen. Die Suche nach dem Pullover gab ich auf, griff stattdessen, nach einem beliebigen und marschierte voller Tatendrang hinüber zu Vriska. Von meiner Mission überzeugt, klopfte ich an und wartete ungeduldig in der Kälte auf Einlass. Kaum löste sich meine Hand vom Holz, ertönte Gebell. Mit schlotterten die Knie, bis schließlich Dog verstummte und sich die Tür einen Spalt öffnete.
      „Was denn?“, murmelte Vriska, mit stark geröteten Augen und eher wankend auf den Beinen, denn sie klammerte sich am Holz. Der Hund drückte sich hindurch und sprang aufgeregt an mir herum.
      “Falls ich dich geweckt haben sollte, tut es mir leid, aber ich habe eine wichtige Frage”, verkündete ich direkt mein Anliegen, “Was willst du mir damit sagen?” Während ich sprach, hatte ich das Handy bereits eingeschaltet und drehte ihr den geöffneten Chat mit dem rätselhaften Bild hin. Sie wischte sich durchs rechte Auge.
      „Ich habe keine Brille auf“, sagte sie nur und ließ von der Tür ab. Sie lief in die Hütte hinein, was ich sogleich als Chance nutzte, der Kälte zu entfliehen. Dog folgte mir nicht. Auf den ersten Blick herrschte ein unkontrolliertes Chaos im Inneren. Überall standen halb geöffnete Kisten, während andere sich türmten. Auf dem Küchentisch stand einsam eine geleerte Weinflasche und neben dem geöffneten Laptop auf dem Wohnzimmertisch eine weitere. Sie suchte ihre Brille und ich erhaschte einen neugierigen Blick auf den Bildschirm. Es war ein Video geöffnet, betitelt mit einem Datum aus dem September, mittlerweile, letzten Jahres, einem Rennen in Kalmar. Ein weiteres Puzzleteil bot mir, das weiterhin rätselhaft blieb. Vriska kehrte zurück mit ihrer Brille und abermals streckte ich das Handy in ihre Richtung. Kaum zuckten ihre Augen über den Chat, färbten sich ihre Wagen rötlich.
      „Ähm, das war aus Versehen. Ich wollte dir was Anderes schicken, aber ist auch egal“, seufzte sie und wich dauerhaft meinem Blickkontakt aus. Erst jetzt registriere ich ihre Niedergeschlagenheit richtig. Sollte ich nachfragen oder war es vielleicht besser zu gehen und ihr ihren Frieden zu lassen? Nein, ganz sicher konnte ich nicht einfach zu Mateo und seiner Schwester hinübergehen und fröhlich sein, ohne wenigstens versucht zu haben, ob ihr zu helfen war.
      „Okay“, nickte ich zögerlich, „willst du mich aufklären, was dich betrübt … oder soll ich einfach wieder gehen?“
      „Wonach sieht das hier denn für dich aus? Dass ich einen spaßigen Abend hatte mit Menschen, die mich mögen? Dann ja, diesen hatte ich.“ Vriska rollte mit den Augen und stieg zurück auf die Couch, aber weggeschickt hatte sie mich nicht, überließ ausschließlich mir weitere Schritte. Ein unglaublich schlechtes Gewissen überkam mich, dass ich ihr in meiner Bewegtheit nicht einmal erklärt, weswegen ich mich so plötzlich distanzierte. Fair war das nicht.
      “Tut mir leid”, murmelte ich schuldbewusst und nestelte mit meinen Fingern unsicher an dem filigranen Metall an meinem Handgelenk herum.
      “Passt schon”, winkte sie ab, ohne sich zu mir zu wenden, “Außerdem wartet sicher dein Göttergatter.”
      “Nein, der ist arbeiten”, erklärte ich, obwohl es sie vermutlich gar nicht interessierte, doch etwas anders wusste ich nicht zu sagen. Vriska wirkte nicht wirklich so als sei meine Gegenwart weiterhin erwünscht, sodass ich mich schon zum Gehen wenden wollte.
      “Ist dann deine Frage beantwortet?”, kam sie auf mein ursprüngliches Anliegen zurück. Ganz desinteressiert war sie doch nicht, obwohl ihr Laptop einen Großteil der Aufmerksamkeit forderte.
      “Na ja, so halb”, überlegte ich, denn was hinter dem rätselhaften Bild steckte, wusste ich noch immer nicht, “Warum machst du Screenshots von Trabern, die ganz eindeutig nicht hier zum Hof gehören? Ist das Rennen nun deine neue Passion?”
      “Erkennst du das Pferd nicht?”, seufzte Vriska und stellte das Laptop zurück. Eindringlich betrachte ich das Bild auf dem Handy erneut, bis es mir langsam dämmerte: “Das Pferd von dem Rennen neulich? Wie hieß es noch mal … etwas mit Netflix?”
      „Pay My Netflix, genau“, ein Lächeln zuckte über ihre Lippen und schlagartig kam auch wieder Farbe in die helle Haut.
      “Und du stalkst das Pferd, weil … es so umwerfend ist?”, hakte ich weiter nach, denn mir fiel allmählich ein, dass Vriska auch an dem Renntag bereits, wie eine Motte vom Licht, von diesem Pferd und dem zugehörigen Jemand angezogen wurde.
      “Ja, genau. Das Pferd.” Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, um das ungebändigte Grinsen zu verstecken. Doch längst hatte ich es bemerkt, dass auch mich ansteckte.
      “Erzähl mir mehr”, forderte ich angefixt, von ihrer plötzlichen Euphorie. Vriska nickte und stand auf, um aus dem Regal eine weitere Weinflasche zu holen. Auch meine Jacke nahm sie mir ab, bevor ein Glas für uns beide eingeschenkt wurde. Zur Überraschung begann es vor den Scheiben an zu schneien und als würde uns das Schicksal etwas sagen wollen, vibrierte ihr Handy und sie grinste noch spitzer.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 34.694 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Jahreswechsel 2020}
    • Wolfszeit
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      kapitel trettio | 08. September 2022

      May Bee Happy / Aares / Maxou / Fjärilsviol / Schneesturm / Nachtschwärmer / Rainbeth / Lotti Boulevard / Anthrax Survivor LDS / Caja / Yumyulakk LDS / Mondlandung LDS / Nachtzug nach Stokkholm LDS / Just A Bear / Jokarie / Sign of the Zodiac LDS

      Freitagabend, vier Tage später
      Lindö Dalen Stuteri

      Vriska
      Die größte Sorge lag darin, dass Happy keinesfalls den Hänger betrat, nach dem der Einstieg in Malmö eine Herausforderung war, doch vergeblich. Wie ein alter Hase lief er die Rampe hinauf und stand binnen Sekunden darin, wodurch wir am Vormittag rasch in Kalmar ankamen. Gespannt wartete Eskil auf mich, auch, um mir seinen eigenen neuen Fuchs zu zeigen. Aares hieß der Riese und harmonierte optisch sehr mit meiner Leihgabe. Eine Weile unterhielten wir uns, bis die Halle frei war und ich meinen Unterricht bekam. Hier und da kamen Schwierigkeiten auf, doch im Gesamtbild machte Happy eine gute Figur.
      “Herr Holm hat vorhin gesagt, dass Happy viel Potenzial für das Team hat”, erzählte ich am Tisch, an dem die Stammbelegschaft saß, ohne die Ponymenschen von nebenan. Dann tunkte ich das Brot in die Linsensuppe, um es mir im Anschluss in den Mund zu stopfen.
      “Dann willst du es dieses Jahr noch zur schweren Prüfung schaffen?”, fragte Tyrell, der wieder nach Hengsten Ausschau hielt und davon aufsah.
      “Ich weiß nicht genau. Die Motivation fehlt dafür, aber der Hengst macht sich wirklich toll”, schwärmte ich weiter.
      “Dennoch, die aktuellen Besitzer würden ihn dort gern sehen”, fühlte er mir weiter auf dem Zahn, aber es kümmerte mich nur wenig.
      “Freut mich, dann sollen sie sich doch an ihn trauen und nicht kleine Mädchen vorschicken”, antwortete ich unbeeindruckt. Lars neben mir musste sich das Lachen verkneifen, aber verschluckte sich dabei an der Suppe. Fürchterlich begann er zu Husten, dass ich ihn den Rücken klopfte.
      “Ja, ja, kleines Mädchen. Äußerlich vielleicht”, feigste Lina.
      „Psst, das weiß doch keiner“, grinste ich, doch als Lars begann zu lachen, setzten auch die anderen mit ein. Es dauerte nicht lange, da kamen die erste Wahlmöglichkeit ans Licht, was ich stattdessen war. Vom bissigen Terrier, über mörderischer Prinz und alten Mann in der Rente stellte sich alles heraus. Nur mein Bruder hielt sich bewusst aus dem Gespräch heraus und verließ auch wenig später den Raum. Seit Wochen ignorierte er mich, aber das sollte nicht mein Problem sein. Ich hatte besten Gewissens die Spannung zwischen uns zu lösen, aber er konnte ein ziemlicher Sturkopf sein und wollte es augenscheinlich dabei belassen, dass ich das schwarze Schaf der Familie war. Nun gut.
      „Also keine Dressur mehr?“, kam Tyrell auf das ursprüngliche Thema zurück und zuckte dabei mit der Augenbraue, „schließlich beginnen demnächst die Turniere.“
      „Ehrlich gesagt, bin ich mir sehr unsicher“, gab ich offen zu. Mein Blick fiel zu Lars, der auch keine Antwort dazu hatte. Nur Nour grinste mich verschmitzt an.
      „Ich glaube, dass sie lieber den Berufsfahrerschein anstrebt“, legte sie eine steile These vor, die ich nicht wusste zu verteidigen.
      “Wirklich starke These, aber ich glaube, das wird nicht passieren. Dafür glitzern die Schleifen und Schabracken viel zu schön”, stellte Lina eine Gegenbehauptung auf.
      “Mhm”, summte Nour unschlüssig, “die sind aber auch in der Prüfung nicht zulässig.”
      “Ihr seid beide nicht ganz hell”, lachte ich kopfschüttelnd.
      “Entschuldigung, was soll das den jetzt heißen?”, beschwerte sich die Kleine sofort.
      “Warum kann ich nicht einfach machen? Außerdem kann Humbria auch schön glitzern”, stellte ich fest, “Vielleicht springe ich auch morgen.”
      “Du springst morgen? Oha, das komme ich mir anschauen”, grinste Mateo, “Mit welchem Pferd gedenkst du das zu tun?” Dass meine blöde Idee im nächsten Augenblick bereits Wurzeln setzte, hatte ich nicht bedacht. Selbst unser Chef schaute überrascht zu mir hinüber. Kurz dachte ich darüber nach, wieder zurückzurudern, aber vielleicht war es Zeit, mich meiner Angst zu stellen.
      „Ich kann mal schauen, was Happy bei dem bunten Holz empfindet“, schlug ich entschlossen vor und sah es bereits kommen, dass ich schneller wieder am Boden lag, als es mir lieb war.
      “Mhm … ja, so rein körperlich könnte das was werden mit deinem Fuchs”, überlegte der Schweizer.
      “Vriska, hältst du das wirklich für eine gute Idee?”, äußerte Lina zweifelnd, “Erinnerst du dich nicht, wie es das letzte Mal endete? Und da hattest du keinen launischen Fuchs unter deinem Sattel.”
      „Aber klein Vivi möchte doch mal wieder allen beweisen, dass sie alles kann“, scherzte Lars und gab mir einen zarten Kuss auf die Wange, als wären wir mehr als Freunde. Zugegeben, seit unserem Kuss im Stall gab es jeden Abend Momente, die meiner Einschätzung Zweifel boten. Seine Schwester schien es zu unterhalten, dass ihr Bruder mir unauffällig schmeichelte und holte jedes Mal ihr Handy heraus, um in Windeseile etwas zu tippen. Brennend interessierte mich, was genau auf dem Bildschirm passierte, aber sie gab es an niemanden preis.
      “Du übertreibst vollkommen”, schnaubte ich teils belustigt, teils verärgert, “Maxou traue ich es weniger zu als ihm und dass eins der Rennpferde hinüber stolpert, fehlt mir gerade noch.”
      “Viola kann springen”, mischte sich Tyrell mit ein, “und Schneesturm ist auch noch da. Ach, Fly, der Haflinger macht seinem Spitznamen auch allen Ehren.”
      Keines der genannten Pferde interessierte mich sonderlich, nicht, dass die Pferde schlecht waren, viel mehr, waren sie langweilig. Die Warmblutstute lief brav und den Haflinger kannte ich nur vom Sehen. Einzig Schneesturm war ein Spaß, doch Mateo ritt sie bereits vier- bis fünfmal die Woche und hatte somit angemessenen Auslauf. Zudem hatte ich in meiner Recherche herausfinden können, dass Happy für die Körung Freispringen musste, also wusste das Pferd Bescheid, wie man die Beine hebt.
      Während wir philosophierten, welches Pferd ich springen könnte, holte ich zunächst für jeden ein kaltes Bier und Lars entschied, dass nach dem Essen ein Kurzer angebracht war. Nur Lina weigerte sich vehement. Kaum floss es mir die Kehle herunter, brannte es unangenehm im nächsten Augenblick. Dennoch hatte es etwas Befreiendes.
      “Mir egal, ich werde Happy nehmen”, entschied ich entschlossen und glaubte an den Fuchs, der bisher sehr fein unter mir lief.
      “Mach’ halt, aber bei mir brauchst du dich dann nicht beschweren”, blieb die kleine Brünette bei ihrem Standpunkt, dass sie es für keine gute Idee hielt.
      “Pff, so viel zu guter Freundin”, rollte ich mit den Augen und füllte mir das Glas nach. Auch Lars hielt mir seins nach. Dann war es auch schon wieder leer. “Du hast bestimmt auch morgen anderes zu tun, also machen wir das allein.” Meine Stimmte zitterte, aber nach einem kräftigen Atemzug konnte ich mich zusammenreißen.
      “Ja, ist okay”, entgegnet sie kiebig. Welche Laus ihr wohl über die Leber gelaufen sein mochte, dass sie gleich so empfindlich war. Vermutlich hatte es mit Niklas zu tun, aber ich entschied, es erst einmal dabei zu belassen, solang noch so viele am Tisch saßen. Vorrangig sollte Tyrell davon nichts mitbekommen, das würde nur Bedenken auslösen. Dieser hing noch immer über dem Papier. Mit Lars brach abermals eine Diskussion über Hengste aus, die sich in den Sand verlief. Sie wurden sich nicht einig, ob Betty noch gedeckt werden sollte oder in den Verkauf ging. Auf Rennen bot die siebenjährige Stute ohnehin keine ausreichenden Leistungen und ging für gewöhnlich als vorletzte durchs Ziel, deshalb lag das letzte auch mehr als ein halbes Jahr zurück, noch unter Folke. Seit dem Stand sie herum. Ähnliches Bild war auch bei Lotti zu sehen und Nachtschatten, doch die Rappstute hatte bereits einen Käufer gefunden, der sie abholen würde, sobald ihr Fohlen abgesetzt sei, das in einem Monat kommen sollte.
      “Wie läuft es eigentlich mit Anti?”, fragte Tyrell, als auch wir weniger wurden und Bruno sich in die Hütte aufmachte, nur unsere Schnüfflerin saß noch da, sowie meine persönlichen Turteltauben.
      “Gut, wenn er so weiter macht, kann er in zwei Monaten in einen Probelauf”, erzählte der groß gebaute junge Mann neben mir. Ich enthielt mich dem Gespräch, holte stattdessen mein Handy heraus und bekam prompt eine Nachricht von Nour.
      “Schau mal”, schrieb sie und schickte ein Bild mit. Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Über den Bildschirm hinweg schielte ich böse zu ihr hinüber, musste auch das Telefon auf den Tisch legen, um nicht an einer Atemnot einzugehen. Allerdings konnte ich es nur für einen Wimpernschlag da belassen und hob es wieder hoch. So gut ich konnte, versuchte ich ihr eine Nachricht zu tippen, aber meine Augen konnte sich nur schwer von dem attraktiven Bild lösen, was unbewusst ein Lächeln auf meine Lippen zauberte.
      “Lass das! DU bist gemein”, formulierte ich schlussendlich und sie lachte. Dem folgte ein weiteres Bild, selbes Motiv, aber deutlich bekleideter.
      “Du nimmst du das alles her?”, tippte ich noch, bevor wieder die Atmung sich verabschiedete, denn sie konnte es nicht lassen, mich weiter zu zuspammen. Durch die ständige Vibration wurde auch Lars aufmerksam, aber in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit wechselte ich den Chat zu Eskil. Damit erlosch sein Blick auf mein Gerät. Von nun an tippte ich mit Nour, die mir erklärte, dass es Storys aus dem Messenger waren, die sie für mich abgespeichert hatte und nur auf den richtigen Moment wartete, um sie mit mir zu teilen. Etwas neidisch war ich schon, denn seine Nummer hätte gern, aber in wenigen Worten vermittelte Nour mir, dass ich schon mehr Mühe geben sollte. Vordergründig ermutigte sie mich, mit ihm zu sprechen, denn das würde Erfolg mit sich bringen, außerdem wäre es ungewiss, ob sonst überhaupt eine Antwort bekäme. Leider hatte sie recht.

