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Mohikanerin

// Forbidden Fruit LDS

Barock-Reitpferd // Eingeritten - Ungefahren

// Forbidden Fruit LDS
Mohikanerin, 18 Juli 2021
Muemmi, Occulta, Friese und 6 anderen gefällt das.
    • Mohikanerin
      Dressur E zu A | 21. Juli 2021

      Götterdämmerung LDS // Forbidden Fruit LDS

      Erschöpft sackte ich in die Holzliege, die neben dem Roundpen stand und starrte in die Luft. In Schweden war es beinah kalt im Vergleich zu den beiden Wochen in Kanada, was mir ehrlich gesagt nicht negativ stimmte. Gerade als ich über warmes Bad in der Wanne nachdachte, kam Tyrell.
      „Was liegst du denn so faul darum?“, fragte er belustigt stellte sich so vor die letzten Sonnenstrahlen, die in mein Gesicht schienen.
      „Ich nutze die freie Minute, um mich zu entspannen“, sagte ich.
      „Na, wenn du nichts zu tun hast, kannst du dich mit Fruity für das nächste Turnier vorbereiten“, lachte Tyrell und verschwand Richtung Reithalle. Hatte ich das gerade richtig gehört? Ich soll mit Fruity, seinem aktuellen Liebling auf dem Turnier starten? Die Saison endete in ungefähr vier Wochen und in der Nächsten hatte ich meine Abschlussprüfung. Wie stellte er sich das vor? Hastig rannte ich ihm nach und holte ihn kurz vor dem Büro ein.
      “Wann soll ich denn mit ihr starten? Und vor allem, warum?”, prustete ich aufgeregt.
      “Also wenn ich ehrlich bin, dann hast du in drei Tagen die Prüfung und deiner Trainer haben mir erzählt, dass du hervorragende Leistungen mit Glymur in der Dressur gezeigt hast, da sollte eine A Dressur doch kein Problem darstellen, schließlich kannst du E nicht mehr nennen mit deiner Leistungsklasse”, erzählte er breit grinsend und wir liefen gemeinsam in die Kammer, um das Halfter der Stute zu holen. A Dressur also, ich weiß nicht mal was für Dinge dort abgefragt werden und mir eine Aufgabe zu merken, lag ebenfalls nicht bei meinen Talenten. Dazu kam auch noch, dass ich die Stute vorher noch nie geritten bin. So viele Faktoren beeinflussten also, dass die Teilnahme nur in einem Desaster enden konnte.
      “Die WA2 besteht aus einundzwanzig Aufgabenteilen, die mehr oder minder verständlich für dich sein sollten. Es wird im Arbeitstrab eingeritten, zweihändig. Dann in der Mitte halten, grüßen und im Trab wieder los. Links eine Volte, auf die Viertellinie, Vorderhandwendung und wieder Trab. Bei Foxtrott durch die ganze Bahn und verstärken im Leichttraben. Aussitzen wieder bei Hotel, dann eine Volte mit zehn Meter erneut. Anhalten, warten, rückwärts und im Schritt wieder los. Halbe Bahn wechseln, antraben, Zirkel, Galopp, ganze Bahn und Sprünge verlängern. Trab, durch die halbe Bahn wieder Zirkel und Galopp. Am Ende noch mal Trab, ganze Bahn, rechts um zur linken Hand, auf die Mittellinie und Gruß”, ratterte Tyrell die Aufgabe herunter. Schon nach der Vorderhand war ich heillos überfordert und alles danach klang nur noch wie eine Fremdsprache für mich. Währenddessen trottete die Stute mit ihrem kräftigen geschwungenen Hals vor sich hin. In Fruitys dunkeln Sattel fühlte ich mich, als würde ich schweben. Die Polsterung war nicht nur unglaublich weich, sondern passte sich mir nicht erklärbaren Gründen perfekt an meinen Unterkörper an. Obwohl ich einige dieser Sättel sogar im Laden hatte, saß ich vorher noch nie darin. Sie verkauften sich häufig und waren besonders beliebt bei Barockreitern, natürlich. Dieser Sattel wurde mit historischem Vorbild der Hofreitschule designt.
      “Hast du mir zugehört?”, unterbrach Tyrell meinen inneren Monolog über das Schmuckstück. Bestürzt schüttelte ich mit dem Kopf.
      “Dann noch mal. Wir reiten jetzt die einzelnen Teile durch und am Ende wollen wir die Aufgabe auch einmal durchreiten. Ich darf in der Prüfung dann ansagen, also setze dich nicht unter Druck. Du schaffst das, schließlich ist Fruity bereits bis zur M ausgebildet”, wiederholte er. Okay. Dann beginnen wir. Ich nahm die Zügel etwas mehr auf und baute eine Verbindung zu ihrem Maul auf. Tyrell sagte die erste Aufgabe. Eine zehn Meter Volte bei Echo sollte das sein, erst einmal im Schritt und dann im Trab. Fruity war bereits genügend aufwärmt, denn Tyrell hatte zuvor an der Hand mit ihr gearbeitet, um mir bei der Ausbildung für Fried etwas zu zeigen. Die Standardbred Stute war noch einen großen Schritt davon entfernt so genau wie die Barockstute zu tanzen, doch auch der Weg mit ihr war nicht immer leicht. Schließlich beherrscht auch sie mehr als drei Gänge, was das Sortieren der Füße nicht immer einfach macht. In der Gebrauchshaltung trabte Fruity langsam an und hatte ihre Ohren stets bei mir. Mit sanften Worten redete ich auf sie ein und ritt erneut die Volte.
      “Und jetzt noch mal etwas ordentlicher”, sagte Tyrell. Immer wieder vergrößerte und verkleinerte ich die Volte, bis ich auf dem richtigen Bogen war. Daraufhin wiederholte ich es noch einmal an der nächsten Seite.
      Ich strich Fruity über den verschwitzten Hals und sie kaute mir genüsslich die Zügel aus der Hand. Nun war ich endgültig kaputt. Eigentlich hatte ich mir noch vorgenommen mit Holy auszureiten, da Hedda nicht da war. Das konnte ich in dem Zustand aber abhaken.
      “Sah doch schon ganz in Ordnung aus. Morgen üben wir noch dreimal, dann passt das”, sagte Tyrell und machte sich auf den Weg zum Tor.
      “Wie, dreimal? Das arme Pferd braucht doch mal eine Pause”, sagte ich überrascht und hielt sie vor ihm an.
      “Zwei mal mit ihr und am Mittag setzt du dich mal auf die Göttin”, schlug er vor.
      “Bist du denn des Wahnsinnes? Ich setzte mich doch nicht auf das Ekelpaket! Die bringt mich schon um, wenn ich sie nur angucke”, echauffierte ich mich. Er meinte es wirklich ernst! Mit seinem verschmitzten breiten Lächeln verließ Tyrell die Reithalle und dann entdeckte ich meinen Bruder auf der Tribüne.
      “Wenn du dich nicht aufregen kannst, bist du auch krank, oder?”, lächelte Harlen, als ich im Schritt an ihm vorbeiritt.
      “Götterdämmerung ist nicht nur der Untergang der Welt, sondern auch meiner! Ich habe mehrfach versucht mit ihr Frieden zuschließen, doch nein. Madame muss natürlich hektisch neben mir hampeln und aufgeregt prusten. Dann verliere ich die Kontrolle und weg ist sie”, erklärte ich ihm die Misere. Aus Erzählung wusste ich, dass Tyrell damals unbedingt ein Rennpferd wollte und Middle Ages bereits sein erstes Rennpferd war. Aus Italien importierte er Sperma, womit sie befruchtet wurde. Mehr als ein Jahr später wurde dann das Unheil geboren. Schon mit wenigen Wochen konnte dieses Pferd niemand händeln und beim Einreiten gab es zwischen ihm und seinem Bruder so einen großen Streit, dass sie mehrere Wochen nicht mehr zusammen aßen. Götterdämmerung brachte das Unheil über alle und mit diesem Vieh sollte ich dann morgen reiten, nein danke.
      “So schlimm kann sie gar nicht sein”, lachte Harlen.
      “Ich werde es dir beweisen, wenn ich Fruity auf die Weide bringe, dann versuchen wir der Göttin ein Leckerli zu geben”, erwiderte ich überzeugt. Mit dem barocken Reitpferd unter mir drehte ich noch mehrere lockere Runden durch den Sand, bevor ich in der Mitte der Bahn abstieg und den Sattelgurt lockerte. Zufrieden strich ich ihr noch mal über den Hals.

      Um 7 Uhr klopfte es hektisch an der Tür. Dass Tyrell früh auf den Beinen war, kannte ich bereits und dass wir am Morgen trainieren wollten, war mir klar. Doch dass er mich um die Zeit aus dem Bett jagte, hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Eine halbe Stunde später trafen wir uns im Stall. Fruity war bereits gesattelt und ich musste nur noch meinen Helm holen. Gemeinsam setzten wir dort fort, wo wir gestern aufhörten.
      Vom Boden arbeitete ich Fruity mit Tyrells Hilfe und führte im Schritt die Reihenfolge der Aufgabe. Ich hatte Mühe durch den tiefen Sand zu laufen und gähnte mehrmals. Die ersten Sonnenstrahlen blitzten durch die Fenster und erhellten den aufgewirbelten Sand. Auf dem Boden bildeten sich die großen Deckenbalken ab und warfen Parallele Schatten.
      „Schau nicht so nach unten! Konzentriere dich auf das Pferd“, ermahnte Tyrell. So viel Energie wie er hätte ich auch gern am Morgen. Es half jedoch nicht mich in solchen Wunschvorstellungen zu verlieren, wenn ich in zwei Tagen auf dem Turnier sein musste. Im Sattel angekommen, trabte ich schon an und Ritt einige Kombinationen aus der Aufgabe durch. Obwohl es erst mein zweites Mal auf ihren Rücken war, fühlte ich mich sehr wohl. Die Stute strahlte eine Sicherheit aus, die auf mich überging. Als atmete ich jeden Schritt ihrer Hufe in mir auf, klopfte mein Herz im Takt ihrer Gänge und ein leichtes Lächeln huschte über meine Lippen. Punktgenau verstärkte ich die Trabtritte beim Abwenden von Foxtrott nach Hotel über den Mittelpunkt. Begnügt lobte auch Tyrell uns. Wieder im Aussitzen setzten wir die Aufgabe fort. Mit einem leichten Knick in der Hüfte durch die Gewichtsverlagerung lenkte ich Fruity bei Bravo auf eine zehn Meter Volte, bevor ich bei Alfa hielt. Langsam zählte ich von fünf herunter. Die Stute blieb entspannt und kaute genüsslich auf dem Gebiss. Ich spürte ihre Bewegung in den Händen. Erst als sie im Genick nachgab, richtete ich sie für einige Schritte rückwärts, um aus der Bewegung heraus in den Schritt anzusetzen. Mehrmals fragte die Stute durch leichtes ziehen am Zügel nach mehr. Noch war die Aufgabe nicht vorbei, wodurch die Anfrage ignorierte.
      “Das reicht fürs Erste, um dreizehn Uhr bist du bitte mit der Göttin auf dem Platz an der Halle”, sagte Tyrell und ich stieg ab nach dem Abreiten.
      “Ich darf das Vieh nicht einmal berühren, wie soll ich die auf den Reitplatz bekommen?”, erkundigte ich mich deutlich gestresst. Die Stunde mit der Barockstute gefiel mir sehr. Nur bei dem Gedanken später noch auf dem Teufel persönlich zu sitzen, bekam ich einen Schweißausbruch.
      “Denk dir was aus”, lachte er.
      “Wenn ich die nicht runterbekommen, dann hilfst du mir gefälligst”, fauchte ich. Tyrell lachte noch immer, aber stimmte freundlich zu. Noch bevor ich mich umsah, verschwand er im Büro und ich nahm das Equipment herunter. Ordentlich verstaute ich alles auf seinem Platz. In der Sattelkammer roch es nicht nur nach dem Pferdezeug, sondern aus der Kammer nebenan strömte der Geruch von Kräutern und frischen Obst in die Nase. Hals über Kopf füllte ich noch eine Schüssel für die Stute, die beim Erblicken der schwarzen Gummischale aufgeregt mit dem Huf begann zu scharen. Mit einem leichten Klaps auf der Brust stoppte ich sie. Erst dann durfte Fruity den Kopf hineinstecken.
      Der Vormittag verlief weniger nervenaufreibend, obwohl ich mit Harlen mein Pony besuchte, traf ich niemanden auf der Bahn. Weder von Niklas war etwas zu sehen, noch von Chris oder einen der zickigen Damen. Es betrübte mich ein wenig, dass man einander nur noch selten sah und vermisste tatsächlich das Chaos aus Kanada mehr als ich dachte. Daran konnte ich nun auch nichts ändern, sondern musste nach vorne sehen. Genau wie der Umstände, dass Erik mir keine einzige Nachricht schickte und eine vollkommene Funkstille zwischen uns herrschte. Auch mit Glymur durchritt ich die Dressuraufgabe, um möglichst schnell die Reihenfolge zu verinnerlichen. Dafür hatte ich meinem Bruder die Aufgabe zugeschickt und er las sie mehrere Male vor.
      Zurück auf dem Gestüt angekommen, versuchte ich mit allen Mitteln die hysterische Fuchsstute vom Paddock zu bekommen. Wenn ich ihr das Halfter über die Ohren ziehen wollte, trampelte sie wild mit den Vorderbeinen auf den Boden oder biss in meine Richtung. Vergeblich holte ich mir die große kräftige Hilfe aus dem Büro.
      “Na, möchte dich das Pferd nicht in seiner Nähe haben?”, scherzte er als ich die Tür durchtrat. Angeschlagen nickte ich. Zusammen versuchten wir es erneut und direkt beim ersten Mal hatte Tyrell seine Stute am Halfter. Im Stall funktionierte es relativ gut das verhältnismäßig große Monster zu putzen. Erst beim Satteln benötigte ich erneut seine Hilfe.
      Wie auch schon auf dem Rücken von Fruity, fühlte ich mich auch auf der Göttin außergewöhnlich gut. Sie reagierte genau und vergewisserte sich, ob ich wirklich etwas tat oder nur auf ihrem Rücken hausierte. Doch im nächsten Moment änderte sich ihr Verhalten schlagartig. Panisch rannte sie nach vorn. Es gelang rechtzeitig in die Mähne zugreifen, sonst wäre ich unelegant im Sand gelandet. Nervös prustete die dunkle Fuchsstute und tänzelte mit aufgestelltem Schweif über den Platz. Der kleine Zaun sollte für ein Pferd dieser Größe kein Problem darstellen, aber sie blieb im Sand. Sie kam zum Stehen und sprang direkt aus dem Sattel.
      “Das war lieb gemeint von dir, aber mit der kann ich es nicht”, sagte ich aufgebracht. Der Schweiß lief noch immer an meinem Rücken herunter und der leichte Windzug im Freien kroch durch meine Jacke direkt zur feuchten Stelle.
      “Du hast es immerhin versucht, alles gut. Dann über ich mit ihr, weil sie soll auch in der A mitlaufen. Wenn es mit euch funktioniert hätte, wärst du mit zwei Pferden angetreten”, gab Tyrell ehrlich zu und stieg direkt auf. Die Steigbügel hatte er abgemacht. Am Rand setzte ich mich beobachtete die Arbeit der beiden.

      So häufig wieder auf dem Pferd zu sitzen, war nicht nur körperlich eine Herausforderung, sondern auch mental. Mehrfach am Tag musste ich mich auf ein neues Tier konzentrieren, ohne dabei das Ziel vor den Augen zu verlieren. Gleichzeitig musste ich noch für die Theorie lernen und hätte gut und gern auf das Turnier mit Fruity verzichten können.

      © Mohikanerin // Vriska Isaac // 13.011 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
      Dressur A zu L | August 2021

      Form follows Function LDS // Forbidden Fruit LDS // Götterdämmerung LDS

      Obwohl ich viel um die Ohren hatte, vernachlässigte die drei Schützlinge nicht. Form, Fruity und die Göttin machten Fortschritte, besonders in der Rittigkeit und Selbsthaltung. Die Wendungen wurden zunehmend enger und die Rahmenerweiterung im Schritt und Trab saßen immer besser.
      Als erste des Tages kam Form an die Reihe, denn es gab immer mehr Interessenten für die blauäugige Rappstute und langsam sollte ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie eine Zukunft vor sich hatte. Dafür musste sie nun intensiver vorbereitet werden. Nach dem Satteln legte ich heute zum ersten Mal eine Kandare an, irritiert kaute sie auf den beiden Mundstücken herum, aber vertraute mir. Im Stall stieg ich auf und drehte eine kleine Runde im Schritt. Form akzeptierte das Gebiss genau wie jedes anderes und verstand auch schon den Einsatz der verschiedenen Zügel, nur in der drei-zu-eins Haltung brachte sie durcheinander. Eng zog sie den Kopf an den Hals, drückte sich nach oben und tänzelte. Wenn ich die Zügel nachgab, entspannte sich Form wieder, also mussten wir daran weiter arbeiten. Angekommen in der Halle baute ich langsam darauf auf, mehr in der Hand zu haben, im Schritt und im Trab. Die Bahnfiguren setzte ich gezielt als Übung der Rittigkeit ein, genau wie die Verstärkung.
      Fruity am Nachmittag war fleißig wie immer, kannte auch die Kandare bereits. Statt dem gewünschten einfachen Galoppwechsel, übten wir mit einem Cavaletti den fliegenden. In Achten galoppierte ich immer wieder darüber und motivierte sie dazu selbstständig zu wechseln. Anfangs war sie verwirrt, doch je öfter ich hinüberritt, umso gezielter sprang sie um. Den einfachen kannte Fruity bereits, denn ihre Rittigkeit verbesserte sich dadurch enorm. Die Stute lernte so schnell.
      Göttin hingegen hatte heute wieder einen schlechten Tag. In der Halle lief sie der Balance davon, taumelte häufig und widersetzte sich den Hilfen. Doch im Galopp lockerte sie sich und beherrschte sogar den Außengalopp. Somit arbeiteten wir die nächsten Wochen weiter an der Rittigkeit, ihrer Geduld und den dazugehörigen Lektionen. Auch Form machte Fortschritte mit der Kandare und konnte nun wirklich den Hof verlassen. Fruity bekam eine Pause, denn sie forderte immer mehr und konnte nicht mehr abschalten. Sie könnte zunehmend ein zuverlässiges Turnierpferd werden.

      © Mohikanerin // Tyrell Earle // 2322 Zeichen
      zeitliche Einordnung {August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tre | 25. September 2021

      Forbidden Fruit LDS // Satz des Pythagoras // HMJ Divine // Northumbria // Form Follows Function LDS // Raleigh // Middle Ages // Lundi LDS // Kölski von Atomic // Lu’lu’a // Glymur

      Vriska
      An den Boxen bekam die Falbstute eine große Portion Futter. Überall verteilte sich der Möhrenbrei und die Ölsaaten sowie diverse Fasern und Kräuter. Selbst die Schüssel blieb nicht verschont und wurde am Ende durch die Gegend geworfen. Müde blickte ich der nach, aber schenkte ihr keine weitere Beachtung. Dann zog ich Fruity hinter mir mit geradewegs zum Paddock.
      “So, jetzt beweise ich es dir”, sagte ich zu Harlen und lief zu Göttin, die in der Mitte des Paddocks stand und mich bereits gewittert hatte. Mit angelegten Ohren sah in meine Richtung. Selbst das Leckerli interessierte sie nicht ansatzweise. Stattdessen schnappte sie in meine Richtung und schlug aufgeregt mit ihrem Schweif.
      “Gut, ich glaube es dir”, knickte er ein.
      Am Himmel bewegte sich die Sonne immer weiter Richtung Horizont und verschwand in den Baumkronen des Mischwaldes. Um weiteren Überfällen zu entgehen, schlüpfte ich in meine Jogginghose und hatte es mir mit Harlen auf der Terrasse bequem gemacht. Für einen Wimpernschlag schloss ich die Augen, als mein Handy in der Tasche vibrierte. Eine unbekannte Nummer rief mich an. Ich hob ab.
      „Vriska?“, sagte eine vertraute Stimme, die ich nicht direkt einordnen konnte.
      „Wer fragt?“
      „Nicht dein Ernst! Chris natürlich. Ich … wir wollten fragen, ob du mit Lina rumkommst zum Grillen?“, stellte er sich dann vor. Ich hoffte kurz, dass Erik anrief, doch die Stimme war zu tief dafür, wurde mir im nächsten Moment klar.
      „Ähm, muss sie erst fragen. Aber ich habe mein Bruder hier“, stammelte ich überrascht.
      „Dann bringst du denn mit, sag ihr, dass ihr Schatzi hier wartet und er wie ein Schlosshund weint“, lachte Chris. Aus dem Hintergrund hörte ich Beschwerden seitens Niklas und ich rollte die Augen. Eigentlich hatte ich wirklich gehofft solchen Situationen in nächster Zeit aus dem Weg gehen zu können. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit mir und wenn ich nein gesagt hätte, dann wäre ich ein Langweiler. Oder wer weiß, welche Auswirkungen es gehabt hätte.
      „Ich schaue, was sich einrichten lässt“, antwortete ich kurz und legte auf.
      „Wer war das?“, fragte Harlen interessiert nach dem er vernahm, dass ich aufstand.
      „Das Team, ich soll rüberfahren und du kommst mit“, befahl ich. Doch vorher musste ich noch zu Lina. Der Kontakt zueinander war noch immer schwierig. Wir wechselten nur die nötigsten Worte, Small Talk gab es keinen, wenn überhaupt, dann über die Pferde. Es verletzte mich, dass ich so war. Was auch immer. Ich klopfe an die an ihre verschlossene Zimmertür und hoffte, dass keine Resonanz käme. Wieder Enttäuschung, denn sie öffnete langsam die Tür und musterte mich. Im Hintergrund flimmerte der Fernseher und ich vernahm eine Silhouette auf der Couch. Sie drehte sich in unsere Richtung und winkte freundlich.
      “Was führt dich her?”, fragte sie erwartungsvoll.
      “Wir wurden eingeladen zum Grillen beim Verein und ich soll dir mitteilen, dass Niklas dich fürchterlich vermisst”, versuchte ich ein Lächeln, aber es gelang mir nicht besonders.
      “Lina, lass dich nicht von mir aufhalten, du gehst mit! Aber ich hätte auch kein Problem mitzukommen …”, war es nun bestimmt von der Couch zu vernehmen.
      “Ich denke mal, du hast die Antwort gehört. Ist es okay, wenn Juliett mitkommt? Ansonsten lass ich sie einfach dort vor dem Fernseher sitzen, das sollte sie den Abend beschäftigen”, antwortete sie offensichtlich belustigt über ihre Schwester.
      „Wenn Harlen mitdarf, sollte Juliett kein Problem sein. Aber mach dich auf lüsterne Blicke gefasst. Wir sehen uns gleich am Auto, ich versuche den großen zu bekommen“, warte ihre Schwester und lief weiter zu Tyrell. In seinem Bungalow brannte bereits Licht und auf den Weiden standen schon die Pferde. Somit konnte er vom Stalldienst wieder zu Hause sein. Wieder klopfte ich an der Tür. Es dauerte, bis sie sich öffnete. Nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, stand er vor mir.
      „Ach Damenbesuch am Abend lässt mein Herz direkt schneller schlagen“, lachte er und stützte sich auf der Klinke ab. Langsam strich ich mir eine Strähne. Ich spürte wie mir wärmer wurde und ich den Blick zu Boden senkte.
      “Ich … Ich brauche den BMW”, sagte ich entschlossen. Ohne weitere Fragen zu stellen, griff er zum Schlüsselbrett und drückte mir die Fernbedienung in die Hand.
      “Aber bring den heile wieder und seid nicht so spät zurück, ihr habt morgen Stalldienst und du noch Unterricht”, erinnerte Tyrell mich und ich bedankte mich. Sogar einen kleinen Knicks machte ich. Harlen hatte sich offenbar schon vorbereitet und ein Hemd drübergezogen sowie eine schwarze Anzughose dazu. Er übertrieb wieder einmal.
      “Dir ist klar, dass das kein Geschäftsessen ist, sondern grillen mit hitzigen Männern und einigen Mädchen, die auf unschuldig machen, aber vermutlich mit jedem schon im Bett waren”, klärte ich meinen Bruder auf, mit dem ich zum Auto lief. Lina und Juliett warteten bereits. Wie schnell waren die beiden? Und dann auch noch so viel attraktiver als vor wenigen Minuten an der Tür. Faszinierend diese Familie.
      “Ich werde es überleben”, lachte Harlen und stieg auf dem Beifahrerplatz. Die anderen beiden machten es sich auf der Rückbank bequem. Ich hatte meinen Sitz eingestellt, das Licht angestellt und ausgeparkt. Den Hof ließen wir langsam hinter uns. Meine Augen behielt ich auf der Straße, schweigend. In der nächsten Woche begann die Elchjagd und deswegen konnte es jetzt schon zu einem erhöhten Risiko kommen, dass die mörderischen Tiere die Straße wechselten. Wildunfälle gehörten zu der häufigsten Todesursache in Schweden und ich hatte auch überhaupt keine Lust darauf, so ein Hirsch auf der Motorhaube zu haben. Denn der Kuhfänger würde das Vieh nur in Maßen halten können. Aus den Erinnerungen strahlten Unfallbilder aus den Nachrichten im inneren Auge. Ekelhaft.
      In der Dämmerung fuhr ich ungern die Strecke. Es gab nur wenige Straßenlaternen, die nur ein seichtes Licht spendeten. An den Seiten waren kleine Steinmauern, bis wir am Fernstraßenkreuz ankamen. Die Strecke zum Festland kam mir ewig vor. Mit meinen Händen wippte ich im Takt der Töne aus dem Radio und versuchte mit einem Ohr das Gespräch der drei zu verfolgen. Linas Schwester freute sich Niklas näher kennenzulernen und mein Bruder schwärmte förmlich davon nicht nur die Damen zu betrachten. Ich wunderte mich zwar, aber hinterfragte seine Aussage nicht weiter.
      Endlich an der Ausfahrt angekommen, verließen wir die E22. Die Flutlichter der Rennbahn erkannte man bereits aus der Ferne, also waren wir fast da. Nach dem Kreisverkehr leuchtete schon das Schild der Trabrennbahn und am Ende kam die Einfahrt zu dem gepachteten Teil des Vereins. Ich parkte das Auto vor dem Tor ab und steig aus.
      “Wir sind da”, sagte ich erfreut und hüpfte aus dem Geländewagen. Hätten wir meinen VW genommen, würde jeder mit Rückenschmerzen geplagt sein. Bereits ab achtzig Stunden pro Kilometer wackelte das Ding herum, aber in dem von Tyrell schwebte man über die Straße. Auf der Brücke bekam man schnell das Verlangen etwas schneller zu fahren, aber ich hielt mich zurück.
      “Wow, ich dachte ja schon der Hof sei riesig, aber das hier scheint ja noch riesiger. Also zumindest der Teil den ich sehen kann”, staunte Lina während sie aus dem Fahrzeug kletterte. Ihre Schwester hatte weitaus weniger Augen für die Anlage.
      “Ist das die richtige Richtung?”, fragte sie hochgestimmt und lief zielstrebig in Richtung des Tores. Dass sich diese Frage übrighatte, merkte Juliett ziemlich schnell, denn Chris und Niklas kamen angelaufen – Zum Glück, denn ich hatte wieder einmal den Code vergessen.
      “Ich dachte schon, ihr habt euch verfahren”, lachte Chris und schloss mich direkt in seine Arme. Ich drückte meinen Kopf in den Nacken und schnappte nach Luft. Umarmungen mochte ich nicht. Auch Niklas lief direkt zu Lina, um sie angemessen zu begrüßen, bemerkte ich im Augenwinkel.
      “Prinzessen, ihr könnt am Feuer rummachen”, alberte er glücklich und wir liefen hinüber zur Terrasse, bei der bereits der Grill loderte und auch die Feuerschale stand.
      “Nenn’ mich nicht immer so”, trabte Niklas uns nach. Dicht gefolgt von dem Rest. Ich sah mich um. Viele unbekannte Gesichter schauen zu uns, teilweise freundlich, teilweise abwertend, aber größtenteils neutral. Nur eine Person fehlte – Ju.
      „Eins musst du wissen“, zog mich Chris zur Seite. Ich wollte ihn gerade fragen, wo der Dritte des Gespanns steckte, doch dazu kam ich gar nicht. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
      „Und was?“, fragte ich verwundert, ziemlich leise.
      „Es hat die Runde gemacht mit dir und Niklas.“ Dass hier so getratscht werden würde, dachte ich mir schon. Es klärte die bissigen Blicke von zwei Damen, die auf einer Bank nebeneinandersaßen und tuschelten.
      „Und woher wissen sie das?“ Wild gestikulierte ich herum und Chris hielt meine Arme fest, denn ich war im Inbegriff ihn gegen den Bauch zu hauen.
      „Anna.“ Ach, das hätte ich mir denken können. Egal. Die blöde Kuh würde ich hoffentlich in der nächsten Zeit nicht mehr sehen müssen. Es reichte schon die Turteltauben neben mir zu haben, denn aus unerklärlichen Gründen beschäftigte Nik sich nur mit Linas Körper und hatte sich nicht einmal ihrer Schwester vorgestellt. Warum beschäftigte mich das so? Es brodelte in meinem Bauch, meine Hände zitterten und auch die Knie wurden weicher. Vermutlich lag es daran, dass Erik kein Fünkchen Interesse mehr zeigte, obwohl er täglich mehr als eine Nachricht von mir bekam. Wenn es so weitergeht, würden mir noch mehr Haare ausfallen.
      „Ich hoffe, dein Freund weiß von deinen Ausrutschern“, fauchte mich eine der beiden von der Bank an. Verwirrt sah ich zu ihr, dann zu meinem Bruder und deutete mit dem Finger auf ihn.
      „Schätzchen, das ist mein Bruder“, lachte ich böswillig und setzte mich auf einen der Baumstämme.
      “Welche Ausrutscher?”, fragte er mich leise.
      “Darüber reden wir wann anderes”, maulte ich ihn an. Freundlich, wie Chris war, brachte er einen Teller mit Gemüse und setzte sich zu uns.

      Lina
      “Juli, bist du jetzt mal endlich so weit. Ich mach jetzt das Licht aus”, verkündete ich, während ich noch mal prüfe, dass ich meinen Wecker richtiggestellt hatte. Ziemlich früh mussten Vriska und ich morgen die Pferde reinholen.
      “Ja, ich komme ja”, rief meine Schwester aus dem Bad, bevor von dort aus noch einmal in die Küche wuselte. Juliett war schon immer ein Nachtschwärmer gewesen und wenn es nach ihr gegangen wäre, wären wir auch noch länger geblieben.
      “Der Abend hat echt Spaß gemacht. Ach, und ich mag deinen Freund, den darfst du behalten”, vermeldete sie und ließ sich endlich auf dem Bett nieder.
      “Seit wann brauche ich denn deine Erlaubnis für meinen Freund? Aber genug, jetzt ich muss morgen früh raus, Gute Nacht”, scherzte ich und reckte mich aus dem Bett, um die Nachttischlampe auszuknipsen. Mit einem leisen Klick erlosch die Glühbirne.
      “Schlaf gut”, hörte ich Juli noch sagen, bevor Stille im Raum lag, die einzigen Geräusche waren leises atmen und ab und zu raschelte ihrer Decke, wenn sie sich bewegte. Dass meine Schwester heute Abend Spaß gehabt hatte, wunderte mich eigentlich nicht. Schon immer war sie der kontaktfreudigere Mensch von uns beiden. Egal, wo man war, ob sie die Leute kannte oder nicht, sie schaffte es immer irgendwelche verrückten Gespräche zu führen. Somit verbrachte Juliett den Abend damit, von Grüppchen zu Grüppchen zu wandern und überall ein paar Gespräche zu führen. Trotz der vielen fremden Menschen, hatte sogar ich meinen Spaß gehabt, zumindest nachdem ich mein Gewissen erleichtert hatte. Zu Beginn fand ich die neidischen und verachtenden Blicke, die mir einige der Damen zuwarfen, überaus unangenehm. So ganz durchblickt, hatte ich die Gründe für diese Abscheu nicht, aber bei den jüngeren Mädchen im Verein schien Niklas so etwas wie das höchste Achievement zu sein, was nur einem exklusiven Club an Auserwählen zustand. Zwei dieser Grazien nutzen jede Gelegenheit, um ziemlich erfolglos die Aufmerksamkeit meines Freundes auf sich zu ziehen. So kindisch wie sie sich verhielten, hätte ich das Ganze fast lustig gefunden, wenn die beiden dabei nicht so penetrant und nervig gewesen wären. Offenbar gingen sie nicht nur mir auf die Nerven, denn Vriska sah ich den ganzen Abend lang nicht, bis wir uns wieder auf den Nachhauseweg machten. Nik, dessen Pegel ziemlich sicher schon bei meiner Ankunft nicht mehr bei 0 lag, hatte eher anderes im Kopf und störte sich reichlich wenige an dem Spektakel drumherum. Man könnte jetzt denken, dass die ungeteilte Aufmerksamkeit des äußerst attraktiven Mannes an meiner Seite dazu beitrug, dass ich den Abend genießen konnte, doch das Gegenteil war der Fall. Beim Fertigmachen vorhin war mir das Armband, was Jace mir schenkte entgegengefallen. Wie ein ungebetener Reminder, glitzerte es mir vom Boden entgegen und augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass ich Nik bisher nichts davon erzählte, was zwischen mir und Jace auf dem Reitplatz geschah. So wuchs mit jeder Minute am Feuer der Drang danach, Niklas von dem Ereignis zu erzählen. Letztlich nutzte ich einen Moment, in den wir allein waren, um mein Gewissen zu erleichtern. Erstaunlicherweise reagiert Nik ganz entgegen meiner Erwartung. Statt sich darüber aufzuregen, war er äußerst belustigt darüber, hoffentlich würde er das auch nüchtern noch ähnlichsehen. Er sah in ihm keine ernsthafte Konkurrenz, denn seiner Meinung nach, könnte ohnehin niemand mithalten. Das empfand ich als ziemlich selbst überschätzt, aber gut. Nachdem er sich ausgiebig darüber amüsiert hatte, wollte er lieber mit mir über Smoothie reden. Aufgrund ihrer Arthrose sollte sie nun in Turnierrente gehen. Neben seinem Job würde Nik es unmöglich schaffen sich um zwei Pferde zu kümmern, weshalb ich sie abtrainieren sollte. Deswegen und weil sie ohnehin nicht weiter auf der Rennbahn stehen konnte, sollte die Stute auf das LDS ziehen. Sonntagabend wollte er die Schimmelstute zusammen mit Humbria vorbeibringen und Form wird gleichen mitzunehmen. Ich wusste sehr zu schätzen, dass er seine Stute in meine Obhut gab, denn ihm lag mindestens so viel an Smoothie wie mir an Ivy. Keinesfalls würde er Smooth jedem einfach so anvertrauen.
      Allmählich wurden meine Glieder schwerer. Die Worte in meinem Kopf schienen sich voneinander zu lösen, zusammenhanglos durch meinen Kopf zu schweben bis Träume daraus wurden.

      Vriska
      „Es tut mir leid“, raunte es in mein Ohr als wir eng umschlossen in der Box im Stutentrakt standen. Wie ich oder besser gesagt wir beide hierherkamen, wusste ich nicht. Beherzt griff er mich an meinen Oberschenkeln und drückte mich gegen die Boxenwand. Ein stummes Stöhnen verließ meine Lippen und ich tauchte in eine andere Welt ab.
      Der Wecker klingelte. Fünf Uhr dreißig. Bestürzt schüttelte ich den Kopf. Was war das bitte? Erschöpft stieg aus dem Bett und lief zuerst ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Der Traum steckte noch tief in meinen Knochen und zeigte mir klar auf, was mich gestrigen Abend belastete. Lina hatte, was ich nicht haben konnte. Sie fühlten sich wohl beieinander, es war eine Geborgenheit, ein Vertrauen, dass mir keiner schenkte. Ich setzte mich mit einem Kaffee bewaffnet und der nicht mehr so wirklich Notfallschachtel, denn ich hatte mittlerweile schon so viele gekauft an der Tankstelle, dass es nicht mehr zur Stressbewältigung beitrug, an dem Tisch auf der Terrasse. Es ließ mich nicht los. Hätte ich nicht plötzlich entschieden, meine Zeit mit Erik zu verbringen, würde er mir gehören. Nur mir allein. Lina brauchte ihn mehr als ich, aber die Trauer jagte mich. Nun sogar im Traum.
      “Stopp”, sagte ich laut zu mir, um der Spirale zu entfliehen. Tatsächlich half es mir immer wieder das Wort zu wiederholen, um zurück auf eine gerichtete Spur zu kommen. Denn ich musste los zur Arbeit. Am Himmel traten durch die Baumkronen die ersten Strahlen der Sonne und spiegelten sich in den Scheiben der Reithalle. Ein Zeichen dafür, endlich voranzugehen.
      “Guten Morgen”, begrüßte ich Lina beiläufig und winkte sie zu mir. Wir besprachen kurz, wer was machen würde und im nächsten Augenblick trennten sich schon wieder die Wege. Ich übernahm die Hengste. Ralle, der Kaltblüter vom Hof bereitete mir noch immer Sorgen. Er war ein ruhiger und sanfter Hengst, dennoch beeindruckte er mit seiner Größe. Alles an ihm wirkte überdimensioniert und gigantisch im Vergleich zu meinen Ponys. Freundlich schnupperte Ralle an meiner ausgestreckten Hand. Seine großen Nüstern prusteten im Takt der Atmung und ich schob auf Zehenspitzen das Halfter über seine Ohren. Er senkte ein Stück den Hals, um mir zu helfen. Ich strich ihm lobend den kräftigen Hals, bevor es weiter ging in den Stall. Im Hintergrund vernahm ich das Getrappel der Stuten, die Eilig in den Stall stürmten. Als Nächstes folgten noch unsere beiden Stammrennpferde sowie Middy die mit Lundi und Kölski auf einer weiter entfernten Weide standen. Unser Sorgenkind entwickelte sich prächtig. Mit aufgestelltem Schweif tollte er um uns herum, trabte vor und galoppierte mit einer schnellen wieder in unsere Richtung. Lundi hingegen folgte eng seiner Mutter und traute sich kein Schritt von ihr zu entfernen. Uns entgegen kam Lina – freudestrahlend.
      “Dieser kleine Wirbelwind da ist einfach nur entzückend! Toll, wie viel Lebensfreude er ausstrahlt”, teilte sie mir hochgestimmt mit. Innerlich drehte es sich bei mir, als sie sprach. Ja, ich wollte nicht weiter daran denken. Aber nein, das fiel mir schwer. Knirschend schliffen meine Backenzähne sich aneinander und ich atmete mehrmals tief durch.
      “Dafür, dass er, wie wir, ein Verstoßender ist, merkt man das nicht”, lachte ich aufgesetzt und merkte, dass der Kommentar nicht angebracht war. Zu spät. Im Stall spielte sich Middy auf. Sie tanzte auf der Stelle und hob den Kopf, als Ralle neugierig zu ihr blickte. Der Zickerei schenkte ich keine Beachtung und öffnete die Boxentür, in die die Fohlen direkt liefen und sich in den frischen Spänen fallen ließen. Lina sparte es sich weiter mit mir zu sprechen, was wohl für uns beide einfacher war. Stattdessen lief sie aus dem Stall heraus, schließlich war es das erst mal mit der Arbeit. Sauber machen brauchten wir nicht, denn die Pferde standen über Nacht auf den Weiden und die werden in den nächsten Wochen ohnehin gemulcht, um sie für den Heuanbau vorzubereiten. Somit blieb es an mir hängen, die Halle noch einmal zu Wässern, bevor auch ich erst mal zurückging, um noch einmal ein kurzes Nickerchen auf der Couch zu machen, hoffentlich, ohne seltsame Träume.
      Hämmernde Geräusche. Meine Augenlider sprangen auf und ich auch. Harlen schlief wie ein Stein, nicht ein Muskel zuckte. Wie konnte man den Lärm so leicht ignorieren? Unglaublich! Ich lief geradewegs zur Tür und Tyrell stand verärgert vor mir.
      “Kommst du dann mal endlich?”, fragte er provokant. Nickend schloss ich den Kopf und folgte zur Halle. Fertig gesattelt stand Fruity in der Putzbox mit einem Halfter um den Hals. Sie wirkte müde und die Augen schlossen sich langsam, das Hinterbein aufgestellt. Meinen Helm drückte er mir direkt in die Hand.
      Nach dem Training stellte ich das verschwitzte Pferd zurück auf den Paddock. Sogleich schließ sie sich in den Sand fallen und eine ordentliche Panade entstand auf beiden Seiten.
      “Fahren wir dann rüber?”, fragte Harlen und wedelte mit den Autoschlüsseln in der Hand. Ich nickte, aber brachte vorher noch das Halfter zurück in den Stall. An meinem Auto trafen wir uns wieder, nach dem ich Lina vorsorglich fragte, ob sie ebenfalls mitkommen wollte. Sie arbeitete wieder mit Lu im Roundpen und verneinte. Glücklich darüber, sie nicht auch noch am Hals zu haben, fuhren wir los. Harlen saß am Steuer. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete die Landschaft, die wie in einem Film an uns vorbeizog. Die Vorgärten sammelten erste Blätter an, die ich bei der Fahrt in der vergangenen Nacht nur spärlich erkennen konnte. Es hatte etwas Romantisches in Schweden zu leben. Der Schritt von London nach Brandenburg, in Deutschland, hatte bereits seine Tücken und Unterschiede gezeigt, doch war keinesfalls vergleichbar mit dem Leben auf der Halbinsel. Direkte Nachbarn am Hof gab es nicht, aber im nächsten Dorf wurden wir freundlich begrüßt. Bei der Eröffnung konnte jeder kommen und beinah alle Bewohner der Insel ließen sich die Chance nicht nehmen, den neuen Erlebnishof zu entdecken. Tyrell hatte große Bedenken, wie sie reagieren würden. Niemand hegte Zweifel oder sprach negativ darüber, ganz im Gegenteil. Sie legten unsere Flyer in ihren Geschäften aus und Kinder kamen bereits nach einigen Tagen, um Reitstunden zu vereinbaren. Wir unterstützten einander und bekamen viel Zuspruch. Das bestärkte alle an dem Projekt festzuhalten, auch wenn es schwieriger wurde. Besonders jetzt hatten wir so was wie eine Flaute. Deswegen hatte Tyrell vor ungefähr einem halben Jahr die Pension angeboten. Das Schwelgen in Erinnerungen wurde mehrfach von Harlen unterbrochen, der fluchend stark bremste. In seinem Kopf war er noch im Linksverkehr und missachtete Vorfahrtsregeln, wodurch er angetippt wurde und aufgebrachte Fahrer hervorbrachte. Ich konnte nur lachen, denn ich kannte es aus Deutschland, nur dass mir dort einige Male prügle angedroht wurde, wenn jemanden die Vorfahrt nahm.
      Harlen hatte noch nicht einmal den Motor abgestellt, als ich bereits die Beifahrertür aufriss und aus dem Auto hechtete. Meine Tasche entnahm ich aus dem Kofferraum und lief zum Tor. Es war zu. Ich sah mich um. Am Hof stand bis auf unser Auto und dem einen Transport von drei kein weiteres Fahrzeug. Einige vereinzelte Pferde liefen auf ihren Paddock auf und ab und auf der Trainingsbahn fuhren Jockeys mit den Trabern.
      “Fällt dir noch der Code ein, oder musst du wen anrufen?”, kam mein Bruder dazu und sah wie ich fragend das Tastenfeld an, dass neben dem Tor an einer kleinen Hütte befestigt war. Tatsächlich wusste ich den Code einmal und hoffte, dass er mir wieder einfiel. Nervös scrollte ich durch meine Notizen, in denen ich nicht fündig wurde. Dann wechselte ich mit wenigen Berührungen in das Mailfach und sah die einzelnen Nachrichten durch, bis ich endlich die wichtigen Informationen fand. 1-5-9-3-0-4 tippte ich nacheinander ein und wie von Zauberhand schob sich das Tor nach rechts und ging auf.
      “Ich bin groß genug, um das ohne Hilfe zu schaffen”, strahlte ich und lief durch.
      “Alt genug eventuell, aber groß genug auf keinen Fall”, neckte er mich und folgte.
      Obwohl ich wusste, dass die Zuteilung der Prüfungspferde zufällig sein würde, übte ich heute alle praktischen Teile noch einmal. Glymur tat die Pause gut. Mit viel Elan tippelte er voran und hatte aus Kanada genauso viel mitgenommen wie ich. Nebenbei stellte mir Harlen diverse Fragen, sowohl aus dem Fragenkatalog als auch darüber, was ich gerade tat. Im Klaren zu sein, dass die Prüfungen immer näher rückten, machte mich nervös. Genauso nervös, dass ich mit Fruity in einer Dressur reiten soll. Meine Hände zitterten. Wie würde es weitergehen? Schaffe ich das alles?

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 22.936 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel fyra | 21. Oktober 2021

      St. Pauli’s Amnesia / Forbidden Fruit LDS / Glymur / Erlkönig / HMJ Divine

      Vriska
      Drei Uhr. Morgens. Wildes Gepolter ließ mich aus dem Bett hochschrecken. Das konnte nicht wahr sein! Harlen räumte seine Sachen aus dem großen Koffer, mit dem er anreiste.
      “Oh gut, du bist wach. Sag mal, was zieht man zu so einem Pferdedingsi an. Das oder das?”, vollkommen euphorisch hielt er zwei Kleidungsstücke in meine Richtung.
      “Eher das links”, murmelte ich und zeigte auf den dunkelblauen Blazer. Zustimmend nickte Harlen und legte das Oberteil über die Lehne des Stuhls. Dann griff er nach zwei Hosen, bei denen auch er wieder meine wenig professionelle Hilfe benötigte.
      “Warum fragst du mich das jetzt ausgerechnet? Wolltest du nicht noch die Haare gemacht haben?”, stöhnte ich und packte meine Haare in einen Zopf. Überall hingen die Strähnen heraus. Den Morgen vor einem Turnier stellte ich mir immer romantischer vor. Natürlich war es nicht mein Erstes, aber heute fühlte es sich anderes an. Linas netten Worte hallten noch leise in einem Teil meines Kopfes und auch die Bilder von der Show auf dem Whitehorse Creek hatten sich eingebrannt. Wir hatten tatsächlich Bilder davon bekommen, auch wenn ich auf jedem ein ziemlich unpassendes Gesicht machte, war ich dankbar für diese Möglichkeit. Glymur sah toll aus.
      “Kommst du jetzt, oder willst du dir das Dingsi nur auf dem Handy anschauen?”, neckte mich mein Bruder und zog die Decke herunter. Wo hatte er diese Euphorie her? Erst heult er wie ein Schlosshund, um jetzt wie auf Kokain durch das kleine aber feine Eigenheim zu rennen.
      “Harlen, das nennt man Turnier. Du könntest deiner ausgelaugten Schwester einen schwarzen Kaffee zubereiten”, schlug ich stattdessen vor. Die Decke versuchte zurückzuerobern, was missglückte. Lachend zog er die letzten Millimeter weg. Ein kalter Luftzug strich mir um die Zehen. Das Zeichen nun das warme kuschlige Bett zu verlassen und mich anzuziehen. Fürs Erste reichte eine der Jogginghosen, dem dunklen Kapuzenpullover und irgendein Shirt.
      “Und was Ordentliches hast du nicht parat?”, musterte Harlen meine Outfitwahl und drückte mir meinen Kaffee in die Hand. Ein leicht verbrannter Geruch stieg mir in die Nase, auch eine Nuance von Holz kitzelte meine Duftstoffrezeptoren. Genussvoll schlürfte ich einen Schluck des Heißgetränks. Vor dem Spiegel bewunderte ich mein gewagtes Outfit. Lächelnd entschied ich mich dagegen, etwas anderes überzuziehen.
      “Haben ja, wollen nein. Also komm, wir haben nicht ewig Zeit”, triezte ich ihn und verschwand im Badezimmer, um das Wasserstoffperoxid mit dem violetten Blondier Pulver zu vermischen. Darauf entstand eine elastische blaue Masse, die glücklich auf seinem Haar verteilt werden wollte.
      “Und das wird wirklich nicht gelb?”, erkundigte sich Harlen noch mal.
      “Hatte ich je gelbe Haare?”, verdrehte ich die Augen und trug das Zeug weiter auf. Als sich alles gut verteilte, legte ich eine Folie auf und trank den Kaffee aus.
      “Du machst dir das selbst?”, wunderte sich mein Bruder und musterte er die dicken weißen Haare, die teilweise aus dem Zopf quirlten.
      “Selbst ist die Frau, weißt du”, erklärte ich. Das konnte nun zweideutig betrachtet werden, was Harlen nicht raffte. Sein Hirn war sehr kindlich, beinah naiv. In den Menschen sah er immer das Positive, fühlte, was sie wollten und bot sich dem an.
      “Also in 10 Minuten musst du es ordentlich auswaschen und dann Shampoo. Mich ruft nun ein Pferd im Stall. Wir sehen uns am Auto?”, betonte ich die Wichtigkeit pünktlich vom Hof zu kommen. Mit weichen Knien setzte ich den ersten Schritt vor die Tür. Auf dem menschenleeren Hof herrschte eine unheimliche Stille. An Linas großen Fenstern schimmerte gedämpftes Licht nach draußen und auf dem Vorhängen zeichneten sich verschwommene Silhouetten ab. Sie huschten von links nach rechts. Offensichtlich hatten nicht nur Harlen und ich am frühen Morgen einiges zu tun. Aus dem Stall drang schmetternder Hufschlag auf dem Stein in die Stille. Schnellen Schrittes folgte ich den Geräuschen und entdeckte Tyrell, der verzweifelt versuchte, Fruity Transportgamaschen anzulegen.
      “Je hektischer du an sie herantrittst, umso weniger wird das zum gewünschten Erfolg führen”, schlug ich verwundert vor und griff nach eine der Gamaschen. Schon bei dem bloßen Anblick schlug sie hektisch den Kopf nach oben und der Schweif peitschte gegen die Holzwände der Putzbox.
      “Ach, gehst du jetzt unter die Pferdeflüsterer oder was ist los mit dir?”, fauchte Tyrell.
      “Willst du nicht lieber ins Bett gehen und wir fahren allein?”, deutete ich vorsichtig an. Kleine Blitze flogen in meine Richtung und für einen Moment gewann die Stille wieder ihre Oberhand.
      “Tatsächlich wollte ich darüber noch mit dir sprechen. Ich habe mehrere Termine reinbekommen und Ralle soll Beritt bekommen”, änderte sich sogleich seine Stimmung, unterstützt von einem Gähnen. Zustimmend nickte ich, bekam die Schlüssel in die Hand und dann verschwand er geradewegs aus dem Stall.
      “Jetzt müssen wir wohl allein klarkommen. Was hältst du davon, dass ich dir die hohen Gamaschen befestige anstelle dieser Dinger?”, unterhielt ich mich mit Fruity und zeigte auf die Transportgamaschen. Als verstände sie mich, wippte sie mit dem Kopf. Kurzerhand huschte ich in die Sattelkammer mit einem schnellen Blick auf die Uhr, noch blieb etwas Zeit übrig. Bereits in der zweiten Metallkiste fand ich alle vier Teile des Beinschutzes. Deutlich zufriedener betrachtete sie die hohen Gamaschen und stand geduldig, bis ich fertig war.
      “Ich schaue dann mal noch, ob die anderen so weit sind und ob das Gepäck vollständig ist. Warte hier”, beruhigte ich Fruity noch einmal und trat schnellen Schritts zum Hänger. Auf dem Weg schaltete ich die Außenbeleuchtung an und öffnete erst die Klappe und dann die Seitentür. Der Sattel hing auf seiner Stange, zusammen mit der Trense und auch der Putzkasten fand seinen Platz. Darin befanden sich ebenfalls Gamaschen zum Warmreiten, also waren wir fertig. Im Augenwinkel vernahm ich, dass das Licht erlosch in Linas Fenstern und dumpfe Schritte auf dem Holz lauter wurden. Juliett schleppte sich viel mehr zur Treppe, so früh aufstehen, war sie offenbar nicht gewohnt. Aus dem Stall hörte ich wieder Getrappel. Fruity wurde ungeduldiger und auch mir wurde unwohl im Bauch. Es drückte unangenehm auf Magenhöhe und beim Schlucken brannte es. Vier Stunden Autofahren bei maximal fünf Stunden Schlaf befürwortete keine angenehme Reise.
      „Fruity, ich muss noch schnell was machen, dann gehen wir los, Okay?“, erklärte ich dem Pferd, dass ohnehin kein Wort verstand. Die Stille kam wieder und ich lausche den gedämpften Geräuschen, die in den Stall schwebten. Schweden schlief noch, aber ich fuhr mit vier Leute nach Stockholm, auf ein Turnier, das ich gar nicht reiten wollte. Eine Turnierteilnahme, die Tyrell in die Wege geleitet hatte, um eins seiner besten Pferde zu präsentieren, ohne dabei zu sein. Das bedeutete, dass Lina mir auf dem Abreiteplatz letzte Ratschläge geben müsste. Vor Kummer atmete ich aus und zog mein Handy aus der tiefen Hosentasche. Eilig tippte ich eine sinnlose Nachricht an Erik, die er ohnehin nicht beantworten würde. Mittlerweile wurde unser Chatverlauf so etwas wie mein persönliches Tagebuch, auf das niemand ein Blick warf.
      “Abfahrbereit?”, fragte ich aufmunternd. Ein leises Raunen ging durch die Menge und jeder nahm Platz im Fahrzeug.

      Unbeschadet kamen wir auf dem riesigen Gelände in Stockholm an. Viele bunte Hänger, Autos und Transporter standen geordnet auf der feuchten Wiese. Diverse Reifenspuren übersäten das saftige Grün mit dunkeln Einkerbungen im Mutterboden. Langsam suchten wir einen Platz und Harlen wies mich an einer geeigneten Stelle ein.
      „Stooooooop“, rief es von draußen. Schnell drückte ich in die Eisen und abrupt kam das Gespann zum Stehen. Seltene Töne erhellten meine Ohren – Harlen fluchte. Irgendjemand drängelte sich unhöflich zwischen ihm und dem Fahrzeug auf dem Rücken eines dazwischen. Um Haaresbreite verfehlte ich das Paar, dass mich auf Schwedisch beleidigte. Welch eine Gastfreundlichkeit. Als der Hänger schließlich richtig stand, bauten wir den Paddock auf, entfernen die Zwischenwand aus dem Hänger und Harlen errichtete das Zelt einige Meter entfernt. Juliett schlief derweil auf der Rückbank und bekam von dem ganzen Stress nichts mit. Zu guter Letzt koppelte ich noch das Zugfahrzeug ab und stellte es schützend auf die andere Seite des Zeltes. Wir richteten uns ein. Es gab zwei separate Kabinen, in denen jeweils Platz für fünf Personen war. Das Zelt wirkte beinah wie ein Luxushotel, wenn man die Augen schloss. Nun holten wir auch Juliett aus dem Auto, die vollkommen zerknittern sich aufrichtete und auf eine der Luftmatratzen weiterschlief. Ich für meinen Teil machte mich auf den Weg zum Getränkewagen, um mir einen Kaffee zu holen, der wohl auf einem Turnier wie diesem nicht viel besser schmecken würden, als bei unseren Isländern.
      “Hej, hade du en kort natt också? (Na, hattest du auch eine kurze Nacht?)”, lachte der ältere pummelige Mann mit Bart im Getränkewagen, als er mir eine dünne dunkle Flüssigkeit reichte, die ich ihm mit 30 Kronen entlohnte – Stolzer Preis, für Filterkaffee! Nach dem ersten Schluck wurde mir klar, dass er nicht so schlecht wie erwartet schmeckte, aber dennoch nicht ein Vergleich zu meiner Kaffeemaschine war. Ich lächelte ihm freundlich zu und drehte um. Fruity graste friedlich. In zwei Stunden mussten wir anfangen.
      Für einen Augenblick schloss ich die Augen und wachte im nächsten Moment durch warme Hände auf, die schützend auf meinen Knien lagen. Harlen hockte breit grinsend vor mir. Die Sonne blendete mich und hastig hielt ich meine Hände vor meine Augen.
      “Schätzchen, ich würde dich nicht wecken, wenn du langsam mal dein Pferd fertig machen solltest”, verteidigte er seinen Überfall und half mir aus dem wirklich unbequemen Campingstuhl nach oben.
      “Mh, okay. Wenn das so ist, ziehe ich mich mal um”, gab ich nach verkroch mich ins Zelt. Dort wechselte ich zur weißen Hose und dem dunkelgrünen Jackett, auf dem unser Logo am Rücken aufgestickt wurde. Auf Herzhöhe stand mein Name. Jeder hatte eine Ausstattung bekommen und Tyrell gab ein Haufen an Geld dafür aus, um jedem Mitarbeiter eine ordentliche Bekleidung zu übergeben. Es machte etwas her, doch welche Notwendigkeit es gab, konnte ich mir bis heute nicht ganz erklären.
      Angespannt sah ich mich um. Verschiedene Reiterpaare tummelten sich auf dem Platz. Es lockte auch viele Zuschauer an, denn heute standen diverse Disziplinen auf der Liste, jedoch sah ich bis auf mich niemand, der gar einen barocken Eindruck machte. Zumindest bekam ich diese Informationen. Miss billig betrachteten
      “Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Tyrell mich eine normale Dressur reiten lässt und nichts Akademisches”, sagte ich zu Lina, die ich im Schritt umkreiste.
      “Da hast du leider recht. Ich habe auf der Starterliste gesehen, dass du eine A* Kür vorstellst mit Fruity”, gab die zu. Unglaublich. Er hatte mich angelogen, um mich hier herzubekommen, aber mit welchem Ziel? Wohl kaum, dass das Pferd sich präsentierte, denn sie beherrschte höhere Lektionen.
      „Anstatt dir weiter darüber den Kopf zu verbrechen, solltest du mit Fruity mehr Warmreiten und sie mehr nach vorn bekommen”, half mir Lina, wieder in die Realität zurückzukehren. Am lockeren Zügel trabte ich die Stute an und bleib zunächst auf Zirkel. Etwas mehr versammelt begann ich mit Seitengängen auf der ganzen Bahn und Diagonalen. Nach einer Schrittpause nahm ich die Zügel wieder mehr auf. Fruity hatte einen guten Tag, wie immer eigentlich, sofern keine Transportgamaschen in der Nähe waren. Als ich zum Galopp ansetzte mit einem geplanten einfachen Wechsel, stellte sich ein Reiter auf dem Rücken eines Schecken in unseren Weg. Noch rechtzeitig bremste ich ab und galoppierte auf einer gebogenen Linie um ihn. Hatte ich das gerade richtig gesehen? Prüfend ritt ich einen Übergang in den Schritt, als sich dieser Reiter direkt zu mir gesellte und sich auf meiner Rechten anreihte. Das Pferd kaute zufrieden und streckte sich. Freundlich stupste Fruity sie an, aber wurde mit Nichtachtung gestraft.
      „Weißt du, was mich gewundert hat?“, fragte er und sah mich dabei mit einem verschmitzten Lächeln an.
      “Das ich keine Zöpfe bei einer Stehmähne binden kann?”, blickte ich verwundert zu ihm. Wenn ich ihm in die Augen sehen würde, könnte ich mich darin verlieren und das wollte ich auf jeden Fall verhindern!
      „Warte was? Nein! Eigentlich meinte ich, dass ich dich noch immer um den Verstand bringe“, flüsterte Niklas verspritzt. Woher wusste er das? Hatte Erik ihm das gesagt, oder wie sollte ich das verstehen? Ich sah mich um und bemerkte die Blicke der anderen auf dem Platz. Auch am Zaun tuschelten sie über uns. Lina hatte sich bereits aus dem Sand entfernt, denn es wurden immer mehr Reiter, die teilweise sehr grob ihre Pferde vorantrieben.
      „Warum zur Hölle weißt du das?“, zischte ich leise. Niklas lachte.
      „Wenn du mir sagst, was du meinst, dann beantworte ich dir die Frage“, provozierte er munter weiter, ungeachtet der anderen. Misstrauisch beäugte uns Lina, aber schwieg. Sie wirkte nicht verwundert, dass wir ihn hier trafen. Allerdings hoffte ich bis zum Warmreiten, dass es kein klischeebehaftetes Dressurturnier sein wurde, sondern ein schön kleines mit akademischer Ausrichtung.
      „Boah, wenn du dann Ruhe gibst! Ich stehe irgendwie noch auf dich. Okay? Immer wenn ich dich sehe, wird mir anderes. Irgendwie warm ums Herz und ich vermisse, was wir hatten. Also das körperliche meine ich, denn Rest nicht“, antwortete ich genervt. Was redete ich? Erstaunlich gut fühlte ich mich, wo er es nun auch wusste. Das, was mir bei Lina noch verletzte und schwer im Magen lag, erleichterte sich. Allerdings wünschte ich mir, nicht zwischen tausend Menschen ihm davon zu erzählen, sondern irgendwann bei einem wärmenden Feuer, mit viel Glögg in Eriks Armen und lachend, als eine Art ‘weißt du noch damals’. Stattdessen kochte ich in meinem lockeren zweifarbigen Hemd auf dem Pferd. Die Sonne meinte es gut mit dem Wetter, bei wolkenlosem Himmel und Temperaturen über zwanzig Grad.
      „Ich fühle mich geschmeichelt und wenn es nach mir ginge, könnte man es auch wiederholen“, schmunzelte Niklas. Das seltsame Kribbeln kam wieder. Fiel es ihm jetzt schon schwer, niemandem schöne Augen zu machen oder lag das Problem viel mehr bei mir?
      „Aha“, versuchte ich gelangweilt und desinteressiert zu wirken, obwohl ich am liebsten vom Pferd springen wollte, ihm das wunderschöne Jackett vom Leib reißen und was weiß nur Gott zu tun. Angeekelt von dem Gedanken knurrte mein Magen.
      „Jetzt bist du mir eine Antwort schuldig“, fügte ich hinzu und trieb die Stute energischer, um bei Amy Schritt halten zu können.
      „Da reden wir später drüber, schließlich sollst du für die Prüfung gut gelaunt sein. Denk einfach weiter an mich.“ Wie selbstverliebt wollte er eigentlich noch sein? Als müsse ich nur an ihn denken und plötzlich wurde alles rosarot. Dafür schmerzte es zu sehr, dass Niklas mit Lina zusammen war. Ich brauchte jemanden, der normal war.
      “Wo ist Chris?”, fragte ich schlagartig Niklas, der noch immer im Schritt seine Runden drehte.
      “Der müsste noch am Transporter sein, solltest du nicht übersehen”, antwortete er nach einer kleinen Denkpause. Ich bedankte mich noch und trabte zum Ausgang. Harlen stellte sich mir in den Weg.
      “Wo willst du hin? Du bist gleich an der Reihe”, sagte er verärgert und stellte seine Arme übermotiviert in die Hüfte. Durch glückliche Fügung musste ich mein Anliegen nicht formulieren, denn er lief geradewegs auf mich zu. Hektisch winkte ich und er kaum zu mir. Harlen machte den Weg frei, sah aber noch immer nicht begeistert aus.
      „Was machst du denn hier?“, fragte Chris überrascht und strich Fruity über den kräftigen Hals.
      „Reiten, obviously. Ich muss dich etwas fragen, aber nicht hier“, sagte ich. Er stimmte zu und wir ging zum Platz, auf dem ich gleich einreiten würde. Hier saßen noch mehr Leute, die gespannt auf die aktuelle Teilnehmerin blickten. Unter sich hatte sie einen übermotivierten Hengst, der seinen Teil gut machte, sie jedoch sehr unbeholfen wirken ließ.
      „Aber bevor du was sagst, zieh dich bitte ordentlich an“, musterte Chris mich und reichte mir sein viel zu großes Frack. Ich beäugte es kritisch, aber tauschte es schließlich gegen das Dunkelgrüne. Nun trug ich ein Kleid. War ich damit nicht etwas overdressed in einer A Dressur?
      “Ich reite doch gerade nicht im Team, warum soll ich das tragen?”, informierte ich mich.
      “Es ist auch unser Vereinsoberteil, wenn du genauer hinschaust und schließlich bist du auch in Kalmar. Also musst du das tragen. Aber jetzt sag schon, was ist los?“, grinste er.
      „Wenn ich das wüsste“, murmelte ich verschlossen und konnte nicht so richtig in Worte fassen, was mir gerade durch den Kopf ging.
      „Geht es darum, was du über unserem Prinzesschen geschrieben hast?“, lachte Chris. Natürlich wusste er es. Wenn hatte Erik das wohl noch alles gezeigt? Ju vielleicht? Wo war der eigentlich? Nach einigen hektischen Bewegungen auf dem Pferd, entdeckte ich ihn nicht, nur seine Stute, auf der Niklas noch immer Ritt. Wieder lief es mir kalt den Rücken herunter. Das Publikum klatschte verstohlen, gefallen fanden sie an dem Ritt nicht. Hoffentlich würde ich ihnen sympathisch sein.
      „Junger Mann, sie müssen jetzt leider Vriska verlassen“, kam Harlen freundlich dazu und nahm ihm mein Jackett hat. Ich würde als Nächstes vor dem Publikum reiten. Die Anspannung wurde immer größer, schließlich saß ich vor sechs Tagen das erste Mal auf diesem Pferd und bestritt nun eine Kür, wenn auch nur eine Anfängerkür aus dem barocken Bereich. Von Lina bekam ich noch einige nette Worte auf den Weg und ritt im Trab ein.
      „Ett okänt ansikte träder nu in på arenan. Vriska Isaac på Forbidden Fruit LDS, ett sexårigt barockridningssto, för Ridklubben Kalmar. Lycka till! (Ein unbekanntes Gesicht betritt nun Platz. Vriska Isaac auf Forbidden Fruit LDS, eine sechsjährige Barockhäst Stute, für den Ridklubben Kalmar. Viel Erfolg)“, ertönte es aus den Lautsprecherboxen.

      Niklas
      Mit einem mulmigen Bauchgefühl betrachtete ich wie Vriska mit der hübschen Stute einritt, während die vorherige Reiterin hastig vom Pferd sprang eine Standpauke der Familie kassierte. Eine andere junge Dame riss ihr förmlich die Zügel aus der Hand und führte das nervöse Tier von der Menschenmasse weg. Die Sitze der Arena waren gut gefühlt und selbst ich verspürte eine kleine Aufregung. Es war die erste L-Dressur für Amy. Ju meldete sich seit Kanada nur noch spärlich und auf dem Hof bekam niemand ihn zu Gesicht. Umso erstaunlicher war ich, als die Nachricht kam, ob ich Zeit hätte, Amy vorzustellen. Als sein eigentlich bester Freund unterstütze ich ihn dabei, obwohl ich mir unsicher war, was seine Abwesenheit hervorrief. Die gewählte Musik von Vriska passte zu ihrem Auftritt. Südliche Klänge schallten über den Platz und alle Blicke waren auf das Pferd-Reiter-Paar gerichtet. Dabei bemerkte ich auch Lina.
      „Mamma! Du har klarat det (Mama, du hast es geschafft)“, freute ich als meine Mutter auf ihren hohen Schuhen durch den Sand stampfte und ihre Hand auf meinem Oberschenkel ablegte. Erst nach einem herzlichen Kuss erzählte sie von der schrecklichen Fahrt zum Gelände und wie sehr Vater die Idee hasste, dass sie herkam. Widerlicher Kerl!
      „Jag är ledsen att du inte kan delta med din nya ponny (Es tut mir leid, dass du nicht mit deinem neuen Pony teilnehmen kannst)“, sagte sie sanft und strich Amy über den Hals. Zusammen gesellten wir uns zu den anderen, wenn auch mit Abstand. Der heutige Tag war eine einzige Belastung. In meinem Kopf klang vor gut zwei Wochen unsere Abmachung noch nach einer vielversprechenden Idee, aber nach dem ich alles las, was Vriska belastete und sie für den Bastard empfand, konnte ich das nicht mehr. Mein Rücken schmerzte. Der Kopf fühlte sich an, als hätte ein Schwarm Wespen in ihm ein neues Zuhause gefunden und alle drei Sekunden flog eine Drohne gegen meine innere Schädelwand. Ich wich den Blicken aller aus. Ich hätte das nicht tun sollen. Denn Stress programmierte sich bei einem solchen Vertrauensbruch vor. Und dann war doch noch Lina, der ich auch nicht vor den Augen treten vermag. Wir sahen einander kaum, was verschiedene Gründe hatte.
      „Vad är det som händer med dig, Niki? (Was ist los mit dir, Niki?)“, bemerkte Mama meine Abwesenheit.
      „Äh … Jag är ett rövhål (Ähm … ich bin ein Arschloch)”, murmelte ich ihr zu.
      “Åh, älskling. Det får du från din far (Ach Liebling, das hast du von deinem Vater)”, lachte sie aufmunternd.
      “Men pappa älskar dig, eller hur? (Aber Papa liebt dich doch?)”, fragte ich irritiert. Ihr Lachen verstummte.
      “Niki, du är inte fyra år. Vid det här laget borde du veta att det är svårt med din pappa, men vi står alltid bakom varandra när något är fel (Niki, du bist keine vier Jahre mehr alt und solltest selbst wissen, dass mit deinem Vater schwierig ist. Aber wenn was ist, sind wir füreinander da)”, sprach sie ruhig weiter und legte die Hand wieder auf mein Bein. Mama war eine liebevolle Frau, wenn auch mit alten Idealen. Sie lernten sich damals in der Schule kennen mit sechzehn oder siebzehn Jahren. Keinen Tag getrennt, auch wenn Mama kurz davor war Vater zu verlassen, als sie von Eriks Existenz erfuhr. So ergab es im Nachhinein Sinn, durch seine seltsame Masche hielt er sie zu Hause, obwohl ich mir nichts anderes wünschte, als mit ihr ein schönes Haus zu suchen und aus den Familiengeschäften fernzubleiben.
      “Älskling? Var är din flickvän? (Schätzchen? Wo ist deine Freundin?)”, wechselte Mama schnell das Thema, nach dem durch meinen naiven Gedanken keine Antwort folgte. Mit meinem Kopf nickte in Linas Richtung, die immer wieder ein Blick zu uns warf, aber Vriskas Kür folgte. Wie viel sie von unserem Gespräch auf dem Abreiteplatz mitbekam, wusste ich auch nicht, aber wollte ich auch nicht. Ich hatte meine Triebe nicht im Griff in Vriskas Anwesenheit. Ihre Aura zog mich an, wie Motten vom Licht. Eine Motte, die genau wusste, dass sie sich verbrennen würde und elendige Schmerzen an dem heißen Leuchtstoffmittel erleidet. Sie vergaß es, nur um sich dem Verlangen hinzugeben. So verbrannte auch ich mich jedes Mal aufs Neue, um den Kick zu spüren und am Ende das Häufchen Elend zu sein, dass Mama aufmunterte.
      Ich schwang mich vom Rücken der Stute und lockerte den Sperrriemen des Gebisses um weitere Löcher. Mama nahm mir die Zügel aus der Hand und führte Amy. Sie lächelte. Zu Hause lächelte sie selten, versteckte sich hinter eine Maske aus Gleichgültigkeit und Achtung vor Vater. Beim Essen wird geschwiegen. Der Idiot geisterte immer in meinem Kopf herum, sobald ich Mama sah, vor allem wenn sie mit mir Zeit verbrachte und so viel anderes war, als er. Wenn sie einander nicht mehr liebten, wieso verließ sie ihn nicht? Jeder würde eine tolle Frau sie haben wollen, da war ich mir sicher!
      “Lina, det här är min mamma (Lina, das ist meine Mama)”, tippte ich meinen Zwerg mit einem Grinsen auf dem Gesicht auf der Schulter an.
      “Trevligt att träffa dig. Jag heter Onta (Schön dich kennenzulernen. Ich heiße Onta)”, stellte sich Mama höflich vor und sah herunter zu ihr.
      “Die Freude ist ganz meinerseits. Ich bin Lina”, erwiderte sie aufrichtig und reichte meiner Mutter höflich die Hand. Gerade als ein äußerst offenes Gespräch, zwischen den beiden entstand, übertönte die tobende Masse jedes sonst verständliche Wort. Unsere Augen richteten sich zu Vriska, die im Schritt am langen Zügel vom Platz ritt. Von einem zum anderen Ohr strahlte sie, wenn auch hochrot und vollends außer Atem. Sie warf das Jackett sich, lobte das Pferd und fasste kein klares Wort. Seit unseren gemeinsamen Abenteuern hatte ich sie nicht mehr so glücklich gesehen. Auch auf meinen Lippen bildete sich ein freundliches Lächeln.
      “Vem är den lilla? (Wer ist die Kleine?)”, flüsterte Mama, jedoch so laut, dass Chris es hörte, der sich mittlerweile dazu gestellt hatte. Etwas fernab vom geschehen standen wir und die Stute graste.
      “Sie ist jetzt eindeutig eine Targaryen! Schließlich verwandelte sich ihr Bruder nun endlich in Viserys. Hoffentlich trägt sie nicht auch noch das Drogo Kind in sich”, lachte Chris und sah mich dabei an.
      “Ich schlafe nicht mit meinem Bruder!”, echauffierte sich Vriska verständlicherweise.
      “Wovon sprecht ihr bitte?”, wunderte sich Mama, aber lachte ebenfalls.
      “Unwichtig”, murmelte ich und drehte mit den Augen.
      “Chris, kann es sein, dass du ein wenig zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht hast? Siehst du gleich auch noch ein paar Drachen herumflattern?”, scherzte Lina.
      “Erst mal brauchen wir drei hübsche Eier, zwei hätte ich schon”, bot er an mit nach oben gezogenen Brauen.
      “Chrisantos, ich verbitte mir solch unsittliche Witze”, ermahnte ihn Mama direkt. Jegliche Kommentare unter der Gürtellinie widerte sie an.