      Eine Stunde später verabschiedete sich dann auch Tyrell und wir saßen in gewohnter Runde beisammen. Lina schwieg noch immer, die Arme verschlungen und das Gesicht sah nach zehn Jahre Regenwetter aus. Während ich mich an den Bildern nicht satt sehen konnte, versuchte ich auch irgendwie die Kleine aus der Reserve zu locken. Es war nicht einfach ein Wort ihr herauszubekommen, doch als sie aufstand zur Toilette, folgte ich wenige Sekunden später und wartete an der Tür. Überrascht trat sie heraus, zuckte dabei erschrocken zusammen.
      „Du erklärst mir jetzt, weshalb du so schlecht gelaunt bist. Das Wetter war doch heute toll mit fast elf Grad Celsius!“, sprach ich offensive und direkt auf sie ein.
      „Ja, das war auch das einzig Schöne an dem Tag heute“, brummte sie unwirsch.
      „Was denn los?“, erinnerte ich sie an meine Frage, minimal zittrig, denn für gewöhnlich strotzte sie vor Energie auch noch zu später Stunde.
      „Der ganze Tag war heute einfach blöd, angefangen bei heute Morgen“, rückte sie nun endlich mit der Sprache raus, „Ich war absichtlich früh bei Caja, dass wir die Halle allein haben. Einerseits, weil sie ja immer noch nicht so umgänglich ist und andererseits, weil sie super rossig ist.” Nachdem was ich so von Caja mitbekommen hatte, war ‘nicht so umgänglich’ noch milde ausgedrückt. Vier Monate stand die Fuchsstute mittlerweile hier auf dem Gestüt und duldete trotzdem kaum jemanden in ihrer Nähe. “Heißt also, sie war heute ohnehin schon schlecht gelaunt und dann kam da so ‘ne Trulla rein und die hatte ihren blöden Hengst nicht unter Kontrolle. Infolgedessen konnte ich nur das Training vergessen, nein, gebissen hat sie mich dann auch, obwohl ich das so langsam im Griff hatte”, sprach sie frustriert und ließ das Sweatshirt von der Schulter gleiten. Darunter zum Vorschein kam ein blau-violett schimmernder Fleck in der Größe eine 2-Euro-Stücks.
      „Blöder Vorschlag, aber hast du mal über eine Fressbremse nachgedacht?“, schlug ich vor aus dem Dunst heraus, dass bissige Hunde auch einen Maulkorb trugen.
      “Mmmm, nein”, sprach sie langsam, als würde sie noch darüber nachdenken, ob es eine Option sein könnte, “Aber vielleicht sollte ich das mal probieren.”
      “Sonst kommt zum Hengst und sollte mal eine Pause von dem ganzen Kram bekommen”, gab ich als weitere Möglichkeit, so hatte Bruce seine chaotische Isländerstute wieder auf den richtigen Weg gelenkt.
      “Mmm, wenn das nur in meiner Entscheidung läge”, seufzte sie. So wirklich glücklich wirkte sie noch immer nicht, wenn auch weniger angespannt als vor wenigen Minuten.
      “Dann sprich mit Tyrell morgen, der reißt dir nicht Kopf ab” zuckte ich schließlich mit den Schultern, “keiner ist dir hier für Versagen sauer, zu dem kann es auch mal mehr werden als ein blauer Fleck am Arm.”
      “Weiß ich doch …”, murmelte sie und zog an ihrem Ärmel herum, “Ihr habt eure Turniere und Rennen … Ach, ich will doch auch nur mal etwas erreichen.”
      „Verstehe ich“, gestand ich offen. Für sie musste es noch schwieriger sein als für mich. Während ich von einer Disziplin zur anderen sprang, um das Richtige zu finden, fehlte ihr der Reiz für mehr. Ebenso fehlte auch die wirkliche Gemeinschaft auf dem Hof, denn jeder von uns hatte Pferde vorzustellen.
      „Was wäre, wenn wir mal raus zur Weide gehen und dir ein Jungpferd holen? Da stehen teilweise vierjährige und fünfjährige, die aktuell nicht in den Trainingsplan von uns allen passen“, kam es als letzte Idee, ihr eine sinnvolle Aufgabe zu geben. Denn die Arbeit mit Ivy hatte sie bisher erfüllt und mir Leben ausgestattet, doch nun machte der Hengst nur noch Kinderschritte, die natürlich ebenso wichtig waren wie den Anfang zu finden. Zaghaft nickte sie: “Mhm, Ja?” In ihrer Antwort schwang noch ein letzter Rest von Unsicherheit mit.
      “Ja”, sagte ich überzeugend und zog die Augenbrauen hoch, “sonst kaufen wir irgendwas für dich.” Darüber musste ich erst einmal lachen, als würde ein Pferd kaufen, ein Problem lösen anstelle welche zu schaffen.
      “Okay”, entgegnete sie und ein winziges Schmunzeln zuckte in ihren Mundwinkeln, “Aber wen auch immer du bei ‘wir’ implizierst, mich kannst du nicht meinen.”
      “Dann hauen wir den Schweizer an. Du kannst mir nicht verschweigen, dass da Funken fliegen”, zwinkerte ich ihr zu und sprach bewusst etwas lauter.
      “Vriskaaaa, sei doch still”, beschwerte sie sich sogleich und eine zartrosa Färbung trat auf ihre Wangen. “Aber ja, er ist ganz niedlich”, gestand sie mit deutlich gesenkter Stimme.
      “Das ist meine Rache”, flüsterte ich scherzhaft und klopfte ihr leicht auf die Schulter, wer wusste schon, wo sich weitere blaue Flecken verstecken. “Aber komm, wir gehen zurück. Dann kannst du ihn länger genießen.”

      Samstag, nächster Tag
      An der Jungpferdeweide

      Selbstverständlich musste es anfangen zu regnen, als wir aus dem Auto ausstiegen. Die Pferde hatten uns schon aus der Ferne gehört und standen neugierig am Zaun. Auch die Zuchtstuten mit ihren kugeligen Bäuchen konnten unseren Besuch kaum fassen, obwohl jeden Tag mindestens zweimal jemand in den Wald fuhr zur Kontrolle. Es war eine bunte Herde, bestehend aus allen Altersgruppen und Rassen. Auch die Isländer standen dabei, die wohl eher weniger für Lina sein würden. Zwei Weiden weiter rechts, tummelten sich die jungen Hengste, die bereits mit schrillem Wiehern auf sich aufmerksam machten, besonders Yu wollte unbedingt gestreichelt werden. Lina drückte ich ein Halfter in die Hand.
      „So, dann suche dir mal etwas aus“, sagte ich. Wir hatten bereits mit Tyrell gesprochen, der meine Idee mit einem ‘macht, was ihr wollt‘ lachend hinnahm. Ich lehnte derweil am Auto und prüfte das vierte Mal an dem Tag, die Starterlisten für den morgigen Renntag. Noch nicht ganz entschlossen stiefelte die Kleine in die Herde hinein und wurde augenblicklich von einigen der Tiere umringt und neugierig inspiziert. Lina ließ sich Zeit, nahm einige der Jungstuten in Augenschein, streichelte sie und schien sich keineswegs an dem Nass stören, welches rhythmisch auf das Blech schlug. Eines der Tiere drängte sich immer wieder in den Vordergrund, steckte die Schnauze in Linas Jackentaschen und verfolgte sie regelrecht, sobald sie einige Schritte tat.
      “Die ist niedlich, ich glaube, sie soll es werden”, grinste Lina und kraulte der hellen Stute die Stirn. Mein Handy steckte ich zurück in die Innentasche, nach dem ich keine neuen Informationen über meinen Angebeteten fand. Dabei seufzte ich leise und trottete mit riesigen Gummistiefeln durch das hohe Gras. Mit genauem Blick sah ich das blauäugige Pferd an.
      “Das ist Mola”, stellte ich fest, “die wird vier dieses Jahr, also, passt dir das?”
      “Ja, das ist gut”, nickte sie, “Jung, aber schon alt genug, dass man auch damit ein wenig was anfangen kann.”
      “Sollten ihre langen Beine es noch nicht verraten haben: Sie ist ein Traber”, erklärte ich zuversichtlich und öffnete den Beiden das Tor. Die anderen Pferde schubste ich zur Seite, damit kein weiteres versuchte zu fliehen. Stokki drückte den Kopf gekonnt an Lina vorbei, doch ich scheute die Rappstute im richtigen Moment zurück und mit einem großen Sprung floh sie vor dem Stromzaun.
      “So, dann steig mal ein, dann gebe ich dir den Strick. Sie wird schon nachlaufen”, sagte ich zu der Brünetten, die unsicher den Strick in der Hand hielt, während Mola lange Grashalme zupfte.
      “Okay, du wirst schon wissen, was du tust”, entgegnete sie ein wenig zweifelnd, reichte mir aber dennoch das Pferd und tat wie geheißen. Unwillig folgte mir die junge Stute, aber als Lina das Fenster heruntergefahren hatte, gab ich den Strick zurück. Zunächst musterte das Pferd den Seitenspiegel und steckte schließlich auch den Kopf hinein.
      Den Motor ließ ich langsam und möglichst leise angehen, dennoch zuckte das Jungpferd, aber gewöhnte sich direkt an das seltsam trommelnde Geräusch aus der Motorhaube. Im Schritttempo fuhren wir an. Mola folgte im selbigen und schnaubte sogar einige Male ab, was sie jedoch nicht daran hinderte, an einigen Grashalmen zu zupfen.
      “Das funktioniert ja wirklich”, staunte Lina, “und sie ist so brav.” Dem Grinsen auf ihrem Gesicht zu urteilen, war sie bisher zufrieden mit ihrer Auswahl.
      “In Island wird es nicht anders gemacht. Deswegen hat Bruce schnell entschieden, dass das der bequemste Weg ist”, informierte ich sie freundlich, als auch schon die Gebäude des Gestüts am Ende des Weges auftauchten. Heute wurde der erste Kran aufgebaut, nachdem alles nicht mehr Brauchbare dem Erdboden gleich gemacht wurde. Ein Schwall von Melancholie lag in der Luft, aber ich versuchte durch ein kräftiges Ausatmen, aus meinem Kreislauf zu bekommen.
      “Ja, bequem ist das wohl”, nickte sie zustimmend.
      Vor der Halle kamen wir zum Stehen, aus der gerade Lars seinen schneeweißen Hengst führte, deren Brust und Hals geschoren war. Ihm dicht folgte Mateo, allerdings ohne Vierbeiner.
      „Na Mensch, ihr wart schnell“, stellte der Dunkelhaarige fest und blieb auf Abstand mit dem Hengst, der den Damenbesuch bewunderte.
      „Sie hat sich recht schnell entschieden, oder viel mehr Mola“, grinste ich ihm zu. Zeitgleich half ich Lina beim Aussteigen.
      „Schau mal, dein bald Freund ist auch gekommen“, flüsterte ich leise.
      “Glaubst auch nur du”, wisperte sie und verdrehte die Augen. Dann huschte sie auch schon an uns allen vorbei, um die Stute auf den Paddock zu verfrachten. Ich brachte noch das Auto zurück auf dem Parkplatz.
      Im Stall lief ich zunächst zu dem Fuchs, der mit dem Kopf in der Ecke stand und mich erst bemerkte, als ich seinen Namen sagte. Die Ohren drehten sich in alle Richtungen und schließlich bewegte er sich mit kargen Schritten auf mich zu. Vorsichtig strich ihm über die große Blesse. Aus der Jackentasche kramte ich ein Leckerli hervor, dass er dankbar von der flachen Hand griff. Ihn aus der Box zu holen, war heute wieder eine Herausforderung. Immerhin akzeptierte er direkt sein rosafarbenes Halfter, für das jeder am Hof eine Meinung hatte. Die meisten mochten es nicht, aber ich wollte seine Männlichkeit unterstreichen und damit gelang es mir ziemlich gut.
      “Happy, komm schon”, zog ich kräftig am Strick, ihn interessierte das aber nicht im Geringsten. Auch als ihn noch einmal drehte, setzte er keinen Huf aus der Einstreu. Stattdessen machte er seinem Traberanteil allen Ehren, wurde immer länger und länger. Hoffentlich würde er nicht vor den Sprüngen parken, dass könnte gefährlich werden.
      “Sieht so aus, als wäre dein Pferd nicht so überzeugt von deinem Vorhaben”, stellte Mateo fest, der plötzlich neben mir stand.
      “Kein Wunder, der mag Männer nicht”, gab ich sogleich zurück und als würde Happy zustimmen, schnaubte er ab.
      “Na, dann kommst du wohl gut allein klar”, zuckte der Schweizer mit den Schultern, ”Ihr könnt ja dann kommen, falls ihr es jemals da rausschafft.”
      Offenbar hatte er meinen Scherz in den falschen Hals bekommen, aber er mochte Männer wirklich nicht. Ich lockte den Strick etwas. Dann setzte der Hengst voran, als würde er Mateo folgen wollen. Selbst ohne Hending kamen wir voran.
      In der Putzbucht kam der Hengst zur Ruhe und genoss das ausgiebige Putzen. Da er über eins siebzig war, nur etwas kleiner als Lubi, brauchte ich den Hocker, um an alle Stellen zu gelangen. Das ständige Auf- und Absteigen nervte, aber leider würde ich mit Anfang zwanzig nicht mehr wachsen. Als er schließlich sauber war, setzte ich mich in Gang, um einen Sattel zu finden. Aus der großen Sattelkammer nahm ich mir ein Martingal, das in einer der Metalkisten herumschwirrte, sowie Fesselkopfgamaschen und Glocken aus meinem Schrank. Bei der Schabracke begannen die ersten Zweifel. Obwohl ich mittlerweile eine schöne Sammlung aufgebaut hatte - ja, meine Kaufsucht schlug wieder zu – gab es keine einzige zum Springen. Wozu auch? Dennoch fand ich eine, die zumindest etwas runder geschnitten war und nahm sie mit.
      „Tyrell?“, fragte ich und streckte den Kopf ins Büro.
      „Ja, was ist denn?“, kam es sogleich wenig begeistert. Ich kam für gewöhnlich nur, wenn ich etwas wollte.
      „Wir haben doch sicher einen Springsattel, oder?“, hakte ich nach.
      „Einige, aber der von Schneesturm wird seinen Fuchs nicht passen“, begriff er sofort den Tatbestand, „aber unten in der Kammer müssten einige hängen.“
      Dankend nickte ich und verschwand nach unten. Tatsächlich hingen dort gefühlt tausende. Was ich an Schabracken besaß, sammelte mein Chef an Sättel, der Großteil davon wurde nie genutzt, dementsprechend staubig hingen sie auf den Sattelhaltern.
      „Hmm“, überlegte ich laut und streifte durch den Raum, der im Gegensatz zu dem Rest des Gebäudes, schlecht beleuchtet war. Kurzerhand holte ich eine Schubkarre und legte alle vielversprechenden Modelle mit zum Fuchs. Das Klappern des Metalls weckte ihn auf. Mateo, der sich mit Lars unterhielt, schaute nicht schlecht, als ich ankam.
      „Was hast du denn vor?“, hinterfragte Lars verwundert.
      „Einen passenden Sattel finden, was denkst du denn? Ich laufe doch nicht tausendmal“, erklärte ich.
      „Das sieht aus wie eine Flohmarkt Versteigerung“, merkte er an.
      “Soll man dir bei deinem Ausverkauf da helfen?”, bot Mateo an und fasste bereits die Lederstücke kritisch ins Auge.
      “Gern”, lächelte ich. Dabei hob ich das erste Modell heraus. Das Leder wirkte schon sehr mitgenommen und vor allem ungepflegt, aber die Polster unter dem Baum waren noch weich und ohne Knoten. Der Blonde nahm erst den Sattel und dann Happys Rücken näher unter die Lupe, welches der Fuchs Zähneknirschen und mit angelegten Ohren erduldet.
      “Der hat einen ziemlich schmalen Wirbelkanal, dass wir zu knapp schätze ich”, urteilte er.
      “Dann schaust du am besten durch”, schlug ich vor, beruhigte, währenddessen den Hengst, der zu dem Schweizer schielte. Fachkundig beschaute Mateo das Sammelsurium, legte nacheinander zwei Sättel auf den Hengst. Seine Wahl fiel letzten Endes auf ein zweifarbiges Modell, welches aussah, als wäre es noch nie im Einsatz gewesen.
      “Nicht ganz ideal für dich, aber zumindest für dein Pferd sollte der funktionieren”, ergänzte er erklärend. Die Sitzfläche war groß, aber für einen Tag kein Problem.
      “Danke für eine Hilfe”, sagte ich und nahm zunächst das Leder wieder vom Rücken, um alle anderen in der Schubkarre zurückzubringen.