      Vriska
      Stolz strich ich Fruity immer wieder über den Hals und versuchte besten Gewissens mich daran zu erinnern, was in der Prüfung passierte. Wir schwebten über den Sand und nach dem Gruß zum Start der Prüfung schalteten sich alle Gedanken. Mein Blick nach vorn gerichtet und es verstummte um mich herum. Alles, was ich noch vernahm, waren die sanften Klänge der lebhaften und sehr feurigen Musik. Bei jeder Transition von tiefen Tönen zu hellen wechselte auch die Gangart oder auch die gezeigte Bahnfigur. Ihre Hufe, die sicher vom Boden emporhoben und sich legte, bestimmten den Takt meines Herzschlages. Wir wuchsen zusammen, nur uns beide gab es noch. Die Umwelt komplett ausgeblendet, folgte ich dem Ablauf der Kür, die wir mit einem Schulhalt beendeten. Es stand nicht im Kürbogen, aber vollendete für mich das, was wir bisher geleistet hatten. Tatsächlich erklärte der Sprecher beim Ausreiten, was ein Schulhalt sei und die Menge tobte. Ich sog die Aufmerksamkeit, wie ein Schwamm das Wasser, in mich hinein und ein Gefühlsausbruch aus Endorphinen übermannte mich, als ich im Schritt auf meinen persönlichen Fanclub zu Ritt. Dass Niklas ebenfalls dabei war, ließ mich kalt und traf mich erst, nachdem Chris unangebrachte Witze machte und es nicht für nötig hielt, meine positive Verstimmung zu akzeptieren.
      „Vivi? Wo ist denn die Schüssel?“, rief mir Harlen beim Wühlen in der Seitentür zu. Ich hatte ihn damit beauftragt das Futter für die Stute zubereiten. Augenscheinlich packte ich den Hänger nicht so gut, wie erhofft, denn auch meine Suchaktion scheiterte. Aus den Grashalmen sammelte Fruity die Müsli-Mischung und Obst auf. Ich beobachtete jeden Bissen und saß mit meiner weißen Reithose im Dreck. Harlen kam dazu.
      „Was bist du denn wieder so betrübt? Dein Ritt war klasse, alle waren begeistert!“, versuchte er mich aufzumuntern.
      „Stimmt schon“, murmelte ich abwesend. Das sanfte Knirschen bei den Kaubewegungen des Kiefers beruhigten mich ungemein. Dabei zupfte ich ebenfalls am Gras, wickelte die Halme um einen Finger, um sie dann voller Wut herauszuziehen.
      „Ist es der Tyri verschnitt, der dir Sorgen bereitet?“, erkannte Harlen meine Schwäche.
      „Kann man so sagen“, entschied ich die Wahrheit zu sagen.
      „Geht es um den Vorfall, der am Feuer angedeutet wurde und unserem Gespräch, dass du dich wegen etwas nicht schlecht fühlst, obwohl es die Gesellschaft so vorschreibt?“ hinterfragte mein Bruder kritische und musterte mich. Ich fühlte mich wie auf einem Präsentierteller, was mir vorhin noch gefiel aber nun eine zusätzliche Last auf meinen Schultern wurde.
      „Wir haben mehrfach miteinander geschlafen, einfach, weil es gepasst hat. Aber wir kommen sonst nicht gut klar, er nervt mich durch seine Art. Das kann ich nicht. Sobald er mit den Geldscheinen wedelt, sind alle direkt bei ihm und bewundern ihn“, schnaubte ich.
      „Vater hat genug dafür gesorgt, dass dir so was egal ist. Aber sag mal, wenn du ihn nicht magst, dann ist er auch nicht dein nicht Freund, der keine Antwort dalässt?“ Harlen legte dabei seine Hand auf meine linke Schulter und seinen Kopf auf die andere. Sanft strich ich ihm durchs trockene Haar. Als hätte Niklas Fledermausohren, stand er neben dem Hänger. Allein. Von unten nach oben sah ich auf. Mein Bruder hatte gar nicht so unrecht mit dem Tyri verschnitt. Rein von den äußerlichen Aspekten sahen sie sich ziemlich ähnlich. Weiße Turnschuhe, enge Hose, lockeres Shirt, Tattoos, kräftig gebaut und dazu ein markantes Gesicht mit einem gepflegten Bart. Nicht zu vergessen, die Wortgewandtheit. Es fehlte nur das Snap Back. Tatsächlich trug Niklas ausnahmsweise etwas auf dem Kopf – Das Cap vom Nationalteam. Als würde sein reines Auftreten nicht für genug Aufmerksamkeit sorgen, schrie nun auch noch das Logo nach ‘Sieh her, wie toll ich bin. Ich reite für das Nationalteam und sehe traumhaft aus.‘ Ekelhaft.
      „Ich bin dir noch eine Antwort schuldig“, sagte er freundlich und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Doch, ich stand ohne seine Hilfe aus dem Gras auf und folgte ihm einige Meter auf dem Weg, bis er stehenblieb und sich bedenklich umsah.
      „Vorher muss ich noch etwas wissen“, formulierte Niklas sein nächstes Anliegen, als sei das alles eine Quizshow.
      „Wie viel denn noch, bis du mir die Frage beantwortest?“, fragte ich genervt und wollte wieder zurück zu Harlen. Ich fiel vom Regen in Traufe. Augenscheinlich ritt ich eine fabelhafte Kür mit allen Elementen, die man für eine gute Geschichte brauchte mit einem fesselnden Spannungsbogen. Die Anerkennung dafür schenkte mir jedoch niemand, stattdessen fühlte sich meine Euphorie wie Selbstüberschätzung, nicht entsprechend meiner Leistung. Als hätte ich die Erwartung der anderen enttäuscht, aber mich im Glauben gelassen, ein verstecktes Talent zu besitzen, dass meinen eigenen Rahmen sprengt. Mich aus der Festung der Einsamkeit entließe und neue Welten eröffnete, um weiter leben zu können. Der Schein trog.
      „Warum sagtest du es mir nicht früher? Es gab so viele Möglichkeiten“, entriss mich Niklas aus meinem Labyrinth der ewigen Trauer. Sein Blick wandte sich von mir und er fummelte an einem losen Ende seines Shirts herum, wischte damit ständig an seiner Hose herum. Kurz schloss ich meine Augen, um der schwingenden Bewegung nicht mehr zu folgen und eine Antwort zu verfassen.
      “Weil mein Hirn es als unvernünftig hält, mit dir weiter Zeit zu verschwenden. Aber dein gnädiger Bruder scheint auch ziemlich viel von eurem Vater zu haben”, schnaubte ich unerwartet. Das wollte ich gar nicht sagen! In meinem Kopf suchte ich noch immer einen Ausweg, um auf den rechten Pfad zurückzukommen. Neben dem ungestillten Verlangen, dass ich in seiner Nähe verspürte, gesellte sich die Angst dazu, ihn zu verlieren. Zu verlieren, was Niklas in mir auslöste und den letzten Funken an Freude endgültig zu verbannen. Mein Pfeil aus unbarmherzigen Worten traf ihn ins Herz. Er biss sich verlegen auf der Unterlippe herum und ballte die Faust, die zuvor noch am Shirt sich festhielt.
      „Ach, wenn das so ist. Erik und ich haben einen Deal. Ich sollte die Nachrichten abfangen, die du ihm schreibst und entscheiden, ob du ihm überhaupt würdig bist. Aber offenbar bist du auch nichts weiter als irgendjemand, der mir eins auswischen will und dafür meinen Bruder benutzen möchte. Er hat es auch nicht leicht, okay? Die Welt dreht sich nicht nur um dich. Diverse Leute fühlen sich belästigt von dir und allem woran du denkst, bist du. Nur du, du und du. Such dir wen anderes, der das erträgt. Wir sind zu gut dafür“, brüllte Niklas mich erkaltet an. Seine glasigen Augen reflektierten das Sonnenlicht wie die Wasseroberfläche eines tiefen Sees. Stumm sah ich zu ihm und hoffte die passenden Worte zu finden, die es nicht gab. Nichts konnte entschuldigen, was ich sagte. Die Leere breitete sich aus und schubste die letzte Hoffnung hinaus nicht nur Niklas als einen Freund in meinem Leben zu haben, sondern auch Erik jemals wiederzusehen. Schnaufend und kopfschüttelnd stieß er mich zur Seite, um wieder zu den anderen zu laufen. Vom Frust zerfressen rief ich ihm noch nach: “Immerhin habe ich Hintergrund im Gegensatz zu Lina.“ Es stoppte ihn. Er überlegte und kam wieder auf mich zu. Drohend fuchtelte Niklas mit seinem Finger vor meinem Gesicht.
      „Hintergrund also? Du meinst eine Firma, die gerade einen großen Skandal in den Medien ausgelöst hat, durch die falsche Beladung eines Schiffes wobei mehrere Tonnen Chemikalien in den Fluss gelangten? Die Firma, die gerade im wahrsten Sinne des Wortes den Bach heruntergeht? Die Firma zu der mein Vater alle Geschäftsbeziehungen gekündigt hat? Lustig. Ich schätze, dein ach so toller Hintergrund bringt dir nun auch nichts mehr“, fluchte er. Das Bedrohliche an ihm ließ mich schwach werden und vollkommen unüberlegt, umklammerte ich mich mit meinen Armen seinen Hals. Niklas stoppte in seinem Ingrimm. Für einen Wimpernschlag überlegte er, aber legte schließlich entschlossen seine Hände fest an meine Hüfte und drückte mich an sich heran, bereit dafür, überrascht zu werden. Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf deinen Lippen aus. Die Welt stand für mehrere Sekunden still, als ich mich in seinen Augen verlor. Sie strahlten in allen Farben des Himmels und die rasende Wut verflog in der Winde.
      „Genau der Hintergrund und jetzt, tu, was du nicht lassen kannst“, flüsterte ich sanft in sein Ohr und küsste dabei langsam den Hals. Ich spürte einen leichten Druck im Bauchbereich und in meine Nase stieg ein Duft von Aftershave, Pferd und Schweiß. Noch bevor es mir gelang, seine Nähe mit allen Sinnen wahrzunehmen, packte mich etwas am Kragen meines Shirts.
      „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber ich brauche die hier“, sagte Harlen übertrieben freundlich und schliff mich zum Hänger. Ich wehrte mich stark gegen den Überfall, aber er ließ mich nicht los. Sichtlich enttäuscht sah Niklas uns nach. Auf meinen Lippen formte sich ‚Hilf mir‘, was er mit einem Kopfschütteln verneinte. Stattdessen grinste er breit und richtete sich unten herum neu ein, bevor er noch einmal provokant winkte und sich umdrehte. Meine Sehnsucht mich ihm hinzugeben wuchs wie ein Geschwür in Windeseile und löste dabei unerträgliche Schmerzen aus. Während das Hirn noch einen klaren Gedanken fassen wollte, legten sich die Arme schützend um meinen Unterleib. Harlen drückte mich unliebsam auf den Campingstuhl vor dem Zelt und verschränkte die Arme. Unsere Blicke trafen sich und ich hoffte ihm ein nachsichtiges Lächeln zu entlocken, was jedoch dafür sorgte mit Missachtung gestraft zu werden.
      „Was stimmt mit dir nicht?“, schaltete ich den Verteidigungsmodus ein.
      „Die Frage sollte ich dir stellen. Ich lass dich nicht mehr aus den Augen, ernsthaft. Du bist doch irre“, schimpfte Harlen ziemlich aufgebracht. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was hatte er damit zu, was Niklas und ich trieben, oder auch nicht. Nichts mehr wünschte ich mir, als die Unterstützung seinerseits.
      „Nachname?“, fragte er im nächsten Augenblick.
      „Was?“, wunderte ich mich.
      „Wie heißt Hulk mit Nachnamen?“, wiederholte er sein Anliegen.
      „Ähm … Olofsson, wieso ist das wichtig?“, versuchte ich dem auf den Grund zu gehen.
      „Wenn du schon so sehr nötig hast, dein Verlangen nach ihm zu stillen, nutze es für etwas Sinnvolles“, lächelte er nun. Ich irre also … dass ich nicht lachte.
      “Also beabsichtigst du mich für etwas auszunutzen, um was genau zu wollen?”, zupfte ich nervös an dem Stuhl herum. Er schien das auch noch nicht so genau geplant zu haben. Wenn Harlen nachdachte und wirklich eine Lösung suchte, folgte er einer speziellen Abfolge von Schritten. Zunächst im Kreis, dann einige Tritte zurück, Richtungswechsel und auf der anderen Erneut. Zwischendurch kniete er sich hin und kratzte sich dabei immer wieder an der rechten Schläfe. Für andere wirkte es willkürlich, was er tat, dich dafür kannte ich meinen Bruder zu Gut.
      “Wie auch immer du es anstellst, sorge dafür das Vidar die geschäftliche Beziehung fortsetzt. Keiner unserer Kunden nimmt solch hohe Mengen ab”, sagte Harlen schließlich und nahm endlich Platz auf dem Stuhl mir gegenüber.
      “Aus welchem Grund sollte ich das tun?”, runzelte ich die Stirn. Mir fiel kein triftiger Grund diese Umweltverschmutzung zu unterstützen. Es widerte mich an und entsprach nicht dem, was ich mir wünschte der Welt zu hinterlassen.
      “Entweder, weil ich dein Bruder bin und eventuell im Gefängnis lande oder weil du nicht möchtest, dass ich Lina von euch beiden erzähle”, grinste Harlen. In seinen Augen funkelte das Böse, dass er keinesfalls von unserer Mutter hatte. Je tiefer ich hineinsah, umso beängstigender wurde die Vorstellung, dass er sich gegen mich auflehnte und mir den Gnadenschuss gab.
      “Und wenn ich es nicht schaffe?”, stimmte ich indirekt zu ihm dieses einzige Mal behilflich zu sein.
      “Dann hast du es versucht, aber bitte. Versuche es”, mahnte er bedrohlich. Ich nickte nur und wendete ich mich von seiner Finsternis ab. Es sollte ein entspanntes Turnier werden mit einer normalen Prüfung und eine daraus folgende Heimfahrt.
      „Warum machst du das mit mir?“, fragte ich weinerlich. Der Schmerz noch einen Teil meiner Familie zu verlieren, jagte mir eine infernalische Angst ein. Den Teil der Familie, der immer bei mir war in schweren Zeiten und nur sich an meiner Seite befand, weil ich danach fragte, auch diesen Abschnitt zu überstehen. Das imaginäre Geschwür in meinem Magen fühlte sich nunmehr nach einem Medizinball an, der mich zu Boden drückte und mich engte. Panisch schnappte ich nach Luft wie ein Fisch am Land.
      “Vivi, höre mir nun ganz genau zu. Bis vier atmest du ein, für sieben hältst du die Luft an und zusammen atmen wir wieder aus. Also eins … zwei … drei … vier”, kam Harlen zu mir und hielt mich an den Händen fest. Mit geschlossenen Augen folgte ich seinen ruhigen Worten, hörte genau hin und konzentrierte mich nur auf ihn. Einatmen durch die Nase, ausatmen durch den Mund mit der Zunge an den Schneidezähnen. Bereits nach der vierten Wiederholung verspürte ich eine Besserung, körperlich und geistig. Der brennende Schmerz in meiner Lunge kühlte ab und die Übelkeit verschwand.
      “Also Vivi, ich tue das wirklich ungern, aber ich muss jetzt auch mal meinen Arsch retten. Hilf mir, bitte”, ersuchte er mich. Den Gefallen meinem Bruder ausschlagen zu wollen, kam mir unangebracht vor. Was würde das schon groß werden? Ich muss ein scheußliches Gespräch mit jemanden führen, den ich vom Hörensagen ziemlich unsympathisch fand und eventuell etwas essen, was überhaupt nicht meiner Vorstellung entsprach. Dieses eine Mal musste ich mich überwinden, um das Richtige zu tun. Um Harlens Willen, nicht wegen der Firma.
      “Okay, ich mache es. Aber du lässt mich jetzt einige Stunden im Zelt allein”, wuschelte ich ihm etwas positiver gestimmt durchs Haar.

      Lina
      Das Gesehen um mich herum nahm ich kaum wahr, lauschte nur mit halbem Ohr den Gesprächen. Je länger ich hier war, umso unwohler fühlte ich mich. Orte mit vielen Leuten mied ich ohnehin schon. Ganz besonders die, an denen ich mich nicht auskannte. Ich hasste es, nicht die nötige Distanz zu den Menschen wahren zu können, fühlte mich eingeengt und befangen. Wenn ich dann doch einmal an einen solchen Ort musste, weil Turniere und Zuchtschauen nun mal unvermeidbar sind, wenn man mit Pferden arbeitet, dachte ich an Zuhause. Nach den paar Stunden oder Tagen würde ich zurück sein, dort wo alles wieder seinen gewohnten Weg laufen würde. Dieser Gedanke hatte mich das alles immer irgendwie durchstehen lassen. Zwar gab es auch hier einen Ort, an den wir morgen zurückkehren würden, aber als Zuhause würde ich das LDS noch nicht bezeichnen. Es war schön, keine Frage, aber wie ein Zuhause fühlte es sich bisher nicht an. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die sich grundsätzlich überall zugehörig fühlte, verspürte ich meist das Gegenteil. Überall hier in Schweden fühlte ich mich fremd. Ich brauchte nicht einmal den Kopf zu drehen, um einen Reminder dafür zu finden, wo ich war. Menschen, die eine andere Sprache sprachen, blau gelbe Flaggen, die träge im Wind flatterten, ein Hinweisschild, ja sogar die verfluchten Wälder. Das, was in den Bergen Kanadas überwiegend Tannenwälder waren, waren hier wie für die skandinavischen Küsten üblich Kiefernwälder, durchsetzt mit Fichten und Birken, die hell zwischen den anderen Bäumen hervortraten.
      Die Geräusche um mich herum verschwammen miteinander, schwollen an zu einem immer lauter werdenden Rauschen. Ich brauchte jetzt dringend einen Moment für mich, ohne tausend Menschen um mich herum.
      "Tulen pian takaisin (Bin gleich wieder da)", murmelte ich meiner Schwester zu, bevor ich mich von den anderen entfernte. Mit einem nicken nahm sie es zur Kenntnis, löste sich aber nicht aus der fachlichen Debatte über den Stil des Reiters, der gerade mit seinem Palomino über den Reitplatz pflügte. Mühsam schlängelte ich mich durch die Massen. Achtete nicht auf die Leute um mich herum, hoffte nur eine ruhige Ecke zu finden. Doch die Leute schienen einfach überall zu sein. Allerorts wuselten Leute hin und her, führten Pferde zurück zu dem Hänger, ritten zum Abreiteplatz. Die Frequenz meiner Schritte nährte sich immer mehr der meines Herzschlages an, bis ich endlich ganz am Rande des Geländes ein einsames Plätzchen fand. Am Füße einer schlanken Birke ließ ich mich in, dass trockene Grad sinken. Der raue Stamm in meinem Rücken bot mir einen gewissen Schutz vor Blicken, falls sich doch jemand hier her verirren sollte.
      Ich schloss die Augen in der Hoffnung die Welt, um mich herum für eine Sekunde zu vergessen. Was hätte ich mir hier nur zugemutet? Mit der Entscheidung nach Schweden zu gehen hatte sich mein gesamtes Leben von einem Tag auf den anderen komplett geändert. Ein neues Land, eine neue Arbeit, neue Leute um mich herum und meine Freunde tausende Kilometer weit weg. Ich war ohnehin schon niemand, der sich schnell an neue Situationen gewöhnte, aber hier fühlte es sich schwerer an, denn je. Der Ort an dem ich die letzten 3 Jahre verbracht hatte, mein Pferd, meine Freunde … All das war nun meilenweit weg. Hier fehlte mir etwas, was mir Orientierung bot, jemand, der mir half mir in dieser Neuen Welt zurechtzufinden. Für Vriska schien ich nur lästiges Beiwerk zu sein, schon in Kanada hatte sie begonnen mich zu meiden und hier in Schweden hatte sich nicht viel daran geändert. Jedes Mal, wenn ich ein Gespräch mit ihr anzufangen versuchte war es nur oberflächlich und endete meist in einem unangenehmen Schweigen. Und Niklas … Nik bekam ich kaum zu Gesicht. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. Nein, nicht jetzt, nicht hier in der Öffentlichkeit. Krampfhaft versuchte ich den trüben Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln, versuchte durchzuatmen, vergeblich. Immer mehr von der salzigen Flüssigkeit staute sich an meinen Augenrändern an, bis sich ein Tropfen von den anderen löste. Auf seinem Weg über meine Wange hinterließ er eine kühle, feuchte Spur.
      Man könnte jetzt sagen: Aber Lina, du hast doch deine Schwester? Ja, hatte ich, aber Juli ist hier genauso fremd wie ich, auch wenn es nicht den Anschien hatte. Ich bewunderte sie für diese Eigenschaft. Wie ein Chamäleon passte sie sich innerhalb von Sekunden an, passte perfekt ins Bild, verlor dabei niemals ihr positives Wesen. Oft wünschte ich mir, ich könne nur ein wenig mehr wie sie sein, adaptiver, beständiger, unbeschwerter. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, kullerten weitere Tränen über meine Wangen und tränkten den Stoff meines Shirts.
      Auf einmal spürte ich etwas Pelziges an meinem Nacken. Eine feuchte Schnauze schnüffelte mir besorgt durch das Gesicht, bevor sie ein riesiger Hundeschädel anschmiegte. Weich spürte ich sein drahtiges Fell an meiner Wange, aus dem ein sanfter Duft nach Kiwi strömte. Normalerweise hätte ich mich wohl drüber gewundert, doch ich war zu überrascht vom Erscheinen des Tieres. Sanft strich ich dem Ungetüm über die Ohren, woraufhin es sich freundlich brummend noch ein wenig fester an mich drückte. Mit der Gegenwart des Hundes wurde mein Herzschlag ruhiger, mein Körper entspannte sich zunehmend und der Tränenfluss versiegte.
      “Wer bist du denn?”, fragte ich den Hund, der mittlerweile neben mir saß, schniefend strich im weiterhin über das graue Fell. Anstatt mir eine Antwort zu geben, sah der Graue mich weiterhin mit seinen freundlich braunen Augen an, als wolle er sagen: “Du brauchst nicht länger traurig sein, ich bin ja jetzt da.” Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das Herz dieses Hundes war wohl mindestens genauso riesig wie seine äußere Erscheinung. Ich nahm das Tier näher in Augenschein. Auch jetzt, wo er neben mir saß, würde er ein kleines Pony mit seiner Größe noch knapp überragen. Zottelig lag das graue Fell am Körper des schlanken Hundes. Irgendwie kam mir der Deerhound bekannt vor … Das letzte Mal begegnete ich einem solchen Hund in Kanada, doch eigentlich war es unmöglich, dass das hier derselbe Hund war, es sei denn … irritiert blinzele ich ein paar Mal und sah erneut hin. Doch, ich war mir sicher, dieser Hund da war Trymr, der Hund von dem Kerl, der bei Vriska Verhaltensweisen hervorrief, die man von ihr nicht kannte. Gleichzeitig war das Herrchen dieses Hundes, aber auch einer der Gründe, die Vriska einiges an Kummer zu bescheren schienen, seit wir wieder in Schweden angekommen waren. Ob sie die scheinbare Anwesenheit ihres langersehnten Herzblattes schon mitbekommen hatte? Na ja, egal, es ging mich nichts an, was zwischen den beiden lief oder vielleicht auch nicht lief. Auffordernd legte der Hund mir eine seiner schlanken Pfoten auf das Bein und beharrte darauf weiter gekrault zu werden.
      “Ich soll also weitermachen?”, lächelte ich und setzte es fort den Hund zu streichen. Es dauerte keine 30 Sekunden, da legte er sich neben mir ab und rollte auf die Seite, damit ich ihm auch den Bauch kraulte. So niedlich wie das riesige Tier dabei aussah, konnte man ihm diese Forderung unmöglich ausschlagen.
      “Genug jetzt Großer, du wirst doch sicherlich schon vermisst. Wo hast du denn dein Herrchen gelassen?”, beendete ich die Schmuseeinheiten und wand den Kopf, um zu sehen, ob Erik irgendwo in der Umgebung zu sehen war. Mürrisch brummte das Ungetüm, erhob sich ziemlich ungeschickt, schüttelte den losen Dreck aus dem rauen Fell. In einer gleichmäßigen pendelnden Bewegung begann sein Schwanz sich zu rühren und zielgerichtete Schritte kam auf mich zu. Ohne den Blick nach oben richten zu müssen, erkannt ich sofort, dass meine Erinnerung an den Hund mich nicht trübte. Langsam kniete er sich hinunter, setzte ein kleines Kind zu Boden, lächelte freundlich. Sie tapste unwillkürlich in meine Richtung, stolperte, stand wieder auf und klammerte sich fest an meine Schulter. Unverständlich stammelte sie etwas auf Schwedisch und plumpste zu Boden. Herzlich lachte sie.
      “Wie ich sehe hat alle funktioniert, willkommen in Schweden. Was sitzt du denn hier so allein?”, wendete Erik sich nun mir zu und reichte höflich seine Hand zur Begrüßung.
      “Ja danke, es hat alles einwandfrei funktioniert. Ich wollte mich auch noch einmal bei dir bedanken, dass du das so schnell in die Wege leiten konntest”, begrüßte ich ihn freundlich, bevor ich auf seine Frage einging. “ Sagen wir mal so: Große Menschenansammlungen sind nicht so mein Ding und dann noch die ganzen neuen Eindrücke hier. Da brauchte ich einfach mal eine kurze Pause von dem ganzen Trubel. Wer ist denn die junge Dame hier, die du mitgebracht hast?” Interessiert erforschte das kleine Mädchen meine Haare, die in einem geflochtenen Zopf über die Schulter fielen.
      “Vad heter du? (Wie heißt du?)”, lehnte er sich zu seiner Tochter, die mich nun mit ihren großen blauen Augen anstarrte und verlegen lachte. “Fredna”, stammelte sie und begann den Gummi aus den Haaren zu fummeln.
      “Hej Fredna, jag heter Lina”, stellte ich mich der kleinen vor, die mich für einen Moment anblickte und sich dann weiter mit dem Haargummi beschäftigte. “Echt niedlich, deine Kleine”, wand ich mich lächelnd wieder an Erik.
      “Danke, aber das war auch nicht viel Aufwand”, scherzte er. Dann übernahm Fredna wieder das Gespräch. Unverständlich stammelte sie einzelne Worte vor sich hin, taumelte zu Trymr, der sich ruhig vor meine gelegt hatte, mit meinem Haargummi in der kleinen Hand. Der Hund erhob seinen Kopf, als sie näherkam, sein Halsband griff und auf seinen Rücken krabbelte. Einzelne Strähnen des Hundes im Gesicht formte sie zu einer Palme und befestigte den Haargummi daran. Wehleidig sah er zu mir hoch, aber regte sich nicht. Fredna lachte wieder und klammerte sich fest an ihm.
      “Är det din tjej? (Ist das deine Freundin?)”, verstand ich nun die Frage, die sie immer wieder stellte, klarer.
      “Lina är en vän, inte min tjej (Lina ist eine Freundin, nicht meine Freundin)”, korrigierte Erik sie und half seinem Hund aus der Klemme. Fredna gefiel das gar nicht, begann zu zetern und Prost einzulegen. Anstelle sich durchzusetzen, ließ er seine Hände von ihr und strich seinem Gefährten über den Kopf. Glücklich über den Erfolg lachte sie wieder.
      “Hon ser ut som en prinsessa (Sie sieht aus wie eine Prinzessin)”, funkelten ihre Augen. Unbeholfen sah ich mich um, schwer mit ihren Worten umzugehen, ihre Intention zu verstehen. Erik erkannte es und machte einen Vorschlag.
      “Fredna, ska vi gå till ponnyerna? (Fredna, wollen wir zu den Ponys gehen?)”, wild sprang sie vom Hund, hüpfte in die Luft und landete auf den Knien. Grasflecken bildeten sich auf der hellen Strumpfhose und sie taumelte wieder zu mir, als wolle sie getragen werden – aber nicht von Papa. Er wollte sie von mir nehmen, als der Protest wieder begann.
      “Weißt du, wo Vriska ist?”, sah Erik sich um.
      “Also meiner letzten Information nach müsste sie noch bei Fruity sein, wenn sie sich dort nicht wegbewegt hat. Ich kann dich gerne hinbringen”, antworte ich ihm nach kurzem Überlegen.
      “Das wäre super, danke”, Erleichterung breitete sich in seinem Gesicht aus, das tiefe Augenringe verzeichnete. Fredna schien schon einige Nächte an seiner Seite zu sein, was nicht viel Schlaf mit sich brachte, jedes Mal, wenn er etwas von ihr verlangte, begann sie sich zu widersetzen, ohne, dass er etwas machen konnte. Es war spürbar, dass Erik sich noch schwertat in seiner neuen Rolle. Wenn ich mir dann noch vorstellte, dass er weiterhin arbeitete, eine echte Herausforderung. Überzeugt heftete Fredna sich an meine Seite, während Trymr vorwärts trabte, um ihr zu entkommen.
      Niklas
      Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, wissend entgegen meiner Prinzipien gehandelt zu haben, spazierte ich zur VIP-Lounge, in der Mama und Chris auf mich warteten, entlang der kargen Buchsbäume, zerfressen von den Raupen des Buchsbaumzünslers, der in den warmen Monaten nun auch seinen Weg von Mitteleuropa zu uns fand. Aus allen Richtungen strömten Menschenmassen entlang der schmalen, sandigen Trampelpfade, drängten sich wild über das Gelände, ungeachtet der Natur. Es war eine Qual mich zwischen all der Buntheit und Diversität zurechtzufinden, von neugierigen, lüsternen Blicken verfolgt, Gottes gleich bewundert zu werden und schließlich die riesige Eingangstür zu betreten, die nicht nur durch spezielle Lesegeräte gesichert war, sondern noch bewacht von mehreren Sicherheitsleuten. In leuchtenden Lettern schimmerte “VIP” über der Milch-glasigen Doppeltür, das hellblaue Licht der Neonröhren spiegelte sich auf den Kacheln am Boden. Aus dem Inneren ertönte Jubel in allen Formen, Klatschen, Trommeln und fröhliches Pfeifen ermutigte mich wieder in meine Welt einzutauchen.
      „Mitt barn! (Mein Kind)“, sichtlich erleichtert, schloss Mama mich in ihre Arme und drückte sich liebevoll an mich, ließ von mir und ihr Blick schweifte von oben nach unten, mehrmals.
      „Det är något fel på honom, tycker du inte det? (Etwas stimmt mit ihm nicht, denkst du nicht auch?)“, richtete sie sich an Chris, von dessen Gesicht das breite, herzliche Lächeln schwand, als wüsste er, dass ich sein Versprechen nicht einhalten konnte. Er bat mich endlich mit Vriska abzuschließen, sie in den tiefen Abgrund der Verdammten zu stoßen, und Erik den Weg freizugeben, aus berechtigten Gründen. Ich versagte auf ganzer Linie. Wie umhüllt von einer lodernden Flamme der Leidenschaft, gab ich mich meinem Verlangen nach, für wenige Sekunden. Die beißenden, vorgeworfenen Blicke der beiden versetzten mich in eine Schockstarre, der Schmerz sie, meine Freundin, die Person der ich nahestand und nur das Beste wollte, vergaß und außer Acht ließ, versetzte mir einen Messerhieb in die Magenregion. Es war mir Ernst mit ihr, wirklich ernst, denn nie zuvor spürte ich derartiges Gefühl. Konnte es möglich sein, dass ich etwas fühlte, das fernab von Befriedigung lag? Etwas, das ich sonst nur aus Erzählungen kannte oder aus Liedern, die im Radio fröhlich trällerten, bevor mein Handy die musikalische Untermalung einer Autofahrt übernahm.
      “Jag har lite smink med mig, så du borde kunna täcka fläckarna (Ich habe Schminke dabei, damit solltest du die Flecken überdecken können)”, eröffnete meine Mama die Realität, in der ich kenntlich Spuren trug von dem kurzen Verlust meiner Geisteskraft.
      „Tack“, bedankte ich mich beiläufig, schnappte mir das kleine Hautfarbene Töpfchen und lief zum Badezimmer. Die besagten Flecken an meinem Hals waren trivial, kaum sichtbar, aber vorhanden, zwei, drei Handgriffe und sie verschwanden wie von Zauberhand. Zumindest so lang, dass niemand mich noch einmal am Hals überfallen würde.
      „Du kommer inte att gilla det jag ska berätta för dig (Was ich dir jetzt sagen werde, wird dir nicht gefallen)“, kam Chris in den Toilettenraum dazu, um sicherzugehen, dass wir allein waren, lief er an allen Kabinen vorbei und stellte sich schließlich neben mich.
      „Jag ringde Erik eftersom det stod klart för mig att du inte skulle kunna förklara för Vriska vad du hade gjort (Ich habe Erik angerufen, denn es war mir klar, dass du es nicht schaffst Vriska zu erklären, was du getan hast)“, sprach Chris halb genervt, halb gelangweilt. Es war ihm Ernst, dass ich sie vergaß und auch nicht weiter in meinem Kopf herumspucken ließ. Das wollte ich auch, wirklich. Aber mit anzusehen, wie jemand, wie er, sie nur mit einem Fingerschnipseln an sich heftete, verschlug mir den Atem. Ich konnte nicht, nein, ich wollte es nicht akzeptieren, dass dieser Bastard immer bekam, was er wollte, vor allem, wenn ich es zuerst hatte. Verärgert schlug ich auf den Rand des Waschbeckens, so sehr, dass es klirrte und ein kleiner Riss in der Keramik sich bildete. Schockiert blickten wir einander an, bis Chris unwillkürlich mich in den Arm nahm.
      “Nu ska du bete dig som en vuxen och släppa taget. Vi kan göra detta tillsammans (Jetzt benimm dich wie ein Erwachsener und lass los. Wir schaffen das zusammen)”, ermutigte er mich mit einem Klopfen auf dem Rücken auf. Ich sah in den Spiegel, ich erkannte, dass es so nicht weitergehen konnte, erkannte, dass ich wenig schlief, mich quälte, obwohl ich die tollste junge Dame an meiner Seite hatte, die man sich nur vorstellen vermag. Dieses ständige ringen mit meinen Gefühlen musste aufhören. Gefühle, die ich den letzten zwei Jahren verstärkt aus meinem Leben verband und versteckte, als müsse ich irgendjemanden beweisen, dass ich die Trennung noch immer nicht verarbeitete hatte. So stürzte ich mich von einer misslichen Lage in die nächste, dachte, Gefallen daran zu haben, obwohl ich nichts anderes wollte, als jemanden an meiner Seite. Jemanden, der mich akzeptierte, wie ich war, ohne auf die äußerlichen Faktoren zu schauen, oder mein Geld wollen. Schluss damit.
      “Tack för att du har funnits där för mig (Danke, dass du für mich da bist)”, umarmte ich ihn erneut und öffnete die Tür zur Lounge, ohne das Waschbecken weitere Beachtung zu schenken. Meine Hand schmerzte, aber ich spürte etwas.
      “Du ser ut som ny, min son (du siehst aus wie neu, mein Sohn)”, freute sich auch Mama mich wiederzusehen. Herzlich lächelte ich sie an, setzte mich mit auf die Couch, um die aktuelle hohe Dressur zu beobachten. Mein Ritt würde erst am späten Abend sein.