      Wenig später saß ich im viel zu großen Sattel, den ich mit einem Lammfellüberzieher etwas bequemer gemacht hatte und ritt den Fuchs warm. Mateos Parcours stand bereits, als von einem zur anderen Sekunde Happy begann zu tänzeln. Im richtigen Augenblick fasste ich die Zügel nach. Seine Ohren drehten sich hektisch, während er versuchte, sich meinen Hilfen am Bein zu entziehen. Laut schepperten seine Eisen an der hölzernen Wand, bis ich den Grund seiner Aufregung bemerkte. Lina kam mit einem breiten Grinsen auf den Lippen durch den Sand stolziert, am Zügel hielt sie Mateos Stute Karie. Dass sie einen Helm auf dem Kopf hatte, konnte nur bedeuten, dass er sein Pferd nicht reiten würde. Happy spielte sich währenddessen weiter auf, als hätte er nur eine Aufgabe im Leben. Ich erinnerte mich daran, wieso ich keinen Hengst wollte.
      “Hör auf”, knurrte ich ihm ins Ohr und wie aus dem Nichts blieb er stehen. Allerdings bewegte sich nun gar nichts mehr, weder vor noch zurück. Sicherer, als plötzlich die Kleine umzureiten.
      “Welch verzückte Überraschung”, rief ich ihr lachend zu und tätschelte den Hals meines Riesen.
      “Ja, finde ich auch”, strahlte sie, “diese Gelegenheit konnte ich mir auch einfach nicht entgehen lassen.” Die kräftige Stute störte sich nur wenig an der Gegenwart des Hengstes, folgte Lina artig in die Zirkelmitte, wo sie den Gurt enger zog. In meinem Kopf leuchtete eine kleine Lampe auf, aus einem Bereich, den ich versuchte, geschlossen zu halten. Doch plötzlich stand die Tür offen und unterbreitete mir ein teuflisches Gefühl von Neid, Angst und Zweifel an mir. Dabei konnte die Kleine nicht einmal etwas dafür, einzig meinem Hengst fehlte es an benehmen. Dabei merkte ich, dass mein Geist noch immer nicht gefasst war, Veränderungen hinzunehmen. Seufzend legte ich die Beine an den Bauch des Pferdes. Er bewegte sich schließlich aus der Starre, aber spielte sich sogleich auf Höhe der Stute auf. Den Kopf streckte Happy in die Luft und entzog sich komplett dem Zügel. Gleichzeitig spürte die wegtretende Hinterhand. Damit verlor ich die Kontrolle über ihn und im Trab legte er zu, bis der Fuchs seine Runden drehte. Ich hätte ihn vermutlich ablongieren sollen, obwohl er gestern eine intensive Einheit hatte. Müde sollte er sein und nicht wie ein abgestochenes Schwein durch den Sand rasen. Der positive Nebeneffekt kam, dass Happy sich abreagierte und schließlich abschnaubte. An dem Punkt parierte ich durch und gurtete nach.
      Lina ritt zur gleichen Zeit die Dunkelfuchsstute warm, weiterhin mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Vermutlich hatte meine eigene Unsicherheit dafür gesorgt, dass sich das sensible Pferd derart extrem verhielt. Im Schritt lobte ich ihn ausgiebig. Die Stute beachtete er gar nicht mehr, nur Mateo war ihm weiterhin ein Dorn im Auge.
      “Dein Pferd mag mich ja wirklich nicht. Kommst du damit zurecht oder müssen wir nach einer Lösung schauen?”, erkundigte sich dieser rücksichtsvoll.
      “Wir holen eine Schere und berauben ihm seiner Männlichkeit, so einfach”, lächelte ich bewusst. Auf rätselhafter Weise konnte er jedes meiner Worte genau verstehen, denn seine Schritte verlängerten sich und er senkte den Kopf. Dabei schwang der Rücken mit. Tatsächlich verspürte ich endlich seine Ausbildung, das, was Happy auch gestern zeigte.
      „Der hat dich genau verstanden“, lachte der Schweizer. Lina, die derweil im Hintergrund herumzirkelte, wurde nun ebenso aufmerksam und kam locker herangetrabt. Happy zuckte nicht einmal, kaute stattdessen auf seiner Stange aktiv.
      „Worüber amüsiert ihr euch?“, fragte sie interessiert.
      „Offenbar ist Happy seine volle Männlichkeit überaus wichtig“, grinste ich und strich ihm durch die lange Mähne.
      „Dann ist ja gut, dass er seine Halfterfarbe nicht erkennt“, lachte sie.
      „Ja, ja. Schon klar“, rollte ich mit den Augen und trabte ebenfalls an. In gleichmäßigen Tritten federte er durch den Sand und wölbte dabei bilderbuchmäßig seinen eher kurzen Hals. Die Schwebephase auszusitzen war mit den kurzen Bügeln ein noch schwierigeres Unterfangen, sodass ich lieber leicht trabte. Nach einigen Schlangenlinien und Seitengängen legte ich das äußere Bein heran, stellte das Genick leicht nach innen und der Hengst sprang in den Galopp um. Geschwungen setzte er voran und ich entschied in der letzten Sekunde, doch noch über das niedrige Kreuz zu setzen. Den Höhenunterschied spürte ich kaum, so sehr versuchte das Pferd vor weiblicher Anwesenheit sich zu präsentieren. Auch beim zweiten Mal konnte ich nicht genau abschätzen, ob wir das Hindernis absolviert hatten und lenkte letztlich auf das höhere Rick zu. Nun musste ich genau aufpassen und wie ich es die wenigen Male in der Ausbildung hatte, gab ich eine halbe Parade, um schließlich mit mäßig gutem Abstand abzuspringen. Deutlich weiter flog er über die Stange, als würden wir einen Wassergraben springen, zumindest sagte mein Hirn mir, dass er sich verschätzt, hatte in der Weite. Freundlich tätschelte ich den Hals und holte ihn in den Trab zurück, nur der Schritt schien in weiter Ferne. Der potente Hengst strotzte vor Energie und legte mächtig an Tempo zu, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Wirklich Hilfen waren dabei nicht nötig, denn Happy entschied selbst, sein Können zu präsentieren. Ich fühlte mich etwas unbeholfen im Sattel, aber konnte ihn schließ doch noch für Schritt begeistern.
      „Der springt ja wirklich“, staunte Lina, „Das sah gar nicht so schlecht aus.“
      „Ich frage besser nicht, wie du meinst“, scherzte ich. Sie meinte es nicht böse, dennoch vernahm einige Zweifel in ihrer Stimme, die ich versuchte zu überhören. Nach einigen Runden über die Stangen am Boden übernahm auch Lina das Ruder und flog über die aufgebauten Hindernisse. Die Stute war ebenso motiviert für das bunte Holz wie mein Hengst. Sie galoppierte deutlich hektischer, aber sprang deutlich gleichmäßiger ab und zog dabei kräftig an. Mir war es bis heute ein Rätsel, wie die etwas dicklich anmutende Stute, so flink unterwegs war. Unauffällig schielte ich zu Mateo, der mit seinen Augen fest an Lina gehaftet war und jeden Absprung anpeilte, als säße er selbst im Sattel.
      Nach einer ausgiebigen Pause galoppierte ich wieder an. In der Zwischenzeit hatte sich die Höhe etwas verändert und lag nun auf achtzig Zentimeter. Vom Rücken des Riesens wirkte es noch immer niedrig, aber meine Vernunft sagte mir, dass ich mich nicht überschätzen sollte. So sprang ich nur einmal hinüber und Ritt schließlich ab. Das Schicksal wollte ich nicht herausfordern, außerdem schwitzte Happy, als hätte ich ihn geduscht. Auch Lina nahm Karie in den Schritt zurück. Tatsächlich benahm sich der Kerl unter dem Sattel und reihte mich neben ihr ein.
      „Und, immer noch der Meinung, dass es nicht sein Bald-Freund ist?“, zwinkerte ich überzeugt zu ihr hinüber, „schließlich überlässt er dir sein Lieblingspony.“
      „Ja, dafür müsste ich nämlich erst einmal auf der Suche sein“, blieb sie standhaft, „und jemanden seinem Pony reiten zu lassen, ist noch lange kein Liebesbeweis.“
      „Ach, ich denke schon, dass er sich abends im Bett vorstellt, wie sich sein Pony wohlfühlen muss“, konnte ich mich nicht zurückhalten, unpassende Sprüche zubringen. Schließlich musste auch ich Lars ertragen, der bei jeder Fahrt im Wald, an nichts anderes dachte.
      „Was ist denn los, dass hier alle nur das eine im Kopf haben“, schüttelte sie den Kopf.
      „Der Frühling kommt, mein Schatz“, grinste ich.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 30.952 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang März 2021}
    • Wolfszeit
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      kapitel trettiotvå | 13. September 2022

      May Bee Happy / Wunderkind / Northumbria / Maxou / Planetenfrost LDS / Global Vision / Drivblesa / Moonwalker LDS / HMJ Divine / Jokarie / HMJ Holy / Pay My Netflix / Glimsy / Einheitssprache

      Samstag, eine Woche später
      Lindö Dalen Stuteri

      Vriska
      Es war schon wieder Wochenende. Ich stand mit Happy am Strick auf der Rückseite des Stallgebäudes und fröhlich zupfte er einige Grashalme. Von meinem emotionalen Rückschlag hatte ich mich entsprechend erholt. Am nächsten Tag wachte ich sehr früh am Morgen auf und nutzte die Stunde allein am Stall für ein Training mit Happy, der sich nach dem Springen deutlich leichter im Sattel gab. Wunderkind hatte frei und mit Humbria fuhr ich einen Heat. Nach einem kleinen Frühstück half ich Bruno bei der Stallarbeit. So ging es die folgenden Tage weiter. Lars kehrte erst am Dienstag zurück. Er war bei seiner neuen Flamme, die wohl seine Unterstützung benötigte. So sei es. Ich kam klar. Lina hatte ich nichts erzählt, doch aus ihrer Stimmung heraus konnte ich ablesen, dass Nour ihr berichtet hatte. Mit Niklas war es weiterhin schwierig. Wenn ich ihn im Gang traf, warf er mir beliebige Sprüche an den Kopf und Lina schämte sich dafür. Am Abend schrieb ich mein Buch weiter.
      „So kleiner Mann, das reicht“, sagte ich zu dem großen Fuchs, der die Ohren in meine Richtung drehte und den Kopf hob. Entspannt folgte er mir in den Stall. Dort nahm ich die farblich passende Decke zum Halfter ab und stellte ihn zurück in die Box. In der Gasse räumte Nour bereits die Sachen zusammen für die Abfahrt nach Visby. Maxou hatte ich longiert und morgen wollte Erik kommen, somit war ich ganz froh, nicht dazu sein.
      „Fühlst du dich wirklich bereit für das Rennen?“, hakte Nour besorgt nach.
      „Klar, wieso nicht?“, versuchte ich den Zwischenfall zu überspielen. Sie sprach es ungern an, denn es tat ihr leid, mir nicht helfen zu können.
      “Ich”, sie seufzte tief, als hätte sie seit Minuten die Luft angehalten, “ich wollte nur sichergehen, aber Humbria hat bisher eine gute Figur gemacht, oder?”
      “Ja, sie ist sehr motiviert”, erklärte ich zuversichtlich. Am Donnerstag hatte ich die Zeit gestoppt und auf einer Meile waren wir bei 1:13,5. Damit lagen die Chancen gut auf das Treppchen.
      “Du läufst das Stutenrennen, oder?”, Nour stellte weiter unnötige Fragen, denn sie hatte die Nennung vorgenommen. Somit sollte sie sich bewusst sein, was ich fuhr.
      “Genau, sofern wir die Qualifikation nachher bekommen.” Ich legte die Decke zusammen und hängte diese über die Stange an Happys Box. Glücklicherweise gab es heute um zwanzig Uhr die Möglichkeit noch einen Probelauf zu fahren, bei dem sich entschied, ob wir starten konnten. Normalerweise fand so was am selben Renntag fest und eine weitere Nennung wäre nicht möglich an dem Tag.
      “Den großen Transporter fahren wir?”, hakte ich noch einmal nach, um mich emotional vorzubereiten. Den Großen bin ich bisher nur ein einziges Mal gefahren, doch Lars weigerte sich.
      “Leider, ja. Der hat aber zwei große Schlafkabinen”, nickte Nour.

      Nach einer Stunde standen die Pferde im Stall, vorbereitet für den Transport. Zur Kontrolle schaute ich den Inhalt meiner Tasche, die bereits im Transporter lag und Dog direkt darauf. Ich hatte alles dabei, sogar meine kleine Plastikdose für die Medikamente. Noch Abend am Sonntag entschloss ich, den Kram wieder zu nehmen. Gestresst kam Nour angelaufen: „Wo steckt der Kerl nur.“
      Damit meinte sie Lars, der eigentlich zurück sein wollte, bevor wir losfahren. Zum Abschied fuhr er zu seiner Flamme, um mit ‚einem guten Gefühl zu starten‘, wie er uns gestern lang und breit bei der Besprechung am Abend erklärte.
      „Hast du versucht ihn zu erreichen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
      „Natürlich, siebenmal“, lachte sie.
      Wir begannen die Pferde zu verladen, auch wenn er nach zwanzig Minuten in der Stallgasse sitzen, noch immer nicht zusehen war. Zunächst kamen Walker, Plano und Vision in den Transporter. Im Anhänger folgten Humbria und Blessa, eine Fuchsstute, die Mitte der Woche von Bruno als Trainingspferd übernommen wurde. Sie stammte aus Norwegen und sollte in Schweden große Erfolge erzielen. Nour fuhr sie an dem Wochenende. Ich schloss die schwere Klappe allein, als ein großes blondes Wesen neben mir auftauchte. Vor Schreck fiel mir diese beinah herunter, wenn er nicht seine Hand daran gehabt hätte.
      “Ihr wolltet nicht etwa ohne uns fahren?”, grinste Mateo. Verwundert drückte ich meine Stirn zusammen.
      “Eigentlich schon”, murmelte ich undefiniert, dann trat auch Lina hervor, “ich wusste nicht, dass euch das interessiert.”
      “Mateo, meinte, er müsse sich unbedingt mal ansehen, was seine Kollegen denn da immer so treiben”, erklärte sie, “dabei habe ich eigentlich sehr anschaulich erklärt, dass ihr nur knappe zwei Minuten im Kreis rennt.”
      “Es ist die Geschwindigkeit, Kleines”, kam Nour dazu, um ihr nun die Leidenschaft dahinter zu erklären. Ich stand grinsend daneben, denn hatte Lars’ Schwester erst mal jemanden ohne Ahnung gefunden, konnte sie stundenlang über den Trabrennsport und, vordergründig, Walker sprechen. Zwischendurch rollte ich mit den Augen, denn eine solche Leidenschaft konnte ich mit ihr nicht teilen, viel mehr, wollte ich mich, aus freien Stücken, bei Basti entschuldigen. Mein Verhalten war alles andere als in Ordnung, außerdem hatte sich in der Woche das Gefühl zu ihm, noch mehr verstärkt, obwohl ich ihn nur einmal aus der Ferne in Kalmar gesehen hatte.
      “Nour, ich glaube, dass das reicht”, kam endlich der Herr der Schöpfung an. In der Hand hielt er eine Tasche, die er in den Transporter schmiss.
      “Dann können wir los?”, ging ich nicht weiter auf seine Verspätung ein, sondern dachte nur an die Fähre und meine Qualifikation.
      “Ja”, brachte der Schweizer freudig hervor, während die kleine Brünette neben ihm nur mäßig viel Motivation ausstrahlte. Ihren Unmut konnte ich sogar nachvollziehen, obwohl ich das Pilzi dabeihatte. Vermutlich war die Stute der einzige Grund, weshalb Mateo sie überzeugen konnte.
      Die beiden Süßen setzten sich auf die Rückbank und mit Lars saß ich vorn, falls etwas sein würde. Das erste Anfahren war ruckelig, zu lange fuhr ich keinen Schaltwagen mehr, doch nach einigen Metern der Ausfahrt entlang, bekam ich ein Gefühl für das Gespann. Hinter mir wurde sich unterhalten über Linas Hengst, was mittlerweile dieselbe Stufe erreicht hatte, wie Nour mit Walker.
      Nach der Strecke auf der Autobahn kamen wir in dem Gewerbegebiet von Oskarshamn an. Trostlos lagen auf beiden Seiten riesige Hallen und Geschäfte mit leeren Parkplätzen. Selbst auf der Straße waren kaum Autos unterwegs, obwohl es Samstagmittag war. Es folgte ein Kreisverkehr und langsam wurde es ansehnlicher, sofern man Plattenbau als solches bezeichnen konnte. Zumindest hatten sie kleine Blumenkästen am Geländer, die es bunter machten in der farblosen Umgebung. Gegenüber vom Hafen standen einige alte Häuser, die die Stadt lebhafter machten. Wir stellten den Transporter ab, um auf die Fähre zu warten. Eine halbe Stunde hatten wir vor uns und ich suchte mir ein ruhiges Plätzchen zum Rauchen, Dog folgte mir unauffällig und mit ihm noch ein weiteres Wesen.
      “Vriska?”, kam Lina neugierig angeschlichen, wie eine Katze auf Erkundungstour, “bekommt man dieses Wochenende auch noch etwas … interessanteres zu sehen als euch?”
      Verwundert drehte ich mich um, kalt schlug mir eine Meeresbrise ins Gesicht, die einen Fischgeruch mit sich trug. Selbst Dog rümpfte angeekelt die Nase.
      „Als uns? Aber ich weiß nicht genau. In der Nähe sind ein Museum und ein Themenpark, der aber vermutlich noch geschlossen hat“, überlegte ich laut, jedoch fiel mir noch etwas anderes ein, das Niklas mal erwähnt hatte. „In der Nähe soll es Wildpferde geben, vielleicht wäre das, was für dich und Mateo.“
      “Wildpferde sagst du? Das klingt tatsächlich sehenswert”, nickte sie, “aber ob Mateo das ebenso spannend findet?” Sie wirkte ein wenig nachdenklich, als würde sie versuchen abzuschätzen, was der Schweizer davon halten würde.
      “Mehr als dich, braucht er nicht”, scherzte ich augenzwinkernd. Die Funken zwischen ihnen verspürte ich mittlerweile auch im Stall, wenn nur einer von ihnen zu sehen war. Wenn sie ritt, warf er einen prüfenden Blick auf Lina und andersherum. Mich brachten die beiden immer zum Lächeln.
      “Klar, weil die Welt sich ja nur um mich dreht”, rollte sie mit den Augen.
      “Jetzt übertreiben wir nicht”, schaltete ich einen Gang zurück, “ihr beide mit euren Tönnchen seid dennoch niedlich.” Dabei zog ich mein Handy hervor und zeigte ihr einige Bilder, die ich in der Woche gemacht hatte. Mittlerweile nahm ich häufiger meine Kamera aus dem Zimmer mit, um die Website und Social-Media-Plattform mit Inhalten zu füttern. Natürlich behielt ich solche Aufnahmen für mein Archiv auf dem Laptop. Lina stand an der Bande, spielte mit dem Finger an dem Zopf und blickte verträumt zu Mateo, der auf Karie saß und im Sand tanzte.
      “In Kombination von Nour und dir bleibt auch wirklich nichts verborgen. So ein wenig gestalkt, fühle ich mich ja schon”, stellte sie fest.
      “Tut mir leid, aber es war ein schönes Motiv”, ich tippte ein weiteres Mal auf das Bild, um die interaktive Oberfläche zu sehen und drückte auf den Mülleimer in der unteren rechten Ecke. Bevor ich diese Aktion bestätigte, funkte Lina dazwischen und fummelte an einer anderen Stelle auf dem Touchscreen herum, wodurch sich die Option schloss.
      “Du kannst doch so hübsche Bilder nicht einfach löschen”, empörte sie sich, “aaaber zeigen tust du es bitte trotzdem niemandem.”
      Zustimmend nickte ich und zeigte ihr noch anderen Bilder. Unter anderem war eins vom Satteln dabei, bei dem Mateo ihr half. Die Beiden waren wirklich in jedem Moment niedlich und es überraschte mich, dass keiner mich mitbekam.
      Nach einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es Zeit war, zum Transporter zurückzukehren. Ich rief den Hund zu mir und zusammen liefen wir auf den Parkplatz. Der Rest der Truppe saß bereits auf den Plätzen, als hätten sie Stunden auf uns gewartet.

      Drei Stunden später, 18:31 Uhr
      Trabrennbahn, Visby

      In Stalltrakt neun brachten wir unsere Pferde unter. Blessa hatte eine tolle Paddockbox zugeteilt bekommen und erfreute sich sofort an der kleinen Pfütze im Sand. Mit dem Huf trat sie darin herum, um sich schließlich, samt Decke, darin zu wälzen. Humbria hatte nur ein Fenster, das sie nicht sonderlich interessierte. Meine Jackentaschen raschelten schließlich verführerisch. Ich beobachtete die dunkle Stute einen Moment, bevor ich zurück zum Transporter lief. Dabei schaute ich mich um, in der Hoffnung, Basti zu entdecken. Allerdings hätte mich überrascht, dass ein beschäftigter Mann wie er, schon so früh anreisen würde. Sein erstes Rennen war erst um dreizehn Uhr dreißig Morgen. Seufzend drehte ich mich ein letztes Mal um und stieg die Treppe hinauf. Die Vier saßen am Tisch und spielten Karten.
      „Und, alles gut im Stall?“, fragte Lars höflich nach, was ich mit einem Stummen „ja“, beantwortete. Mir hatte die fehlende Anwesenheit bereits die Stimmung vermiest, obwohl ich mich lange darauf vorbereitet hatte. Dennoch gab es diesen einen kleinen Gedanken, der mich vom Gegenteil überzeugen wollte.
      „Ich gehe mit Dog spazieren“, sagte ich schließlich, als ich meine Hose gewechselt hatte und mir eine dickere Jacke überzog. Als der Hund das S-Wort hörte, sprang er sogleich auf und tänzelte am Ausgang herum.
      “Warte kurz, ich komme mit”, verkündete die Kleine, blickte konzentriert in ihre Handkarten. Lars machte einen Spielzug, legte dabei die letzten Karten ab, woraufhin Lina eine Schnute zog: “Das ist unfair, warum gewinnst du den immer?”
      “Er schummelt gekonnt”, seufzte auch Nour und legte ihre Hand offen. Das Spiel war wohl damit vorbei, doch unserer Herzensbrecher lehnte sich triumphierend zurück, ohne sich zu dem Tatbestand zu äußern. Lina stand auf, um sich ebenfalls eine Winterjacke überzuziehen. Von den beinah warmen zehn Grad Celsius auf unserem Hof, war es hier in Küstennähe unter null gerutscht und ein eisiger Wind zog über das offene Feld. Hinter uns schloss ich sofort die Tür und warf mir die Leine um den Hals.
      “Deiner Stimmung nach zu urteilen”, setzte Lina an, als wir einige Schritte entfernt waren und betrachte mich analysierend, “hast du dir erhofft, jemanden hier anzutreffen.”
      “Warum denkst du wohl, tue ich mir das alles hier an?”, gab ich offen zu, dass mir die Rennen gleichgültig waren. Ich könnte jederzeit auf den Rausch verzichten, aber wenn es Aufmerksamkeit auf mich lenkte, tat ich es gern.
      “Wäre ja möglich, dass es dir tatsächlich Spaß macht”, zuckte sie mir den Schultern, “aber dann ist der eigentliche Grund wohl Basti.”
      “Natürlich macht es mir das, aber es ist nicht der Hauptgrund. Den Spaß daran könnte ich auch auf der heimischen Trainingsbahn genießen”, berichtete ich, ohne auf ihren Nebensatz einzugehen. Seinen Namen zu hören, löste umgehend Bluthochdruck aus.
      „Da hast du recht“, nickte sie zustimmend.
      “Aber du wirst wohl kaum mitkommen, nur um ihn zu suchen? Was ist los?”, fragte ich voller Zuversicht nach, den Lina torkelte sichtlich unentschlossen neben mir her, während der Hund mit seinem leuchtenden Halsband vor uns blieb.
      „Mh, ich brauchte eine kurze Pause“, sagte sie unspezifiziert. Ihre Finger steckten in den Jackentaschen und mit leichtem gesenktem Kopf beobachtete sie den Boden, der übersät war von Hufabrücken. Hier und da lagen kleine Steine im Sand, die sie zur Seite trat.
      „Doch nicht etwas von dem netten Schweizer?“, versuchte ich mich heranzutasten.
      „Es ist kompliziert, aber eher von mir selbst“, führte sie näher aus, „Mateos Gegenwart ist etwas … verwirrend.“
      „Kann ich nachvollziehen“, log ich, zumindest halb. In meinem Kopf spielten sich alte Bilder ab, die nicht mehr das gleiche Gefühl auslösten, wie vor Monaten. Damals war es Niklas, von dem ich in der Anfangszeit nicht genug bekommen konnte, obwohl er schon mit Lina zusammen war. Dass sich dadurch Traumata lösten, die ich erst in England aufarbeiten konnte, hatte seine Anziehungskraft wie auf Knopfdruck entfernt. „Vielleicht solltest du eine Pro- und Kontraliste erstellen, um den Kopf klar zu bekommen. Oder ein Buch schreiben, wie ich.“
      „Wenn das nur so einfach wäre, wie es klingt“, seufzte sie und klickte schwungvoll einen Stein zur Seite, dem Dog augenblicklich nachsprang.
      „Ich weiß nicht, was dich so stark beschäftigt, aber wenn es nur ansatzweise dramatisch, wie in meinem Kopf ist, dann solltest du dir deinen Gefühlen bewusstwerden. Allein, dass weiteres Verlangen in dir spuckt, sollte klarmachen, dass in der Beziehung etwas falsch läuft“, möglichst oberflächlich gab ich ihr einen Tipp, den ich schon längst hätte, selbst befolgen sollen. Aber in mir gab es ohnehin so viel Reibereien, dass die Einordnung schwierig wurde. Auf dem Weg drehten wir um, den langsam sollte ich, mich für die Wieder-Qualifikation bereitmachen. Lina nickte seufzend: „Warum muss das nur so komplex sein? “

      Erneut umgezogen, huschte ich zum Stall. Lina, die noch immer in Rätseln sprach, über das, was in ihrem Inneren ablief, folgte unauffällig. Dog lag im Transporter, während die Drei verbittert, ihr Kartenspiel fortsetzten.
      Humbria steckte ihren Kopf durch das Fenster, um mein Kommen genau zu beobachten. Voller Übermut wieherte sie mir entgegen und drehte Kreise in der Box. Sie kannte es bereits aus Kanada, solange eingepfercht auf engen Raum zu sein, was mich zweifeln ließ, die heimische Leistung abrufen zu können. Ich führte sie am Halfter auf den Gang und hakte beidseitig die Stricke ein. Ihr dunkles Fell glänzte leicht geschwitzt in der dürren Beleuchtung der Deckenlampen, die leise flimmerten. In der Ferne hörte man weiterhin das Geschrei von Pferden und Schritte im Stroh.
      Im Eifer des Gefechts vergaß ich beinah, meinen Helm aufzusetzen, den Lina mir noch im richtigen Augenblick gab. Die letzten Meter führte ich Humbria aus der Gasse heraus und setzte mich in den Bock. Unauffällig folgte meine Kollegin zum Zaun, an dem zu meiner Überraschung auch der Rest der Mannschaft stand, eingehüllt in dicker Winterbekleidung. Nur Lars musste beweisen, dass ihm die Kälte nichts ausmachte und trug eine einfache Neoprenjacke. An den schlotternden Knien erkannt ich allerdings, dass ihm sehr wohl Kälte etwas ausmachte.
      „Zeige nur so viel wie nötig, sie hat morgen noch einen anstrengenden Tag vor sich“, mahnte er, was ich mit einem einfach nicken hinnahm. Dann schob ich die Schutzbrille über meine Augen und lenkte Humbria im Schritt auf das Geläuf. Wir waren nicht allein. Drei weitere Fahrer drehten ihre Runden, mit teils sehr erschöpften Pferden, wovon eins auch im morgigen Rennen genannt war. Locker fuhr ich an, legte das Warmfahren auf sinnvolle Übungen aus. Die Leute schauten nicht schlecht, dass ich zwischendrin anhielt und Humbria stehen ließ. Aber Ungehorsam könnte mir die Qualifikation kosten, deshalb arbeitete ich wie zu Hause. Meine Zeiteinteilung passte perfekt. Alle Fahrer für die Qualifikation wurden auf das Geläuf gebeten, als ich Humbria ausreichend erwärmt hatte. Zufrieden kaute sie auf dem Gebiss und schüttelte sich nicht, wie die anderen Pferde.
      „Dann wollen wir mal“, sagte ich zu ihr, als sie Startfreigabe erteilt wurde und wir vier uns hinter dem Fahrzeug aufstellten. Sicher beschleunigte die Stute, ihre großen Tritte im Trab wurden gleichmäßiger. In der ersten Kurve hielt ich noch zurück, aber nach der dritten durfte sie sich frei entfalten. Wir reihten uns in zweiter Stelle ein und fuhren an jener Position auch durch die Zielmarke bei einer Meile. Ihre Zeit war mittelmäßig, aber ausreichend für die Qualifikation. Das war es auch schon. Unsere Aufgabe war erfüllt und im Rausch der Geschwindigkeit hatte ich nicht mitbekommen, dass es mehr geworden sind, an der Bande. Bei Lina stand noch Folke und Hedda, die sich über Holy auszutauschen schienen.
      „Ich fahre jetzt auch“, nervte mich sogleich der Rotschopf, als ich das Geläuf verließ.
      „Das ist schön“, antwortete ich teilnahmslos und strich Humbria über den Po. Lars legte ihr zeitgleich eine Decke über, obwohl die Strecke vom Geläuf zum Stall kaum mehr als zweihundert Meter war.
      „Du hast sie zurückgehalten, oder?“, fragte mein Kollege beiläufig, was ich bejahte. Zustimmend nickte er.
      „Eine schöne Stute“, klopfte Folke ihren Hals und wendete sich schließlich wieder zu Lars. Sie schienen sich zu kennen, aber wie ich bereits festgestellt hatte, war die Szene ohnehin familiär strukturiert. Lina half mir dabei, die Stute wieder für die Box fertig zu machen. Den Sulky stellte ich zur Seite, an Blessas Boxenwand, und die kleine Brünette nahm den Gurt ab. Dann huschte sie zur Seite, um aus den Eimern zwei Maß Hafer zu holen.
      „Weißt du was?“, schmunzelte sie deutlich redseliger als noch zuvor.
      „Worauf willst du hinaus?“, fragte ich, ohne zu überlegen.
      „Wenn Folke da ist, kann dein Basti auch nicht weit sein“, kicherte Lina und schielte zu den Männern hinüber. Jeder hatte es gehört, zumindest sagte mir das, Lars‘ schiefes Grinsen auf den Lippen.
      „Sebastian?“, hakte Folke bei ihm nach.
      Nour nickte.
      „Der ist einen Stall weiter und füttert gerade“, antwortete Folke unbekümmert, worauf das Ganze anspielte. Mir wurden die Knie weicher und mit zittrigen Fingern fummelte ich den grünen Zopf wieder aus der kurzen Mähne der Stute, die seit ihrer Ankunft gut nachgewachsen war. Dem armen Tier hatte man alles abrasiert, aber langsam konnte man ihre schöne Farbe wiedererkennen. Zwischen den hellen Strähnen versteckten sich dunklere, die vom Deckhaar kamen. Aus der Ferne konnte man das Farbspiel nicht sehen, aber die helleren Tupfer im Fell, waren ohnehin ihr Hauptmerkmal und der Bauch, in derselben abhebenden Färbung.
      „Ganz ruhig, es wird dich schon niemand fressen wollen“, sprach sie zuversichtlich.
      „Nicht? Blonde Mädchen sind doch sonst sehr begehrt“, lachte ich, ohne von dem Band abzulassen, das mittlerweile aus der Mähne entfernt war.
      „Dann bekommt er es mit mir zu tun“, grinste sie.
      „Oh, da hat er sicher Angst“, warf ich scherzhaft ein. Das Band legte ich zurück in den Putzkasten und führte Humbria in die Box. Die Schüssel stellte ich ihr hinein und schloss mit einem Scheppern das Metall zu. Sie zuckte zusammen, aber hielt krampfhaft den Kopf im Essen.
      “Sollte er besser, nicht wahr, Mateo?”, entgegnet sie überzeugend, schielte erwartungsvoll zu ihrer Verstärkung.
      “Ich erzittere vor dir und deinen Haargummis”, lachte dieser, was mit einem Augenrollen quittiert wurde.
      „Ihr seid blöd“, merkte ich kopfschüttelnd an. Aber noch bevor ich überhaupt mich in Bewegung setzte, kam besagter Herr in den Stalltrakt gelaufen.
      „Hier steckt ihr also“, grinste er Folke und Hedda an, die noch immer bei Nour und Lars standen. Wieder einmal war Walker das Gesprächsthema.
      „Ja und man hat nach dir gefragt“, merkte Folke umgehend an und nickte zu mir. Im nächsten Atemzug verharrte ich, bis der Druck in der Brust zu stark wurde. Die weichen Knie festigten sich allerdings und zogen ein Kribbeln im Bauchbereich mit sich, das ich allerdings als Hunger abstempelte.
      „Interessant“, murmelte Basti, die Brauen zusammengezogen und lief tatsächlich auf mich zu.
      „Du steigst direkt voll ein, wie ich sehe“, stellte er vor mir fest. Vermutlich spielte er dabei darauf an, dass ich bei fast jedem Rennen dieses Jahr im fahrbaren Umfeld von Unterwegs war. Seltsamerweise stand ich als Besitzer auf dem provisorischen Boxenschild.
      „Offensichtlich, ja“, stammelte ich unsicher und vollkommen überwältigt von seiner Alltagskleidung, die an ihm ein ganz anderes Bild zeigte. Ich versuchte den Blick von ihm zu lösen, mit jedem Atemzug wurde es schwerer meine Nervosität in Zaum zu halten.
      „Und was wolltest du von mir?“, sprach Basti weiter. Bei den Worten hingen alle schweigenden Augen im Raum an uns beiden, kein angenehmes Gefühl, wenn ich mich wie ein Idiot vor ihm verhielt und kaum ein zusammenhängendes Wort aus dem Mund bekam. Aber keiner machte Anstalten, mich zu erlösen. Dennoch hatte ich mir fest vorgenommen, mich zu entschuldigen. Ich fasste all meinen Mut und hob den Kopf.
      „Es tut mir leid, dass ich letzte Woche so seltsam war“, wurde ich zum Ende hin stiller.
      „Als wäre es etwas Neues“, scherzte Nour sogleich, die es offenbar nicht abwarten konnte, sich einzumischen.
      „Okay“, antwortete er verwundert, als wüsste er nicht, wovon ich sprach. Vermutlich war es auch besser so. Nun fehlten mir allerdings die Worte und stumm wendete ich den Blick von ihm. Glücklicherweise ergriff Folke das Wort.
      „Wir wollten hinübergehen ins Restaurant, kommst du auch mit?“, fragte er seinen Kollegen.
      „Klar, wieso nicht. Aber ich gehe noch Nelly holen“, antwortete er und lief hinaus. Fragend sah ich zu Nour hinüber, die einen leichtes Lächeln auf den Lippen hatte, aber eher mitleidig wirkte als freundlich. Während die Männer voran liefen, reihte sie sich zu Lina und mir auf. Ich wollte ohnehin vorher noch zum Transporter, das millionste Mal meine Kleidung wechseln und den Hund holen.
      „Das ist so eine Sache, die wir dir bisher nicht erzählt haben“, seufzte sie. Mir stockte der Atem, aber ich wusste, was jetzt kam. Nour erzählte, dass Nelly seine Freundin sei und das schon etwas länger mit den beiden lief. Natürlich wäre auch zu einfach gewesen. Mir war der Hunger vergangenen.
      „Ich bleibe hier“, sagte ich missmutig und ließ mich auf die Bank am Tisch fallen.
      “Das tut mir leid, du hast es wirklich nicht leicht”, sprach Lina mit aufrichtiger Anteilnahme, “aber du kannst doch nicht den ganzen Abend allein hier sitzen.”
      „Aber ihn verliebt zu sehen, ertrage ich nicht“, seufzte ich.
      „Vivi, er ist alles andere als ein Romantiker. Ihnen die Beziehung anzusehen, gelang am Anfang nicht einmal mir“, wandte sich Nour zu mir.
      „Dennoch weiß ich es. Wie würdest du dich denn in der Situation fühlen?“, stellte ich als Gegenfrage.
      „Wie ich mich fühlen würde?“, wiederholte sie ungläubig, „Ich habe nie das gefühlt, was ihr alle durchmacht“, sie zuckte mit den Schultern.
      “Ich verstehe dich”, sagte die Kleine einfühlsam, ließ sich neben mir nieder und schlang ihre Arme in einer tröstlichen Geste um mich, bevor sie mit Nour sprach: “Du magst doch Walker ziemlich?” Sie nickte, blickte Lina erwartungsvoll an, was folgen würde: “Und jetzt stell dir vor, jemand anderes, dürfte den exklusiven Umgang mit ihm Pflegen und du dürftest nur zu sehen. Wärst du da nicht auch ein wenig traurig?”
      „Nein, ich würde mich für ihn freuen, dass er jemanden hat“, blieb sie weiterhin äußert irritiert über meine Zweifel.
      „Ein Grund, aber kein Hindernis“, sprach im nächsten Moment den Gedanken aus und sprang hoch. „Er wird schon sehen, was er verpasst.“
      Mit neuer, nicht unbedingt berechtigter, Motivation erhob ich mich wieder und zog die weiße Hose aus. Darunter hatte ich eine Leggings, die ich anbehielt. Nur ein sauberes Shirt warf ich mir über und wieder die Jacke.
      „So, kommt ihr“, trat ich zur Tür und sah meine Kolleginnen an.
      “Da ist ja die Vriska wieder, die ich kenne”, grinste die kleine, schnappte sich die Hundeleine von Tisch und kam samt dem Tier hinterher gewuselt.