      Lina
      “Ponny”, quietschte es begeistert neben meinem Ohr, als wir nur in Sichtweite der Hänger kamen, zwischen denen überall Pferde auf den provisorischen Ausläufen standen. Fredna begann auf meinem Arm herumzappeln wie ein Fisch auf dem trockenen. Am liebsten wäre sie sofort auf das erste Pferd zu gerannt, doch dem Fuchs, der ohnehin schon nervös in seinem Auslauf herumrannte, traute man lieber kein kleines, Pferde-verrücktes Kind zu.
      “Om du väntar ytterligare en minut, Fredna, kan du till och med åka ponny, okej (Wenn du noch eine Minute wartest kannst, Fredna, dann ”, versprach ich der Kleinen und tatsächlich hörte sie auf mit dem Gezappel, stattdessen begann sie fröhlich zu grinsen. Im gleichen Moment hoffe ich, das ich nicht zu viel versprach und Fruity mitspielen würde. Hätte ich Divine hier wäre das kein Problem gewesen, der Hengst liebte Kinder abgöttisch und war in ihrer Nähe auf einmal so vorsichtig als seien sie aus Glas. Die Falbstute hingegen konnte ich nicht wirklich einschätzen, ich hatte sie bisher nur zusammen mit Vriska erlebt, wo sie allerdings einen gelassenen Eindruck machte. Erik lief neben mir her und schien erleichtert sich ein paar Minuten lang nicht um das aufgeweckte Mädchen kümmern zu müssen, die Ruhe sei ihm gegönnt. Am Hänger fand ich eine friedliche Szene vor. Harlen saß vor dem Zelt auf einem der Stühle in ein Buch vertieft, während die barocke Stute entspannt auf ihrem Paddock graste. Von Vriska weit und breit keine Spur. Trymr stand nun schwanzwedelnd vor Vriskas Bruder und erwartete begrüßt zu werden, doch er bekam keine Reaktion.
      “Harlen, hast du eine Ahnung, wo deine Schwester steckt? Ich habe da jemanden gefunden, über den sie sich sehr freuen würde”, tippte ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. In Seelenruhe legte er ein Lesezeichen in sein Buch, klappte es zusammen und drehte sich zu mir um. Musternd schweifte sein Blick an Erik hoch und wieder runter. Langsam nickte er, skeptischen Blickes zum Zelt gedreht.
      “Sie schläft und ich denke nicht, dass sie irgendwen sehen möchte, erst recht nicht irgendeinen Typen”, weißte er uns darauf hin, seine Stimme klang ängstlich, beinah besorgniserregend.
      “Ich bin nicht irgendwer”, beschwerte sich Erik, die Stimme zitternd und das letzte Wort ungewöhnlich lange betont. An seinen Hals pulsierte die Aorta, als fühle er sich durchs Harlens Aussage gedemütigt, vor den Pranger gestellt. Die Hände zur Faust geballt. Von meiner löste sich Fredna, die direkt zu ihrem Vater rannte und ihn an seinem Bein umklammert, sie murmelte etwas Aufmunterndes, dem er keine Beachtung schenkte.
      “Dann bist du, der Nicht-Freund schätze?”, stellte Harlen sich demonstrativ vor ihn, als würden zwei Hähne im nächsten Moment in den Ring steigen. Verwirrt betrachtete ich die beiden und holte Fredna aus der Mitte, die wehleidig hochsah, als wäre sie nicht mehr seine Tochter. Sie löste sich von ihm und ich nahm sie hoch in den Arm. Um sie aus der Situation herauszuhalten, liefen wir einige Schritte weiter zum Paddock, auf Fredna neugierig Fruity betrachtete, die zum Zaun kam und interessiert die Nüstern in ihre Richtung streckte. Freudestrahlend tippelte sie auf das Pferd zu, strich ihr vorsichtig über den Kopf. Mit einem Auge und Ohr folgte ich den beiden Männern, die sich noch immer einen Krieg der Blicke lieferten. Was war denn los mit denen? Keinen der beiden kannte ich so, wenn man die wenigen gemeinsamen Stunden überhaupt ‘kennen’ nennen kann.
      “Vem är det? (Wer ist das?)”, tippte mit Fredna an und zeigte auf die Stute.
      “Äh, det här är Fruity (Das ist Fruity)”, erklärte ich geistesabwesend, aber darauf bedacht, dass der kleinen nichts passierte. Genau wie die Stute, die gelassen auf der Stelle stand. Der Falbe war brav, aber um einiges zurückhaltender als ich es von meinem Hengst kannte. Ivy interagierte richtig mit den Kindern, beschnupperte und beknabberte sie, stupste sie vorsichtig an und gab zur Begrüßung stets ein leises Wiehern von sich. Nachdem die erste Neugierde gestillt war, schien Fruitys Interesse viel mehr darin zu liegen, ob das kleine komische Menschlein etwas Essbares dabeihatte. Natürlich hatte ich ein Leckerli dabei, welches ich Fredna in die Hand gab, damit sie es der Stute hinhalten konnte. Vorsichtig nahm die Stute es von ihrer kleinen Hand. Divine liebte jede Sekunde der Aufmerksamkeit der kleinen Menschen und ließ sich stundenlang putzen und frisieren. Sogar mit nach Himbeeren duftendem Glitzer Fellspray ließ sich der Freiberger liebend gern einschmieren. Allerdings sehr zu meinem Bedauern, denn er und alles was mit ihm in Berührung kam glitzerte noch 3 Wochen danach, wie ein Weihnachtsbaum. Was Fruity von Zöpfchen hielt, würde ich wohl so schnell nicht herausfinden, denn das gab es nicht viel, was man hätte flechten können.
      Die Streithähne, die zuvor noch diskutierten, verstummten. Stattdessen gab Trymr weinerliche, quälende Geräusche von sich, die viel mehr Freude als Trauer bedeuteten. In geduckter Haltung trat nun Vriska hervor, bekleidet mit einem riesigen schwarzen Kapuzen-Pullover, der auf der Vorderseite mit einem Logo bedruckt war, eines Rugbyteams aus London. Verwundert betrachtete ich sie und vor allem das Oberteil näher. Auf der rechten Seite der Brust stand ein Name, den sie bereits in Erzählung erwähnte – Tyri. Auf der anderen Seite das Logo eines Sponsors. Es war so lang, dass ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie eine Hose anhatte oder nicht. Die Kapuze trug sie wie immer auf dem Kopf, die Haare offen aber den Rest des Gesichtes versteckt hinter einer Sonnenbrille. Trymr, der ihr um die Beine tanzte noch immer, bekam nicht mal eine Streicheleinheit, dennoch kämpfte er weiter um ihre Aufmerksamkeit.
      “Shut up”, fluchte Vriska, obwohl keiner etwas seit Sekunden sagte. Sie war müde, wirklich müde. Sie schien nicht einmal den Hund wahrzunehmen oder das dazugehörige Herrchen. Wir sahen sprachlos weiter zu ihr, wie sie leicht taumelnd weiterlief und schließlich neben ihrem Bruder stand.
      “Wieso hast du das Ding noch?”, unterbrach er die quälende Stille.
      “Damit ich weiß, woher ich komme”, murmelte Vriska abwesend und erstaunlich ruhig. Klar, sie sprach nicht immer so viel, wie betrunken, aber sie wirkte erstaunlich zurückweisend. Jeder von uns hatte mehr Freude ihrerseits erwartet, den Angebeteten wiederzusehen, vor allem so überraschend und er war guten Willens hier, dass konnte ich spüren.
      “Vriska?”, stammelte Erik schließlich, legte seine Hänge auf ihre Schultern, die sie direkt wegschlug und einige Schritte zurückwich. Gestern noch wollte sie alles dafür tun, ihn treffen zu können, bei sich zu haben und jetzt tat sie so, als wäre er ein Fremder. Verstehe einer dieses Kind. Langsam nahm Vriska die Sonnenbrille ab. Der schwarze Eyeliner vollkommen verwischt, einen Anblick, den man von ihr traurigerweise schon gewohnt war. Eine Sache fiel mir erst auf den zweiten Blick auf, sie trug ihre Piercings nicht in der Lippe und die Augenbrauen beinah unsichtbar.
      „Was willst du hier?“, fragte sie genervt, mit einem sonst leblosen Gesichtsausdruck. Was auch immer vorgefallen war, es musste schlimm gewesen sein. An dem Ritt mit Fruity setzte niemand etwas aus, ganz im Gegenteil. Sie bewiesen sich zwischen all den Talenten, die auf dem Sand tanzten.
      „Ich … ich wollte dich sehen“, antwortete er irritiert über die Nichtachtung seiner Anwesenheit, auch Trymr hatte mittlerweile akzeptiert, dass sie ihm keine Streicheleinheit schenkte und stand mittlerweile neben mir. Ich tätschelte den Rüden aufmunternd und Fredna war glücklicherweise zu sehr damit beschäftigt, um die Beine der Stute zu tapsen, sie beim Fressen zu beobachten. Und ich? Ich stand wie angewurzelt neben dem Paddock, wusste nicht so recht die Situation zu deuten, aber spürte den Schmerz der Beteiligten. Mehrfach schluckte ich unwillkürlich, spielte an den losen Haaren herum, die nicht mehr in dem mühevoll geflochtenen Zopf waren.
      “Ah okay, hast du ja jetzt. Den Weg zurück solltest du kennen, einfach so, wie du hergekommen bist”, maulte Vriska, setzte die Sonnenbrille auf die Nase zurück und drehte sich um. Doch erstaunlicherweise stoppte ihr Bruder sie, der zuvor genauso wenig begeistert von Eriks Anwesenheit war, wie sie. Irgendetwas flüsterte er ihr ins Ohr, worauf hin sie zwar stoppte, aber weiterhin keinerlei Emotionen zeigte. Erst jetzt merkte sie auch mich, worauf hin zumindest ein kleines Lächeln über die Lippen huschte.
      “Also bin ich jetzt plötzlich würdig? Verstehe. Ich habe keine Lust auf euren komischen Spielchen, also suche dir jemanden anderes, der das alles erträgt”, fauchte sie Erik an.
      “Es ist nicht wie du denkst”, kam seine Verteidigung.
      “Und jetzt erklärst du mir noch, dass dein großer Bruder sonst immer weiß, was er tut und du ihm vertraut hast. Plötzlich einsiehst, dass es nicht richtig war und du um Verzeihung bittest? Denk dir was Besseres aus und dann können wir meinetwegen noch einmal sprechen, aber jetzt geh mir aus den Augen”, packte Vriska aus, was sie auf dem Herzen hatte. Tief in mir vermutete ich schon, dass Niklas wieder einmal seine Finger mit im Spiel hatte. Dass Erik jedoch so unbedacht darauf hörte, konnte man als Enttäuschung betrachten. Es tat mir wirklich leid für sie, dass mein Freund sich wie der letzte Dreck verhielt. Während Vriska wieder den Weg zum Zelt antrat, verharrte er an der Stelle, vollkommen unbeholfen und weiß im Gesicht. Schnell reagierte Harlen und reichte ihm eine Wasserflasche aus dem Kofferraum, die er dankend annahm und austrank.
      “Die bekommt sich wieder ein, keine Sorge”, sagte ihr Bruder aufmunternd und schlug ihm auf die Schulter.
      “Vielleicht wäre es besser gewesen, direkt mitzufahren. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, aber nein. Erst musste ich …“, begann Erik sein Herz auszuschütten, aber Harlen stoppte ihn.
      “Am besten hebst du dir das für später auf, denn mich interessiert es nicht. Alles, was ich sehe, ist meine zu tiefst verletzte Schwester, die dir nachläuft und die letzten Tage andauernd schrieb. Elendig lange Nachrichten darüber, wie sehr sie dich vermisst. Aber von dir nicht einmal ein Lebenszeichen. Also komm mal klar”, schimpfte Harlen. Erik sagte dazu nichts mehr, kam stattdessen zu mir und Fredna. Seine Tochter lief freudig auf ihn zu, lachte fröhlich und wollte hoch auf seinen Arm. In seinen Augen zeichnetet sich der Schmerz ab, aber im Gesicht quälte er sich ein Lächeln auf die Lippen. Er hob seine Tochter auf seine Schultern, bedankte sich bei mir und lief weiter. Richtung der Tribünen bei denen wohl gerade das L-Springen aufgebaut wurde.
      „Es tut mir leid, dass du das mitbekommen musstest. Alles, was sie wollte, war Ruhe, vielleicht solltest du zu deiner Schwester, sie macht sich sicher schon Sorgen um dich“, sprach Harlen mich an und drückte mir eine Plastikkarte in die Hand, auf der ‚VIP Access‘ geschrieben stand. Da würde ich wohl den Rest Truppe finden.
      “Schon gut, ich gehe dann mal die anderen suchen”, antworte ich und entfernte mich noch ein wenig sprachlos von den Hängern. Was auch immer da gerade stattgefunden hatte, es war verdammt unerwartet und in meinen Ohren hatte auch kaum etwas davon nachvollziehbar geklungen, warum auch, es ging mich sowieso nichts an. Ich sollte dringend aufhören alles verstehen zu wollen, denn mit jedem weiteren Tag wurde mir Vriska unbegreiflicher. Die voyeuristischen Blicke einer Gruppe Teenager, die sich in der Nähe der VIP-Lounge herumdrückten, ignorierend schlüpfte ich durch die Milchglastür in die schillernde Welt der High Society. Die Stimmung hier drin war ziemlich gelöst, die meisten schienen schön ziemlich tief ins Glas geschaut zu haben.
      “Tauchst du auch mal wieder auf”, trällerte meine Schwester gut gelaunt. “Aber sag mal, in welchen Wirbelsturm bist du denn geraten?”, fragte sie und macht sich im gleichen an dem zu schaffen, was sich mal mein Zopf nannte. Mit routinierten Handgriffen brachte sie das ganze wieder in Ordnung.
      “Kein Wirbelsturm, eher die Finger eines Kleinkindes”, erläuterte ich den Zustand meiner Haare. Etwas irritiert blickte Juli mich an: “Wo hast du denn bitte ein Kleinkind her?”
      “Ähhh, du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir von Erik erzählt habe? Ihm bin ich eben draußen begegnet mit seiner Tochter, niedliches kleines Ding”, beantworte ich ihre Frage. Von der Seite kam großen Schrittes noch Chris dazu, als hätte er unser Gespräch verfolgt. Als er begann zu sprechen, bestätigte sich meine Annahme.
      “Also ist Erik wirklich da? Ich hoffe, er war schon bei Vriska, sonst wird es heute Abend ekelhaft”, klang er erleichtert.
      “Ja und Ja. Ich glaube aber nicht, dass das den Abend positiv beeinflusst”, gab ich stirnrunzelnd zu bedenken.
      “Bitte sag mir nicht, dass sie schon wieder das allseits bekannte Ekelpaket vorschickte”, fluchte er, wusste natürlich selbst, dass genau das passierte. Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen, bevor ich mich wieder meine Schwester zuwandte.

      Vriska
      Frohen Mutes drückte ich mich hoch aus der Isomatte, halb erschöpft, halb Tatendrang, wühlte ich mich vor zum Reißverschluss. Die Bullenhitze, die im Zelt stand, machte es mir schwer zu atmen, kleine Schweißperlen rannen an meiner hellen Haut herunter, die vom Sommer in Kanada sogar etwas braun war an einigen Stellen. Rasch zog ich mir das Shirt drüber, dass über unserer Tasche lag und der Größe zur Folge von meinem Bruder stammte. Verwundert darüber eine kurze Hose anzuhaben, kämpfte ich mich aus der Hölle heraus ins Freie. Der Himmel getaucht in einen wunderschönen Farbverlauf. An einigen Stellen bereits zugezogen in dunklen Farben, zur anderen Seite strahlten noch die letzten Atemzüge der Sonne.
      “Vivi, du bist wieder unter den Lebenden”, freute sich mein Bruder sichtlich über mein Zugegen sein. Mein Kopf brummte, die Hitze im Zelt stieg mir zu hoch, aber ich hatte noch Aufgaben zu erledigen und in weniger als einer Stunde stand die Siegerehrung an, die darüber entschied, ob ich morgen im Finale reiten würde oder nicht. Natürlich waren die Listen dafür bereits ausgehangen, aber ich wollte mich überraschen lassen, überraschen, ob ich es wirklich geschafft hatte, mich zwischen all den anderen Talenten durchzusetzen, auf einem Pferd, dass ich sonst nur auf dem Paddock betrachtete oder longierte. Fruity, die große Ehre, konnte wirklich was reißen und das tat ich zusammen mit ihr.
      “Ich habe richtigen Müll geträumt”, begann ich Harlen aus der Erinnerung heraus, den Schrecken darzulegen, jedoch unterbrach er mich. Mit einer Bewegung meines Fußes unter dem Auto am Kofferraum öffnete sich die Klappe. Das Wasser befand ich sich noch immer in der Kühltruhe und wartete nur darauf, geöffnet zu werden.
      “Lass mich raten, dein Nicht-Freund war da und du hast ihn zur Schnecke gemacht?”, lachte er verunsichert an dem Stuhl fummelnd. Ich hingegen setzte immer wieder die Flasche ran, sammelte das Wasser in meinem Mund, bevor es kühlend meine Kehle hinunterlief.
      “Woher weißt du das. Nein, sage bitte nicht, dass es kein Traum war, sondern wieder einer meiner Schlaf-Wach-Aktionen, die ich nur peripher wahrnahm.” Ich hoffte, dass ich falsch lag. Aber seine wehleidigen Blicke verrieten alles, die Lippen fest aneinandergedrückt und an den Wangen formten sich niedliche Grübchen, die Stirn gerunzelt. Die leere Flasche warf ich unsanft zurück in den Kofferraum und schloss ihn wieder. Da hatte ich ziemlich viele Sorgen bei allen verbreitet, wenn ich so darüber nachdachte, wer alles davon mitbekommen hat. Aus der Hoffnung heraus, dass unsere Nachbarn kein Deutsch verstanden, lächelte ich einem jungen Mann zu, der verlegen dich wegdrehte.
      “Wir müssen uns jetzt fertig machen”, sagte ich zu Fruity, die müde im Rasen lag und die Augen nur mit Mühe offenhielt. Als ich das Halfter holte, spitzte sie die Ohren, ihre Unterlippe zuckte vergnügt. Ich verspürte den Drang, mich nur zu ihr zu legen, nicht mehr aufzustehen und alles zu vergessen. Vergessen, was ich zu Erik sagte. Vergessen, dass ich mir noch die Hoffnung machte mit Niklas ein Abenteuer zu erleben. Aber so schnell würde es nicht mehr meinen Verstand verlassen.
      “Ich ziehe mir etwas anderes an und solange kannst du noch liegen bleiben, okay?”, versprach ich der Stute und krabbelte in das Saunazelt, um mir zumindest eine Reithose anzuziehen und ein ordentliches Shirt. Harlen saß noch immer vertieft in einem fesselnden Buch im Campingstuhl, ungeachtet des Trubels, der zunehmend die Oberhand gewann im Kampf um die herrschenden Töne. Auch der junge Mann neben uns, sattelte mit einem Dressursattel seinen Fuchs, zog sich etwas eleganter an und stieg neben dem Paddock auf. Interessiert warf ich immer wieder einen Blick nach drüben, musterte ihn. Er trug ein graues Poloshirt, dazu eine weiße weite Reithose, braune Stiefel und dazu passend einem braunen Helm. Vielleicht war eine Möglichkeit zu vergessen.
      “Sehen wir uns gleich?”, fragte er höflich. Überrascht, dass er wohl doch die Aktion vorhin mitbekam, verharrte ich, bis ein zaghaftes Nicken von mir kam. Noch einmal lächelte er breit und ritt im Schritt los. Von der Seite stupste mich Fruity an, als wollte sie mich wieder wachrütteln. Das sanfte Beben ihrer Nüstern beruhigte mich ungemein, ich brauchte keinen Kerl bei mir, nur die Pferde. Sie machten mir keine Vorwürfe, sondern waren stillschweigend an der Seite, treu und genügsam.
      Mit einem kräftigen Schwung legte ich den schweren Sattel auf ihren Rücken und zog den Gurt nur so fest wie nötig, dass er nicht hinunterfiel. Im Anschluss würde ich noch die morgige Kür üben wollen, weswegen ich das Baucher mit aus der Kammer holte und als Gebiss an das Zaum hängte. Geduldig, wie sie war, wartete Fruity, dass ich fertig wurde und aufstieg.
      “Kommst du mit?”, fragte ich auf dem Rücken der Stute hinunter zu Harlen, der das Buch zur Seite legte.
      “Natürlich, als könnte ich das verpassen”, lächelte er.
      Der Himmel verdunkelte sich von jeder Minute zur Nächsten. Im Flutlicht der Hauptarena stellten sich langsam die Sponsoren auf und Helfer, bewaffnet mit Körben und Fahnen, die im schwachen Wind flatterten. Bewusst sah ich nur nach vorn, vermag es mir, die anderen Reiter zu betrachten, die wie in Schwalle der Hoffnung um uns herumritten, in hektischen Tönen auf eine Platzierung bangten. Doch, ich? Ich hoffte auf nichts, wusste das meine Leistungen jedem Training übertrafen und einer der fünf wertvollen Plätze für das morgige Finale mir gehörte. Dann traute ich mich, einen Blick auf die anderen zu werfen. Sie scheuchten ihre Tiere, wie ein aufgebrachter Bienenschwarm, über den Platz, als würde es etwas an der Entscheidung der Richter ändern. Was stand schon auf dem Spiel? Es war eine lächerliche Anfänger-Dressur, die keine Qualifikation benötigte, um weitere Turniere zu reiten, doch jeder tat so, als wären wir auf einen der großen Veranstaltungen.
      “Vivi, es geht los”, holte Harlen mich in die Wirklichkeit, lächelnd und voller Fürsorge. Es lag so viel Vertrauen in seiner Stimmte, dass es beinah beängstigend war ihn, als meinen Bruder zu bezeichnen. Innerlich hoffte ich schon öfter, dass es nur ein Traum war, er adoptierte wurde und wir nicht blutsverwandt. So hätte ich die Liebe zu ihm, als Bruder, auf eine neue Ebene heben können, wahrhaftiger wahrnehmen können.
      Alle Teilnehmer warteten, aufstellt auf dem Hufschlag in Reih und Glied, nur, um gesagt zu bekommen, ob es ein Morgen geben würde oder nicht. Fruity kaute genüsslich auf dem Gebiss, zupfte an den Zügeln und streckte immer wieder den Hals nach unten. Nur wenige der anderen Pferde waren so ruhig, wie sie es war. Sie tänzelten herum, widersetzten sich dem Reiter und traten rückwärts gegen den Zaun. Ihre Menschen, stark verunsicherten, zogen willkürlich an den Zügeln, drückten die Fersen unliebsam in den Bauch oder meckerten mit den Tieren. Mit Gewalt kommt man dabei jedoch nicht so viel weiter.
      Zu den ersten drei gehörte ich nicht, wodurch sich das Gefühl einschlich, mich überschätzt zu haben. Die Truppe verlor auch kein einziges Wort über meinen Ritten, taten so, als wäre das hier ein Spiel oder irgendein lustiger Wochenendkurs, bei dem es nur um Spaß ging, Spaß miteinander zu haben, untereinander. Ich hatte keinen. Alles, was ich sah, waren hilflose Wesen, die danach strebten, ein Teil der Gesellschaft zu sein, Aufmerksamkeit zu bekommen und in irgendeinem Bericht in den Printmedien positiv erwähnt zu werden.
      “ … Vriska Isaac med Forbidden Fruits LDS på fjärde plats …”, hörte ich plötzlich meinen Namen und den meines Pferdes. Freudestrahlend holte ich Fruity unter die Wachenden mit einem kleinen Stoß in die Seite. Im Schritt setzte sie an, blieben bei den anderen drei stehen. Eine kleine Urkunde überreichte man mir, bevor noch der fünftplatzierte dazu ritt. Kurz dachte ich, es sei der junge Mann mit dem Fuchs, aber ich irrte mich.
      “Ich bin stolz auf dich”, die fünf Worte strahlten so viel aus, dass eine Flut aus Freude durch meinen Körper spülte, mich positiv in den morgigen Tag blicken ließ. Es waren nicht nur die Worte, sondern die Person, die sie sagte. Niklas stand neben mir und lächelte, wie den Tag beim Probereiten. Seine Augen funkelten, aber fernab vom Verlangen, viel mehr freundschaftlich und demütig. Wie er da stand, wirkte er so perfekt und unberührt, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich sollte mich mit dem Gefühl arrangieren mit ihm eine Freundschaft zu führen, oder ihn für immer zu hassen.
      “Danke dir”, sagte ich glücklich.
      “Herzlichen Glückwunsch. Ich wusste doch, dass ihr zwei das Meistern werdet”, beglückwünschte mich nun auch Lina und strich der Stute über den braunen Hals. Etwas in mir sagte, dass es richtig war, sie hier zu haben. Nicht nur als Grund von Niklas fernzubleiben, was mir bisher weniger gut gelang, sondern auch als Stütze. Ich bemühte mich am Hof freundlich zu sein, mein Leid für mich zu behalten, aber strafte sie mit Nichtachtung und Schweigen. Das tat mir auch weh.
      “Lina, die Hellseherin, wer hätte das gedacht”, lachte ich und ritt wieder zum Platz. Die Reiter wurden weniger.
      “Ich würde dir gern helfen, aber Amy und ich sind gleich zur L-Dressur auf dem großen Platz. Aber keine Sorge, du schaffst das und ich werde auch ohne deine Anwesenheit den ersten Platz belegen”, schien Niklas mich aufzumuntern. Seine stechenden, heißen Blicke in die Augen lenkten mich ab, so sehr, dass ich in einen der Reiter hineinritt.
      “Titta här! (Achtung)”, beschwerte er sich laut stark, bevor die Entrüstung durch ein freundliches Lächeln abgelöst wurde. Es war der Herr von nebenan, auf seinem Fuchs.
      “Oh tut mir leid, ich hatte meine Gedanken woanders”, sagte ich zurückhaltend, getaucht im Schamrot mit leuchtenden Augen.
      “Ich bin übrigens Eskil, wie soll man dich nennen?”, freute er sich mich wiederzusehen. Die anderen drei Männer neben mir, beäugten das Gespräch kritisch, unsicher, was das hier werden würde. Besonders Harlens Begeisterung hielt sich in Grenzen, obwohl ich nicht viel mehr als höflich war. Hätte ich ihn anmaulen sollen, wie ich es sonst tat? Dafür gab es gar keinen Grund, hingegen aller Erwartungen freute sich mein junges Herz, darüber, endlich mal einen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch nur einen kleinen. Ich stand im Finale und das sollte gefeiert werden, doch zu vor, musste ich noch mal die neue Kür üben, die bereits Elemente der L Dressur beinhaltete. Aufgabe war es, über sich hinauszuwachsen und nicht unbedingt wie viele andere in weißer Bekleidung und Lack-schwarzen Leder durch den Sand zu tanzen, mit nach vorn geworfenen Vorderbeinen. Eine Darbietung, die jeder abliefern konnte mit dem passenden Pferd. Es lockerte die Sache auf, nur gewisse Elemente mit einzubauen, in einer kreativen Zusammensetzung im Zusammenspiel mit dem Pferd.
      “Schön dich kennenzulernen, Eskil. Ich bin Vriska, sag einfach Vivi”, bot ihm an, freundlich lächelte er und ritt voraus. Von der Seite hörte ich Niklas murmeln: “Uns hat sie nie ihren Spitznamen verraten.”
      “Eifersüchtig?”, grinste mein Bruder und folgte mir schnellen Schrittes zum Platz. Wir ließen die anderen hinter uns, als wären sie nicht gut genug für uns, eine Blamage durch und durch. Dem war nicht so, aber es fühlte sich richtig an, sich nicht vor der eigenen Leistung wegzudrücken und den Erfolg zu genießen.
      Auf meinem Handy las ich mir die Abfolge der Aufgaben durch, die Tyrell entwickelte hatte, extra für das Finale. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass kein einfacher Galoppwechsel geplant war, sondern ein fliegender. So etwas bin ich zuvor nie geritten, kannte die Hilfen nicht, wusste nur, dass die Stute bereits soweit geschult wurde.
      “Eskil?”, fragte ich den kräftigen Herrn, der im Schritt nur einige Meter entfernt ritt. Sogleich drehte er sich und lenkte das Schiff eines Pferds in unsere Richtung.
      “Wie kann ich dir behilflich sein?”, erkundigte er sich freudestrahlend, als wäre er der Retter in der Not, aber in meinen Augen einfach der Einzige, der mehr hatte als ich und Harlen zusammen. Sonst gab es niemanden auf dem Reitplatz und ich kannte zumindest seinen Namen.
      “Das mag seltsam klingen, aber ich bin noch nie einen fliegenden Wechsel geritten. Wie mache ich das am besten?”, legte ich mein Anliegen nah. Seine rechte Wange zog sich nach oben, und die markante Kieferpartie strahlte noch stärker in seinem hübschen Gesicht. Ohne etwas zu sagen, galoppierte er den Fuchshengst an, dessen Rasse mir nicht offensichtlich genug war, eher ein gewöhnliches Warmblut, nichts Besonderes, aus dem Stand. Als gäbe es nichts Leichteres, sprang sein Pferd wie von Zauberhand um, die Beine des Reiters gleichmäßig am Bauch und nur durch minimale Einwirkungen in den Bewegungen. Nach dem ersten Sprung galoppierte er auf dem Zirkel weiter und setzte von dort aus erneut in den Wechsel um, dieses Mal eine Serie von Wechseln, die einer nach dem anderen extrem sauber gesprungen waren. Wie es im optimalen Fall aussehen sollte, wusste ich vorher schon, aber das Paar zog mich dennoch in den Bann. Es war nicht wie bei Niklas und Smoothie, die eine Einheit bildeten und zusammenflossen, sondern jeder für sich hatte etwas Besonderes, obwohl ich Füchse nicht mochte. Sie sahen alle gleich aus und auf der Weide in Deutschland damals griff ich grundsätzlich das falsche Pferd.
      “Und jetzt du”, sagte Eskil aufmunternd, was mich viel mehr besorgte, als beruhigte.
      “Ich würde gern, aber ich weiß immer noch nicht, wie der Ablauf der Hilfen ist”, wiederholte ich mein Anliegen, als hätte er mir gar nicht richtig zugehört. Er stellte sich mit seinem Pferd vor mich, damit ich die Hilfen sehen konnte. Dazu erklärte er noch, wann welche folgte und ich jedes auffußen der Hinterhufe mit meinem Gesäßknochen genau verspüren sollte. Seine Worte schalten noch Minuten später in meinem Kopf, denn die Erklärung war grandios, so gut, dass ich bereits beim ersten Versuch eine große Sicherheit verspürte und Fruity von rechts nach links wechselte, ohne dabei nachzuspringen oder an Tempo zuzulegen. Zufrieden lobte ich die Stute mit einem sanften Streicheln über den Hals.
      “Das war wirklich hilfreich, danke”, zollte ich ihm mein Respekt, was er herzlich annahm.
      Es wurde später und später, auch die Temperaturen nahmen ab. Harlen stand fröstelnd am Zaun, wollte mich aber keinen Augenblick allein lassen. Seiner Meinung nach wollte Eskil mich nur ins Bett bekommen, wogegen ich grundsätzlich nichts einzuwenden hatte, meinen Bruder jedoch nicht mitteilte. Ich beruhigte ihn mit irgendwelchen Phrasen, die jeder von uns schon tausend Mal gehört hatte.
      „Vriska?“, sagte lautstark eine mir wohlgesinnte Stimme vom Zaun. Am langen Zügel ritt ich zu dem bärtigen Mann, der niemand anderes als Herr Holm war. Freundlich legte er seine Arme auf dem Zaun ab, direkt neben meinem Freund.
      „Hej“, antwortete ich und bremste Fruity in den Halt.
      „You've already met our newest member of the club, I'm glad you get along“, lachte er freundlich. Verwundert sah Eskil zu mir und auch war überrascht darüber, ihn wohl nun öfter zu sehen. Damit ging mein Plan, irgendwen diesen Abend zu benutzen und dann nie wiederzusehen, wohl nicht mit ihm auf, schade. Dass unser Trainer nichts gegen die Wahl meines Pferdes sagte, verwunderte mich, aber offensichtlich überzeugte ich auch auf den Rücken eines Dressurpferdes.
      “Du bist in auch in Kalmar?”, fragte er lachend.
      “Zufälligerweise ja, aber damit –”, ich stoppte willkürlich. Harlen sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wüsste er, was folgen sollte. Für mehrere Sekunden lieferten wir uns ein Krieg der Blicke, was mir zu verstehen gab, nichts mit dem Typen anzufangen.
      “Eskil, ta inte så lång tid på dig med Erlkönig, festen börjar om en timme, du borde lära känna de andra då (Eskil, mache nicht mehr so lange mit Erlkönig, in einer Stunde beginnt die Party, da sollst du die anderen kennenlernen)”, mahnte Herr Holm und lief weiter zu dem Hauptreitplatz, auf dem mittlerweile Niklas geritten sein sollte.
      “Bist du dann auch da?”, vergewisserte Eskil sich bei mir, als wir im Schritt zusammen die Pferde abritten. Die beiden Tiere verstanden sich gut, keine Zickereien und auch keiner der sich sein Geschlecht entsprechend benahm – im Gegensatz zu uns.
      “Mal sehen, aber vermutlich schon. Schließlich muss die jemand im Griff haben”, lachte ich fröhlich, obwohl ich wusste, dass ich diejenige war, die stets einen Betreuer benötigte, um einen klaren Kopf zu behalten.