      Bis auf unserer Truppe saß niemand in dem kleinen und eher rustikal eingerichteten Restaurant. An den Wänden hingen Plasmabildschirme aus dem letzten Jahrzehnt. Die Zeit wirkte, wie stehen geblieben, aber es sollte für das Abendessen ausreichen.
      „Das hat aber gedauert“, grinste Lars und klopfte neben sich. Aber ich wich ihm bewusst aus, denn neben Basti war ein Platz frei, den ich sofort einnahm. Freundlich zuckte ein Lächeln über seine Mundwinkel. Stattdessen setzte sich Nour zu ihrem Bruder und Lina daneben auf die Bank. Überraschenderweise saß die große blonde Dame, die wohl Nelly sein sollte, zwischen Mateo und Folke, mit denen sie sich auch unterhielt.
      Man brachte uns die Karte und ich bestellte mir ein Bier. Etwas Mut war nötig, um mit ihm sprechen zu können. Seine reine Anwesenheit verunsicherte mich, aber ich hielt mich wacker an dem Glas. Kaum flossen die ersten Schlucke meine Kehle herunter, spürte ich den Alkohol durch meine Adern krabbeln, wie kleine Ameisen breiteten sie sich aus und regulierten die Stimmung. Er erzählte von Netflix, nach dem Lars angemerkt hatte, dass unser Chef trotz der mittelmäßigen Rennergebnisse ihn noch nicht über den Haufen warf. Ich hing förmlich an Bastis Lippen, bewunderte ihn für das breitgefächerte Wissen – Natürlich war die Realität eine andere. Er erzählte davon, dass Netflix im Rennen übermütig wurde und im Umgang sehr sanft war. Kein einziges Mal gab Basti etwas über sich preis, sondern sprach neutral über das Pferd. Nur in meinen Ohren klang es anderes.
      Schließlich kam das Essen, für mich ein Salat, denn mehr gab es nicht, dass frei von tierischen Erzeugnissen war. Er schielte irritiert auf meinen Teller, aber sagte nichts. Währenddessen liefen Renn-Replays auf den alten Fernsehern, auch eins, bei dem Lars noch Glimsy in Visby gefahren war.
      „Das war ihr letzter Sieg“, erzählte Nour und nickte in Richtung des Bildschirms.
      “Der letzte, ist sie seitdem keine Rennen mehr gelaufen?”, fragte Mateo interessiert nach.
      „Doch eins noch“, erzählte Lars und stopfte sich eine Fritte in den Mund, „aber da hatte sie einen Gangfehler und dann haben wir sie aus dem Training genommen.“
      „Erst einmal“, fügte Nour überzeugt hinzu, ”die schweren Traber können bis vierzehn Jahre noch bei Rennen mitlaufen, die nur für sie sind.”
      “Oh, interessant. Also soll sie noch ein paar Erfolge einfahren?”, nickte der Schweizer.
      „Schafft die Dicke doch gar nicht mehr“, gab nun Nelly mit ihr außergewöhnlichen lieblichen Stimme zu verstehen und funkelte Lars an, der umgehend auf den Flirt einging. Verwundert schielte ich zu Basti, der in aller Ruhe weiter aß.
      „Ich zeige dir gleich mal Dick!“, empörte sich Nour, „die schafft im Training gut und gerne 1:15,6!“
      “Warum mobben denn alle immer die armen Ponys nur, weil sie kräftiger sind”, trug auch Lina bei, die sich bereits bei mir regelmäßig beschwerte, wenn ich über die Körperform ihrer kleinen Kugeln sprach.
      „Die hat schon ziemlich an Rennfigur verloren“, stellte Lars ebenfalls fest. Dann nahm er einen Schluck aus meinem Bier, nur weil sich dazu entschloss, eine Cola zu bestellen.
      „Hey!“, beschwerte ich mich, aber er reagierte gar nicht.
      “Bodyshaming ist auch bei Ponys nicht okay”, beschwerte sich die Kleine und verteidigte weiterhin die dunkle Traberstute.
      „Mit eins sechsundfünfzig ist sie über Endmaß“, erklärte Lars zunehmend genervt von uns. Als wäre es so ein Drama, wie wir die Pferde bezeichnen. Nun rollte ich mit den Augen und erhob mich von der Bank.
      „Ich gehe mal an die frische Luft“, erklärte ich freundlich.
      „Warte, ich komme mit“, stand auch Basti auf und nahm die Schachtel vom Tisch in die Hand. Lina murmelte etwas, dem Klang nach in ihrer Muttersprache, was auf einen vermutlich nicht so freundlichen Inhalt schießen ließ. Mateo vereitelte allerdings ihre Anstalten mir zu folgen, indem er sie mit einem intensiven Blick bedachte und kaum merklich den Kopf schüttelte. Irritiert zuckte ich mit den Schultern und verschwand mit Basti im Schlepptau zur Tür hinaus. Dog wollte uns nach, aber Lina hielt ihn zurück. So standen wir also allein vor dem heruntergekommenen Gebäude, das von außen einen neuen Anstrich gebrauchen könnte. Obwohl der Alkohol in meinem Blut die Gedanken lockerte, brachte er meinen Mund nicht in Bewegung.
      „Jetzt muss ich nachfragen“, sagte er plötzlich und schloss den Reißverschluss bis zum Kinn, aufmerksam blickte zu ihm, ohne lange Augenkontakt zu halten, „Warum hat Nour mich gefragt, weshalb wir uns nicht unterhalten?“
      Irritiert runzelte ich die Stirn.
      „Das wüsste ich auch gerne“, antwortete ich stammelnd und zog an meiner Zigarette.
      „Also“, er seufzte und hielt für einen Moment inne, „sind die Gerüchte reine Fiktion?“
      Ich schluckte, als wäre ein großer Klumpen in meinem Hals, der mir die Luft abschnürte, aber der Alkohol sprach aus mir.
      „Was denn für Gerüchte?“, fragte ich weiterhin verwundert und unsicher darüber, was Nour herumerzählte. Jemand anderes würde wohl kaum Puzzle legen können, wie sie. Egal, worauf das Gespräch hinauslaufen würde, ich wäre abermals der Idiot. Den Titel konnte nur ich mit stolzer Brust tragen.
      „Es überrascht mich, dass du nichts weißt“, antwortete er, ohne direkt auf meine Frage einzugehen. Als ich Augen wieder öffnete, stand er einen Schritt näher vor mir. Ein leichter Geruch von Aftershave lag in der Luft, wenn nicht gerade die Zigarette diesen übertünchte. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um ihn abspeichern und über den Kamin aufstellen, wie ein wichtiges Artefakt.
      „Dann kann ich dir leider nicht helfen, sonst du musst sie selbst fragen“, stellte ich zur alternativen Wahl der Informationsbeschaffung.
      „Vriska - du heißt oder so, oder?“, fragte Basti unsicher nach, was ich mit einem Nicken bestätigte, „es stimmt schon, wenn ich so darüber nachdenke, bist du ziemlich oft, zufällig da.“
      Ertappt, strömte es direkt durch meinen Kopf und ich drehte mich weg, als würde ich jemanden suchen. Natürlich hatte ich gehofft, dass Lina noch nachkam und mir in der schweren Situation weiterhalf, aber sie konnte nicht jede Entscheidung treffen und hatte selbst genug zu regeln.
      „Vielleicht gehe ich besser rein“, lenkte ich dann ab, obwohl meine halbe Zigarette noch in der Hand hielt, oder besser gesagt, umklammerte.
      „Vielleicht besser nicht“, antwortete Basti direkt, „sonst können wir nichts Nours Wunsch erfüllen.“
      „Okay“, murmelte ich. Ein zartes Lächeln huschte über meine Lippen.
      „Aber ich bin neugierig. Warum stehen wir jetzt hier zusammen vor dem Restaurant und rauchen?“, konnte er von dem Thema nicht ablassen.
      „Woher soll ich das Wissen?“, wurde ich auf einmal zickig, schließlich konnte ich meiner Flucht nicht nachgehen.
      „Na, was denn jetzt los?“, tadelte er scherzhaft.
      „Es tut mir leid, es ist nur“, ich stockte. Meine Knie zitterten und in meinem Kopf explodierte es förmlich, egal welcher Gedanke in den Vordergrund trat, ich verwarf ihn. Alles, was ich wollte, war ihm meine Gefühle zu offenbaren, aber es wirkte so banal und schwachsinnig, dass er sicher Abstand neben würde.
      „Es ist nur, was?“, blieb er beharrlich. Seine Geduld schmeichelte mir wirklich. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Was sollte er von mir denken? Allerdings bemerkte ich, dass es der richtige Moment sein könnte, so ungestört und ohne echten Druck.
      „Es ist nur so, dass“, an derselben Stelle stoppte ich wieder, „ich finde dich gut“, verschluckte ich bestmöglich die Worte. Regungslos stand Basti vor mir und überlegte offenbar, wie sehr er mir das Leben zur Hölle machen könnte.
      „Dann lasse ich dich besser in Ruhe, bevor es Streit mit deiner Freundin gibt“, fügte ich kleinlaut hinzulief zur Tür.
      „Stopp, warte“, rief er mich zurück, „meine Freundin? Was sprichst du da bitte? Wir sind seit Wochen getrennt.“
      „Okay“, murmelte ich.
      „Und da kannst du mich nicht allein lassen, nachdem du so etwas gesagt hast. Ich muss das doch erst einmal verarbeiten und es kommt nicht alle Tage vor, dass man das hört“, erzählte er fröhlich weiter. Mich überraschte es, wie gefasst er den Umstand annahm. Nun, wenn ich mir eingestand, gab Schlimmeres im Leben.

      Sonntag, am Morgen
      Trabrennbahn Visby

      Aufgeregt huschte durch den Stall. Die wenigen Stunden Schlaf hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich wälzte mich auf einer Seite zur anderen, um auf gar keinen Fall, Lars zu nah zu sein, schaute andauernd auf den abgedunkelten Bildschirm meines Handys, in der Hoffnung eine Nachricht von Basti erhalten zu haben. Nach dem, man könnte sagen, befreienden Gespräch, hatte ich ihm meine Nummer gegeben und er hatte versprochen, mir zu schreiben. Bisher kam keine Nachricht, aber in dem Moment, wo ich am wenigsten daran dachte, vibrierte es in meiner Tasche. Ich stand auf dem Tritt neben Walker, der angebunden in der Box stand und währenddessen sein Frühstück inhalierte. Mit den Fingern fummelte ich zeitgleich einen Zopf für den Start. Als ich die Hände wieder freihatte, sprang ich umgehend von Tritt und holte mein Handy hervor.
      „Godmorgon, warte auf dich vor dem Stall“, las ich und vermutlich stürmte ich nie schneller aus einer Box, wie in dem Moment. Tatsächlich stand er da, in einer Jeans und seiner Rennjacke in blau-weißer Stallfarbe am Oberkörper. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als ich wie vom Teufel gejagt vor ihm stand, wirr ums Haar und leicht außer Atem. Noch bevor ein Wort fiel, bot Basti mir ebenfalls eine Zigarette an und wir liefen einige Meter zur Seite. Ein Fahrer in grün-weiß, mit niedlichen Rauten auf der Rückseite fuhr an uns vorbei und murmelte unverständlich, aber der Stimmlage nach, hatte er schlechte Laune.
      „Und, schon aufgeregt?“, ergriff Basti das Wort, nach Minutenlangen schweigen. Ich blickte ihn durchgehend an, ohne mein breites Grinsen verbergen zu können.
      „Es geht. Toots ist gut vorbereitet und hat mir gestern in der Qualifikation gezeigt, dass sie schneller will und auch kann“, erzählte ich zuversichtlich.
      „Toots? Heißt die Stute so?“, fragte er verwundert.
      Ich lachte.
      „Nein, Northumbria, aber sie hat viele Spitznamen und das ist mein liebster“, informierte ich.
      „Verstehe“, nickte er. „Also werde ich bei deinem Sieg dabei sein?“
      “Sehr gewagt, mich unter solchen Druck zu stellen”, grinste ich und zog ein weiters Mal an der Zigarette. “Und was ist mit deinem Hengst? Wird er es heute zum Ende schaffen?”, wechselte ich gekonnt, das Thema.
      “Na, jetzt werden wir nicht direkt frech“, scherzte er.
      „Aber er galoppiert wunderbar“, gestand ich.
      „Damit kann ich nur leider nichts anfangen, aber ja. Ich denke, dass er heute geschmeidiger läuft“, sagte Basti noch, bevor jemand von Seite dazu kam.
      “Guten Morgen”, grüßte Lina freundlich, obwohl sie noch ein wenig verschlafen wirkte. Die Leine, die sich umgehängt hatte, zeugte davon, dass es wohl Dog war, der sie aus dem Bett holte, den ich zurückließ, weil er noch friedlich schlief, als ich in den Stall ging.
      “Dann lasse ich euch Schnuckis allein”, verabschiedete sich Basti mit einem Grinsen und noch bevor ich Einspruch erheben konnte, bog er in Stall vier ein. Sehnsüchtig hing mein Blick an ihm, bis ich mich an Lina wandte.
      “Du hattest offenbar auch nur wenig Schlaf”, ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, schließlich führte mein Weg durch den Transporter unweigerlich an ihrer Schlafkabine entlang. Den Vorhang hatten sie nicht geschlossen, also sah ich beide friedlich ruhend. “Mateo scheint ziemlich bequem zu sein.”
      “Ja, indirekt. Es ist mehr, dass er sehr Raum vereinnahmend ist und so viel Platz ist dort ja ohnehin nicht”, erklärte sie und begann sich ausgiebig zu strecken.
      “Ich lasse das so stehen, weil ich heute gute Laune habe”, zwinkerte ich ihr zu, “Frühstück?”
      “Ja, klingt nach einer guten Idee”, nickte sie.
      Im Stall räumte ich noch die stehengelassenen Gegenstände zur Seite und fütterte Humbria, die ich in der Aufregung beinah vergessen hatte. Eingeschnappt schnaubte sie in den Trog voller Hafer, als ich die Schüssel ausschüttete. Zur Entschuldigung legte ich noch einen Apfel dazu, denn ich mir frecher Weise von jemand anderes aus dem Netz stibitzt hatte. Einen prüfenden Blick schweifte ich den Stall, bevor wir zurückliefen.

      Vorbereitet stand eine kleine Auswahl am Frühstück im Transporter bereit, die Lars mit seiner Schwester gezaubert hatte. Es war kein Festmahl, aber um nicht vom Sulky zu fallen, alle Male ausreichend. So aßen wir in Ruhe, unterhielten uns über die kommenden Rennen und Mateo überlegte, wie man Lina beschäftigen könnte. So kam auch das Thema der Wildpferde wieder auf.
      „Also, ich hätte ab vierzehn Uhr Zeit und die letzte Fähre am Abend, bekommen wir ohnehin nicht, wenn Lars um achtzehn Uhr dreißig noch das Rennen hat mit Plano“, erklärte ich, als ich die leere Schüssel zur Seite geschoben hatte.
      „Was hältst du denn davon, wenn wir uns dann mit Vriska die Ponys anschauen gehen, Lina? Würde dir das mehr Freude bereiten als hier zu sein?“, wandte sich der Schweizer an die Kleine, die mittlerweile ein klein wenig aufgeweckter wirkte.
      „Finde ich gut, den Vorschlag“, lächelte sie. Die Aussicht darauf, nicht den ganzen Tag hier auf der Rennbahn zu verbringen, weckte augenscheinlich die Energien in ihr.
      “Dann werde ich schon mal ein Mietwagen reservieren”, nickte ich und holte mein Handy aus der Hosentasche. Keine Nachricht von Basti, aber anderes hatte ich es auch nicht erwartet. Die Finger schwebten über den Bildschirm, bis ich einen kleinen BMW auswählte für den frühen Nachmittag. “So, alles bereit.”
      „Perfekt“, strahlte Lina sogleich. In derselben Sekunde vibrierte ihr Handy auf dem Tisch vernehmbar. Natürlich sah sie auch direkt nach, was es denn von ihr wollte.
      „Naww, Rambi akzeptiert Ivy endlich“, verkündete sie sogleich verzückt und präsentiert ein Foto welches Samu ihr gerade geschickt zu haben schien. Besonders spektakulär war das Bild nicht, es zeigte lediglich das kräftige dunkle Pferd, welches genüsslich an sein Heu knabberte. Ivy daneben Strecke nur vorsichtig und mit langem Hals die Nase in die schmackhaften Halme, als erwarte er jeden Moment verscheucht zu werden. Zugegeben, sein Blick dabei, sah ziemlich niedlich aus.
      „Das ist doch schön“, stimmte ich ihr zu.
      Mit Nour zusammen räumte ich den Tisch ab und spülte sogar das Geschirr ab. Lars nutzte den kurzen Augenblick der Ruhe von seiner Schwester, um den Transporter zu verlassen. Wo er genau hin verschwand, wollte er nicht erzählen, aber Mateo folgte ihm. Männersachen offensichtlich. Angeregt tippte Lina noch einen Moment auf ihrem Handy herum, bevor sie aufblickte, ein neugieriges Funkeln in den Augen.
      „Vriska, sag mal, war deine Begegnung mit Basti vorhin eigentlich Zufall?“, fragte sie hoch interessiert.
      „Wenn wir jetzt endlich zu dem Thema kommen, kannst du auch noch direkt von gestern erzählen! Du hast so gestrahlt und er wirkte auch zufriedener als sonst“, warf Nour umgehend ein. Allerdings schwebte in meinem Kopf, was er mir berichtete.
      „Ich erzähle gar nichts, schließlich konntest du auch nichts für dich behalten“, antwortete eingeschnappt an sie gerichtet.
      „Was soll das denn heißen? Ich habe nur mit ihm gesprochen über dich, sonst wusste es keiner“, empörte sie sich.
      „Es wird wohl kaum Lars gewesen sein“, gab ich zu bedenken und schüttelte ungläubig den Kopf, dabei stellte ich die Teller abgetrocknet zurück ins Regal.
      „Ohhhh doch! Der kann eine ziemliche Tratschtante sein“, fiel sie ihrem Bruder in den Rücken. Dennoch änderte es nichts an meiner Meinung, dass bald der ganze Platz davon wissen würde, wenn es noch nicht Runde machte.
      „Kann mich einer aufklären, was hier überhaupt das Problem ist?“, fragte Lina und blickte irritiert zwischen uns beide her.
      „Es wird bereits herumerzählt, dass ich auffällig oft in seiner Nähe bin und ich glaube kaum, dass jemand so involviert ist, um mich zu kennen!“, kam ich Wort für Wort mehr in Range. Nachdenklich sah Nour in die Luft.
      „Zugegeben, das klingt ziemlich nach mir“, gab sie zu und atmete kräftig durch, „aber wie zuvor erwähnt Lars erzählt auch gerne, um zu prahlen und er ist schon länger in Kenntnis davon als ich.“
      Tatsächlich erkannt ich, dass sie recht hatte. Als er zu Marlene verschwand, gab er bereits Tipps, obwohl Lars unmöglich etwas wissen konnte. Außer … mir fiel es wie Schuppen von den Augen. An einem Abend hatte ich meinen Laptop nicht ausgemacht und schlief auf der Couch ein. Vielleicht hatte er sich für einen Augenblick meine offenen Tabs angeschaut?
      „Oh, ja, das klingt tatsächlich nach einem Problem“, stellte die kleine Brünette wenig hilfreich fest.
      „Aber wenn ich es offenbar nicht war, kannst du es doch erzählen?“, sprach Nour jedes Wort behutsam, als wäre ich chinesische Vase mit Rissen, die jeden Moment vom Schrank fallen würde.
      „Also gut“, ich seufzte und hängte das nasse Geschirrtuch um einen Griff der Küchenwand. Dann setzte ich mich an den Tisch. „Gestern haben wir uns minimal Unterhalten, weil du“, dabei sah ich bedrohlich zu Nour, die nur grinste, „ihm gesagt hast, dass er sich mit mir unterhalten solle.“
      „Das stimmt so gar nicht! Ich habe ihm nur einen Anstoß gegeben, damit du Anschluss findest in der Szene“, warf sie ein.
      „Auf jeden Fall, vielleicht ist mir im Rausch der Gefühle herausgerutscht, dass er mir gefällt“, ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Das auszusprechen im Nachhinein, fühlte sich unglaublich demütigend an.
      Linas Augen wurden groß: „Wow, das ist aber ein schneller Übergang von Vergessen der Sprachkompetenz, gleich hin zu ersten Geständnissen. Was hat er dazu gesagt?“
      „Zumindest hat es ihn nicht verschreckt“, lachte ich, „und ich schätze, dass es ihm schmeichelte, denn er wollte nicht, dass ich gehe. Ach, und meine Nummer wollte er auch.“
      „Oh, so kennt man ihn gar nicht. Sonst muss man ihm alles erklären, von selbst kommt er auch keine Idee. Aber das scheint für dich zu sprechen“, lachte Nour.
      „Oh wie schön, ich freue mich für dich“, grinste die Kleine und ich glaube beinahe die Herzchen in ihrem Augen sehen zu können.
      „Jetzt macht die jungen Pferde nicht scheu. Es bleibt abzuwarten, ob es was wird, schließlich gibt es noch Hindernisse zu überwinden. Auf Rennen mag es schön sein Mal zu reden, aber wer weiß“, bremste ich die beiden Mädels umgehend, vermutlich auch mich selbst. Gestern Abend hatte ich provisorisch nachgeschaut, die Heiraten hier im Norden funktioniert und festgestellt, dass Schweden im Vergleich zu anderen europäischen Ländern seine Vorzüge hat. Selbst ein wunderschönes schwarzes Kleid fiel mir ins Auge. Unentschlossen seufzte ich, als mein Handy vibrierte. Sofort sah ich nach, unter den drängenden Blicken der anderen. Allerdings war es Erik, der gerade Maxou zurückgestellt hatte und sich freuen würde, wenn ich nächstes Mal auch da wäre. Ohne zu antworten, steckte ich es zurück.
      „Ich glaube diese Hindernisse nimmst du mit Leichtigkeit“, ließ Lina sich ihre Freude nicht nehmen, „Du hast mit Happy, ja bereits gezeigt, wie gut du das kannst.“
      „Wow, dass“, stammelte ich, „schlechter Wortwitz.“
      Gemeinsam lachten wir.

      Stunden später stand ich im Stall und begrüßte Humbria, die mich mit gespitzten Ohren genau beobachtete. Obwohl ihr Fell glänzte unter Decke, putzte ich in Ruhe. Wir hatten noch mehr als eine Stunde, bevor die Parade begann und ich wollte nur ein leichtes Warm-Up fahren. Lars, der nachgekommen war, machte Vision fertig, der in Rennen vor mir lief. Aber seine Aufmerksamkeit hing an drei Männern, die vor Walker Box standen und über diesen sprachen. Hallend trugen sich die Worte zu uns, aber durch den Dialekt konnte ich kaum eins verstehen. Meinen Kollegen ließ die Sache nicht los, stattdessen blickte er unentwegt hinüber, bis er sich entschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
      > Kan jag hjälpa dig?
      „Kann ich ihnen behilflich sein?“, fragte er höflich und begann zu grinsen, als sich einer von ihnen, zu ihm drehte. Offensichtlich kannte er die Männer und wechselte sofort die Stimmfarbe in der Unterhaltung.
      „Kennst du sie?“, flüsterte ich Humbria zu, die im Stroh nach Ähren suchte.
      Nun wurde ich neugierig und putzte in Zeitlupe weiter das Fell, allerdings dieselbe Stelle, immer und immer wieder.
      „Vriska, komm bitte her“, rief Lars schließlich. Die Bürste legte ich zurück in die Kiste und schloss hinter mir die Box. Einer der Herren kam mir mit seinen Gesichtszügen bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht so recht einordnen. Als sich dann der ältere neben ihm, ebenfalls zu mir drehte, erkannt ich eine weitere Ähnlichkeit, vermutlich sein Vater.
      „Weißt du, was Walker dreijährig beim Breeder’s Crown gelaufen ist?“, erkundigte sich mein Kollege.
      „1:08,2“, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.
      „Nicht schlecht“, nickte der älteste der drei.
      „Würdet ihr ihn verkaufen?“, fragte der jüngere, den Lars erkannt hatte. Der Dritte im Bunde stand nur schweigend da und beobachtete, wie der Perlino sich in der Box drehte und zwischendurch einen schrillen Schrei durch den Stall sendete. Ohne Lina oder Nour war der Hengst nur schwer zu bändigen, zeigte sich in größter Ungeduld.
      „Das liegt außerhalb meiner Verfügung, aber Tyrell hat bisher nicht darüber gesprochen, dass wir ihn abgeben. Aber er deckt an der Hand“, erklärte ich möglichst höflich und sah mich um, ob Nour in Hörweite war, aber nein. Zum Glück entging sie diesem Unheil.
      „Nun gut, danke“, sagte der Jüngere. Mir kam es noch immer seltsam vor, dass sich keiner vorgestellt hatte.
      > Är det Bastis lilla flicka?
      „Ist das die Kleine von Basti?“, flüsterte der bisher schweigende dem jüngeren zu. Glücklicherweise hatte ich mich bereits umgedreht und lief zu Humbria, somit konnte sie mein vor Scham gerötetes Gesicht nicht sehen.
      > Jag tror inte det. Hon är fortfarande ett barn.
      „Ich denke nicht. Sie ist doch noch ein Kind“, antwortete der Ältere. Lars enthielt sich, zumindest mit Worten, dem Gespräch. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass er ihnen gesagt hätte, dass ich schon über zwanzig war, dementsprechend kein Kind mehr.
      Mich beschäftigte die Situation eine Weile, auch als ich schon im Sitz saß und die erste Runde im Schritt auf dem Geläuf drehte. Am Himmel kämpfte sich die Sonne durch die Wolken, zauberte einige Strahlen auf den feuchten Boden. In den Hufabdrücken schimmerten kleine Wasseransammlungen, während unter den Eisen es plätscherte. Ich fuhr dicht am Rand und Lars trabte bereits mit dem braunen Hengst, der flink durch den Matsch hetzte. Durch das Paar vor ihm, war seine Brust vollkommen verschmutzt. Auch von meinem Rennen huschten einige Pferde an mir vorbei und die Zweifel kamen wieder, wieso ich das überhaupt tat. Doch die Sonne brachte mir eine Erleuchtung. In der zweiten Kurve stand Basti und grinste, als ich ihn bemerkte. Neben ihm standen die Leute aus dem Stall und ich sah schnell zurück auf den Pferdepo. Mit einem einfachen Schnalzen trabte ich Humbria an, um so schnell wie möglich aus der Kurve zu sein. Den Blicken zu folgen, begriffen sie gerade, dass das „Kind“ jene Vermutung war. Allein die Vorstellung, im Vorfeld derartig verurteilt worden zu sein, bestärkte mich, dass ich mir zu viel auf die Schultern gelegt hatte. Seufzend trieb ich Humbria etwas schneller, damit mehr Takt in den Trab kam. Bisher war der Zweitakt noch durch kurze Töltphasen verschoben und nun setzte sie entspannt voran. Auch in der zweiten Runde standen sie noch an Ort und Stelle, was nur bedeuten konnte, dass ich mir Mühe geben musste.
      Für das Kaltblutrennen räumten wir das Geläuf und ich reihte mich hinter den anderen ein, die im Schritt auf dem Weg fuhren, der neben der Bahn entlanglief. Dicht wendete ich bei Basti, versuchte aber den Blick an meinem Pferd zu halten, um keinen Stoff für weitere Gerüchte zu produzieren. Allerdings machte er mir einen Strich durch Rechnung und kam angelaufen. Ruhig pfiff ich, wodurch Humbria anhielt. Gelassen schnaubte sie ab und rieb sich den Kopf am Bein. Die Brille schob ich auf den Helm, um ihn besser sehen zu können.
      „Bei deiner plötzlichen Flucht, konnte ich dir gar keinen Erfolg wünschen“, sagte Basti und klopfte der Stute auf den Po.
      „Du bist doch einfach verschwunden“, grinste ich siegessicher.
      „Es wirkte wichtig, da wollte ich kein Störfaktor sein“, wandte er ein, nun begann sich Humbria an ihm zu reiben, den hellen Teil der Jacke mit dunklen Flecken zu versehen. Sie hörte erst auf, nachdem Basti sie mehrfach weggedrückt hatte.
      „Du bist kein Störfaktor“, murmelte ich mehr, als dass es voller Elan aus meinem Mund kam, zu groß die Sorge, dass es jemand mitbekam.
      „Dein Riese sieht das ganz anderes“, scherzte er, „aber sie sieht wirklich toll aus und ihre bisherige Form spricht auch für sich.“
      „Danke dir“, schmunzelte ich.
      „Also streng‘ dich an. Ihr könnt das schaffen“, versuchte er mich zu ermutigen.
      „Ich möchte nichts riskieren. Es ist ihr erstes Rennen nach monatelangen Reitpferdetraining. Wir wollen Spaß haben, bis mein Hengst fertig ist“, erklärte ich.
      „Dein Hengst?“, wiederholte er und stellte sich zu mir.
      „Ja, deswegen war ich Malmö. Wenn er so weiter macht, könnte ich in einem Monat die Qualifikation reiten“, berichtete ich ihm.
      „Reiten? Ich verstehe nicht, was du meinst“, gestand Basti und kratzte sich am Kinn.
      „Gut, das hätte ich weiter auslegen sollen. Happy ist ein S-Dressurpferd und möchte mit ihm zur schwedischen Meisterschaft.“
      „Dressur“, ungläubig nickte er, „also bist du eins von den Prinzesschen, die sich auf ihrem Erfolg ausruhen und nur im Sattel sitzen. Verstehe.“
      Es tat in der Seele weh, als er das zu mir sagte, mit solcher Überzeugung, dass es unmöglich schien, ihn ein weiteres Mal zu sehen. Wortlos setzte ich Humbria in Bewegung und drehte sich weg. Ein letztes Mal drehte ich mich nach ihm, aber er setzte ununterbrochen seinen Weg fort. Das hatte ich gehörig vergeigt.