      Fruity sammelte wieder ihr Futter zwischen den Grashalmen auf, während Harlen mir einen Vortrag darüber hielt, dass ich mich weniger anzüglich bekleiden sollte und damit nur lüsterne Männer auf mich zog. Er mochte es nicht, wenn ich sehr aufreizend gekleidet war. Ein Abend, die alte Vriska sein, wenn auch nur dieses eine Mal, mehr verlangte ich nicht. Schon tief in den Gedanken eingetaucht, mich volllaufen zu lassen und mir den nächsten Kerl zu schnappen, einen, den ich morgen nie wieder sehen werde. Schließlich ging es nun nicht mehr darum, wer der Auserwählte sein durfte, denn ich hatte mich selbst nicht unter Kontrolle und es wohl dem Kerl geschenkt, der es am wenigsten verdient hatte. Aber im Nachhinein erscheint es nicht schlecht gewesen zu sein, ganz im Gegenteil. Niklas war zärtlich, einfühlsam und überhaupt nicht grob, gar nicht, wie ich es erwartet hatte. Er gab auf mich Acht, überließ mir die Kontrolle, die er sonst nicht abgeben wollte. Die gemeinsame Erinnerung schenkte mir Kraft, wenn auch nur den Willen, ihn mit Lina glücklich zu sehen. Sie hatte es verdient, viel mehr als ich, niemand mehr als sie.
      „Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass du feierst unter so vielen Leuten, die wir nicht kennen“, versuchte Harlen erneut an mein Gewissen zu appellieren. Er wusste nur zu gut, wie die meisten Partys bei mir endeten, dennoch lagen seitdem mehr als drei Jahre dazwischen. Ich hatte dazugelernt, fest entschlossen, mich wohlzufühlen, einfach alles, um mich herum zu vergessen und in Welt der lauten Töne und flackernden Lichter einzutauchen. Genau das brauchte ich, um Erik und Niklas aus meinem Kopf zu jagen.
      „Es ist nicht meine erste Party und ein Kind bin auch nicht mehr“, schnaubte ich euphorisch und bürstete noch einmal die langen Haare durch. Viele blieben in den Borsten hängen, wo kamen die alle her? Je öfter ich über meinen Kopf fuhr, umso mehr wurden es. Das musste der Stress der letzten Tage sein, vor allem, wo noch immer Prüfungen vor mir standen und ich vergnügt auf einem Turnier war.
      „Genau deswegen, außerdem … Erik will dich wirklich an seiner Seite haben.“
      „Es ist mir egal, was der will, okay? Wir kennen uns kaum und nur, weil ich bereit war ihn ranlassen, kommt er jetzt wieder an. Scheint wohl sonst nicht gut bei ihm zu laufen. Nein danke, ich möchte nicht wieder der Knochen von irgendwen sein”, erklärte ich Harlen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich Erik bei mir haben wollte. In der Nacht die Augen zu schließen und zu wissen, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich wollte, jemanden, der wusste, wie es war, allein zu sein, sonst niemanden zu haben. Wir waren uns so ähnlich, dass es bedrohlich war, die Chance nicht zu nutzen, mehr von der Welt kennenzulernen. Diese Chance wollte ich nutzen, auch wenn es bedeutete ihm und mir schmerzen dabei zuzufügen.
      “Warte, was? Du hast schon mit ihm geschlafen? Was stimmt –” Ich unterbrach ihn. “Nein! Nur mit Niklas.”
      “Ach Vivi, du machst es dir wirklich schwer. Entscheide Weise, ich denke, dass du mit Erik einen guten Kerl an deiner Seite hättest”, trichterte er erneut ein. Langsam reichte es von meinem Umfeld jeden Tag hören zu müssen, wie ich etwas entscheiden sollte. Offensichtlich wusste es jeder besser als ich, was es bedeutete, in meinem Körper zu stecken, die Gedanken und Gefühle zu haben, Schmerz zu spüren, jeden verdammten Tag zum nächsten sich zu schleppen.
      “Harlen, sei ruhig. Es ist meine Entscheidung und ich will ihn – nicht mehr sehen. Akzeptiere es”, wiederholte ich mich, ohne mir das Leid in den Worten anmerken zu lassen. Nur für heute, ausblenden, dass es Erik oder Niklas gab. Wieso spuckten überhaupt zwei Typen in meinem Kopf? Es hätte schon gereicht, wenn es einer wäre, den ich nicht vergessen kann. Aber genug! Irgendwen würde ich schon finden, der für eine schnelle Nummer zur Verfügung stand, den Hulk sollte bei Lina an der Seite bleiben.
      “Ich glaube dir nicht, aber okay. Du weißt schon, was du tust”, unterstützte mich mein Bruder endlich und nahm mich in den Arm. Kleine Bartstoppel drückten sich rau auf meine Haut und ein Hauch seines sonst sehr intensiven Geruchs stieg mir in die Nase, es roch nach Zuhause, vertraut.
      “Danke, dass du für mich da bist”, drückte ich mich fester an ihn.
      “Du bist meine kleine Schwester, wie sollte ich dir etwas ausschlagen können”, lachte Harlen vergnügt und zusammen liefen wir zum Tanzsaal in das größte der Hallen auf dem Gelände, dort, wo oben die VIP-Lounge war. In den Himmel flackerten die großen Strahler vom Dach, fröhlich dröhnte elektronische Musik nach draußen, nichts, das mir gefiel, aber Hauptsache laut. Harlen griff nach meiner Hand, hielt sie fest in seiner, blickte mich tief an und zog mich in das Gebäude. Viele Menschen tummelten sich bereits im Eingangsbereich, sprachen vernehmlich über diverse Teilnehmer und als ich mit meinem Bruder an ihnen vorbeilief, begannen sie orphisch über uns zu tuscheln. Ich verstand nicht alle Worte, aber, dass sie uns seltsame Gerüchte abhängten und auch, dass ich diejenige war, die Niklas in Kanada verführte, nur Ju eifersüchtig zu machen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen, ja, sogar ich hatte ihn seit der Ankunft in Schweden nicht mehr gesehen. Am Flughafen stieg er in einen Uber und verschwand. Nachrichten las er, aber eine Antwort bekam man nur, wenn es benötigt wurde. Die Schuld daran zu geben, sah ich nicht ein. Ju war alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tut. Außerdem schien er schon in Kanada nicht mehr so motiviert für die ganze Sache mit den Pferden zu sein, keine Lust mehr auf die Gespräche, Stress und ständiges Unterwegs zu sein. Ich konnte es nachvollziehen, im Gegensatz zu allen anderen.
      Nach der Kontrolle unserer farbigen Bändchen befanden wir uns einen separaten Bereich, einige bekannte Gesichter erblickte bei dem Augenschweif. Chris hatte eine junge Blondine auf seinem Schoß, die ihm sehr wohlgesonnen wirkte. Niklas stand eng umschlossen mit Lina an der Wand, während ihre Schwester sich an einem Trinkspiel beteiligte. Ich fühlte mich nun nicht mehr so wohl bei der Sache, doch als Eskil uns zu sich rief, wurde es in mir wieder ruhiger. Fröhlich trabte ich zu ihm, drehte mich auf der Stelle und warf meine Arme freundschaftlich um seinen Hals. Er legte eine Hand auf meinen Rücken, klopfte diesen.
      “Es ist schön, dass du noch gekommen bist mit deinem reizenden Bruder”, sagte er höflich und lächelte ihn an. Verschmitzt zuckten auch Harlens Lippen. Sie musterten einander, spürte nur ich das? Die beiden hatte eine seltsame Verbindung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Tatsächlich lernte ich bisher nie einen Partner kennen, den er hatte, oder Partnerin. Bisher war ich mir nie sicher, was er wollte, doch jetzt schien es fassbar zu sein.
      “Gefällt er dir?”, flüsterte ich Harlen in seinem Ohr, was er strickt verneinte und mich für verrückt erklärte. Vielleicht spielten meine Gefühle wirklich verrückt, alles drehte sich, eine innerliche Achterbahn durchfuhr mich.
      Herr Holm stellte die Musik leichter und begann uns alle einander vorzustellen. Wenn Eskil sich gut anstellte, könnte er sogar im Nationalteam mitreiten, zumindest, bis er für uns zu alt wurde, was in weniger als drei Jahren so weit sein würde. Erstaunlich, dass er trotz so einer guten Verbindung zu seinem Pferd, erst jetzt die Möglichkeit bekam, das Land zu vertreten. Dann standen noch zwei jüngere Damen mit dabei, die nur schüchtern winkten und kurz sich vorstellten, Zwillinge, Eineiige Zwillinge. Obwohl sie noch vor einer Sekunde ihre Namen nannten, hatte ich sie schon wieder vergessen.
      Kaum endete die Vorstellungsrunde, wurde die Musik wieder lauter und heiter setzten sich alle in Bewegung. Mein Bruder verschwand nach unten, in den öffentlichen Bereich, während ich mich auf einer der Sitzmöglichkeiten hinsetzte und alles zunächst in Augenschein nahm. Hatte ich wirklich gedacht, dass ich für einen Abend eine Reise zurück in mein ein altes Leben konnte, ohne Gefühle, einfach zu Leben? Falsch gedacht. Das funktionierte nicht. Zwischen all den glücklichen Menschen, die einander hatten, fühlte ich mich unwohl. Ich zupfte an meiner Shorts herum, an meinem Shirt, aber natürlich wurde es nicht plötzlich länger.
      “Willst du meine Jacke?”, drückte mir Eskil ein langes, dunkel Stück Stoff in die Hand. Langsam begutachtete ich die Jacke, bedankte mich und legte sie mit über, wie eine Decke. Obwohl mir nicht kalt war, schämte ich mich dafür, so auszusehen, Haut zu zeigen und es interessierte niemanden. Er setzte sich zu mir.
      “Gibt es hier keinen, der mit dir tanzt?”, fragte Eskil aufgeschlossen, als würde er mich fragen wollen. Alles in mir schrie ‘Ja, keiner möchte, doch mein Herz schrie ‘Nein, es wartet jemand’. Es schrie so laut, dass es in meinen Ohren pulsierte, die Musik übertönte und keinerlei Erbarmen zeigte, mir gerecht zu sein.
      “Doch, aber er ist nicht da”, stammelte ich willkürlich, nicht, so wie ich es wollte. Aber in mir blutete es, zerriss mich und der Schmerz verlangte, auf schnellsten Wegen mich in das Zelt zu verziehen.
      “Also hast du jemanden an der Seite?”, die Frage zu beantworten, fiel mir schwer. Die Antwort wäre natürlich nein, ganz offensichtlich, aber ja. Erik schwebte mir durch den Kopf, wie ein Parasit, der sich mein Hirn zum Mittagstisch vornahm. Verzweifelt wischte mir durchs Gesicht. Ich hielt es nicht aus, entschuldigte mich kurz bei Eskil und lief hinaus zur Terrasse. In der letzten Ecke stellte ich mich ans Geländer. Von hier konnte man weit sehen, zu den Lichtern der Stadt und den wunderschön erhellten Wegen des Geländes. Das indirekte Licht schmeichelten der Architektur und Flair. Ich wünschte mit dem Ort bessere Erinnerungen verknüpfen zu können wie meiner Prüfung und nicht dem emotionalen Blödsinn. Aus meinem BH holte ich das Zigarettenetui, dem ich abschwören wollte, aber es nicht konnte. Vermutlich auch gar nicht wollte. Aber mein Feuerzeug war nicht da, freundlich fragte ich eine Frau neben mir, der ich mehrfach mein Geburtsdatum nennen musste, bis sie mir glaubte, dass ich über achtzehn Jahre alt war. Lächerlich bei der Vorstellung, dass Kinder eigentlich rauchen durften, nur der Verkauf nicht zulässig war. Erleichtert nahm ich einen kräftigen Zug vom Glimmstängel, die Lunge brannte und in meinem Hals setzte sich eine kratzige Schicht aus Gift ab, nicht gesund, aber mir egal. Traurig blickte ich wieder zu den bunten Lichtern, als es in meinem BH vibrierte. In dem Ding war echt Platz für alles, der Vorteil darin, kaum Oberweite zu haben.
      „Vriska. Ich dachte, dass ich dir beweisen müsste, ein Mann zu sein. Jemand, wie mein Bruder es ist. Stattdessen habe ich damit alles kaputt gemacht. Die gemeinsame Zeit genoss ich in vollen Zügen und möchte für dich da sein, egal wie schwer es sein wird. Sag mir, was ich tun soll, und ich werde es tun. Egal, was. Bitte, gib mir diese Chance, dir zu zeigen, was du mir bedeutest. Ich habe alles Mögliche getan, um bei dir sein zu können. Auf unbestimmte Zeit wurde ich beurlaubt und könnte von jetzt auf gleich zu dir kommen, solang wie du mich ertragen kannst, sofern du kein Problem mit meiner Tochter hast. Und dem Höllenhund. Bitte. Wenn du dafür bereit bist, dann drehe dich um.
      Gruß, Erik”, las ich unter dem Sternenhimmel die Nachricht, die aufleuchtete, mehrfach. Was sollte ich jetzt tun? Ich stand mit zwei, drei Leuten auf der Dachterrasse des Gebäudes, weit und breit niemand, den um Rat fragen konnte, niemand, der mir diese Entscheidung nehmen konnte. Aus meinen glasigen Augen tropften eine Träne und ich drehte mich um.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 96.667 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel fyra | 21. Oktober 2021

      St. Pauli’s Amnesia / Forbidden Fruit LDS / Glymur / Erlkönig / HMJ Divine

      Vriska
      Da stand er, perfekt wie er war. Getaucht im blauen Licht der kleinen LED-Leisten am Rande des Geländers. Hinter ihm reflektierten die bodentiefen Fenster die Lichter der Stadt, während im Inneren die Leute vergnügt tanzten, lachten und tranken. Das alles, machte es zu einem wunderschönen Abend. Weitere Tränen flossen unaufhaltsamen in meinem Gesicht hinunter und ich schämte mich dafür, ihn abgewiesen zu haben, daran gedacht zu haben, irgendwen für meine Spielchen ausnutzen zu wollen. Es wurde still und wir sahen einander an, niemand von uns beiden sagte etwas. Meine Knie zitterten, vor allem, weil es draußen super kalt war und ich die kluge Idee hatte, eine Shorts anzuziehen, die nicht viel länger war, als eine Unterhose und darüber ein lockeres bauchfreies Shirt. Eskil Jacke hing über dem Geländer, aber ich trug sie nicht. Langsamen Schrittes kam er näher, so wie wir uns das erste Mal sahen. Der graue Anzug schmeichelte nicht nur seine Figur, sondern untermalte seine Autorität, die ihm ansonsten ziemlich fehlte. Die Haare locker nach hinten gegelt und über dem Hemd mit feste, ein blaues längliches Jackett, dass Erik auszog und mir über die Schultern legte. Mit meinen hohen Schuhen fehlte sogar gar nicht mehr viel, um ihn in die Augen zu schauen, ohne eine Genickstarre zu bekommen.
      “Erik, du musst nicht wie dein Bruder sein, sei du selbst, denn so will ich dich”, sagte ich verlegen, hoffend darauf, endlich wieder seine Nähe zu spüren. Ohne zu zögern, legte er seine Hände an meinen Hals, drückte sie sanft zusammen und ich schloss meine Augen. Seine Lippen berührten meine. Alle Zweifel in mir rückten in den Hintergrund, als hätte es nie welche gegeben, als gäbe es nur uns beide, für immer. Das sanfte Kribbeln durchströmte meinen Körper, als würden Ameisen mich besiedeln, denn anders konnte ich es nicht beschreiben. Nur bei ihm hatte ich die Gefühle, nur er brachte mich auf andere Gedanken, auf positive Gedanken. Als Erik von mir absetzte, vermisste ich das Gefühl, dass er auf meinem Mund hinterließ schon wieder. War das Real, oder träumte ich?
      “Aber sag, wo sind deine beiden Begleiter?”, unterbrach ich das Schweigen, noch immer ihm klar vor meinem Gesicht. Er lächelte, die Augen funkelten.
      “Reiche ich dir nicht?”, lachte er vergnügt und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn.
      “Doch – doch! Aber du meintest”, stammelte ich verloren, unsicher darüber, ob es ihm zu direkt war, oder einer seiner gutmütigen Scherze.
      “Sie sind in guten Händen, damit wir etwas Zeit für einander haben”, klärte Erik auf und reichte mir seine Hand. Sogleich griff ich nach ihr, süchtig ihn zu spüren, bei mir zu haben. Auf der Terrasse standen auch bequeme Polstermöbel, die ich mit ihm gerne teilen würde, doch Erik hatte andere Pläne.
      “Wo willst du mit mir hin?”, fragte ich irritiert.
      “Wirst du schon sehen”, schmunzelte er und zog mich in das Getümmel der Leute, die nicht mal unsere Anwesenheit wahrnahmen. Hier waren wir irgendwer, keinem interessiert, wer wir waren oder ob Erik der seltsame kleine Bruder vom großen Olofsson war. Wir waren x-beliebige Leute, die einfach nur durch die Menge taumelten. Im Vorbeigehen schnappte ich mir eine offene Bierflasche, die mich schon aus der Ferne anlächelte. Der erste Schluck vollkommen widerwärtig, doch bereits der zweite lief hinunter wie Wasser und noch bevor wir unser Ziel erreichten, stellte ich die leere Flasche auf einer Mauer ab. Vor dem Haupteingang stoppte er, aus der Puste klammerte ich mich um seinen Hals, spürte das Verlangen, dass auch ihn durchtrieb. Einseitig biss ich auf meiner Lippe, hoffte von ihm zu Boden gerungen zu werden. Dass er seine Prinzipien über den Haufen warf und sich mir hemmungslos hingab, innig und vertraut, nur wir beide, in einer stillen Ecke, oder auch genau hier. Ich konnte mit beides vorstellen, aber er sollte es sein und nicht irgendjemand. Statt mir zu geben, nachdem ich mich so sehr gesehnt hatte, raunte er mir ins Ohr: “Erfolg ist mit den Geduldigen.” Sanft küsste er mich am Hals.
      Wir kamen hinter den ganzen Reitplätzen heraus, auf einer Wiese. Keine Menschenseele in der Nähe, nur wir beide und der Sternenhimmel über Stockholm. Aus einer seiner Hosentasche kramte er eine Kerze, stellte sie in den Rasen und zündete sie an.
      “Es ist nicht viel –”, wollte er die kleine Geste schlechtreden, doch ich legte meinen Finger auf seinen Mund, um ihn zu stoppen. Ein Lächeln bildete sich und seltsam lutschte er ihn ab. Irritiert zog ich ihn weg und wischte die Spucke an seinem Jackett ab.
      “Es ist perfekt”, flüsterte ich und kletterte zu ihm hinüber, im Augenwinkel die Kerze, um sie nicht umzustoßen.
      “Ich würde sagen, dass ihr euch ein Zimmer nehmen solltet, aber hier ist sonst keiner”, hörte ich plötzlich meinen Bruder und sah über Erik zu ihm. Im Dunkeln trat er an uns heran und musterte das Gesehen. Noch immer saß ich auf seinem Schoß, sein Hemd geöffnet und die Krawatte hin locker um seinen Hals. Erik drückte mich an sich, nicht im Begriff von mir zu lassen.
      “Und was möchtest du genau hier?”, fragte ich meinen Bruder.
      “Eigentlich wollte ich nur gucken, ob es dir gut geht, aber das scheint offensichtlich zu sein. Vielleicht wäre es auch gut, wenn ihr ins Zelt geht. Hier ist es nicht nur kalt, sondern dein Pferd hungert. Ihr könnt euch die Zeltkammer teilen, ich schlafe woanders”, grinste er, drehte um und verschwand in der Dunkelheit. Dann wandte sich mich Blick wieder zu Erik.
      “Was denkst du, kommst du mit oder fährst du wo auch immer hin?”, die letzten Worte kamen verlegen aus dem Mund, in der Angst, ihn wieder zu verlieren, wenn auch nur für die Nacht. Es dauerte ungewöhnlich lang, bis er mir antwortete, als hätte darüber noch nicht nachgedacht, was ich mir bei ihm nur schwer vorstellen konnte. Er plante durch Dinge voraus, machte sich Gedanken darüber, was passieren würde und was man stattdessen machen könnte.
      “Natürlich komme ich mit, aber deine Finger lässt du bei dir”, schmunzelte Erik und half mir aus dem Rasen nach oben, als ich mich von ihm herunterrollte und blickte verloren in den Nachthimmel. In der Hauptstadt Schwedens war so unglaublich Still in der Nacht, dass mich immer wieder danach umhörte, ein Geräusch zu vernehmen oder mich an etwas zu klammern, worüber ich mich aufregte. Aber es gab nichts.
      “Das lässt du so”, raunte ich Erik zu, worauf ich einen skeptischen Blick erntete, aber meinen Willen bekam. Sanft strich ihm noch einmal über die Brust, voller Ehrfurcht und zittrigen Fingern. Kleine Stolpern wie an Harlens Hals spürte ich, es war alles so perfekt. Die Kerze erlosch und Hand in Hand liefen wir zum Zelt. Vor dem Hauptgebäude stoppte, wir noch einmal, da Erik dringend noch mal zur Toilette musste, hoffend, dass er nicht noch einmal selbe tat wie beim letzten Mal. Ich saß in der Zeit auf einen der großen Steine vor dem gläsernen Gebäude und betrachtete die kalt-leuchteten Lampen ringsum, musterte ich alle Farben, die aus dem obersten Stockwerk nach Außen traten. Ich erblickte meinen Bruder, gedrückt an eine der Scheiben, doch die sich öffnende Schiebetür der Gebäude lenkte mich ab. Gefühlte Stunden vergingen, bis Erik wieder kam. Als erneut nach oben sah, war mein Bruder weg. Was meinte er mit, er schliefe woanders? Wenn hatte Harlen sich angelacht? War sie hübsch, eine der Bedienungen oder so eine von den Hardcore Pferdemädchen, vergleichsweise jemand wie ich?
      „Was suchst du da oben?“, fragte Erik und sah ebenfalls du den Fenstern, entdeckte jedoch genauso wenig wie ich.
      „Mein Bruder war da oben, gedrückt an eine der Scheiben. Es interessiert mich, wo er für die Nacht verbringen möchte“, erzählte ich ihm.
      „Dann frag ihn später, außer es hindert dich mit mir zu sein“, lachte er vergnügt, was ich mit einem Kopfschütteln verneinte. Fröhlich sprang ich auf und nahm wieder seine Hand. Es fühlte sich gut, ihn bei mir zu haben, dass konnte ich nicht oft genug denken. Die Freude kribbelte noch immer in meinem ganzen Körper und das Bier konnte wohl kaum der Grund dafür sein. Mit den hohen Schuhen in der Hand hüpfte ich über den sandigen Weg, auf dem ich zwischen meinen Zehen immer wieder kleine Steine spürte, die wie Dolche in die Haut eindrangen. Aber es war mir egal, der Schmerz zeigte mir, dass es kein Traum war, sondern die Realität.
      „Du kannst schon ins Zelt, ich muss noch mal das Heu nachfüllen“, sagte ich Erik, warf mein Handy und das Zigarettenetui in den Eingang des Zeltes, um dann weiter zum Pferd zu hüpfen.
      Flüsternd erzählte ich ihr von Erik, wie gut ich mich fühlte und wie sehr ich mich darauf freute, mit ihr morgen im Finale mitzureiten und vielleicht sogar auf das Treppchen zu steigen. Die anderen vier waren eine starke Konkurrenz. Chris hatte mir erzählt, dass eine von ihnen wirklich nur teure Pferde unter den Sattel bekam, während der andere Tag und Nacht trainierte und später ebenfalls im Nationalteam zu reiten. Keiner von ihnen wollte das Förderprogramm, so wie ich es hatte, denn damit war etwas Minderwertiges. So fühlte ich mich aber gar nicht, sondern viel mehr erfreut, die Möglichkeit bekommen zu haben, ohne, dass Vati mit den Geldscheinen wedelte. Ich hatte mir das alles selbst erarbeitet. Aus dem Hänger nahm ich das Heunetz und lief noch immer barfuß zu dem Ballen, der einige Meter von unserem Standort entfernt stand. Von Weiten sah ich Eskil, jedoch nicht am Heu holen, sondern hielt sich an etwas fest.
      Auf der Ferse drehte ich schnellstmöglich um, den anderen Ballen an fokussiert. So sehr darauf konzentriert, dass eins der Seile eines Zeltes übersah und im Dreck landete, direkt auf mein linkes Fußgelenk, dass mir schon durch die hohen Schuhe genügend Kummer besorgte. Schmerzlich rieb drüber, bis Erik zwei Plätze weiter zu mir kam.
      „Was machst du immer!“, lachte er und half mir beim Aufstehen.
      „Wegrennen, vor gruseligen Geräuschen“, antwortete ich leise, damit Eskil nicht hörte, was ich zuvor vernahm.
      „Lass die jungen Leute doch ihren Spaß haben“, mahnte Erik, als wären wir Ende fünfzig und seit Jahrhunderten enthaltsam.
      „Natürlich, jeder wie er es braucht. Außerdem ist er älter als wir“, lachte ich, humpelnd begleitete er mich, hielt mich fest und half sogar dabei das Netz zu befüllen.
      „Ach, du kennst ihn?“, fragte Erik interessiert und schloss das Band.
      „Ja, aber rege dich jetzt nicht auf. Ich wollte alles Mögliche in den Rachen gießen, um dich zu vergessen und die Erwartungen zu erfüllen, die man von mir hat“, gab ich zu, senkte meinen Kopf, um seinen Blick nicht zu sehen. Doch er schob mein Kinn wieder nach oben, lächelte sehnsüchtig. Nun war ich endgültig verwirrt.
      Was war denn bei ihm falsch. Ich verharrte und konnte nicht fassen, so ein Angebot bekommen zu haben, obwohl ich gar kein Interesse mehr daran hatte.
      „Na, wenn du nicht willst, auch okay, aber beweg dich jetzt, mir ist kalt“, küsste er auf der Stirn und lief zurück zum Camp. Fruity brummte freundlich, als er ihr das Netz wieder an der Seite des Hängers befestigte und ich betrachtete diese traumhafte Kulisse. Erik, der sein Hemd komplett offen hatte, gab meinem Pferd ein Heunetz, obwohl er ziemlich viel Respekt vor den freiheitsliebenden Tieren hatte. Konnte das wahr sein? Ich glaube kaum. Nur Lina hatte es besser als ich, ihr Kerl war die Topnummer der jungen Elite in Schweden, bestens ausgebildet, stets in Uniform unterwegs und dann auch noch bedacht auf das Wohl der Tiere, keiner Leistung. Dagegen konnte Erik nichts ausrichten, aber das war okay. Immerhin hatte er andere Dinge zu bieten.
      „Schaffst du es allein ins Zelt, oder soll der große Starke wieder zur Hilfe kommen?“, lachte er.
      „Natürlich musst du mir helfen, schließlich bin ich verletzt“, antwortete ich übertrieben theatralisch und streckte die Arme nach oben. Er nehme meine Arme und Beine und trug mich wie eine Braut zum Zelt. Allerdings landete ich unsanft mit meinem Po auf der Isomatte, die nicht wirklich gut gepolstert war. Seine Hände neben mir aufgestellt, beugte er sich über mich. Innerlich rannte sie Zeit, in der wir einander nur noch ansahen.
      „Was hast du denn vor, junge Dame?“, flüsterte Erik.
      Die Schmerzen an meinem Fußgelenk schon wieder vollkommen vergessen, krabbelte ich wortlos heraus und lief wieder zu den Campingstühlen.
      Aus dem Etui griff ich nach einer der Glimmstängel und als Erik dazu kam, bot ich ihm auch eine an. Jetzt war der richtige Moment, zu gehen. Ich fühlte mich vorgeführt, unsicher was ich denken sollte und nicht in der Stimmung das Ganze als einen Scherz aufzufassen. Süchtig zog ich an der Zigarette und wartete darauf, dass er was sagte.
      „Vriska. Ich will, aber ich kann nicht“, sagte Erik später, als aus der Ferne Schritte zu hören waren.
      „Na, dann lassen wir es, so einfach“, maulte ich eingeschnappt und aschte demonstrativ ab, würdigte ihm keines Blickes.
      „Es liegt nicht an dir, ich — bin einfach nicht bereit dafür“, stammelte er verlegen.
      „Dein Körper sendet dafür aber zu klare Zeichen“, murmelte ich.
      „Können wir das wann anderes besprechen, bitte? Lass uns nicht so schlafen gehen“, bettelte Erik und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Aus dem Frust heraus, wollte ich sie wegschlagen, doch mein Körper war da ganz anderer Meinung, als er langsam weiter fasste.
      “Oh, hallo ihr beiden”, begrüßte Lina uns gut gelaunt. Ihre Augen strahlten geradezu und ein entspanntes Lächeln lag auf ihren Lippen. “Schön, dass ihr doch noch einmal zusammengefunden habt”, fügte sie hinzu und es schien dabei wirklich aufrichtig zu sein.
      „Mal sehen wie lange“, rollte ich mit den Augen, stand auf und humpelte in das Zelt. Dort verkroch ich mich direkt in die letzte Ecke meiner Kabine und kuschelte mich in mein großes Kissen. Bis Erik kam, dauerte es noch einen Augenblick.
      „Vriska, ich bitte dich. Sei nicht so, sonst kann ich auch —“, anstelle ihn ausreden zu lassen, drehte ich mich blitzschnell um und drückte meine Lippen auf seine. Das Kribbeln kam wieder, von der vorherigen Körperspannung, ließ Erik sich fallen. Statt ihn sich selbst entkleiden zu lassen, übernahm ich diese Aufgabe, auch wenn es nicht mehr haben konnte, genoss jeden Atemzug mit ihm, um mich am Ende an ihn heranzulegen.
      „Erik?“, flüsterte ich in sein Ohr, damit es die anderen nicht hörte, was bei der bisschen Plastik, das uns umgab, mehr als eine sinnlose Unternehmung war.
      „Anwesend“, lachte er und drückte seinen Arm, auf dem ich lag, näher zu sich.
      „Ich möchte, dass du mein für immer bist.“

      Lina
      Müder aber glücklich krabbelte ich hinter meiner Schwester in das Zelt. Nach meinem persönlichen Tiefpunkt heute Nachmittag hatte der Tag noch ein schönes Ende gefunden. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen ließ ich mir den Abenden noch einmal durch den Kopf gehen. Natürlich hatte ich mir den Ritt meines Freundes nicht entgehen lassen. Nicht das ich ihn ohnehin schon den ganzen Tag einfach nur betrachten konnte, aber in Verbindung mit einem Pferd wirkte er noch strahlender. Die Pferde waren seine Leidenschaft, Teampartner, keine reinen Sportgeräte. Statt dem Tier nur stumpfe Befehle zu erteilen, trat Niklas in einen Dialog mit dem Tier. Wenn er ritt, wirkte es so mühelos, als würde er seinen Lebtag nichts anderes tun. Das war es, was ihn von vielen der Konkurrenten unterschied und die Zuschauer in den Bann zog. Bisher hatte ich Amnesia nur unter Ju laufen sehen und hatte kaum glauben können, dass das dort auf dem Platz dasselbe Pferd sein sollte. Das soll jetzt nicht heißen, dass Ju ein schlechter Reiter war, keinesfalls, aber ihm fehlte das Gewisse etwas. Heute Abend tanzte Niklas mit der Scheckstute durch das Viereck und die Stute lief zur Höchstform auf. Für das ungeschulte Augen waren seine Hilfe unsichtbar und auch für den erfahrenen Reiter nur erkennbar, weil er wusste wie sie funktionierten. Obwohl Amy und er von einer deutlich schwächeren Aura umgeben waren, als, wenn Nik auf seiner Schimmelstute saß, verzauberte er nahezu jeden Zuschauer. Niklas und Amnesia waren nicht nur Sieger der Prüfung, sondern auch Sieger der Herzen. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie viele der Mädchen im Publikum meinen Freund anhimmelten wie etwas Heiliges.
      Als ich im weiten Verlauf des Abends mit Juli zusammen auf den Weg zur Haupthalle war, in der noch eine Feier zum Ausklingen des Tages stattfinden sollte, war ich ein wenig nervös gewesen. Verschiedene Dinge spukten mir durch den Kopf. Einige hatten mit den vielen Leuten, um mich herumzutun, gerade mit den Leuten vom Verein. Der Verein und ganz besonders das Nationalteam war eine eingeschworene Gemeinschaft. Wie ein Bienenstaat folgte, sie alle den gleichen ungeschriebenen Gesetzten. Ein jeder schien jeden zu kennen, und vermeintlich über alles Bescheid zu wissen. Jeder, der nun in dieses Gefüge eindrang, schien erst einmal auf Abstand gehalten, beobachtet und beurteilt zu werden. Das war eindeutig mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb war.
      Das andere was mir nicht direkt Sorgen bereitete, aber große Verwirrung in mir auslöste war Vriska. Auf einmal stand sie vor meiner Tür, trug mir all ihr Leid vor, erzählte mir, dass ihr Traumprinz nicht mehr antwortete, sie aber auch noch irgendwie auf meinen Freund stand und dann… Dann war alles wieder wie vorher. Vriskas Worte über Niklas hallten in meinem Kopf wider, schien wie ein Flummi von den Wänden meines Schädels abzuprallen und durch meine Gehirnwindungen zu springen. Natürlich hatte ich die beiden auf dem Abreiteplatz entdeckt, ich war ja schließlich nicht blind. Auch wenn es nur ein kurzer Moment gewesen war, bis ein Pferde-Reiter-Paar mir die Sicht versperrt, reichte dieser aus, als dass ich unwillkürlich alles in mir zusammenzog. Schon in der Halle auf dem LDS hatten sie so seltsam vertraut gewirkt… Die Art und Weise wie Vriska Erik abwies, war nicht gerade zuträglich mein Gefühl zu beruhigen. Doch ich wollte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es nur eine Sinnestäuschung war, eine Überinterpretation meines Hirns, dessen Frühwarnsysteme sich noch zu genau an den Grund erinnerten, warum die Beziehung mit Flinn endete. Wegen dieser Gedanken war ich nun umso erleichterte darüber, dass Erik und Vriska doch zueinander gefunden hatten. Ich freute mich für die beiden. Erik hatte bereits in Kanada den Eindruck hinterlassen, als sei ihm das mit Vriska wirklich ernst und spätestens nach Vriska plötzlichen Anfall von offener Ehrlichkeit gestern, schien es auch ihr ziemlich wichtig zu sein. Eben hatte sie zwar wegen irgendetwas beleidigt gewirkt, aber mit jemandem den man eigentlich hasste würde man wohl kaum die Nacht verbringen. Wo ich gerade an die beiden dachte, kam mir die Frage, wo ihr Bruder eigentlich abgeblieben war. Nachdem Chris sich vorhin, noch bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, heftigst dagegen wehrte, dass ich die Nacht bei Niklas verbrachte, erwarte ich nicht gerade, das Harlen vorhatte das Zelt mit seiner Schwester und Erik zu teilen.
      “Juli, tiettä missä Vriskan veli? En Uskon, että hän nukkuu kummankaan klo (Juli, weißt du, wo Vriskas Bruder ist? Ich glaube nicht, dass er bei den beiden schläft.) ”, sprach ich leise meine Schwester an, die sich bereits auf ihrer Isomatte gemütlich gemacht hatte, während ich noch dabei gewesen war, mich umzuziehen.
      “Minulla on arvaus, missä hän yöpyy (Ich habe da so eine Vermutung)”, kicherte sie als wäre ihre Annahme unheimlich lustig. Allerdings musste das noch lange nichts heißen. Wenn Juliett betrunken war, fand sie grundsätzlich alles ziemlich lustig, sosehr, dass das ein oder andere männliche Wesen ziemlich beleidigt war, wenn es Gekicher als Antwort auf obszöne Annäherungsversuche bekam. Diese Szenen waren dann meistens für die Umstehenden ziemlich lustig, wodurch sich die Herren meist noch mehr in ihrer Würde verletzt fühlten.
      “Ja mikä tämä olettamus on? (Und was ist diese Annahme?)”, fragte ich in meinen Schlafsack schlüpfend. Kühl legte sich das Polyester an meine nackten Beine und ließ mich frösteln. So warm wie die letzten Sommertage auch sein möchten, in der Nacht kühlten die Temperaturen recht schnell herunter.
      “Näin hänet aikaisemmin kauniin nuoren miehen kanssa. Molemman näyttivät aika tutuilta. (Ich sah ihn vorhin mit einem hübschen jungen Mann. Die beiden wirkten ziemlich vertraut miteinander aus.)” So sehr wie sie das ziemlich vertraut betonte, brauchte ich nicht weiter fragen um zu wissen, was ihre Vermutung war. Ein junger Mann also… Unerwartet, als Homosexuell hätte ich Harlen nicht eingeschätzt. Er zeigte keine der typischen Verhaltensweisen, die ich von Alec und Magnus kannte, aber was wusste ich schon.
      “Riittää spekulointia tälle päivälle. Menen sänkyyn. Rakasta sinua pikkuinen Kauniita unia
      (Genug spekuliert für heute. Ich gehe jetzt schlafen. Hab dich lieb, Kleine. Träum süß)”, unterbrach Juliett meine Gedanken und schaltet die kleine Laterne aus, die mit ihrem schwachen Licht für die nötige Orientierung im Inneren des Zeltes gesorgt hatte.
      “Rakastan sinua myös, sis. Nuku hyvin. (Liebe dich auch, Schwesterherz. Träum schön)”, flüsterte ich in die völlige Dunkelheit, die uns nun umgab und kuschelte mich in mein Kissen. Für einen Moment lag ich völlig still, lauschte nur auf die Geräusche vor dem Zelt. Eine Maus, die auf der Suche nach Nahrung durch das trockene Gras raschelte, der Ruf eines Käuzchens, die Blätter, die sich leise säuselnd im Wind bewegten und die dumpfen Geräusche von Pferdehufen auf dem weichen Boden. Ein vollkommener Kontrast zu den satten Bässen, die mir vorhin noch in den Ohren dröhnten. Wie von selbst wanderten meine Gedanken zurück zum heutigen Abend, projizierten Bilder in meinem Kopf.
      Meine Schwester hatte meine anfängliche Anspannung wahrgenommen und war wie so häufig augenblicklich bereit gewesen, etwas dagegen zu unternehmen. Kaum hatten wir die Halle betreten, verschwand sie zielstrebig in der Menschenmenge, kehrte mit etwas undefinierbares, was sie einen Cocktail nannte, zurück und drückte mir das Glas begleitet von folgenden Worten in die Hand:” Riippumatta siitä, mitä päässäsi liikkuu, unohda se ja pidä hauskaa tänä iltana (Egal was in deinem Köpfchen mal wieder vorgeht, vergiss es und habe heute Abend ein wenig Spaß)”
      Die blutrote Flüssigkeit schmeckte überwiegend nach Cranberry Saft mit einem Hauch von Limette und brannte ein wenig im Abgang. Ich konnte nicht ausmachen, was in dem Gebräu drin war, aber es erzielte den von Juli vorhergesehen Effekt. Ich entspannte mich mit jedem Schluck etwas mehr und schob die ganzen Gedanken, die in meinem Kopf herumgeisterten, beiseite. Zufrieden betrachte Juliett mich als, das Glas leer war, nahm mich bei der Hand, leitet mich durch die Menschen. Ich hatte Mühe ihr zu folgen, da sie manchmal unvorhergesehen abbog oder sich irgendwo hindurchquetschte. Als sie endlich wieder stehen blieb, hatte ich die Orientierung hoffnungslos verloren. Die Bässe dröhnten in meinen Ohren, vermischten sich mit dem Stimmengewirr. Bunte Lichter, die über fremde Gesichter zuckten. Ein Gemisch aus den unterschiedlichsten Parfüms, Aftershaves und Alkohol lag in der stickigen Luft. Vollkommene Reizüberflutung.
      “Ja nyt pikku prinsessani, prinssi odottaa sinua (Und jetzt, meine kleine Prinzessin, wartet dein Prinz auf dich)”, raunte Juliett mir in mein Ohr und schob mich in eine Richtung. Für ein paar Sekunden verstand ich nicht was genau sie von mir wollte. Hektisch suchten meine Augen die Umgebung ab, bis ihn entdeckte. Niklas stand lässig an die Wand gelehnt, die Füße in den sündhaft teuren Sneaker überkreuzt. Die obersten Hemdknöpfe, seines weißen Hemdes, standen provokant offen und ermöglichten einen Blick auf die muskulöse Brust darunter, einfach atemberaubend. Ein offenherziges Lächeln trat auf sein Gesicht, als er mich erblickte. Augenblicklich durchfuhr mich eine Hitzewelle, erfüllte jede Faser meines Körpers und hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut, wie den kleinen Füßchen hunderter Schmetterlinge, die sich auf ihr niederließen. Ich vergaß die dröhnende Musik, das zuckende Licht, vergaß alles um mich herum. Ich nahm nur noch Niklas wahr.
      Von ganz allein trugen mich meine Füße zu ihm hinüber, bewusst der Blicke, die auf mir lagen. Sollten sie ruhig schauen, sollten sie sehen, dass ich zu diesem wundervollen Mann gehörte. Der Mann, der selbst meine kühnsten Träume übertraf, der so perfekt war.
      Im nächsten Moment fand ich mich in seinen Armen wieder, umgeben von seinem Duft, den ich in mich aufsaugte wie ein Schwamm. Ich spürte seine kräftigen Hände auf meinem Körper, die Wärme seiner Haut, das dynamische Zusammenspiel der Muskeln unter meinen Finger, verlor mich in seinen mit Begierde erfüllten Augen. Als sich unsere Lippen trafen, explodierte ein Feuerwerk aus Endorphinen in mir.
      Die Erinnerungen an den Abend verschwammen miteinander, wirbelten durch meinen Kopf, durchströmen mich erneut mit Leidenschaft und bildeten neue Bilder, die allmählich zu Träumen wurden.