      Lars schaffte es mit Vision auf den zweiten Platz, während ich volles Risiko mit Humbria fuhr, in der Hoffnung, es bei Basti wieder gutzumachen oder eher, ihn zufrieden zu stimmen. Leider sprang mir die Stute dabei heraus, drei Sprünge Galopp und dann folgte wunderbarer Pass, den ich allerdings nicht gebrauchen konnte. Niedergeschlagen lobte ich sie dennoch, schließlich hatte sie bis zum Schluss ihr Bestes gegeben. Am Tor wartete niemand auf mich, weder Lars noch Nour. Selbst Lina und Mateo schienen wie in Luft aufgelöst zu sein. Dementsprechend stieg ich ohne Hilfe ab und führte Humbria an den anderen Teilnehmern vorbei. Sie schnaubte entspannt ab, aber Bammel hatte ich trotzdem. Zurück im Stall nahm ich ihr jegliches Gurtzeug ab, gab ihr Futter und ordnete alles an seinen Platz.
      „Nächstes Mal wird besser“, flüsterte ich in ihr Ohr und blieb zuversichtlich. Eine Hilfe ging zu weit, die folgende zu spät, deshalb lag der Fehler bei mir. Ich hätte gern noch Lars‘ Meinung gehört, aber am Abend würde sicher noch eine Feedbackrunde folgen.
      “Oh, du bist ja bereits fertig”, tauchte Lina plötzlich an der Box auf, “Und, wie war Pilzi?”
      „Also warst du auch nicht da“, seufzte ich nach dem ersten Schreck, dass die Brünette durch den Spalt mich im Stroh entdeckte.
      “Ja, tut mir voll leid”, entschuldigte sie sich, “ Ich wollte schauen kommen, aber du kennst meinen Orientierungssinn. Auf dem Weg zur Toilette habe ich mich verlaufen.”
      „Schon gut, meine Disqualifizierung direkt im Ziel hat damit keiner ertragen müssen“, murmelte ich weiterhin abwesend, mit den Augen an der Stute hängend.
      “Du wirkst aber nicht als sei alles gut. Ist sonst etwas vorgefallen?”, hakte sie sanft nach.
      „Niemanden hat interessiert, was ich getan habe. Niemand, keiner“, japste ich, spürte, wie erste Tränen an meiner Wange herunterliefen. Sofort trat sie zu mir in die Box und schlang die zarten Arme um mich herum.
      “Vriska, mich interessiert es, was du tust, ansonsten wäre ich nicht hier”, sprach sie einfühlsam.
      „Du bist hier, weil Mateo das wollte“, blieb ich kleinlaut am Boden sitzen, „ach und Basti hasst mich“, murmelte ich direkt.
      “Naja, Mateo hat es zwar induziert, aber sein Hauptargument war eigentlich, dass du wohl ein wenig moralische Unterstützung gebrauchen könntest”, erklärte sie, “Aber warum, glaubst du, dass Basti dich hasst?”
      Undefiniert brummte ich und richtete mich schließlich auf. Die einzelnen Strohhalme sammelte ich von der Hose ab, bevor ich auf die Frage antwortete: „Er hat gesagt, dass ich unfähig bin.“
      „Ich denke nicht, dass er das sagte“, bedachte sie nachdenklich.
      „Indirekt schon. Ich erzählte von Happy und dass ich nur vorübergehend fahre, bis er für die Meisterschaft so weit ist und er meinte, dass ich mich wie alle Dressurreiter wohl nur auf meinem Erfolg ausruhe, nichts dafür tue“, seufzte ich. Mit Lubi mag das der Fall sein, dennoch konnte ich die hübsche braune Stute nie auf einem Turnier zeigen. Ungefähr zu der Zeit wäre unsere erste Prüfung gewesen, was mich mittlerweile mehr traf, als ich mir eingestand.
      “Nimm das doch nicht einfach so hin, sondern zeige ihm, dass es auch etwas anderes gibt als Prinzesschen auf teuren Pferden”, redete sie mir gut zu, “Außerdem, dass du mit dem Pilzi hier bist, zeigt doch bereits, dass du wohl nicht ganz so klassisch unterwegs bist.”
      „Stimmt schon“, stand ich mir frustriert ein. „Aber wir müssen los, die Ponys warten nicht ewig.“

      Obwohl die Sonne sich zunehmend dem Horizont näherte und ich mich über mein Verhalten ärgerte, fuhren wir den Weg aus der Stadt heraus, in ein Gebiet, in dem sich die Ponys am häufigsten aufhielten. Im Winter wurden sie zugefüttert, so war es nicht untypisch, dass weiterhin im März nach Futter an besagten Orten gesucht wurde. Zumindest erzählte uns das die Dame im Pferdemuseum, das wir zuvor inspizierten. Ich versuchte mich begeistert von allem zu zeigen, aber Lina spürte, dass ich nicht bei der Sache war und lächelte mich warm an.
      „Das wird schon“, sagte sie, bevor Mateo wieder das Wort ergriff. Er fühlte sich sicher, dass wir die verwilderten Pferde finden würden und hielt schon seit Minuten Ausschau.
      „Ich glaube, da war eins“, rief er dann und ich trat umgehend die Bremse. Am Wegesrand stellte ich den kleinen Wagen ab. Gemeinsam stiegen wir aus und die beiden liefen vor, um sich durch das Dickicht zu kämpfen. An den mannshohen Büschen hingen kleine Fellfetzen, der Boden aufgewühlt von kleinen Hufabdrücken und einige Bäume wiesen ebenfalls auf Treiben der Wildpferde hin. In kleinen Schritten setzten wir durch die Natur, um keine Spuren zu hinterlassen. Handzahm seien sie nicht, erinnerte ich mich aus dem Artikel, aber mich durch trieb das ungewisse Gefühl, dennoch eins anfassen zu wollen. Meter um Meter setzen wir tiefer in den Wald und ich zweifelte, ob sie wirklich da waren. Doch gerade, als ich anmerken wollte, dass wir uns verlaufen würden, hielt Mateo an, den Finger auf die Lippen gelegt. Auf einer Lichtung, nur wenige Schritte entfernt graste eine Herde junger Tiere, die Mähne lang und zerzaust, ihre Hufe in einem schrecklichen Zustand und andere rollten mehr, als dass sie liefen.
      “Die sind ja niedlich”, hauchte Lina, die ganz eingenommen von dem Anblick war. Vorsichtig, um keine Geräusche zu verursachen, bekam sie auch sogleich ihr Handy hervor, um den Moment in Form von Pixeln festzuhalten.
      „Vielleicht sollten wir die Isländer von der Weide lassen“, schlug ich leise lachend vor. In zwei Jahren würden vermutlich die Tiere ebenso unförmig und verwildert aussehen.
      “Ich fürchte, das Naturschutzamt wäre davon nur wenig begeistert”, schmunzelte der Schweizer und auch Lina erklang ein unterdrücktes Lachen.
      „Aber unser Gestüt ist Privatgelände und mindestens genauso groß“, stellte ich trocken fest, „und vermutlich bekommen wir im Juni noch den Küstenabschnitt, samt Wald westlich vom Hof.“
      “Dann will ich sehen, wie du den Ponys erklärst, wo das Gelände aufhörst”, grinste die Kleine.
      „Zaun?“, fiel ich wie aus allen Wolken, ich dachte, dass es offensichtlich sei, wie Geländegrenzen gesetzt werden.
      Von der Seite kam eine Stute in kleinen Schritten, nebenher trottete ein zartes Fohlen, der Größe zu Folge kaum älter als eine Woche. Die dünnen Beine mit großen Gelenken stampften unsicher den weichen Waldboden. Es lief neugierig zu Lina und stupste sie an der Hand an. Kaum zog ich mein Handy heraus, um es für sie festzuhalten, sprang es panisch zur Seite und trabte zur Mutter zurück, die auf sicheren Abstand angehalten war. Die kleine Brünette sah aus, als würde sie gleich vor Niedlichkeit zergehen.
      “Wie kann man nur so putzig sein”, wisperte sie verzückt, “Können wir eins mitnehmen?” Ihre Augen leuchten immer mehr, je länger sie die plüschigen Tiere beobachtete. Skeptisch bewegte sich mein Blick zwischen ihr und Mateo, der sich nicht dazu äußerte, sondern geduldig die Pferde beobachtete.
      „Tendenziell hast du schon genug und wie war das mit, ‚keine Pferde sammeln‘? Langsam wird es zur Sucht“, versuchte ich ihr ins Gewissen zu reden.
      “Aber ich habe doch nur … zwei”, versuchte sie sich die Sache schönzureden. Dennoch überlegte ich, welchen Teil ich schon wieder verdrängt hatte. Kritisch blickte ich sie an: “Nur zwei? Und was war dann das Gejammer am Mittwoch?”
      “Lina, wovon spricht sie?”, fragte der Schweizer verwundert. So langsam schien auch Mateo zu begreifen, dass sie es tatsächlich ernst meinte.
      “Sie spricht von Rambi”, murmelte Lina kleinlaut, “aber wenn mir nicht bald was einfällt, wird das ohnehin nichts.”
      “Musst du wohl einen reichen Kerl heiraten”, scherzte ich und drehte mich weg, um auch zu versuchen, an eins der Plüschkugeln heranzukommen. Allerdings setzten sie sofort weg, wenn ich nur einen Zentimeter zu nah kam.
      “Wirklich lustig”, rollte sie mit den Augen, „Niklas würde das sicher machen, aber ich kann mir doch nicht ständig Pferde kaufen lassen.” Verständnisvoll nickte der Schweizer.
      „Hast du bereits an eine Teilhaberschaft gedacht? Ich könnte mir vorstellen, dass meine Schwester durchaus Interesse an dem Hengst haben könnte“, schlug er schließlich vor. Obwohl ich besten Willen versuchte, mich aus ihrem Gespräch herauszuhalten, hingen meine Ohren an ihren Mündern. „Teilhaberschaft, wie funktioniert das?“, fragte sie stirnrunzelnd, als sei ihr der Begriff nicht geläufig.
      „Man kann auch Besitzergemeinschaft sagen“, warf ich unbekümmert ein, „das ist im hohen Sport nicht unüblich. Besonders wenn es um viel Geld geht.“
      Augenblicklich spürte ich, dass ich mich abermals im Ton vergriffen hatte, aber seit dem Debakel mit Basti, konnte ich meine Stimmung nicht mehr verbergen. Mir tat es für die anderen leid, nur zu ändern war nichts daran. Es schien, als würde ich mich ihr überlegen fühlen, dabei hatte ich es auch nur von Lars aufgegriffen, der mit Tyrell regelmäßig über Hengste und Anteilverkäufe philosophierte.
      „Mhm, du glaubst also nicht, dass ich mich damit lächerlich mache? Immerhin ist Rambi so wertvoll nun auch wieder nicht.“ Unsicher blickte sie Mateo an, bevor ihr Blick sich wieder auf die Tiere richtete. Besonders als sie eines der kleinen braunen Pferdekinder betrachtete, welches an der Seite seiner Mutter den ersten Grashalm probierte, wurde ihr Blick verträumt.
      “Quatsch, frage Sam einfach”, sprach Mateo ermunternd, “Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie dem abgeneigt sein wird.” Lina nickte nur beiläufig, bekam die Augen nicht von dem kleinen Fellknäuel los.
      „Wenn du dir so viel Gedanken um seinen Preis machst, scheint er aber wertvoll genug zu sein, um über Teilung nachzudenken“, mischte ich mich ein, „und vielleicht stellt sie ihn auch Turnieren vor, dann zeigt sich, was er kann.“
      “Also denkst du auch, ich sollte Sam fragen”, schlussfolgerte die kleine Brünette aus meinen Worten.
      “Nun”, ich seufzte und zog mein Handy hervor, darauf tippte ich herum, bis ich schließlich mein Konto vor mir hatte, “ich kann dir sonst 4.503.797,34 schwedische Kronen bieten. Reicht das ungefähr für ihn?” Schließlich kramte ich noch in der Hosentasche: “Ach und hier sind noch zweihundert.”
      “Du bist viel zu lieb”, schmunzelte Lina, “aber ich denke, ich muss mir das erst einmal durch den Kopf gehen lassen und mich informieren, bevor ich das endgültig entscheide.”
      “Wie du willst, mir ist es egal”, zuckte ich abwesend mit den Schultern. Für einen Moment fühlte ich zu desinteressiert, dafür, dass es so viel Geld war, doch dann erinnerte ich mich wieder, wofür ich es bekomme, und schenkte ihm keinerlei weitere Beachtung. Stattdessen freute ich mich darüber, dass mein selbst erarbeitetes Geld langsam wuchs. Nichts war zuhörend, außer den Geräuschen, die die Pferde verursachten. Mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen, beobachtete die Kleine diese, wohingegen ich wahrnahm, dass Mateos helle Augen zu ihr abschweiften.
      “Woran denkst du gerade?”, durchbrach seine warme Stimme die Stille.
      “Nichts Besonderes, ich dachte nur gerade … siehst du das Pony dort zwischen den Büschen”, sie deute etwas abseits der Herde. Zwischen den Blättern stand ein vergleichsweise langbeiniges Pony in einen hübschen Braunton und einigen ausgeblichenen Strähnen in der dunklen Mähne.
      “Es erinnert mich nur ein wenig an ein Pferd von früher”, lächelte sie sanft und dennoch schwang ein Hauch von Nostalgie mit. Allerdings meldete sich mein Handy und ich konnte es gar nicht schnell genug aus der Tasche ziehen. Kurz trat ich einige Meter von den Beiden weg, vielleicht war die Zweisamkeit das Richtige für sie.
      „Ich habe dich bei meinem Sieg vermisst“, schrieb Basti, als wäre nichts vorgefallen.
      „Ach ja? Ich hätte mir auch mehr Unterstützung gewünscht“, antwortete ich verärgert.
      „Dann haben wir wohl beide nicht bekommen, was wir wollten.“
      „Offenbar.“ Meine Finger huschten nur so über den Bildschirm, während der Körper vor Wut kochte. Wo nahm er all die Überzeugung von sich selbst her und hatte nicht einmal eine Sekunde dafür übrig, sich bei mir zu entschuldigen, obwohl es in meinen Augen ratsam wäre. Sein Status wechselte von online direkt auf offline und damit hatte sich das Gespräch. Zumindest dachte ich das, denn gerade, als es wieder in der Jackentasche steckte, meldete es sich zurück.
      „Du hast es vergeigt, kommt vor. Nächstes Mal wird besser“, schien er mich ermutigen zu wollen, dennoch trafen mich seine Worte. Eine Stimme im Kopf sollte mich zur Vernunft bringen, dass er es gut meinte, doch sie hallten so leise, dass ich sie ignorierte.
      „Sehr freundlich“, tippte ich. Im Moment der Rage wurde die zarte Stimme dennoch lauter, sprach zu mir, dass er gut meinte. Zudem war ich es, die ihn begehrte und kennenlernen wollte, nicht er. Für ihn stellte ich nichts Besonderes dar, obwohl Basti mittlerweile die Welt für mich bedeutete. Wo dieses Gefühl herrührte, erklärte sich mir nicht, aber konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, sobald er im Vordergrund stand.
      „Wo bist du? Ich möchte noch persönlich auf Wiedersehen sagen“, leuchtete es auf dem Bildschirm. Dass er meine Provokation nicht als solche auffasste, erleichterte mich tatsächlich.
      „Irgendwo im Wald hinter Visby. Wir schauen uns Wildpferde an“, erklärte ich.
      „Schade. Dann wohl bis zum nächsten Renntag, wir fahren in zehn Minuten los. Liebe Grüße“, kam es als letzte Nachricht und wie eingefroren starrte ich auf mein Handy. Wieso wollte er damit das Gespräch beenden? Nichts wäre falsch daran, weiterzuschreiben, nur für ihn schien die Sache klar. Seufzend steckte ich es endgültig zurück in die Tasche, denn es vibrierte kein weiteres Mal. Die paar Meter trat ich zurück. Augenscheinlich führte Lina die Vergangenheit noch genauer aus, denn Mateo hielt ihr Handy in der Hand.
      “Sieht aus, als hätte ihr eine wirklich schöne Zeit gehabt”, lächelte er charmant und reichte ihr das Gerät zurück.
      “Ja, das war so. Nur leider viel zu kurz”, seufzte sie und ließ das Gerät in der Tasche verschwinden, als sie mich bemerkte. “Und? Wirst du schon vermisst?”, fragte sie neugierig, wer es wohl war, der mich von ihnen weglockte.
      „Mhm“, brummte ich unbestimmt und nickte dabei ebenso undeutlich. Als Vermissen würde ich es nicht bezeichnen, sonst hätte das Gespräch nicht als beendet entschieden.
      “Offenbar nicht, wie du dir erhofftest”, schlussfolgerte sie, ohne weiter Fragen zu stellen.
      „Immerhin scheint er der Meinung zu sein, dass wir uns nächstes Wochenende sehen“, zitterte meine Stimme und ein ungewolltes Lächeln zuckte über die Lippen. Ich versuchte es durch willkürliche Bewegung der Wangen zu unterdrücken, schließlich war ich sauer und nicht freudig gestimmt, dass er mich sehen wollte! Aber es gelang mir nicht, stattdessen fühlte das Grinsen immer größer und strahlender an.
      “Das ist doch gut, das heißt, er ist gewillt dich weiter kennenzulernen”, lächelte sie sanft.
      „Wer weiß, vielleicht hat er auch ganz andere Pläne, die einzig auf persönliche Erfolge abzielen“, blieb ich skeptisch und erinnerte mich an die Worte der Männer im Stall, die sich im Nachhinein als seine Familie herausstellten. Mich ihnen letztlich noch richtig vorzustellen, war ihm sicher peinlich, aber ich konnte es auch niemanden verübeln. Ich hatte nichts und das Rennen vergeigte ich auch. Bei meinem Glück würde Humbria nun immer rausspringen.
      “Male dir doch nicht gleich das Schlimmste aus, nur weil er nicht so offensiv vorgeht”, versuchte Lina mich etwas positiver zu stimmen. Natürlich wusste ich tief im Herzen, dass sie vollkommen recht hatte, erst recht nach dem Nour bereits andeutete, dass er kühl sei. Nur mein Kopf wollte es sich nicht eingestehen.
      “Aber vielleicht sollten wir dennoch langsam zurück”, lenkte ich ab. Die Sonne war beinah am Horizont verschwunden und damit würde man von den Pferden nicht mehr viel erkennen. Da von den Geschwistern auch nichts kam, wusste ich nicht, wie ihre endgültigen Rennen abliefen.
      “Da hast du natürlich recht”, stimmte der Mann in der Runde zu, woraufhin auch Lina nickte.