      Vriska
      Ein rauer, unbarmherziger Windzug aus Schnee und Graupel vernebelte mir die Sicht, außer dem Pferd und mir war niemand in greifbarer Nähe, und wenn doch, dann hätte ich ihn nicht gesehen. Die dunklen Ohren des Tieres erschienen nur schemenhaft vor meinen Augen und mein Versuch mich zu orientieren, scheiterte. Im Schritt setzte ich an, noch immer im Willen daran, wo ich sei, wie ich hierherkam, als brodelnde, rote Blitze sich vor mir eröffneten. Das Pferd stieg, weigerte sich den Weg nach vorn zu nehmen, stattdessen drehte es im gestreckten Galopp. Ein Blick nach hinten, noch immer verfolgt von der heißen Flüssigkeit, umschlossen von Nebel und Kälte. Plötzlich fiel ich hinein in den Dreck, der Flug nach unten endete nicht, stattdessen fiel ich immer weiter, immer weiter. Wach. Was war das?
      Vorsichtig griff ich neben mich, Erik fehlte. In meinem Kopf eröffnete sich die Panik, dass es gestern Abend nur ein Traum, aber kein Traum wie dieser, sondern ein schöner, schön, wie er es war. Hoffend darauf, dass er noch da war, schob ich die Folie der Zelttür zur Seite, bekleidet mit Tyris Rugby Pullover und einer kurzen Hose, und trat an die frische Luft. Ein kalter Windzug fegte um meine Beine, aber da saß er zusammen mit Harlen, Eskil. Herzlich lachte sie, doch jeder für sich irritierte mich. Fern ab davon, dass keiner von ihnen ein Shirt trug. Erik, der sich in Kanada noch dafür schämte seinen Oberkörper zu präsentieren, saß vollkommen selbstverständlich mit dabei, trank einen Kaffee und in der anderen Hand eine Zigarette. Die drei wirkten ungewöhnlich vertraut, besonders mein Bruder, den ich zwar als sehr gesellig kannte, bot mir einen ganz anderen Teil seiner Persönlichkeit. Er saß still daneben, halb anwesend, halb verträumt. Immer wieder musterte er die beiden von oben bis unten, in den Augen funkelte etwas, etwas Unbekanntes. Konnte es möglich sein? – Nein! Das wäre unvorstellbar und nur ein Hirngespinst, dass sich in mir ausbreitete durch Mangel des Liebeslebens. Aber nein, ich wollte mir meinen Bruder beim Geschlechtsverkehr gar nicht vorstellen, das hätte zu viele Elemente meines Vaters. Nein!
      “Vivi, willst du weiter so gaffen oder kommst du auch dazu?”, fragte mich Erik belustigt und hielt mir demonstrativ die Schachtel entgegen. Eigentlich war der Wille von dem Gift abzulassen, noch immer präsent, aber ich konnte ihm kein Angebot ausschlagen und lief die wenigen fehlenden Schritte zu ihnen. Erst jetzt sah ich Eskil in seinem Ausmaß an Körper dabeisitzen, überseht von kleinem Liebkosen der vermeintlichen vergangenen Nacht.
      “Wer von euch hatte eigentlich die Idee, wie die drei Engel von Charly in eurer vollen Männlichkeit morgens um sieben Uhr hier herumzusitzen?”, fragte ich interessiert, gab Erik einen zaghaften Kuss und setzte mich auf den verbliebenen Campingstuhl dazu. Wie abgesprochen sahen sie einander an, lachten aber verwehrten mir die Antwort.
      “Vielleicht wenn du etwas älter bist”, grinste Eskil, was ich mit einem eingeschnappten Schmollmund beantwortete. Wenn ich hier nicht willkommen war, konnte ich mich auch um mein Pferd kümmern. Doch auch Fruity schlief noch, der Heusack aufgefüllt und der Wassertrog ebenfalls bis obenhin voll, obwohl ich vor nicht einmal zehn Minuten aus der Sauna hinauskletterte.
      “Eskil? Hast du Fruity mitversorgt?”, fragte ich überrascht, als ich noch mal prüfend um den Paddock herumlief.
      “Nein, dein Freund hat das gemacht”, antwortete er schulterzuckend. Erik und Pferde? Freiwillig? Viel mehr konnte er mir gar nicht zeigen, dass er bei mir sein wollte, zeigen, was er gestern im Zelt nicht mit Worten erwiderte. Stattdessen legte er seinen Arm fest um mich, innig und vertraut. Obwohl noch immer sein Bruder schemenhaft in meinem Kopf spuckte, versuchte ich ihn bestmöglich auszublenden, denn was ich brauchte, saß nur einige Meter entfernt.
      “Esy, dass ihr nicht-Freund, wichtiger Unterschied”, mischte sich auf einmal mein Bruder mit ins Gespräch ein. Wieder musste ich unter ihrem Getue leiden, als hätte ich sonst keine Sorgen. Ich wusste nicht einmal, wann der Start anstand, welche Musik laufen würde, wie ich abschneiden würde. So viele Fragen, die ich nicht zu beantworten wusste. Unwillkürlich begann ich auf der Stelle herumzutänzeln, ratlos von links nach rechts zu laufen und irgendwelche Gegenstände von der einen zur anderen Seite zu bringen.
      “Liebling, setzt dich noch mal, du machst du uns alle verrückt”, versuchte mich Erik zu bändigen, was die innerliche Stimmung nur noch verschlechterte.
      „Ihr macht mich verrückt!“, fauchte ich genervt und schließ die dreckige Schüssel in die Seitentür des Hängers. Alles lag herum, als lebten wir seit Jahren, aber nein, die Unordnung wurde innerhalb weniger Stunden verursacht und ich denke nicht, dass das nur mein Verschulden war. Wieso hatte ich so viele Menschen mit zum Turnier genommen? Schrecklich. Plötzlich spürte ich einen warmen Luftzug um meinen Nacken, drehte mich und Erik standen mit einem schelmischen Lächeln vor mir.
      „Muss ich mir etwa Sorgen machen, dass du deine geballte Lust nicht zügeln kannst?“, flüsterte er sanft ins Ohr, küsste meinen Hals und drückte mich gegen die Tür des Hängers.
      „Ach vor Publikum kannst du aufeinander“, es lag mehr Hoffnung in den Worten als ich wollte, zu gleichen Teilen versprühte sich das ein kribbelndes Gefühl im Körper, jede seiner Berührungen intensiver wurde. Wieso machte er es so schwer? Der Hänger wäre frei und deutlich bequemer als unser Zelt!
      „Vielleicht wenn du nachher den Sieg nach Hause holst, überlege ich es mir“, hauchte er. Ein Schwall von Alkohol zog an meiner Nase vorbei. Das erklärte tatsächlich mehr als mit lieb war. Ich stieß ihn vorsichtig zur Seite und schlüpfte unter seinen Armen in die Freiheit.
      „Jetzt erklärt mir sofort einer euch Idioten, wieso ihr um solch unchristlichen Zeiten schon am Trinken seid!“, verlangte ich nach mehr Antworten, denn wenn es so weiterging, wäre die Autofahrt die reinste Hölle. Mein Bruder wurde ab einem gewissen Punkt noch peinlicher als ich, auch wenn dieser deutlich später wurde. Kinderbetreuung, immerhin hatte Lina gestern schon üben dürfen, so sollte sie die auch in den Griff bekommen.
      „Schon? Du meinst noch immer“, lachte Eskil leicht lallend. Noch immer genervt, rollte ich die Augen, stieß Erik ein weiteres Mal zur Seite, da er wieder ankam, um mir falsche Hoffnungen zu machen.
      „Noch immer? Dann solltet ihr besser aufhören oder musst du heute nicht mehr reiten?“, versuchte ich das Ganze weniger ernstzunehmend, was jedoch in einem leicht hysterischen Grummeln endete.
      “Doch, aber erst am Nachmittag, bis dahin sollte ich ausgenüchtert sein”, wollte Eskil mich überzeugt weiß machen.
      “Na, wenn das so ist, dich wird wohl der Elch wachgehalten haben, der in der Nacht heimlich vom Heuballen klaute”, lies ich endlich die Katze aus dem Sack. Sein Gesicht tauchte sich in einen blassen Ton, die Wagen erröteten langsam und seine Hände fassten krampfhaft in die Stuhllehne, als suche er etwas in ihnen. Unverständlich stammelte er vor sich hin, obwohl es doch nichts Schlimmes darangab, mit jemanden Spaß zu haben.
      “Wer war denn die Glückliche?”, versuchte ich mehr Informationen zu bekommen, auch im Gedanken daran, mir alles nur eingebildet zu haben.
      “Ich weiß nicht, wer sie war”, kam wie aus der Pistole geschossen, als wäre es eine Standardantwort, die er gab, um nicht das Gespräch weiterzuführen. Ich beschloss auch, keine weiteren Fragen zu stellen, obwohl ich gern mehr Details haben wollen würde, denn ich hatte noch immer Erik im Kopf, der kein Problem damit gehabt hätte, dass ich dazu gehe. Aber wie hätte das funktionieren soll? Fragen, ob ich auch mal darf? Das wäre äußerst seltsam, dann würde ich auch kein Gespräch darüber führen wollen.
      “War’s denn wenigstens gut?”, lachte Harlen und klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel. In seinen Augen fand ich kein Zeichen dafür, dass es ein Versuch war, das Alibi aufrechtzuerhalten, aber vollkommen überzeugt wurde ich nicht.
      “Und wie! Aber nach wie vor weiß ich nicht, wer sie war, um es zu wiederholen”, schien Eskil nun wieder offener zu sein. Ich musterte die beiden im Wechsel, aber konnte nicht noch einmal den Vibe vom Abend spüren im Saal.
      Im Wechsel schütteten die Männer sich immer mehr Alkohol in die Shotgläser, als hätten sie schon lange die Kontrolle. Besonders Erik schockierte mich, der sonst ziemlich Behutsam im Umgang dieser Getränke, doch nun musste ich der Spielverderber sein. Was sollten die anderen denken am Platz, wenn drei ziemlich gutaussehender Herren der Schöpfung mit einem kleinen blonden Mädchen an einem Tisch saßen, vollkommen albern, belustigt und jeden unpassenden Witz machten, der sich anbot.
      “Erik, was ist eigentlich mit deiner Tochter und deinem Hund? Vermissen die dich nicht schon?”, versuchte ich ein kreativeres Gespräch zu eröffnen, als die obszönen Witze von ihnen weiter zu hören.
      “Die kommen klar, sind bei meiner Schwester. Ich möchte gerade nur bei dir sein”, lallte er ziemlich, was für mich der Grund wurde, von hier zu verschwinden. Glücklich, wenn auch etwas genervt, krabbelte ich leise ins Zelt, um im nächsten Moment bereits festzustellen, dass Juliett und Lina durch das Gegröle der Herren schon wach wurden. Die Sonne hatte den Palast ziemlich aufheizt, obwohl ich vorsorglich das Vorzelt geöffnet hatte.
      “Tut mir leid, dass sie euch geweckt haben”, entschuldigte ich mich bei ihnen, im Bewusstsein darüber, dass sie von selbst, nicht auf die Idee kämen. Gleichzeitig suchte ich weiter nach meiner Reithose, die Verschwunden wirkte in dem Haufen aus Kleidung in unserer Kabine. Was ich sofort fand, war Eriks Hemd, dass ich ordentlich zusammenlegte und zur Seite packte, um es ihm gleich zu überreichen. Ich wollte nicht, dass andere ihn so ansahen, wie ich es tat. Er gehörte mir und das sollte auch jeder wissen! Schlussendlich fand ich die Reithose auch nicht, aber zumindest meine graue Jogginghose, die wohl zum Training auch einen Zweck erfüllen würde. Den Pullover, der zumindest eine positive Erinnerung an meine Heimat weckte, selbst mit Tyris Namen auf ihm, wechselte ich gegen die Hofjacke.
      “Alles gut. So langsam ähnelt das hier drinnen eh einer Sauna. Und gut geschlafen?”, erkundigte sich Lina munter. Trotz der noch frühen Uhrzeit wirkte sie ziemlich ausgeschlafen im Gegensatz zu ihrer Schwester, die nicht so aussah, als würde sie vor dem ersten Kaffee zu etwas zu gebrauchen zu sein. Kaffee … Ich hatte auch noch keinen, vielleicht sollte ich für uns beide einen besorgen.
      “Ich würde lügen, wenn ich nein sage. Aber es war ungewohnt … irgendwie, keine Ahnung. Egal”, machte ich mich noch kleiner. Das, was alles in mir schwebte, wie sehr ich Erik genoss, einfach nur dabei ihn anzusehen, verschlug mir die Worte. Worte, die ich nicht auszusprechen vermag und erst recht nicht gefragt zu jemanden, der noch vor weniger als zwei Tagen gesagt bekommen hat, dass ich am liebsten den Freund bei mir haben wollte. Der ganze Gefühlskram war mir zu viel und so willkürlich, als wäre ich in der Pubertät.
      “Freut mich zu hören, da gewöhnst du dich sicher noch dran”, antworte sie mit ungebremst guter Laune und begann leise vor sich hin summend ihren Sneaker zuzubinden. Es irritierte mich, dass sich alle heute ungewöhnlich fröhlich anzutreffen waren.
      “Das bleibt abzuwarten”, grummelte ich weiter, in Andacht meines Traumes, ihn vielleicht doch schneller zu verlieren, als mir lieb war.
      “Mensch Vriska, du bist mir ein Rätsel. Erst beschwerst du dich, dass dein Angebeteter nicht antwortet und wenn er dann endlich da ist siehst du schon das Ende? Erfreue dich doch erst einmal seiner Anwesenheit”, bekundete sie optimistisch.
      “Du verstehst das nicht”, rollte ich mit den Augen, bis mir auffiel, dass sie es nur gut meinte. Also fügte ich noch hinzu: “Na gut, ja. Es stimmt, was du sagst, ich habe viele Zweifel und aber ich mag ihn von ganzem Herzen.”
      “Ich verstehe dich, wegen Niklas und der Entscheidung herzukommen, hatte ich auch Zweifel, eine Menge Zweifel sogar. Und, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich immer noch den ein oder anderen Zweifel und trotzdem bin ich hier. Das könnte die klügste oder die dümmste Entscheidung in meinem ganzen Leben gewesen sein, wir werden sehen. Aber weißt du, mein Gefühl sagt mir, dass Erik auch ziemlich viel an dir liegt, also gibt ihm die Chance deine Zweifel zu beseitigen”, sagte sie ermutigend. Wow, war das da vor mir immer noch derselbe Mensch, der vorgestern behaupte, hatte er sei nicht optimistisch? Auch Juliett schien ein wenig verwundert über ihre Schwester zu sein, denn sie warf ihr stirnrunzelnd einen schrägen Blick zu. Eigentlich würde ich auch gut zu reden, aber wir kannten Niklas mehr oder weniger gleich gut, wenn auch verschiedenen Ebenen.
      “Ich habe meinen Namen gehört?”, kam nun auch der Zweifel persönlich dazu, mein Zweifel. Jeden Blick, den zu ihm richtete, schrie danach, Lina recht zu geben, es mir selbst zu gönnen, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben, aber etwas konnte das nicht akzeptieren.
      „Hier, zieh dir was“, sagte ich stumpf zu ihm, drückte ihm das Hemd in die Hand und lief zielgerichtet zum Hänger. Dabei entging mir nicht, dass Eskil sichtlich interessiert meinen Bruder ansah, der ihm auch sehr tief in die Augen schaute, aber daran konnte ich nicht mehr denken. Es quälte mich viel mehr, diese Achterbahn aus Gefühl zu spüren, obwohl ich doch einfach nur ein Turnier reiten wollte. Ein Turnier, um Tyrells Pferd vorzustellen, nichts Besonderes. Bruce Pferde ritt ich andauernd auf irgendwelchen Turnieren, wenn auch in einem deutlich geschlossenen Kreis aus Menschen. Es gab weder Partys, noch hatte ich jemals mehr als eine Person als Begleitung dabei. Hier hatte ich das Gefühl von jedem angestarrt zu werden, gemustert und kritisiert. Allein das äußere Erscheinungsbild von Fruity Unterschied sich deutlich. Ihre kräftigen Beine, die Stehmähne, der plüschige Schweif und die dazu großen treuen Augen, die freudig funkelten, wirkte auf andere bedrohlich oder lächerlich. Da war ich mir nicht ganz sicher. Weiter betrachtet unsere Ausrüstung. Weder trug ich einen besonders schönen Helm, auf den meine Initialen mit Glitzersteinen verziert waren, noch irgendwelche Designer Stiefel, und Fruity? Die hatte ein eher Sitzkissen ähnliches Erscheinungsbild auf dem Rücken, ohne ein klassisches Sattelblatt oder enorm-große Pauschen, in denen wirklich jeder sitzen konnte und dazu eine schwarze Trense, die kein Lack hatte, sondern noch mal geputzt werden sollte, oder zwanzigmal am besten. Es war nicht einmal mein Verdienst, wie Fruity sich präsentierte. Alles, was ich tat, war meine Beine im richtigen Moment zu bewegen und meinen Sitz anzupassen. Mit etwas Übung schaffte das jeder, also was hatte ich im Finale zu suchen? Nichts, wirklich gar nichts.
      Von der Seite begann etwas an meiner Hose herumzufummeln. Fruity stand am Zaun und inspizierte meine Hosentasche nach einem Leckerli aus, doch da konnte sie nichts finden als ein mit gewaschenem Taschentuche. Aber ich wusste, wo es welche gab und lief direkt zum Hänger, der noch immer aufstand, um ihr Gesuch nachzukommen.
      “Hier meine Hübsche”, flüsterte ich sanft, als sie vorsichtig aus meiner Hand das Leckerli sammelte. Dann begann ich sie zu putzen, obwohl viel Dreck nicht auf den wichtigen Stellen war, womit es mir gelang, das Pferd innerhalb von zehn Minuten zu satteln und noch einen schweifenden Blick zu den anderen zu werfen. Erik hatte noch einmal versucht, ein Gespräch zu führen, doch ich ignorierte ihn. Dafür gab es keinen Grund, aber ich schämte grundlegend für meine Gefühle, außerdem hatte er Spaß mit den anderen, da musste ich nicht mit meiner seltsamen Stimmung alles zerstören.
      “Ich gehe zum Platz”, sagte ich kurz Bescheid und lief los, ohne noch einmal zurück zu gucken. Vielleicht war die Einstellung nicht falsch, immer nach vorne zu sehen, aber in dem Fall hätte ich sicher warten können, ob jemand mitkommen wollte. Die Leere kam wieder, Unwissenheit, was kommen würde, Angst, alles verlieren zu können. Zu viele Fragezeichen in der Zukunft außerdem spürte ich jenes, dass etwas Schlimmes passieren würde in geraumer Zeit.
      “Hey, warte Vriska ich komme mit”, rief mir jemand nach und ich hörte schnelle Schritte, die sich Fruity und mir näherten. Zu meinem Erstaunen war es nicht Lina, die dort angelaufen kam, sondern ihre Schwester.
      “Na gut, gern. Aber erwarte nichts”, schmunzelte ich aufgesetzt, um mir nichts weiter anmerken zu lassen. Natürlich schien es sehr naiv von mir, denn sofern ich nicht glücklich strahlend mit Erik unterwegs war, fehlte mir immer irgendetwas. Kurz sah ich doch noch einmal zurück, aber er kam nicht mit, sondern lachte mit den anderen dreien am Tisch, ohne mich.
      “Keine Sorge, ich erwarte schon nichts. Ich bin beeindruckt, dass du mit einem solchen Pferd wie ihr auf einem klassischen Warmblüter Turnier auftauchst, da gehört einiges an Mut zu”, versuchte Juliett ein Gespräch zu beginnen und deutet mit einer Kopfbewegung auf die Stute neben mir.
      „Ganz einfach gesagt, ich hatte keine Wahl. Ich musste das tun“, murmelte ich verschlagen und strich Fruity über den Hals. Dem traf dabei überhaupt keine Schuld! Sie konnte sich schon bei der ersten Runde durchsetzen und einige Fans gewinnen, ich hingegen fühlte mich nicht mehr sowohl wie in dem Moment, als ich ausritt. Die Missachtung meiner vermeintlichen Freunde demütigte mich und sogar mein Bruder empfand, alles andere, als so viel interessanter, als die Leidenschaft seiner Schwester, stattdessen erpresste er mich. Wenn es nicht so dramatisch mit ihm ablaufen würde, hätte ich ihn nachher am Flughafen abgesetzt und dann wäre er verschwunden.
      “Aber dafür, dass du nicht freiwillig hier bist haben sich, dein Pferd und du gestern gut geschlagen, es ist sicher nicht einfacher als früher geworden sich gegen die klassischen Warmblüter durchzusetzen”, setzte sie das Gespräch anerkennend fort. Juliett meinte es auch nur gut, aber ich hatte nichts Besseres zu tun, als mir einer Zeit der Freude, wieder schlechte Laune einzureden, um sinnlose Ausreden zu erfinden, scheitern zu können.
      „Ach, dann bist du auch mal geritten?“, fragte ich aus der Höflichkeit heraus, ohne echtes Interesse zu haben. Es tat mir leid, aber mir fehlte zu so vielen Menschen die Bindung.
      “Ja, das bringt es so mit sich auf einem Pferdehof aufzuwachsen. Na ja, fast meinen Bruder hat niemand auf ein Pferd bekommen”, lachte sie mild und schien ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen.
      „Wenn du mal wieder auf ein Pferd sitzen möchtest, finden wir sicher etwas Passendes auf dem LDS, die sind nicht alle vollkommen gestört“, musste ich nun doch lachen. Freundlich öffnete sie das Gatter zum Platz, auf dem Betriebs Reiter unterwegs waren und die Tiere förmlich über den Sand schubsten. Es fehlte an Motivation, sie trampelten einfach nur vorwärts. Auf der kleinen Tafel lass ich, dass das M-Reiter sein werden, da in wenigen Minuten die Prüfung begann, schämt euch. Im nächsten Moment schwang ich mich in den Sattel und begann im Schritt, dabei immer mein Handy in der Hand, um die Kür zu lernen. Trab, Volten, Handwechsel mit Verstärkung, Versammlung, irgendwelche Bahnfiguren, stehen, Ecke kehrt im Galopp, fliegender Wechsel, Schlagenbögen, Versammlung, fertig. Das sollte ich doch wohl hinbekommen. Mir kam die eine Atemübung wieder in den Sinn, die Niklas mir gezeigt hatte, um mich besser auf etwas konzentrieren zu können. Also hielt ich an und setzte sie um, je öfter ich bewusst längere Atemzüge machte, umso besser wurde meine Gedankenwelt, aber auch die Müdigkeit holte mich ein. Kein Wunder, wenn man nur fünf Stunden schlief und aus einem Alptraum aufwachte.
      „Vriska?“, hörte ich plötzlich meinen Namen auf dem sonst lauten Reitplatz, als ich die Schlagenbögen im versammelten Galopp ritt. Die Stimme würde ich unter tausenden erkennen, der kindliche Singsang in den Silben und vertraute Bass in den Untertönen, schnellte mein Herzschlag oben. Am Zaun stand Erik, mittlerweile wieder bekleidet und hatte Juli bereits einen Kaffee gereicht, somit würde der andere für mich sein.
      „Soll ich denn so lange noch halten?“, fragte er freundlich, als ich neben ihm anhielt.
      „Nein, ich brauche den jetzt, sonst würdest du vermutlich schon morgen nach Neuseeland fliegen“, entfachte sich die Begier nach dem Schwarzen Heißgetränk, das er mir sogleich reichte.
      „Wer sagt denn, dass ich nicht schon ein Ticket gebucht habe?“, sagte Erik, betrachtete mich dabei von unten nach oben bis seinen Blick in meinen Augen hängen blieb.
      „Dann wünsche ich dir einen guten Flug. Ich denk an dich“, beendete ich kurzfristig das Gespräch und ritt wieder an. Es gab keinen Grund zur Sorge, er war hier. Vielleicht trug die Müdigkeit ihren Teil dazu bei, dass ich alles sehr extrem verspürte, doch schon ersten Schlucken der dunkelbraunen Flüssigkeit erquickten mein Herz zutiefst und ein Lächeln zauberte sich auf meine Lippen.
      „Komm, wir zeigen ganzen aufpolierten Stelzen, was du kannst!“, flüsterte ich Fruity in ihr Ohr, setzte mich in den Sattel und hielt weiterhin die Zügel in der linken Hand, denn in der rechten Dampfte mein Kaffee. Bei einem Punkt, den ich als Platz Mitte definieren würde, hielt ich an, um bestmöglich die Prüfung zu imitieren und trabte im Arbeitstempo an auf der linken Hand. Mit der Volte Links begann ich, die Zügel nur als Mittel der Haltung und alles gesteuert über den Sitz, konzentriert auf minimale Hilfen. Im Wechsel auf die rechte Volte wurde es für einen Wimpernschlag holprig, der Kaffee schwappte ein wenig über den Rand und tropfte auf meine Hose, toll. Egal, es war nur meine Jogginghose.
      Nach dem Viereck vergrößern, verkleinern kam die erste Herausforderung – versammelter Schritt, rechts Kurzkehrt und wieder weiter im Arbeitstrab. Als es zum Halt kam, spürte ich starrenden Blicke um mich herum, auch das Geflüster entging mir nicht. Unsicher sah ich zu Erik, der noch immer ein breites Lächeln auf den Lippen trug, als würde es zu ihm gehören, wie die perfekt geschnittene Anzughose. Entspannt nahm ich einen Sipp vom Rand des Kaffees und nach einigen Tritten rückwärts, galoppierte ich aus dem Stand an im versammelten Tempo. Fruity meisterte auch das wie ein junger Gott, was sie mit ihren sechs Jahren auch noch war. Eine blonde Dame, die uns schon eine Weile beobachtete, nickte mir anerkennend zu, als sich unsere Blicke trafen. An ihr Gesicht erinnerte ich mich noch, es war eine der Zwillinge. Sie saß auf einem wunderschönen Schecken, was auch einen außergewöhnlichen Anblick in der Dressur bildete, vor allem, weil der Hengst auch einen barocken Schnitt hatte. Seine weiße Mähne zu Zöpfen genäht und im Trab wallte der zweifarbige, imposante Schweif, schon rein optisch hatten die beiden vielen etwas voraus.
      Mutig galoppierte ich im Außengalopp im Mittelzirkel, gedanklich bei dem fliegenden Wechsel, den ich weder beherrschte, noch einhändig ritt. Aber ich wollte es allen beweisen, vor allem mir selbst. Doch ich erwischte mich dabei wieder Hilfen vergessen zu haben, galoppierte Runde um Runde auf dem Zirkel zum Entsetzen der anderen, die unsertwegen mehrfach Platz machten. Ich holte Fruity zurück in den Schritt, ließ die Zügel los und ritt ab. Damit war meine Motivation erloschen, gute Voraussetzung für die Prüfung später.
      “Behöver du hjälp? Jag tycker inte att det ska sluta så här (Brauchst du Hilfe? Ich denke nicht, dass das so enden sollte)”, kam die blonde junge Dame wieder zu mir. Mangelnd der Sprache schüttelte ich den Kopf und ritt schweigend weiter mit dem tiefen Blick in meinem Kaffeebecher, der schon halb leer war. Von der Seite bemerkte ich Gelächter, Lästereien und abfällige Blicke. Wäre Fruity nicht außer Atem, wäre ich direkt abgesprungen, zum Hänger, Pferd einladen und zurück zum Hof. Aber meine Teilnahme zurückziehen, stand auch noch zur Wahl.
      “Habt ihr alles ausgetrunken oder ist noch was da?”, fragte ich aus dem Nichts, was Verwunderung auslöste.
      “Gin meinst du? Oder Kräuter?”, begriff Erik dann doch noch, was ich mit einem Nicken bestätigte. Ehrlich gesagt, interessierte es mich nicht, was wir genau dahatten, Hauptsache genügend Umdrehung.
      “Wenn die beiden endlich aufgehört haben, dann sollte noch was da sein”, gab er zu bedenken. Ich wartete nur auf die Belehrung, die jedoch nicht kam. Stattdessen nahm er mir den Kaffee ab und strich Fruity freundlich über die Schulter.
      “Ihr schafft das schon nachher”, munterte Erik mich auf, legte seinen Arm um mich, nach dem ich vom Pferd stieg und den Gurt gelockert hatte. Was passierte hier eigentlich schon wieder? Ich wollte den Sieg, ich wollte ihn bei mir haben, aber redete mir in jedem Moment ein, dass alles nie zu schaffen, nie Erfolge zu erzielen, nur ein Nebendarsteller zu sein in einem Leben, dass eigentlich meins war.
      “Du bist auch erst am Nachmittag dran”, kam Juliett freundlich von hinten dazu gerannt.
      “Ach, hast du auf der Startliste geguckt? Das ist lieb, danke”, bedankte ich mich und drückte meine Lippe etwas nach oben, bevor wieder alles entspannte und der natürliche leere Gesichtsausdruck, die Vorherrschaft übernahm.
      Die Kegelgruppe wurde immer Gruppe, denn Chris und Niklas hatten auch ihren Weg zu uns geschafft, als hätten sie keine eigenen Pferde zu versorgen. Als ich sie bemerkte, griff ich hektisch nach Eriks Hand, um lüsternen Blicken Niklas’ ausweichen zu können, denn ob ich schon bereit dafür war, ihn zu vergessen, wusste ich nicht. Generell wusste ich nichts, außer dass ich in zwei Tagen die letzte praktische Prüfung vor mir hatte, die Prüfung, von der alles abhing. Ob ich auf dem LDS bleiben konnte, ob das Förderprogramm sein Ende fand und noch viel wichtiger – ob ich zurück, ohne Ausbildung, nach London musste.
      Lina saß auf Niklas Schoß, glücklich darüber ihn bei sich zu haben, freudestrahlend und begnügt. Sie wirkten so unbeschwert zusammen, als gäbe es die anderen um sie herum gar nicht, selbst die kichernden Weiber, die an unserem Camp vorbeiliefen, ignorierten sie. Besonders Lina, die sonst auch in aller Blicke eine Belastung empfand. Ich konnte mir nur eingestehen, ihn endlich zu vergessen. Vergessen, was wir hatten und im Laufe der Zeit uns im Weg stehen würde. Erschöpft atmete ich aus, hob den Sattel vom Rücken der Stute und hängte ihn zurück in den Hänger. Dort herrschte schon wieder das reinste Chaos, wer war das? Ich hatte vor weniger als zwei Stunden darin aufgeräumt und ein weiteres Pferd stand nicht im Paddock, wie konnte das sein.
      “Wer von euch, schmeißt das Zeug eigentlich nur rein?”, schnaubte ich verärgert und begann wieder zu sortieren, um den Sattel wegzuhängen.
      “Schätzchen, das machst du selbst. Vorhin hast du alles von der einen zur anderen Seite geräumt, ohne System. Dass du dann wenig später der Meinung bist, dass es unordentlich ist, kein Wunder”, erklärte mein Bruder, der bisher nicht viel gesagt hatte. Seltsam, dass ich es als ganz anders empfand, stellte es aber nicht infrage. Ich sollte noch mal schlafen gehen, bis ich an der Reihe war. Aber als ich zum Zelt lief, rief mich Erik zurück. Er wollte mich bei sich haben und dem kam ich natürlich nach. Fest umklammerte ich mich an seine Beine und legte den Kopf an seinen Knien ab. Während er seine Hand sanft über mein Gesicht strich, schlief ich glücklich ein.

      Die kalten Lampenmittel der Scheinwerfer auf dem Reitplatz blitzten mehrfach auf, bevor sie ihr Licht über den Sand verteilten. Am Horizont stand die Sonne, die durch die Wolken nur noch wenige Strahlen hindurchdrücken konnte, was für die Richter keine gute Voraussetzung war. Freudestrahlend trabte eine große braunhaarige auf ihrem Rappen vom Platz, während ich noch wie angewurzelt versuchte die Gesichtszüge des Publikums zu verinnerlichen. Mit einem kräftigen Krachen wurde es dunkel. Von da an schlug die Stimmung auf dem Gelände um. Große Gewitterwolken zogen sich zusammen und eröffneten sich wie auf ein Schnipsen über uns. Eine elektrische Spannung schwebte durch die Luft, Leute flüchteten von links nach rechts, wie kleine Ameisen, die panisch den Angreifer ihres Haufens vertreiben wollten. Und auf mein Pferd und mich prasselten die großen Regentropfen, nass flossen sie auf herunter, bildeten kleine Pfützen neben uns. Es wurde still und endlich bekam ich das Gefühl mich wohlzufühlen. Auf den Tribünen saß niemand mehr, am Zaun auch nicht. Somit war ich wie allein, nur ich und die vier Richter.
      “Vill du fortfarande rida? (Wollen Sie noch reiten?)”, fragte mich eine Frau von der Veranstaltung mit einem Schirm in der Hand. Zuversichtlich nickte ich und sie gab mir den Weg frei. Das Licht konnten sie wieder einschalten, auch wenn die eine Lampe noch immer flackerte. Obwohl ich nicht wusste, dass es mir fehlt, aber jetzt spürte ich es. Aus den Lautsprechern ertönte das wohl einzig passende Lied: ‘Forbidden Fruit’ von Hallway Swimmers. Der Auftritt erfüllte mich großer Freude schon vor dem Betreten des Platzes, dem Gefühl meine Bestimmung gefunden zu haben.
      Im Trab plätscherten wir durch den nassen Sand, der Matsch spritzte in alle Richtungen, auch meine Schuhe waren schon nach einigen Metern am Schaft besprengt. Die Tropfen funkelten im Licht der Strahler und amüsierte mich, obwohl viele von ihnen direkt in meinem Gesicht landeten, strahlte ich vom linken bis zum rechten Ohr. Auch Eriks Zuversicht schmeichelte mir. Beide Volten beherrschten wir wie im Schlaf und bei dem wechseln durch die ganze Bahn ab Kilo jubelte innerlich im verstärkten Tempo durch den Matsch zu fetzen. Ich kam mir vor wie ein Kind, dass glücklich durch Pfützen sprang, ungeachtet der Blicke von Erwachsenen. Die Ausstattung würde Ewigkeiten zum Trocknen brauchen, aber das interessierte mich in dem Moment nicht, alles, was ich wollte, war endlich zu galoppieren. Diese folgte dann auch nach dem Halten und Rückwärtsrichten. Im versammelten Galopp wippte ihr Kopf aktiv im Takt und meine Hüfte ließ ich locker mitgehen. Immer wieder schloss ich die Augen, um die Ruhe zu genießen und der Musik zu folgen. Bravo kam immer näher, somit der Mittelzirkel aus dem ich gleich einen fliegenden Wechsel. Eskil hatte mir beim Warmreiten noch einmal geholfen, umso sicherer fühlte ich mich das zu schaffen. Sprung, Sprung, Hilfe, Sprung – Gewechselt. Das Grinsen wurde noch breiter, aber den kleinen Erfolg konnte ich nicht feiern, denn ich musste direkt noch einmal wechseln. In der Ecke bei Hotel kehrt, ohne zu wechseln und erneut auf den Zirkel im Außengalopp. Rechts, links, Sprung, rechts, links. Der Rest war ein Klacks. Fruity versammelte sich ausgezeichnete und auch die Schlangenlinie mit drei Bögen und einfacheren Wechseln, machten mir keine Schwierigkeiten.
      Ein letzter Handwechsel durch die ganze Bahn im mittleren Galopp, Versammlung bei Erreichen von Mike und aufreiten im versammelten Trab zur Mitte. Geschafft. Der Regen hatte mich vollständig durchnässt, das Jackett von Chris klemmte unangenehm an meinen Oberschenkeln, Sattel, einfach überall. Aber: Ich war glücklich. Fruity hatte trotz der Widrigkeiten keine meiner Hilfen infrage gestellt und das als Stute. So gut es ging, lehnte ich mich noch vorn, um meine Arme um ihren Hals zu legen, auch wenn diese seltsamen Polster es mir nicht leicht machten. Ihre winzigen Haare klebten überall verteilt am Jackett.
      Erik erwartete uns schon in dem Übergangstunnel zum Platz mit einer Decke für das Pferd und mich. Hinter ihm, gefolgt von Lina und seiner Tochter. Sie griff erwartungsvoll nach vorn, konnte es gar nicht abwarten endlich zu dem Pferd zu kommen. Ich wurde vollkommen ignoriert, Fruity stand im Vordergrund. Lina setzte sie ab und sofort tapste seine Tochter ungeschickt an die Beine der Stute, klammerte sich fest daran. Neugierig beschnupperte sie das Kind am Kopf und knusperte aber der kleinen Regenjacke.
      „Fredna? Vill du inte säga hej?“, fragte Erik sie und zeigte auf mich.
      „Nej“, weigerte die Kleine sich, hielt sich an Fruitys Kopf und fummelte interessiert an dem Leder der Trense herum. Dass Kinder mich nicht mochten, wurde mir schon früh bewusst, aber dass Eriks Tochter mich ignorierte, vermittelte mir einen schlechten Eindruck, wie das auf langer Sicht funktionieren sollte. Er tippte sie noch mal an, dass Fredna auf mich Aufmerksam würde, doch alles, was sie wollte, war das Pferd.
      „Jag vill sitta på den!“, nörgelte sie plötzlich. Meinerseits gab es ein Problem damit, denn in diesem Sattel sollte jeder einen guten Halt haben, nicht nur ich mit dem großen Hintern. Ich würde ihr hoch helfen, aber ich konnte nicht mal ohne zu keuchen satteln. Also ließ ich Erik den Vortritt und zur Aufsicht stellte Lina sich auf die andere Seite. Unbeholfen stand ich daneben, ignoriert von allen. Hatte ich etwa einen Fehler in der Vorstellung? Durch den Regen waren die großen Monitore nicht an, was vermutlich auch an dem kurzen Stromausfall lag, und es war so laut wieder geworden, dass ich kaum etwas aus den Lautsprechern wahrnahm.
      Schon die Hoffnung verloren noch mal Aufmerksamkeit zu bekommen, kuschelte ich mich in die Abschwitzdecke und kauerte am Boden, wartend darauf, dass die Siegerehrung in der Halle in zwanzig Minuten begann. Lina führte in der Zeit Fruity auf und ab durch den Gang, Erik begleitete sie.
      “Was sitzt du denn hier im Dreck, Kleines?”, fragte mich Chris und kam runter auf seine Knie. Desinteressiert und traurig zuckte ich mit Schultern, als wüsste ich nicht, was wieder los war.
      “Du sagst mir jetzt, warum du schon wieder Depressionen schiebst”, stupste er mich freundlich an der Schulter an. Die Decke schob sich ein Stück herunter und hektisch zog ich sie wieder über mich. Einige andere Reiter ritten an uns vorbei, sahen abfällig zu mir, dann lachten sie. Genau, ich war wieder die Lachnummer, daran dachte ich auch nur. Ich machte mir auf diesem Turnier etwas vor, etwas, das ich nicht war. Die Euphorie in der Aufgabe schien unbegründet zu sein, unnötig und krankhaft.
      “Weil ich Krank bin, deswegen”, murmelte ich verlegen, nicht gewollt meine Gefühle zu offenbaren.
      “Erzähl mir was Neues. Also sag schon, was bedrückt dich, oder muss erst deinen Kryptonit holen?”, neckte er mich, dass Chris es nur gut meinte, wusste ich. Aber ich konnte ihm nicht sagen, dass es mich zerriss ihn nicht bei mir zu haben, niemanden, der mich wertschätzte hier zu sein oder mir zumindest sagte, dass ich es echt eine Horrorvorstellung vorführte.
      “Lieb von dir, aber mir ist nicht zu helfen und er kann daran auch nichts ändern”, hoffte ich meine Ruhe zu bekommen. So könnte ich sagen, im Regen sieht man meine Tränen nicht, aber zumindest mein Gesicht war schon wieder trocken.
      “Erik, kan du komma hit, snälla? (Erik, kommst du bitte herkommen?)”, rief er ihm doch dazu. Überrascht drehte er sich um, kam direkt auf uns zu.
      “Vad är det som händer? (Was ist denn hier los?)”, fragte Erik seinen Freund, in dem, noch immer, seltsamsten Dialekt, den ich je zu Ohren bekam. Sie begannen sich gegenseitig etwas zuzuflüstern, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich in der Abschwitzdecke zu vergraben, dass ich nicht mithörte. Dann reichte Erik mir mit funkelnden Augen die Hand. Mit meiner inneren Leere sah ich langsam auf und erwartete mehr, als eine Hand, denn ich hatte mich gerade auf den Steinen eingedeckt und die perfekte Position gefunden.
      “Wir müssen etwas besprechen, komm bitte mit”, sagte er zunehmend ernster. Ich hatte ihn bisher nur einmal so erlebt und das war, als er sich mir vorstellte. Aber was hatte ich jetzt verbrochen? Wie ein Gespenst in der dunkelblauen Decke umfüllt, schlich ihm nach, bis wir in einer ruhigen Ecke ankamen, in der wohl so schnell niemand vorbeikommen würde. Nur so viel wie nötig, atmete ich, spürte das es nicht gut lief, an meinem bereits nassen Rücken kullerten zusätzliche Schweißperlen hinunter und mein Gesicht fühlte sich kalt, blass an.
      “Vriska?”, begann er endlich die quälende Stille zu unterbrechen.
      “Erik?”, antwortete ich besorgt darüber, was gleichkommen würde.
      “Wenn irgendetwas nicht stimmt, dann möchte ich, dass du mir das auch sagst und nicht wie meine Tochter herumsitzest, wartest bis endlich alle um dich herumstehen. Meine Güte, die bist über zwanzig und solltest doch in der Lage sein, mit jemanden zu sprechen. Also sage mir um Gottes willen was schon wieder ein Problem ist”, wurde es offensichtlich eine Belehrung, was ich zu tun und zu lassen habe, aber ich konnte nicht umdrehen und einfach davor wegrennen, dafür stand er zu nah an mir, verdrehte mir den Kopf. Vielleicht sollte ich es wirklich sagen, auch wenn es mir Angst macht.
      “Ich habe in jeder Sekunde Angst, dass es die letzte mit dir ist. Angst, dich nie wiederzusehen und vollkommen allein zu sein, die Leere weiter zu ertragen. Dass Gefühl zu haben, nicht zu wissen, wie es weitergeht, was wir sind. Ich kann das nicht, okay? Und ich akzeptiere, dass du es langsam angehen willst, aber für mich ist das nichts, nicht zwischen all dem anderen Kram, den ich mit mir herumtrage”, schüttete ich ihm meine Gefühle aus. Er dachte nach, bis ein zaghaftes Lächeln auf die Lippen trat.
      “Und deswegen benimmst du dich, wie eine vierzehnjährige, die das erste Mal Kontakt zu jemanden hat und stetig ein Auf und Ab der Gefühle hat?”, kritisierte er mich eindringlich, machte mir ein schlechtes Gewissen und sorgte dafür, dass die Sorge ihn zu verlieren, in den Vordergrund trat.
      “Es – Es tut mir leid”, versuchte ich eine Antwort zu finden. Mit kräftigen Atemzügen bemühte ich mich, die Tränen zurückzuhalten, um seine Aussage nicht noch zu stärken.
      “Gibst du mir trotzdem die Chance, daran zu arbeiten?”, fragte ich im Moment der Stille, denn nach meinem Versuch einer Entschuldigung schwieg er. Nichts in seinem Gesicht zuckte. Als Erik wieder begann zu sprechen, pochte mein Herz wie wild und die Tränen flossen nun doch.
      “Vriska, ich freue mich, wenn du daran arbeiten möchtest, aber dafür gibt es keinen Grund. Ich möchte dich bei mir haben und nicht nur so provisorisch, wie es jetzt ist. Sondern als meine Vriska”, lachte er und nahm mich in den Arm. Der Schock saß mir tief im Mark, aber er meinte es ernst, wirklich ernst. Panisch schnappte ich nach Luft und drückte mich an ihn. Beruhigt strich er über meinen Kopf, versuchte mich zurückzuholen zur Vernunft.
      “Also sind wir jetzt –”, stammelte ich. Hatte ich ihn richtig verstanden? Wollte er mich wirklich, also so richtig? Freund und Freundin? Schon, wenn ich darüber nachdachte, kamen die nächsten Tränen.
      „Wenn du das auch möchtest, würde ich mich freuen“, drückte er mein Kinn nach oben, tiefblickend in meine Augen. Sein seliges Lächeln strahlte so viel mehr aus, als Freude. Er strahlte förmlich vor Glück, als wäre ich das, was ich immer gesucht hatte und endlich bei sich hatte. Genau das fühlte auch in dem Moment, in ihm sah ich meine Zukunft, eine bessere Version von mir selbst, alles was ich je wünschte.
      „Natürlich“, schluchzte ich glücklich, wischte immer wieder die Freudentränen aus dem Gesicht und drückte meine Lippen auf seine. So viel mehr Zärtlichkeit erfüllte mich, als hätten diese ridikülen Worte etwas zwischen uns geändert. Aber natürlich, es waren nun wir, und nicht mehr du und ich.
      „Aber wir müssen langsam zurück, schließlich musst du dir deine Schleife abholen“, schmunzelte MEIN Freund und zog mich an der Hand zu den anderen, die sehnlich auf die Antwort warteten. Ich war noch vollkommen perplex und überglücklich, weswegen nur er nickte und kleinen Applaus auslöste. Sogar Fredna klatschte so gut sie konnte mit. Lina zeigte auf mich, erklärte ihr etwas und sie lachte herzerwärmend. Aber ich musste nun vollkommen durchnässt aufs Pferd steigen, dass durch die Decke wieder mehr oder weniger trocken war. Ihr Schopf hing nur noch wie ein Lappen herunter und viele Härchen standen ab. Chris nahm mir das Jackett ab und gab mir ein anderes, von wem das war, keine Ahnung, aber es passte deutlich besser.
      „Bereit?“, flüsterte ich Fruity ins Ohr und bekam sogar ein kleines Nicken geschenkt.
      Vollen Mutes ritt ich zum Eingang der Halle, in der die anderen Vier bereits im Schritt ihre Runden drehten auf dem Hufschlag und die Sponsoren noch hektisch irgendwelche Dinge sortierten, Zettel von links nach rechts reichten, bis sie ihre Positionen fanden. Zunehmend kamen auch die Zuschauer zur Ruhe und es wurde Stiller. Noch immer flossen kleine Tränen aus meinen Augen, die ich nicht bremsen konnte. Zunächst kam eine kleine Ansprache darüber, was das für ein tolles Wochenende war, wie die sehr sich alle anstrengten, um ausgezeichnete Leistungen zu erreichen, aber es kann immer nur einen Sieger geben, so was eben. Deswegen hörte ich nur mit einem Ohr hin, gedanklich bei meinem Freund. Tatsächlich fühlte es sich seltsam an, diese Worte zu denken oder gar auszusprechen. Aber es war die Realität! Ich fand jemanden, durch wohl den größten Zufall, den man haben kann, und dann mochte er auch mich. Herausschreien wollte ich es, allen unter die Nase reiben und beweisen, dass ich nicht so schlimm war, wie viele von mir dachten. Aber ich schwieg, grinste wie ein Honigkuchenpferd und hoffte auf einen Platz auf dem Treppchen.
      “Nu kommer vi till dagens överraskning, de tog sig precis till finalen, men nu tog de sig till tredje plats. Mina damer och herrar, välkomna Vriska Isaac till Forbidden Fruit LDS. Grattis! (Nun kommen wir zur Überraschung des Tages, noch gerade so ins Finale geschafft, schafften die beiden es nun auf den dritten Platz. Meine Damen und Herren begrüßen sie mit uns Vriska Isaac auf Forbidden Fruit LDS. Herzlichen Glückwunsch!)”, ertönte es aus dem Lautsprecher. Das waren wir! Im Schritt ritt ich zu den Sponsoren, wurde von aller Richtung zum Händeschütteln genötigt, aber hielt mich brav an die gesellschaftlichen Verhaltensnormen, die man erwartete. Vermutlich musste ich sechs Leute berühren, mehr als zehnmal mich bedankten und bekam neben einem Bronze-farbigen kleinen Pokal auch eine Schleife an das Zaum der Stute, die alle neugierig anstupste und mit der Lippe in dem Präsentkorb der einen Person fummelte. Das Grinsen verschwand nicht von meinem Gesicht, wurde nur stärker, als brannte es sich in die Muskulatur. Dritter Platz! Atemberaubend, auf so einen Erfolg hatte ich gehofft.
      Die beiden über mir platzierten nahmen noch ihre Preise an und vor uns huschten verschiedene Fotografen vorbei, dass Stativ an der Kamera befestigt, obwohl es bei der Brennweite keinen Sinn ergab. Das erzeugte ein Ungleichgewicht und gefährdete die ganze Konstruktion. Aber sollten sie ihre Ausrüstung kaputt machen. Neugierig betrachtete Fruity noch immer alles, die vielen Geräusche und bunten Dinge irritierten sie nicht, stattdessen überlegte sie, wie es wohl schmecken würde oder ob es etwas zum Fressen dabeihatte. Leider musste ich sie enttäuschen, aber am Hänger gäbe es genug für das Krümelmonster. Zum Abschluss ritten wir noch eine Ehrenrunde, alle ließen ihre Pferde strampeln in einer Verstärkung, doch Fruity hatte genug für heute und ich trabte nur am langen einhändig-geführten Zügel hinterher.
      Juliett nahm mir die ganzen Sachen ab, die ich mit mir herumschleppte und ich konnte wieder vom Pferd, mir die Decke umhängen. Die nasse Kleidung unterkühlte mich deutlich, die Knie zittern und am ganzen Körper zuckte es. Erst jetzt, wo ich langsam wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkam, spürte ich, wie kalt mir wirklich war. Erik bemerkte es und gab mir noch seine Jacke, legte seinen Arm um mich.
      “Ich habe doch gesagt, dass du das schafft”, küsste er mich fröhlich am Kopf und zeigte sich zuversichtlich, dass es beim nächsten Mal genauso gut werden würde. Aber welches nächste Mal? Natürlich hatte es auch Spaß gemacht, dass alles zu erleben, aber ich fühlte mich von dem ganzen Rummel drum herum, erst mal geheilt und wollte nichts anderes, als in meinem warmen Bettchen liegen mit einem Kaffee und einer entspannten Serie. Stattdessen lief ich nass bei ziemlich stark brausendem Wind zum Camp, dass nur noch Teilweise aufgebaut war. Das Zelt stand schon nicht mehr und auch der Paddock war im Hänger verstaut. Sie hatten es wohl eilig nach Hause zu kommen, aber sie mussten auch nicht fahren, sondern ich hatte die viereinhalb Stunden Reise vor mir, müde und unterkühlt.
      “Ich habe noch eine Frage”, sagte ich zu Erik, während ich mir vor dem Auto die Kleidung wechselte. Chris hatte freundlicherweise Fruity versorgt und verschwand dann selbst, um mit Niklas zurückzufahren. Die Flucht vom Gelände hatte schon vor Stunden begonnen, einige hatten es vor dem Wolkenbruch geschafft und andere warteten noch darauf, ihre Prüfung zu reiten. Hoffentlich würde ihre Fahrt nicht so eine Weltreise werden, wie unsere.
      “Was möchtest du wissen?”, schmunzelte Erik und inspizierte mich genau, strich mir sanft über den Bauch und Oberschenkel. Seine Hände waren warm und ziemlich weich, jede Stelle, die er berührte, kribbelte wie wild. Ich hoffte, diese Gefühle ihn nie zu verlieren, aber irgendwann würde der Tag kommen, an dem es selbstverständlich wurde, leider.
      „Wie genau hast du dir das jetzt in der Umsetzung vorgestellt?“, stellte ich wohl die wichtigste Frage, schließlich wohnte er meines Wissens nach bei seiner Ex-Freundin, mehr als fünfhundert Kilometer entfernt vom Hof und Stockholm war auch nicht näher dran. Somit würden enorm lange Strecken zwischen uns liegen, die wohl auf Dauer keiner mehr bewältigen möchte.
      „Um ehrlich zu sein, dass weiß ich noch nicht. Aktuell bin beurlaubt und könnte dementsprechend mitkommen, ansonsten bin ich zu meiner Schwester gezogen, da meine Ex plötzlich der Meinung war, keine Lust mehr auf Fredna zu haben. Ich könnte im Homeoffice arbeiten und mir ein Haus bei dir in der Nähe suchen“, schlug er dann vor, strich mir immer wieder über meinen Bauch, ohne mir in die Augen zu sehen. Er wirkte wie hypnotisiert, geblendet von einer Welt, die es nicht gab, außer in seinem Kopf.
      “Findest du das nicht etwas überstürzt, ich mein – das ist doch alles furchtbar kompliziert”, sprach ich meine Gedanken aus, denn ich wollte ihn keinesfalls aus seinem gewohnten Umfeld herausreißen, allerdings wusste ich eigentlich nichts über ihn. Dennoch hatte ich mich auf dieses Abenteuer begeben, eine Reise ins Ungewisse.
      “Ich habe eine Idee. Wenn ich wieder zu Hause bin, spreche ich mit meiner Schwester. Sie wollte ohnehin raus aus Stockholm und vielleicht wäre es auch für sie ein gelungener Start.” Eriks Vorstellung war grenzenlos, hoffentlich nahm er sich nicht zu viel damit vor. Aber ich wollte Abwarten, schauen, ob seine Idee von einem Neuanfang wirklich Wurzeln fassen konnte, deswegen entschied ich, optimistisch zu bleiben. Aus der Ferne hörte ich nun auch Lina mit ihrer Schwester kommen, die noch immer die Kinderbetreuung von Fredna übernommen hatten, das Kind, welches mich bisher vollkommen ignoriert hatte und dessen Mutterrolle ich wohl auf kurz oder lang übernehmen musste. Eine Aufgabe, für die ich mich überhaupt nicht gewachsen fühlte, aber für meinen Auserwählten war ich bereit, es zu versuchen.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 71.708 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel åtta | 8. Dezember 2021

      Satz des Pythagoras // Schneesturm // Vintage // Forbidden Fruit LDS // Götterdämmerung LDS // HMJ Holy // Girlie // Einheitssprache // Ready for Life // HMJ Divine

      Niklas
      Spät in der Nacht kam ich zu Hause an. Die sonst ziemlich kurze Fahrt vom Hof verlängerte sich ungemein durch einen Zwischenstopp im Nirgendwo. Eigentlich kannte ich die Gegend wie meine Westentasche, aber plötzlich und unerwartet leitete mich das Navigationssystem von der Fernstraße ab. Folgte der Straße durch kleine verschlafene Dörfer, Felder, Wälder, bis ich auf einem verlassenen Rastplatz landete mit einer Ladesäule neben einem heruntergekommen gelb blauen Tankstellen Gebäude, das mit einem älteren Mann besetzt war. Er stand an dem hinteren Eingang, rauchte und beobachtete mich genau, als ich die Auffahrt hinauf fuhr im Schritttempo. Normalerweise waren die meisten Ladestationen mit einer hohen Leistung ausgestattet mit um die zweihundertfünfundsiebzig Watt, diese jedoch brauchte sie nicht auf. Also stand ich, wartete, deutlich länger als erwartet, um zumindest die verbleibenden vierzig Kilometer nach Hause zu schaffen.
      Obwohl ich den Luxus genoss, ausschlafen zu können, klingelte mich unliebsam mein Handy aus dem Bett. Zu bestimmen, wie viel Stunden ich in meinem Bett verbringen durfte, konnte ich nicht einschätzen. Es war zu kurz, denn nur kläglich fand ich den Weg ins Badezimmer und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich aus dem Kleiderschrank ein Outfit wählte.
      > God morgon, min son
      “Guten Morgen, mein Sohn”, begrüßte mich Mama freundlich, als ich mit hängenden Schultern die hölzerne Treppe ins Erdgeschoss hinauflief.
      > God morgon
      “Guten Morgen”, murmelte ich. Aus der Küche roch es verlockend und neugierig warf ich einen Blick auf den Herd. Mama und ich hatten uns abgesprochen, heute gemeinsam zu essen, bevor ich mich auf dem Weg zu meiner Freundin machte.
      > Lyckades du i går?
      “Warst du gestern erfolgreich?”, fragte sie bei dem Decken des Tisches. Im Voraus hatte ich mit ihr gesprochen, wusste, dass ich ihr vertrauen kann und ihre Tipps immer richtungsweisend waren.
      > Nej, inte på ett lyckat sätt. Men vi lyckades lösa det.
      “Erfolgreich, nein. Aber wir konnten das Problem lösen”, erklärte ich verschlossen.
      > Det är ju trots allt så
      “Immerhin”, seufzte Mama,
      > Ska du fortfarande gå till din flickvän?
      “ Triffst du dich dennoch mit deiner Freundin?”
      “Jag”, sagte ich wenig überzeugt, aber freute mich vordergründig meine Stute zu treffen. Lina schickte mir täglich Bilder von ihr, wie sie auf die Weide kam, ihr Futter bekam oder in der Führanlage typisch temperamentvoll den Schweif aufstellte und ihre Runden drehte. Ich vermisste sie viel mehr, als ich dachte. Zeitlich hätte ich es aber nicht geschafft, Form für die nächste Saison vorzubereiten und Smoothie abzutrainieren. Irgendwo dazwischen musste ich schließlich arbeiten, essen und selbst meine Fitness aufrechterhalten, da reichte das Reiten leider nicht aus.
      > Upp med hakan, du kommer över det.
      “Kopf hoch, du kommst schon darüber hinweg”, rief mir Mama noch zu, als ich durch die Garagentür den Wohnraum verließ. Schon beim Einsteigen in mein graues Fahrzeug wurde ich darüber in Kenntnis gesetzt, dass eine Restreichweite von fünfzig Kilometern blieb. Bei dem Blick zur Steckdose bemerkte ich auch wieso. Der Volvo meines Vaters hing noch immer am Kabel und ich vergaß meinen Wagen einzustecken. Also tippte ich Lina eine Nachricht, dass ich etwas später kommen würde, da es einige Schwierigkeiten gab. Ihr zu offenbaren, dass ich im Zuge meiner gestrigen Verwirrtheit einen Fehler machte, fiel mir selbst gegenüber nicht einmal leicht. Sie antworte, dass sie sich bereits freute und es kein Problem sei. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ein kleines Lächeln huschte durch mein Gesicht, also konnte ich noch nach einer passenden Ladesäule suchen, wo ich nicht Stunden verbringen müsste, um endlich weiterzukommen, außerdem fehlte auch die Lust mit Lina unbekannterweise zu warten. Es ging schnell, bis mein Auto mir nach dem Start sagte, dass an einer Ausfahrt mit Tankstelle eine für mich passende stand. Dort fuhr ich ab und steckte den Taycan an. Ich musste nur mit meinem Finger an der Büchse entlangfahren und schon öffnete sich der Deckel wie von Zauberhand.
      Bevor die Fahrt weitergehen konnte, sah ich mir das eintönige Gelände näher an, besonders das Innere der Tankstelle, weckte mein Interesse. Bereits auf der kurzen Strecke spürte ich, dass meine Augen Probleme hatten, den Blick auf der Straße zu halten. Keine gute Voraussetzung, wenn ich das Auto noch eine Weile behalten wollen würde. Also bestellte ich mir einen großen Milchkaffee und fand noch eine Kleinigkeit für Lina, über die sie sicher freuen würde. Es war ein kleines weißes Plüsch Einhorn mit rosafarbenen Flügeln, die mit etwas Fantasie an Ivy erinnerten. Sie vermisste ihn und ich konnte es nachvollziehen. Das Pferd war noch meilenweit davon entfernt ein gutes Reitpferd zu sein, aber konnte einem durch sein ruhiges Gemüt wirklich weich werden lassen. Mir fehlte die Verbindung zu ihm, aber glaubte fest daran, dass es mit den Beiden Schicksal sein musste.
      Zwanzig Minuten später durfte ich meine Fahrtfortsetzung, denn sechzig Prozent Ladung sollten für die heutigen Kilometer ausreichen. Augenrollend spielte ich mit dem Gaspedal und wollte am liebsten ins Lenkrad beißen, nach dem es auf der einspurigen Strecke nur noch mit dreißig Kilometer pro Stunde weiter ging bei einer erlaubten Geschwindigkeit von hundert. Laut atmete ich ein und wieder auf, ganz ruhig Niklas, die Kerle in den Lkw arbeiten nur. Darin lag auch mein Problem, würde ich in der Geschwindigkeit arbeiten, hatte ich eine schöne Zeit im öffentlichen Dienst. Kurz lachte ich. Latte würde mir fehlen, wenn ich sein freundliches Wiehern am Morgen nicht hören würde oder die unpassenden Kommentare meiner Kolleginnen, die es äußerst unterhaltsam fanden, dass ich mit meinem Hengst sprach. Ich unterhielt mich mit ihm über fast alles, sogar Lina durfte er schon kennenlernen, außerdem bat ich ihn, etwas zu tun. Er konnte empfindlich sein, mochte es nicht, wenn es regnete oder windig war. Doch auch Sonne irritierte den Braunen. Eigentlich stand er am liebsten in seiner Box und biss in dem Gummispielzeug, dass eigentlich für große Hunde entwickelt worden war. Die Varianten des Dings für Pferde interessierte ihn nicht. Den größten Unterhaltungsfaktor brachten wir in der Reithalle im freien Training. Ich spielte regelmäßig mit ihm, denn auf dem Paddock stand er allein, so wie ich – der Hahn im Korb.
      > Sväng höger.
      “Rechts abbiegen”, erinnerte mich mein Auto daran, endlich die Fernstraße zu verlassen. Erleichtert drückte ich auf das Gas und fuhr minimal zu schnell die Abfahrt entlang. Erst im Nachhinein prüfte ich, ob Kollegen in Sicht waren oder einer der so beliebten Blitzer, aber nein. Für den Augenblick kam ich noch davon, sonst wäre es teuer geworden. Nur noch wenige Minuten trennten mich davon mein Pferd endlich wiederzusehen und natürlich auch Lina. Meine Augen wanderten zum Beifahrersitz, auf dem Ivy bereits auf sie wartete. Schon aus der Ferne erkannt ich das schwarze Schild mit dem handgezeichneten Logo. Vielleicht sollte Lina es einmal überarbeiten, so wirkte es ziemlich unordentlich, aber was wusste ich schon. Im Schneckentempo fuhr ich die Auffahrt entlang und parkte auf dem Parkplatz neben Eriks Auto, dass der immer noch hier war. Unglaublich. Hatte der nichts Besseres zu tun, als Vriska zu belästigen? Verzweifelt atmete ich aus, griff nach dem Mini Ivy und stieg aus.
      Suchend sah ich mich um, aber sah niemanden. Meine erste Adresse war somit der Stall, dort traf ich bisher immer irgendwen. Auch heute wurde ich nicht enttäuscht, zumindest in der Tatsache, jemanden zu treffen. Ausgerechnet Vriska ritt im Gebäude. Schon an der Stimme erkannt ich, dass sie es sein musste, auch wenn es etwas nasal klang. Ich zögerte, die Schwelle zu übertreten, denn ich wollte ihr nicht unter die Augen treten nach der seltsamen Situation zwischen uns, dem allem voran meine Unsicherheit. Normalerweise fühlte ich mich allen überlegen, wusste, was ich tat, aber jetzt scheiterte es schon daran, eine minimale Kante zu übertreten. Aber ich tat es, nur um zu überprüfen, ob Lina eventuell auch dabei war. Ich warf einen Blick zu meiner Linken und sah Vriska auf einer langbeinigen Schimmelstute mit dunklem Langhaar sitzen. Sie trug ein Martingal und bevor ich einen Gedanken darüber verlor, was der Grund sein könnte, dass sie einem Pferd Hilfszügel befestigte, schwang es energisch den Kopf nach oben, aber wurde durch die Ringe am Zügel daran gehindert. Immer wieder wippte sie und erinnerte mich an einen Wackeldackel, der auf der Ablage eines alten Mercedes stand. Vriska hatte mit dem Pferd zu kämpfen, es in eine Gebrauchshaltung zu bekommen und deutlich den Trab zu beruhigen. Sie bemerkte mich am Rand nicht, zum Glück, oder zumindest konzentrierte sie sich auf den Schimmel und sah nicht zu mir.
      “Du musst ihr mehr Freiheit geben sich fallen lassen zu dürfen und ruhiger sitzen”, dachte ich plötzlich laut, ich Idiot. Jetzt bekam ich doch ihre Aufmerksamkeit. Umgehend bremste Vriska die Stute in den Schritt ab und hielt an der Bande ab. Sie reichte ihr so hoch, dass sie die Arme darauf ablegte und lachte.
      “Ach, da ist ja unser Klugscheißer. Lina rennt heute schon den ganzen Vormittag aufgeregt über den Hof, am besten guckst du mal links bei den Weiden. Sie hatte sich zu Smoothie gesetzt”, half sie mir weiter und zeigte in Richtung eines anderen Ausgangs.
      “Danke”, hielt ich mich kurz und drehte mich weg.
      “Ich habe zu danken”, antwortete sie noch. Ich sah noch einmal neugierig zu ihr und wie ich es sagte, trabte der Schimmel deutlich ruhiger und warf nicht mehr so stark den Kopf nach oben. Stolz lächelte ich in mich hinein.
      Aufgeregt folgte ich dem Weg zur Weide, der tatsächlich mit kleinen handgeschriebenen Wegweisern ausgeschildert war und da saß Lina auf einem Stuhl, den Kopf zum Schoß gesenkt, auf dem ein Block lag. Sie zeichnete vermutlich, denn ich schätzte sie nicht als Schreiberin ein. Langsam näherte ich mich und wollte sie überraschen, aber Smoothie vermasselte mir diese Chance. Aus dem Nichts bockte sie im Stand und quietschte aufgeregt. Dann kam sie zum Zaun getanzt, konnte nicht erwarten, dass ich ihr endlich über Kopf strich. Auch Lina bemerkte das Theater und drehte sich um. Ein strahlendes Lächeln zauberte sich auf ihr zartes Gesicht. Ich hatte fast vergessen, wie sie einem in ihren Bann ziehen konnte. Ja, wenn Vriska nicht in Sichtweite war. Ich schämte mich dafür.
      “Guck mal, ich habe dir einen Mini Ivy mitgebracht”, lachte ich, viel mehr, um mich wieder abzulenken, als um Lina dafür zu begeistern. Sie legte, ihren Block beiseite, nahm das Plüschtier entgegen und betrachte es begeistert.
      “Aww, das ist niedlich, das sieht tatsächlich fast aus wie Ivys wahre Persönlichkeit”, lachte sie entzückt und spielte an den kleinen Flügeln herum, “und dann ist es noch so schön flauschig. Dankeschön, das ist so süß von dir.”
      “Bitteschön”, schmunzelte ich verlegen und schlang meine Arme um sie, roch an ihren Haaren, die vertraut nach Mandelblüte dufteten und in der Nase kitzelte. Ich verharrte einen Moment und strich über ihren Rücken. In meinem Inneren suchte ich nach dem, was man fühlen sollte, aber konnte nicht genau definieren, was gerade vorherrschte. Mein Herz schlug schneller. Ich hoffte, Lina bei mir haben zu können, solang ich es brauchte, bis ich mir klar darüber werden würde, was ich wollte. Aber so funktionierte es natürlich nicht. Also schwieg ich, redete mir ein, dass es das Richtige war – Alles, nur in Millisekunden, weniger als einem Wimpernschlag. Mein Herz raste.
      “Ich weiß nicht genau, ob dein Pony oder ich mich mehr darüber freuen, dass du da bist”, lächelte sie, sah dabei mit ihren strahlenden Augen zu mir hoch. Einzelne Strähnen hatten sich aus den liebevoll geflochtenen Zöpfen verabschiedet und standen chaotisch in die Luft. Der seichte Wind ließ sie wehen. Es wurde still, auch in meinem Kopf, nur die sanften Töne der noch immer aufgeregt tänzelnden Stute lagen hypnotisierend in der Luft.
      „Ich weiß es leider auch nicht, aber Smoothie scheint sich mehr ins Zeug zu legen“, schmunzelte ich.
      „Ist das so?“, raunte Lina leise, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und mir einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen drückte. Ohne darüber nachzudenken, legte ich meine Hände an ihre Hüften, zog sie zärtlich an mich. Doch, dann zögerte ich. In mir spülte sich das Verlangen in den Vordergrund, langsam mit meinen Händen zum Rücken zu wandern. Einfach machte es mir Lina nicht. Die dunkelblaue Reitleggings saß eng an ihrer Hinterpartie, verlockte mich danach zu greifen. Aber ich tat es nicht, aus einem ganz einfacheren Grund: Ich hatte Angst, ihr schlechte Gefühle zu bereiten oder ungewünschtes Verhalten auszulösen, als riss ich mich zusammen.
      “Na gut, überzeugt”, stammelte ich, schob meine Brille wieder nach oben und öffnete gedankenverloren die Litze der Weide. Smoothie stupste mich an, erhob den Kopf, um mir meine Frisur zu zerstören. Sie hatte schon immer ein Problem damit, wenn ich mich besonders bemühte, die Pracht unter Kontrolle zu bekommen. Beinah rüpelhaft stieß sie mir gegen den Kopf.
      > Sluta.
      “Hör auf”, fluchte ich und hob drohend die Hand. Einige Schritte tanzte sie zurück, beruhigte sich umgehend. Sie schnaubte und stellte sich mit Abstand zu mir.
      “Soll ich schon vorgehen, oder lässt du deine Kunst hier liegen?”, fragte ich aufrichtig und drehte mich zu Lina um.
      “Ja geh schon mal, ich bring das gerade schnell weg”, antworte sie und sammelte geschäftig ihre Sachen ein. Ich nickte und folgte dem Trampelpfad, der durch die Weiden zum befestigten Kies führte. Wieder begann die Stute ihren Kopf an mir zu reiben, trat mir mit den Vorderhufen in die Schuhe. Entschlossen bremste ich, drehte mich zu ihr.
      > Ta dig nu samman!
      „Jetzt reiß dich zusammen“, tadelte ich. Aus der Ferne vernahm ich das Starten eines älteren Traktors und die Motorgeräusche wurden lauter. Smooth zuckte zusammen und senkte den Kopf, die zuvor weit aufgerissenen Augen schlossen sich in gleichmäßigen Abständen vertraut. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass Lina die falsche Person im Umgang mit ihr sein könnte, schüttelte mich. Es war absurd. Sie konnte gute mit Pferden umgehen und es fehlte nur die Erfahrung mit meinem Ausnahmetalent.
      Im Stall lief zunächst durch die Gasse, suchte, an welcher Stelle ich das Pferd anbinden könnte. Nachdem ich das x-te Mal über den Beton schritt und mittlerweile schon den Strick in der Hand gehalten hatte, der vorher an der Box meines Pferdes hing, blieb ich an der Bande stehen und versuchte durch meine reine Anwesenheit, Vriskas Aufmerksamkeit zu gelangen. Lina schien nicht nur ihre Zeichensachen wegzuräumen, sondern noch die Wohnung zu putzen oder nach Kanada zu reisen, um ihr Pferd zu holen.
      „Wonach giert es dir?“, lachte Vriska, als sie mich endlich bemerkte nach meinem elendigen Starren.
      „Wo kann ich mein Pferd putzen?“, stotterte ich unsicher. Sie zeigte mit ihrem Finger zu einer breiten boxenähnlichen Struktur direkt neben dem Solarium. Erleichtert nickte ich, bevor sie sich umgehend abwandte und erneut mit der Schimmelstute über das Konstrukt aus Stangen trabte. Innerlich entfachte sich erneut die Empörung darüber, dass sie praktisch von einem auf den anderen Tag kein Interesse mehr an mir hatte. Ihre Zeichen waren deutlich. Sie sah kein einziges Mal zu mir, als ich Smoothie vorbereitete, und hatte sogar mir Vertrauen geschenkt, über ein Inneres zu sprechen. Mit Erik wirkte es inniger, als es mir lieb war. Die Angst, sie auch zu verlieren an der Sache, wie den Großteil meines Umfelds wuchs stündlich. Ich konnte und durfte es nicht zulassen, dass sie ebenfalls in dem Loch landete.
      Lina kam mit einem Schecken am Halfter durch den Gang gelaufen, aber wurde prompt von Vriska gestoppt. Überrascht sahen sie einander an, als hätte keiner damit gerechnet.
      “Vinni wird dir keine Freude machen, hol dir lieber Fruity”, grinste Vriska.
      “Okay, wenn du das sagst”, lächelte Lina, “Danke.”
      Ihre Freude über Vriskas Angebot war unverkennbar, als sie mit dem Schecken wieder kehrt machte. Der Hengst drehte verwundert den Kopf, aber folgte freundlich. Es dauerte nicht lange, bis sie mit der Braunfalbstute wieder kam. Das Pferd hatte schon beim Führen eine erstaunliche Ausstrahlung. Langsam schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und das blau leuchtete. Ihr großes Kopfabzeichen setzte sich prägnant vom dunklen Kopf ab.
      “Da möchte mir wohl jemand Konkurrenz machen?”, musterte ich die beiden mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Lina winkte nur lachend ab und hängte die Regendecke über eine Stange, die sie zuvor herausklappte. Sie war rasiert, bis auf die Beine und dem Kopf standen nur noch kleine Stoppeln zur Luft. Wenn ich die Außentemperaturen betrachtete, konnte ich es nicht nachvollziehen. Zudem wusste ich, dass die Stuten Tag und Nacht draußen verbrachten und nicht wie Smoothie in der Nacht in eine der großen, warmen Boxen durften. Ich strich meinem Pferd über das Fell am Hals. Sie war fertig geputzt und weitestgehend sauber, natürlich stellte es schon von jeher eine Herausforderung dar, einen Schimmel wirklich sauber zu bekommen. Das matschige Herbstwetter half mir bei meinem Vorhaben auch nicht so ganz, aber es stand ohnehin keine Veranstaltung mehr an, somit durfte Smoothie das innerliche Schwein ausleben.