      Kategorisch verfuhren wir uns und legten damit eine Ehrenrunde über die Insel hin, zumindest fühlte es sich so an, als wären wir eine ganze Runde über als Öland gefahren. Damit kamen wir über eine Stunde später auf dem Gelände ab, schließlich musste ich auch noch das Auto zurückbringen. Nour und Lars saßen wider Erwarten nicht im Transporter.
      “Ich würde in den Stall gehen, kann man euch beide allein lassen?”, zwinkerte ich Lina zu, die müde neben Mateo saß.
      “Wir knapp überleben ohne dich”, scherzte der Schweizer, nachdem Lina nur ein Nicken, begleitet von unverständlichem Gemurmel zustande brachte.
      “Das meinte ich nicht”, scherzte ich und trat schließlich aus der Tür heraus, mit Dog im Schlepptau, der neugierig jeden Grashalm inspizierte. Auf dem Gelände war es gespenstisch leer und still. Einzig die Geräusche der Pferde aus dem Stall schallten in meine Ohren, zusammen mit dem Wind, der durch die Kronen der Bäume fegte. Irgendwo klammerte loses Holz.
      Im Stall ruhten die Tiere, doch Humbria streckte sofort den Kopf heraus und unsere anderen folgten ihr. Alle waren da, das Heu aufgefüllt und rundum versorgt. Dennoch verfolgte mich ein schlechtes Gefühl. Oder war es im heimischen Stall, was mir ein Bauchgefühl sagen wollte? Nervös fummelte ich am D-Ring der Hundeleine herum und wusste es nicht genau zu deuten. Vorsorglich schaute ich auf mein Handy, aber auch da war keine Nachricht, die mir die erhoffte Erleuchtung brachte. Also schaltete ich das Licht wieder aus und schloss die Holztür. Zähneknirschend lief ich zurück. Im Transporter saßen sie noch immer entspannt auf der Bank. Mateo sprach leise, denn Lina hing auf seiner Schulter, beinah eingeschlafen. Sie kuschelte sich noch näher an ihn heran, als ich die Tür schloss. Es war wohl eher das Geräusch, dass sie kurzzeitig weckte, als meine Präsenz. Aber ja, schlafen klang nach einer guten Idee, nach dem die Nacht schon unglaublich kurz war und wir am Morgen die erste Fähre nahmen.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 68.346 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte März 2021}
    • Mohikanerin
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      Hufschmied / Korrektur | 23. September 2022

      Millennial LDS / HMJ Holy / I’m a Playboy / Jokarie / Mockup

      Nachdem der Fuchs äußerst zufrieden mit dem Gummibeschlag lief, und Vriska mir als Dankbar war, besprach ich mich mit Papa. Mill hatte am Renntag nur mäßige Ergebnisse gezeigt. Er nahm an, dass der Boden zu hart war und sie Schmerzen hatte. Wir entschieden auch, bei ihr Gummi auszuprobieren. Geduldig ließ sie sich das Aluminium entfernen. Die Kanten der Hufwand rundete ich mit der Pfeile ab, bevor ich das Gummi befestigte. Im Vergleich zum normalen Beschlag, was es deutlich weniger Aufwand. Ihre passte eine der vorgefertigten Größen, sodass ich nur das überstehende Gummi raspelte. Nach zwanzig Minuten konnte sie zurück zu den anderen. Es kam noch die Bitte, dass Holy und Playboy gekürzt werden sollten, was ich zwischen dem Training der Rennpferde übernahm. Gerade, als ich alles weggeräumt hatte und Feierabend machen wollte, kam Mateo in den Stall.
      „Wärst du lieb?“, in der Hand hielt er ein loses Eisen, das er beim Ausritt mit Karie offensichtlich verloren hatte.
      „Natürlich“, seufzte ich, holte mein Werkzeug hervor. Mein Kollege sattelte die Stute ab und putzte die Hufe. In der Zeit zog ich die lockeren Nägel aus dem Eisen, bevor ich es mit neuen wieder am Huf befestige. Sie stand ruhig, sehr angenehm im Vergleich zu den Kandidaten zu vor. Besonders Holy hatte Schwierigkeiten im Gleichgewicht halten.
      „Danke dir“, sagte Mateo noch, dann stand Feierabend an.

      © Mohikanerin // 1381 Zeichen
      Wolfszeit gefällt das.
    • Wolfszeit
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      Impftermin | 01. Oktober 2022
      Jokarie, HMJ Holy, Sisko, Úlrik

      Heute stand ein Impftermin für die Pferde auf dem Lindö Dalen Stuteri an. Bepackt mit den Mitteln und allem, was eine solche Massenimpfung benötigte, fuhr ich hinaus auf das abgelegene Gestüt. Auf der Stallgasse erwartete mich bereits Mateo. Offenbar hatte er heute die Tierarztbegeleitung zur Aufgabe erhalten. Seine Freibergerstute wie auch eine dunkle Traberstute standen bereits am Putzplatz. Karie benötigte einzig eine Auffrischung der Herpesimpfung, womit ich schnell durch war. Bei Millennial war ein wenig mehr zu tun. Während ich mit der kooperativen Rappstute beschäftigt war, brachte der junge Mann die Fuchsstute weg und kehrte zurück mit einer rundlichen Tinkerstute, die ein kleines flauschiges Fohlen an ihrer Seite hatten. Das kleine Lebewesen nutze die Zeit der Behandlung, um neugierig die Stallgasse zu erkunden. Überall steckte es seine Nase hinein, nahm Kontakt mit den umstehenden Pferden auf. Nach der dem Gespann aus Mutter und Fohlen, waren noch zwei Hengste dran. Sowohl Sisko, als auch Ùlrik warten artig, womit alles schnell erledigt war.
      © Wolfszeit | 1.068 Zeichen
    • Wolfszeit
      Springen M zu S | 05. Oktober 2022

      Jokarie // Matteo Aubré
      BOS Gracy // Brooke Scott
      BOS Schneefürstin // Jack Baldwin

      Brooke ritt ihre großrahmige braune Stute Gracy an der langen Seite der Reithalle warm, auf dem oberen Zirkel stellte und bog Matteo seine Dunkelfuchsstute Jokarie und Jack dümpelte so ein wenig mit der Fürstin vor sich her.
      “Na Jack!”, rief ich ihm rüber.
      “Mehr Tempo, die schläft dir gleich ein! Oder willst du mit ihr über die Sprünge fallen, weil sie die Augen zu hat und Scheintod spielt?!”
      “Ich weiß auch nicht, was die heute hat! Die ist schwer triebig!” Ich stiefelte auf ihn zu. In meiner Hand eine Gerte, die ich ihm gleich reichte und wieder meinen Platz auf meinem Stuhl einnahm. Bei Matteo und Jokarie sah ich zunächst nur zu. Ich hatte noch nie einen so hoch springenden Freiberger gesehen, vor allem keinen, der so hitzig war. Sie zog ordentlich an vor dem Sprung, jedoch schliff der dicke Schweif über die Stange und so hörte es sich immer mal wieder so an, als würde die Stange gleich ihren Weg zum Boden finden. Tat es jedoch nie. Wo ich noch mehr Potenzial sah, waren die Wendungen, da konnte man noch etwas rausholen. Ich legte ihm ans Herz etwas wendiger an den Sprung anzureiten, das würde ihm enorm viel Zeit schenken und Jokarie schätzte ich so ein, dass sie das auch schaffen würde. Ich stellte eine Übung auf, um die Wendigkeit trainieren zu können und gab ihm die Hilfestellung dazu. Dasselbe sagte ich auch den anderen beiden Trantüten, wobei Brooke wenigstens heute ihr Pferd von der Stelle bekam und erstaunlich gut arbeitete und konzentriert war. Vielleicht wollte sie aber auch Matteo schöne Augen machen und zeigen, dass sie’s drauf hat. Oder Jack. Ich war mir bei ihr auch einfach nicht mehr sicher. Gegen Ende lobte ich allesamt, auch wenn Jack Schneefürstin nicht über einen einzigen Sprung bekommen hat.
      © Sosox3 | Nathan Scott | 1.741 Zeichen
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  • Album:
    LDS - Schweden
    Hochgeladen von:
    Wolfszeit
    Datum:
    24 Dez. 2021
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  • Jokarie

    Rufname: Karie
    geboren 18. März 2007

    Aktueller Standort: Nordiska Berghästen, Lindö [SWE]
    Unterbringung: Offenstall


    __________ s t a m t a v l a

    Aus: Janine du Laves [Freiberger]
    MMM: Joyeuse _____ MM: Jessica _____ MMV: Vulcain
    MVM: Falonne _____ MV: Nocturne des Champs _____ MVV: Nagando


    Von: Lyroi [Freiberger]
    VMM: Valdine _____ VM: Lasange _____ VMV: Las Vegas
    VVM: Flora _____ VV: Libero _____ VVV: Lambado Boy


    __________ h ä s t u p p g i f t e r

    Rasse: Freiberger [FM]
    Freiberger | 12,89 % FB

    Geschlecht: Stute
    Stockmaß: 154 cm
    Farbe: Dunkelfuchs
    [ee aa nW]

    Charakter
    Temperamentvoll, arbeitswillig

    Jokarie wurde 3-jährig vom Züchte gekauft und begleitet ihren Besitzer seitdem durchgängig.

    *Springt wider Erwarten bis S***


    __________ t ä v l i n g s r e s u l t a t
    [​IMG]
    Dressur E [L] – Springen S* [S+] – Military E [M] – Fahren E [l] – Distanz E [A]

    Niveau: International

    Februar 2022
    Training, Springen E zu A

    März 2022
    Training, Springen A zu L

    Juni 2022
    Training, Springen L zu M
    2. Platz, 549. Fahrturnier
    2. Platz, 394. Synchronspringen

    Juli 2022
    2. Platz, 395. Synchronspringen
    3. Platz, 551. Fahrturnier
    2. Platz, 396. Synchronspringen
    2. Platz, 675. Springturnier
    2. Platz, 397. Synchronspringen
    3. Platz, 554. Fahrturnier
    1. Platz, 398. Synchronspringen

    August 2022
    3. Platz, 399. Synchronspringen
    3. Platz, 558. Fahrturnier
    1. Platz, 400. Synchronspringen

    Oktober 2022
    Training, Springen M zu S

    November 2022
    Training, Springen S zu S*

    Februar 2023
    Training, Platzhalter


    März 2023
    Training, Platzhalter

    Mai 2023
    Training, Distanz E zu A


    Juni 2023
    Training, Fahren A zu L

    __________ a v e l

    [​IMG]
    Stand: 01.02.2023


    Jokarie wurde im durch SK 482 zur Zucht zugelassen.

    Zugelassen für: FM [SB B]
    Bedingungen: Keine Inzucht
    Decktaxe: 317 Joellen, [Kein Verleih]

    Fohlenschau: 8/ 6/ 7
    Materialprüfung: 7,53 [1. ZR M3]

    Feldtest: 7,63 [Bestanden]
    Exterieur: 7
    Verhalten Fahren: 8
    Verhalten Reiten: 8

    Körung
    Exterieur: 7,39
    Gesamt: 6,49

    __________ a v k o m m e r

    Jokarie hat 0 Nachkommen.

    NAME v. HENGST [FM] *20xx


    __________ h ä l s a

    Gesamteindruck: Gesund; gut in Training
    Krankheiten: -
    Beschlag: Falzeisen mit Stollenlöchern, Voll


    __________ ö v r i g

    Pfleger: Mateo Aubé
    Reiter: Mateo Aubé
    Trainer: Mateo Aubé
    Eigentümer: Mateo Aubé [100%]
    Züchter: Saignelégier [CHE], M. Frésard
    Ersteller: Mohikanerin

    Jokarie steht aktuell nicht zu Verkauf.

    _____

    Spind – Exterieur – virtuelle Anpaarung

    Jokarie existiert seit dem 24. Dezember 2021