      Lina
      Dadurch, dass Fruity eingedeckt war, gab es nicht viel zu putzen. Neugierig nestelte die Stute an alle herum was in die Nähe ihrer Schnauze kam, schien sich regelrecht zu freuen mal jemand anderen als üblich vor sich zu haben. Sanft schob ich ihren Kopf beiseite, um an ihr vorbei zur Sattelkammer zu kommen. Der heutige Tag erfüllte mich mit unfassbar viel Freude. Der Besuch meines Freundes allein wäre schon ein Grund gewesen, sich zu freuen, aber in den Genuss zu kommen, Forbidden Fruit zu reiten steigerte meine Stimmung ins Unermessliche. Die Falbstute war der aktuelle Liebling meines Chefs und wenn man sie nur ein paar Minuten betrachtete, verstand man auch warum. Schon, wenn die Stute einfach ruhig dastand und einen freundlich aus ihren blauen Augen entgegenblickte, zog sie einen in den Bann. Bereits seit ich die Stute das erste Mal erblickte, bewunderte ich sie insgeheim und hätte niemals gedacht sie mal reiten zu dürfen. Glücklich hüpfte ich in die Sattelkammer nur, um festzustellen, dass der Sattel der Stute erstaunlich schwer war. Entspannt blieb Fruity stehen, während ich sie zurechtmachte. Auch mit Smoothie war Niklas schnell fertig, sodass wir recht bald Start bereit waren.
      Für einen Herbsttag war es heute recht warm, die Sonne schien angenehm am beinahe wolkenlosen Himmel. Ein seichter Wind ließ ein paar Blätter durch die Luft schweben und in der Ferne war das Geschnatter eines Gänseschwarm zu vernehmen, welcher sich allmählich auf den Weg in wärmere Gefilde machte. Smoothie schien ein wenig aufgeregt, drehte die Ohren in alle Richtungen, hampelte herum, wie ein kleines Kind, welches es kaum erwarten konnte, endlich loszukommen. Der Schimmel war so ungeduldig, dass sie sogar seitwärts kurzzeitig für eine gute Bewegungsrichtung hielt. Ich musste schmunzeln, selten war mir ein Pferd begegnet, was so Banane im Kopf war wie diese Stute. Entspannt mit gespitzten Ohren schritt Fruity neben der deutlich größeren Stute her, ließ sich von ihren Faxen in keinster Weise stören.
      Begleitet von den gleichmäßigen Geräuschen der Pferdehufe, betraten wir den herbstlichen Wald. Mit dem farbenprächtigen Indian Summer, den ich Kanada erlebte, konnte der Herbst hier, nicht mithalten. Dennoch verliehen die Laubbäume, deren Blätter sich bereits gelb färbten, dem Wald ein mythisches Flair, so wie sie zwischen den dunklen Nadelkronen der Kiefern hervorleuchteten. Für einen Moment verlor ich mich in glücklichen Erinnerungen an Tage, an denen ich mit meiner Schwester die bunten Wälder unserer Heimat durchstreiften auf der Suche nach Magie und Geheimnissen. Im Herbst meinte Juliett stets, sei die Magie in den Wäldern am größten.
      “Ist es nicht schön hier draußen?”, fragte ich Niklas und strich der Falbstute versonnen über das kurze Fell. Als hätte ich sie gefragt, schnaubte Fruity und nickte mit dem Kopf.
      “Mhm”, murmelte er, ohne mit den Wimpern zu zucken. Smoothie kam nicht zur Ruhe, noch immer tänzelte sie in alle möglichen Richtungen und mein Freund wurde langsam aber sicher genervt von ihr. In seinen glasig werdenden Augen funkelte die Verzweiflung, sein Kiefer knirschte unregelmäßig. Obwohl er eine recht lockere dunkle Jacke trug, bemerkte ich, dass auch seine Brustmuskulatur willkürlich zuckte und er langsam die Geduld verlor, oder den Glauben an sein ach so toll ausgebildetes Pferd. Ich war mir nicht ganz sicher. Innerlich schmunzelte ich etwas, denn offenbar gab es auch in seiner Welt Grenzen und Smoothies rüpelhaftes Verhalten war eine davon. Als ich vorschlug einige Meter zu traben, um sie etwas zu entlassen, verschlug es Niklas die Stimme und alles, was hervorkroch, war seine pulsierende Halsschlagader. Wie konnte er solche schlechte Laune bekommen, nur weil sein Pferd einmal nicht funktionierte? Lag es an mir, hatte ich eventuell dafür gesorgt? Diese Gedanken waren irreführend und nicht hilfreich, um die Situation zu entschärfen.
      “Es tut mir leid”, stammelte ich unbeholfen, was er nur mit einem Augenrollen kommentierte und plötzlich antrabte. So schnell konnte ich mit Fruity gar nicht reagieren, wie er mit Smoothie über den feuchten Waldboden donnerte und Dreck in unsere Richtung warf. Die Ohren meiner Stute schnellten aufgeregt nach vorne, sie wartete nur auf das Signal folgen zu dürfen. Ohne weiter darüber nachzudenken, fasste ich die Zügel nach, ließ die Stute unter mir laufen. Die Hufe der barocken Stute schien geradezu über den Waldboden zu fliegen, der Dreck spritze mir bis zu den Ohren, als sie durch eine Pfütze donnerte. Obwohl Fruity sich mächtig Mühe gab, schien der Abstand zu Niklas, der ohnehin schon einen Vorsprung hatte, größer zu werden. Das Vollblut konnte man bei Smooth eindeutig nicht verleumden. Rhythmisch schnaubte Fruity im Takt ihrer Schritte, wollte noch einmal ein wenig anziehen, als der Schimmel um eine Kurve verschwand, doch ich ließ sie nicht. Ungern wollte ich, dass sie noch ausrutschte auf dem feuchten Boden.
      Bereits ein paar Meter hinter der Kurve, entdeckte ich das Niklas allmählich wieder langsamer wurde und schließlich anhielt, um auf mich zu warten. Mit wachem Blick, die riesigen Ohren aufmerksam aufgestellt, sah Smoothie mir entgegen, nun deutlich ruhiger und sogar in der Lage stillzustehen. Ich ließ meine Falbstute langsam auslaufen, bevor sie schnaubend vor der Schimmelstute stehen blieb.
      “Ich hätte das Vieh verkaufen sollen, als ich die Möglichkeit dafür hatte”, fluchte Niklas und richtete einen erbosten Blick zum Mähnenkamm seines Pferdes. Hektisch zog er an den Zügeln, hoffend darauf, eine Reaktion von ihr zu bekommen. Doch sie ignorierte das Zupfen am Gebiss und starrte noch immer in meine Richtung. So schnell verfluchte man also das Pferd, welches man eigentlich liebte. Ich war immer noch ein wenig verschreckt, wie schnell und heftig seine Laune umgeschlagen war, sobald wir losritten.
      “Meinst du wirklich, du wärst dann glücklicher?”, fragte ich beschwichtigend, innerlich bereits darauf vorbereitet angemeckert zu werden. Er hielt inne, biss sich auf der Unterlippe herum und stoppte das unerträgliche Zerren am Zügel. Ein Kieselstein fiel mir vom Herzen, denn allein das Zusehen dabei schmerzte. Gleichzeitig tat mir ein wenig in der Seele weh, meinen sonst so starken Freund so fertig zu sehen.
      „Ich weiß es nicht“, murmelte er plötzlich still, „Es ist gerade einfach sehr viel und es wird meine Schuld sein.“
      Smoothie schnaubte ab, als fühle sie sich genauso erleichtert wie ich für den Augenblick. Ihre zuvor angespannte Halsmuskulatur lockerte sich und entspannt kaute sie ab, bis der Kopf losgelassen nach unten hing. Sanft strich er ihr durch die Mähne und es sah beinah so aus, als huschte ein leichtes Lächeln über sein markantes Gesicht.
      “Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, falls es etwas gibt, worüber du reden möchtest. Du musst das nicht allein durchstehen”, lächelte ich aufmunternd, “Wollen wir dann weiter?”
      „Ach, ich weiß einfach nicht so genau, ob ich weiterhin meine Energie in etwas stecken soll, dass am Ende kein mehr Sinn mehr ergibt. Pferd hin oder her, denn mit Form müsste ich noch ewig trainieren, bevor wir ernsthaft eine Grand Prix reiten könnten. Wenn ich Glück habe, könnte eine S bis zum Ende des Jahres sitzen“, erzählte Niklas und setzte währenddessen zum Schritt an. Die Schimmelstute wirkte nun noch ruhiger. Der Schweif pendelte gleichmäßig und noch immer kaute sie aktiv auf dem Gebiss.
      „Ich wollte nächstes Jahr die Qualifikation schaffen für die Weltreiterspiele, aber das könnte ich nun vergessen“, fügte er nach einigen Metern hinzu. Beschäftigte ihn dieses Thema also immer noch. Bereits am Vortag vor der großen Kür in Kanada hatte er so etwas angedeutet. Lebenswünsche sind wie Seifenblasen, schillernd, bunt, lebendig, aber leider ebenso fragil. Zu gut konnte ich nachvollziehen, wie es sich anfühlte, wenn sie zerplatzten. In diesem Moment wünschte ich mir, es gäbe ein Heilmittel für den Spat. Einen Weg Smoothie wieder fit zu machen und Niklas den Wunsch zu ermöglichen mit seinem Herzenspferd beim World Cup teilzunehmen, doch die Chance, dass ein solches Wunder geschehen würde, standen gleichermaßen bei 0. Der einzige realistische Weg wenigstens einen Teil dieses Wunsches zu erfüllen, wäre durchzuhalten und mit Form weiterzumachen.
      “Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst.”, setze ich verständnisvoll an, „Ob das mit Form den erwünschten Erfolg haben wird, kann ich dir nicht sagen. Aber du stehst jetzt vor zwei Möglichkeiten.” Ich hielt für einen Moment inne, betrachtete ihn, wie er auf seiner Stute thronte. “Du kannst aufzuhören, Energie in ihr Training zu stecken und deinen Traum, und alles, wofür du bisher gearbeitet hast, aufzugeben, aber das wird die Konsequenz mit sich bringen, dass du niemals erfahren wirst, ob du es hättest schaffen können. Wenn du denkst, es ist das Richtige für dich, dann tu es. Oder aber du machst weiter, siehst, wohin es dich führt. Ich für meinen Teil glaube, dass du das mit Form schaffen kannst. Sie hat das Potenzial und du sowieso, aber die Entscheidung musst du selbst treffen.”
      “Wie gesagt, es ist gerade ziemlich viel“, wiederholte Niklas mit starrer Miene nach vorn gerichtet, als hätte ich nichts gesagt. Seine Stille verunsicherte mich, denn eigentlich hatte er immer irgendetwas zu sagen oder war zumindest optimistisch gestimmt. Nur in der Situation sollte wohl ich diejenige sein, die positiv auf die kommende Zeit blickte. Offenbar wollte er nicht reden, also ließ ich Fruity einfach stillschweigend dahin trotten. Das Einzige, was jetzt noch zu hören war, waren die Geräusche der Pferde und das leise Rascheln der Blätter, die sich im Wind bewegten.
      „Tut mir leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie du es dir vermutlich vorgestellt hast“, sagte Niklas, als wir eine Stunde später zum Hof zurückkehren und vor dem Gebäude von den verschwitzten Pferden stiegen.
      “Ist schon okay, ich kann nicht von jedem immer gute Laune erwarten”, entgegnete ich friedfertig. Fruity begann neugierig mit ihren Lippen an meiner Jacke herumzuspielen, während ich den Sattelgurt lockerte.
      “Dann glaube ich dir, möchtest du dennoch zur Pizzeria?”, erkundigte er sich und half mir dabei den Sattel vom Rücken zu nehmen.
      “Ich glaube schon”, erwiderte ich, “also, wenn dir das nicht zu viele Umstände bereit.” Ich war neugierig die Umgebung, in der ich nun lebte, näher kennenzulernen, aber meinetwegen sollte Niklas sich nicht zusätzlich stressen.
      “Dann frag ich jemand anderes, ob er mitkommen möchte”, lachte er provokant und schielte dabei zum Sand, auf dem gerade Vriska es tatsächlich mit Götterdämmerung versuchte. Erstaunlich, dass sie das Pferd überhaupt aufgehalftert bekam und nun im Schritt führte. Natürlich hatte der Fuchs die Ohren angelegt, wedelte gestresst mit dem Schweif. Hätte Niklas nicht so intensiv zur ihnen hinüber gestarrt, wäre es mir vermutlich entgangen.
      “Nein, brauchst du nicht, weil ich dich liebend gern begleiten werde”, sagte ich entschlossen, bevor ich mit Fruitys Zeug in die Sattelkammer stiefelte.
      “Dann bin ich nicht nur froh”, schwärmte er, “sondern auch erleichtert.” Er folgte mir mit dem Zeug seiner Stute. Unter großem Energieaufwand versuchte ich den Sattel der Falbstute auf ihren Halter zu hieven, bevor ich ihm antworte, was sich für einen Zwerg wie mich schon als Challenge herausstellte. Ganz besonders für einen Zwerg, der seit Wochen sein Training schliefen, ließ. Niklas kam mir freundlicherweise zu Hilfe, nachdem er Smooth Sattel verträumt hatte.
      “Ich fühle mich geschmeichelt, dass du so viel Wert auf meine Gegenwart legst”, lächelte ich, sah ihm dabei in seine wunderschönen Augen, die, wie ich in dem Moment merkte, rot unterlaufen waren im weiß. Immer häufiger blitzte, als hätte er Schwierigkeiten seine Augen offenzuhalten. Dennoch sah er mir weiter intensiv in meine und begann noch breiter zu lächeln. Plötzlich wurde mir warm, ich spürte das meine Wagen rot anliefen und in mir fühlte ich die Bestätigung, dass sich die Reise nach Schweden gelohnt hatte. Ich erkannte, dass Niklas meine Anwesend so sehr schätzte, wie ich seine und auch, dass ich mir im Augenblick niemand anderes an seiner Stelle wünschte. Selbst die letzten kleinen Zweifel, die tief in mir schlummerten, waren auf einmal wie fort gewischt. Um mich herum verstummte alles, die Geräusche von außerhalb der kleinen Hütte lösten sich in Luft auf und wurden zu nichts anderem als einem untertönigen Hintergrundrauschen. Seine warmen Hände schoben sich sanft unter mein Oberteil und sein Körper drückte mich vorsichtig gegen die bodentiefen Fenster hinter mir. Jeder, der nun seinen Weg durch den Flur wagte, würde uns sehen, aber es kam niemand, hoffte ich. Niklas legte seine Lippen auf meine und ich hielt mich liebevoll an seinem Hals fest, vergrub meine Finger in seinen Haaren. Ich wollte mich ihm nur noch hingeben, seine Wärme unter meinen Fingern spüren.
      Dann wurden wir unterbrochen. Laut aufheulend stand plötzlich ein Hund im Raum, doch als ich die Augen öffnete, stand nicht Trymr vor uns und wedelte mit dem Schwanz. Die Töne, die sie von sich gaben, waren dafür zu freundlich und eher melodisch als tiefgründig. Dieses Tier kannte ich bisher nicht. Erschrocken ließ Niklas von mir ab und drehte sich um. Mittlerweile saß das Tier, starrte uns noch immer an. Ein Pfeifen ertönte quer durch den Flur, bis die Schritte endeten.
      “Ach, hier steckst du”, lachte ein groß gewachsener junger Mann, dessen Gesicht ich vor einigen Tagen schon einmal gesehen hatte. Wie hypnotisiert folgten meine Augen, dem Hund, der zu ihm lief, bevor ich mich aus meiner Starre löste.
      “Ähh, Hallo”, murmelte ich, zupfte verlegen an meinem Sweatshirt. Hoffentlich hatte der unerwartete Besucher nicht allzu viel mitbekommen.
      “Was machts du denn hier?”, fragte ich und versuchte mich dabei möglichst normal zu verhalten.
      “Stör ich?”, lachte er und warf einen musternden Blick auf uns beide. Niklas sah mit geröteten Wangen weg und sagte: “Mein Pferd wartet”, und verschwand aus der Tür.
      “Offenbar”, fügte der junge Herr hinzu, “also eigentlich hatte ich mit Tyrell besprochen, dass heute die Ponys kommen, aber gerade meinte Vriska, dass er gar nicht da ist. Also typisch mal wieder. Ich bräuchte Hilfe beim Wegstellen und sie hatte keine Zeit. Also.” Er stoppte und stellte sich deutlich unbeholfen an die Tür. Sein Oberarm rutschte von der Türklinke und sein Kopf landete geradewegs gegen das Glas. Dann lachte er.
      “Ja klar kann ich helfen. Ich müsste nur vorher noch schnell Fruity wegstellen”, lächelte ich hilfsbereit. So viele Ponys würden es schon nicht sein, als dass es Ewigkeiten dauern würde, hoffte ich zumindest.
      “Danke dir, dann bis gleich”, sagte er und verließ den Raum. Seine Hündin sah noch kurz zu mir, bevor sie ihrem Herrchen folgte. Kurz nach ihnen verließ auch ich den Raum und lief zu meinem Freund, der bei den Pferden wartete. Mit halb geschlossenen Augen stand Fruity da, die Lippe locker hängend, ein Hinterbein angewinkelt döste sie, während Smoothie unter Niklas kraulenden Händen zu Giraffe wurde. Wie lang konnte ihr Hals wohl werden? (ja.)
      “Ich muss da gleich mal kurz helfen, Ponys einsortieren”, teilte ich mit und griff nach der Decke der Falbstute um sie ihr anzuziehen.
      “Dann ich darf mich doch in der Zeit bei dir frisch machen, oder?”, fragte er schließlich, als Smoothie genug hatte.
      “Selbstverständlich kannst du das”, beantwortete ich seine Frage und weckte Fruity, damit, dass ich den Brustverschluss der Decke schloss. Ohne weitere Fragen zu stellen, nahm er seine Stute und trottete aus dem Gebäude heraus. Etwas verschlafen stolperte die barocke Stute hinter mir her als ich ihnen zu den Paddocks folgte. Niklas verschwand direkt in Richtung meiner Wohnung, während ich den Weg zurück zu den Ställen einschlug, wo Bruce mit seinem Hund bereits wartete.
      “So da bin ich, was soll ich tun?”, erkundigte ich mich bei dem jungen Mann.

      Wir sehen uns morgen, die Worte hallten auch noch durch meinen Kopf, als ich die Göttin eindeckte und auf den Paddock zurückstellte. Sie schnappte immer häufiger nach mir, versuchte sogar zu steigen, doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, über ihn nachzudenken, dass ihre Spielchen vollkommen wirkungslos erschienen. Hinter mir hörte ich Lina mit Bruce sprechen, während sie die wenigen Stuten mit zu Girlie und Holy stellten. Mehr Aufmerksamkeit hielten sie aber auch nicht von mir. Das Halfter der Stute schmiss ich lieblos an den Eingang des Paddocks und lief in mein Zimmer, ohne zurückzusehen. Ich konnte nicht mehr. Schon auf dem Weg kullerten die ersten Tränen aus meinen glasigen Augen und als ich zur Tür hineinkam, rutschte ich im Inneren an ihr herunter und schluchzte laut. Immer mehr Tränen überströmten mich und tropften auf die graue Hose.
      “Ich hasse ihn”, schrie ich verzweifelt, als plötzlich schwere Schritte über den Holzboden bebten und lauter wurden. Die gleichmäßigen Tönte konnten nur von dem Ungetüm stammen. Was machte der überhaupt noch hier? Schwanzwedelnd legte er sich vor mir ab und stützte den Kopf auf meinen Schoß. Bestürzt griff ich nach meinem Handy, scrollte die Anrufliste entlang und drückte auf Erik. Tränen liefen weiterhin über meine Wangen, auch mein Schluchzen hatte sich noch nicht eingestellt, als er abhob. Bevor ich ihm irgendwelche Vorwürfe machen konnte, ergriff er das Wort.
      “Was ist los?”, sagte Erik feinfühlig, “wieso weinst du?”
      “Weil du weg bist”, entschloss ich zu sagen, ohne einen Gedanken darüber zu verlieren, wieso er überhaupt wegfuhr. Ich wusste nämlich, dass er noch einige Termine vor sich hatte in Stockholm und deswegen erst nach dem Wochenende wieder Zeit für mich haben würde.
      “Aber das ist doch kein Grund, wir sehen uns doch Sonntagabend wieder”, versuchte er mich aufzumuntern. Seine Worte klangen vertraut und genauso schmerzerfüllt wie meine Gedanken es waren.
      “Nein, du drehst jetzt um und holst deinen Hund, ich will dich nicht mehr hier haben”, schluchzte ich tief betrübt. Was tat ich hier eigentlich? Hatte ich wirklich aus der Verzweiflung heraus Erik zur Hölle geschickt? Ich war wirklich ein Idiot. Vor einer Stunde war noch alles gut und plötzlich entschied sich mein Gewissen, alles Gute über den Haufen zu werfen, mir alles noch schwerer zu machen, als es schon war. Unaufhörlich vibrierte mein Handy auf dem Fußboden und drückte mir auf die Ohren.
      “Was”, krächzte ich in das Mikrofon.
      “Wir reden später, nicht jetzt”, sagte Erik Monoton, “Trymr werde ich nicht abholen. Der wollte vorhin schon nicht mit, wie sollte das jetzt etwas werden. Wenn er dich stört, musst du ihn zu Papa bringen.”
      Es schmerzte mich ihn so verletzt zu hören, aber ich konnte ihn nicht in meinem Leben lassen, wenn in mir noch so viele ungeklärte Faktoren bestanden. Faktoren, die ich weder ändern konnte, noch alle kannte. Ich musste mich erst selbst entdecken, bevor ich mit ihm glücklich sein könnte.
      “Na gut”, zitterte meine Stimmte.
      “Ich überweise dir nach her Geld, dann kannst du Futter für ihn holen”, sagte er und verstummte. Aus dem Lautsprecher ertönte, dass er laut einatmete und auch seine Nase nicht ganz frei war. Laut begann wieder zu schluchzen.
      “Vriska. Versprich mir eins”, flüsterte Erik starken Wortes, “was auch immer gerade los ist, denk daran, dass du immer einen Platz bei mir hast. Ich mag dich, sehr.” Dann legte er auf. Eine Chance ihm das zurückzugeben, bekam ich nicht. Auch ich mochte ihn, allerdings lieber ohne seine Tochter. Gab es uns beide nun noch, oder war das eine Trennung? Konnte man das überhaupt Beziehung nennen, die paar Tage?
      Mein Handy hielt ich noch in meiner Hand und ich traf einen folgenschweren Entschluss. Ungesteuert schwebte mein Daumen über den Touchscreen zu Niklas Chat. Dabei überflogen auch meine Augen den bisherigen Verlauf, der noch davon dominiert waren, was er mir in der Nacht schrieb.
      “Ich habe mit Erik Schluss gemacht. Deinetwegen. Du machst mich fertig. Ich hasse dich”, tippte ich wild und feuerte das Gerät durch den Raum. Es flog gegen den Couchrücken aber landete zum Glück auf dem Teppich. Die Chance, dass es noch voll intakt, stieg somit. Geld, mir ein neues zu kaufen, hatte ich nicht.
      Es vibrierte. Dass Niklas so schnell antworten würde, hätte ich nicht gedacht. Auf Knien krabbelte ich hinüber und Trymr folgte mir unentwegtes. Seine Augen sahen immer wieder tief in meine und mit seinem Kopf stupste er mich an. In bei mir zu haben, besänftige mich langsam.
      “Beruhige dich, bitte. Nie sagte ich, dass du das tun sollst, aber lass uns reden. Ich bin gleich bei dir”, las ich. Nein, nein, nein. Mit niemandem war ich bereit darüber zu sprechen, alles, was ich wollte, war Dampf abzulassen, denn er hatte durch seine bloße Anwesenheit dafür gesorgt, dass mein kleines Leben wie ein Kartenhaus zusammenfiel und ich gerade mit meinem Traummann innerhalb kürzester Zeit beendete, was wir hatten.
      Es klopfte, aber ich ignorierte es, hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Aber Trymr begann zu bellen und als ich hörte, wie die Terrassentür aufgeschoben wurde, knurrte das Ungetüm sogar. Ich schickte den Hund weg und stand vom Boden auf.
      „Warum ist der noch hier?“, fragte Niklas verwundert und sah leicht verängstigt das graue Tier an. Seine Haare waren noch triefend nass, als sei er geradewegs aus der Dusche gesprungen und hinübergerannt.
      „Schön, dass das deine einzige Sorge ist“, ranzte ich ihn verärgert an und nahm Platz am Tisch. Keinen von uns beiden ließ der Hund aus den Augen, dann fletschte er wieder die Zähne, als der großgewachsene, viel zu gutaussende Kerl näherkam. Nicht schwach werden Vriska, der ist nur hier, weil seine Freundin wenige Meter entfernt ist. Nicht schwach werden!, wiederholte ich mental immer wieder. Meine Beine wippten nervös.
      „Sprich mit mir, oder brüll mich an. Mir egal“, sagte er selbstbewusst und entschied sich ebenfalls an den Tisch zu setzen. Seine Arme legte auf der Platte ab. Ich griff nach seinen Händen. Dann schlossen sich meine Augen. In mir spielten sich gleichzeitig tausend Szenen ab, Dinge die passiert waren, das was ich zu Erik sagte und was ich gerade am liebsten hätte. Für einen Wimpernschlag verstummte es um mich herum, aber die Gedanken schrien. Sie waren so laut, dass meine Ohren schmerzten und auch mein Kopf dröhnte. Dann ließ ich wieder von ihm. Seine warme Haut spürte ich auch noch Minuten später. Er saß noch immer mit mir am Tisch, gab mir die Zeit, die brauchte zum Antworten und schwieg. Immer wieder schielte er zur Uhr, die an der Wand.
      „Du kannst gehen“, versuchte ich ihn wieder loszuwerden. Ehrlich gesagt, wollte ich Niklas nicht in meiner Nähe haben, erst recht nicht allein mit ihm in einem Raum sein. Unaussprechliches könnte passieren, wenn es keine Zeugen gab.
      „Solang du nicht mit mir darüber sprichst, werde ich nirgendwo hingehen“, blieb er felsenfest auf dem Stuhl sitzen und verschränkte die Arme. Tatsächlich entschied ich mich dazu, nichts zu sagen. Ich hatte riesige Angst davor auszusprechen, was in meinem Kopf war. Angst davor, dass er selbiges fühlte und auch, dass er es nicht fühlte. Egal, was er dazu zu sagen hätte, es würde mich verletzten und das wollte ich uns beiden ersparen. Doch Niklas wurde zunehmend ungeduldig.
      „Hätte ich nicht etwas zu tun, würde ich warten, bis du dich öffnest“, übernahm er nun doch das Wort und setzte sich aufrecht hin, „Ich werde das jetzt nur einmal sagen, also höre genau zu. Eigentlich würde ich nun sagen, dass es mir leidtut, was zwischen uns beiden passiert ist und auch, dass es offenbar mit euch beiden nicht funktionierte. Aber ich bin tatsächlich sehr froh, dass du ihn zum Mond geschossen hast. Von Anfang an sagte ich dir, dass das mit ihm nichts Gutes werden würde, aber du hast mir nicht glauben wollen. Und wir beide, ich bereue nichts. Ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben und auch, die Erlebnisse mit dir gehabt zu haben. Aber solche körperliche Nähe, werden wir nicht mehr erleben, denn ich mit jetzt mit Lina zusammen und damit auch äußerst glücklich.“ Dann schluckte er. Ich spürte, dass er log oder zumindest bei dem letzten Wort zunehmend verunsichert war. Niklas wurde nervöser, wippte ebenfalls mit dem Bein und sah sich immer wieder zur Seite um, als hätte er Angst, dass sie es mitbekam. Aber was sollte ihr Problem sein? Wir saßen doch nur am Tisch und sprachen miteinander.
      „Fast. Es ist noch schwer für mich zu beweisen, dass ich es ernst meine, denn körperlich haben wir uns noch immer nicht genährt. Darum geht es jetzt aber nicht. Vriska, bitte vertraue mir, wenn ich sage, dass du ein toller Mensch bist. Du liegst mir sehr am Herzen und es schmerzt mich, dich so zu sehen. Ich möchte, dass du mir noch eine Weile erhalten bleibst, auch wenn es auf rein freundschaftlicher Basis passiert“, setzte er fort. Doch ich unterbrach ihn.
      „Freundschaft? Ich möchte nicht mit dir befreundet sein, das würde mich nur täglich daran erinnern, was ich in meinem Leben nicht haben kann“, seufzte ich, „also geh jetzt bitte.“ Er nickte, stand auf und lief hinaus.
      “Niklas”, stammelte ich unbeholfen. Sofort drehte er sich wieder um, als zoge ich an einem unsichtbaren Band, das sich zwischen uns befand. Erwartungsvoll blickte er mich an, als erhoffte gewisse Worte zu vernehmen.
      “Danke, dass du dir Sorgen machst”, atmete ich erleichtert aus. Zustimmend nickte Niklas, schob die Brille nach oben, aber drehte sich, ohne etwas zu sagen, weg.

      Niklas
      “Willst du immer noch nach Australien?”, unterbrach ich Lina plötzlich, die seit geschlagenen zwanzig Minuten nur über die Isländer sprach, die vorhin am Hof ankamen. Es nervte mich das Thema zu hören, denn die Pferde erinnerte mich an Vriska. An das, was ich vorhin sehen musste. Sie so zu sehen, am Boden zerstört und weinend, löste auch in mir merkwürdige physische Symptome aus. In meiner Magenregion zog es willkürlich, mein Herz schlug ungewöhnlich schnell und mir fehlten sogar die Worte. Ich dachte darüber nach, wie ich ihr aus der schweren Zeit helfen könnte, ob ich Erik ins Krankenhaus bringen sollte oder sie einfach über den Tisch legte und unsere innigen Momente wiederholte. Besonders letzteres juckte mir in den Fingern, aber mein Kopf sagte klar und deutlich: Nein. Auf keinen Fall, niemals. Lina bemerkte nicht einmal, dass ich ihrer Erzählung nicht folgte und drückte in unbestimmten Abständen auf dem Bildschirm vor ihr herum. Dabei wechselte sie nicht nur die Musik andauernd, um mir unbedingt etwas zeigen zu müssen, sondern empfand es auch als ziemlich unterhaltsam darüber auf mein Handy zugreifen zu können. Der Chat mit Vriska existierte nicht mehr, also blieb ich entspannt dabei. Obwohl ich kein Groll gegen Popmusik hegte, genoss ich bei der Autofahrt lieber Kompositionen von Oscar Byström oder Carl Almqvist. Die ruhigen Töne des Pianos lenkten mich nicht zu sehr von der Straße ab oder lenkten meine Gedanken in eine gewisse Richtung. Aber ich schwieg, um Lina nicht ihren Spaß zu nehmen.
      “Ja, mein inneres Kind träumt immer noch davon Koalas zu streicheln, die sehen so weich aus”, antwortete sie beschwingt.
      “Wenn es danach geht, könnten wir auch nach Deutschland”, lachte ich und sah kurz zu ihr hinüber. Sie zupfte sich zaghaft das blaue Kleid hinunter, dass durch ihren entspannten Sitz immer weiter nach oben rutschte. Zusehen gab es nichts, als etwas Haut, die durch die dunkle Strumpfhose funkelte.
      “Aber natürlich, dann werden wir im Winter fahren. Was denkst du?”, fügte ich noch hinzu.
      “Man kann in Deutschland Koalas streicheln?”, fragte sie erstaunt. “Ja, ich denke, Winter klingt hervorragend.”
      “Ja, in Leipzig. Mama hatte davon erzählt. Ich bin ungern in Deutschland”, erklärte ich und nickte. Im Winter gab es ohnehin nicht viel, was man in Schweden machten konnte. Weder war ich Fan, davon in der Kälte zu verharren, noch Aktivitäten dabei zu machen. Lina erschien mir auch ein Mensch zu sein, der beschäftigt werden wollte, somit lag es nah mit dem Charter quer über die Erde zu fliegen.
      “Wow, das ist wirklich cool. Ist es nicht schön oder warum bist du nicht gerne dort?”, erkundigte sie sich neugierig. Dafür, dass sie die Sprache ziemlich fließend sprach mit Vriska, wundert es mich, dass sie nicht wusste, was ich meinte.
      “Die Reitplätze sind okay, fand die in Polen oder Frankreich besser, aber darum geht es nicht. Sie wirken so gestresst, immer unter Strom. Auf keinen Abreiteplatz erlebte ich je solch belastende Blicke und Sprüche wie in Deutschland”, sagte ich überzeugt und bekam direkt wieder dieses mulmige Gefühl im Magen, dass auch im nächsten Jahr dort einige Prüfungen anstanden in der Theorie, die ich mit Form aber unmöglich schaffen würde.
      “Das klingt nicht angenehm, nachvollziehbar, dass man sich dann dort nicht gerne aufhält”, stimme Lina zu. Dann verstummte unser Gespräch wieder. Sie war noch immer äußerst interessiert an den ganzen Touchscreens, drückte vergnügt in den Oberflächen herum, bis plötzlich eine Nachricht von Vriska aufblickte. Für einen Moment sah ich zu ihr hinüber. Verwundert blickte sie auf den Monitor.
      “Was schreibt sie?”, fragte ich neugierig. Eine Antwort bekam ich nicht, stattdessen biss sie sich auf der Unterlippe herum und blickte aus dem Fenster heraus, schweigend. Erst als ich ein weiteres nachfragte, las sie zögerlich vor: “Hej … Du hattest vorhin nichts mehr gesagt, aber ich wollte mich wirklich bedanken, das war aufrichtig von mir. Sollte ich dich in Verlegenheit gebracht haben, tut mir das leid. Es ist gerade so viel, hauptsächlich in der Unsicherheit darüber, was ich will und brauche. Du bist ein toller Mensch und ich akzeptiere auch, dass du jetzt mit Lina zusammen bist. Ich werde mich nicht mehr zwischen euch drängen. Aber Erik hat sich noch immer nicht gemeldet, obwohl er das sagte. Denke nicht das noch etwas kommt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wäre es möglich, dass du mich morgen mit Lubi abholst, ich habe Angst.” Linas Stimmte zitterte und sie seufzte immer wieder.
      “Schreib ihr, dass ich es tun werde”, gab ich monoton weiter. Nur zögerlich tippte sie auf dem Touchscreen herum, aber schrieb mir netterweise die Nachricht. Sie äußerte sich nicht dazu, blieb ganz still, hefte ihre Augen auf einen unsichtbaren Punkt vor dem Fenster. Einzig ihre Finger, die an dem zarten Armband an ihrem Handgelenk spielten, waren der einzige Hinweis, dass etwas in ihr vorging.
      „Lina, sprich mit mir, wenn was ist“, sagte ich viel ernster, als ich wollte, „wenn du es nur in dich hineinfrisst, kann ich dir nicht helfen.“
      Zögerlich begann sie zu sprechen: “Vriska und du … wie ihr euch manchmal anseht, … wie vertraut ihr miteinander seid”, sie machte einen tiefen Atemzug, “das lässt einfach unwillentlich Alarmglocken in mir schrillen. Es … es tut mir leid, es liegt nicht an dir, ich möchte dir eigentlich vollends vertrauen, aber seit …” Sie stocke, was auch immer sie sagen wollte, es schien ihr ziemlich schwer zu fallen. “Seit meinem Ex ist ein Teil von mir einfach … kaputt.” Mit jedem Wort wurde sie immer leiser, starrte noch immer aus dem Fenster.
      „Jetzt rede doch nicht so einen Stuss“, versuchte ich die Situation zu retten. Ich war froh darüber, dass sie bis jetzt keins der Worte in Waagschale legte und darüber mehr wissen wollte. Sonst hätte ich nie eine logische Erklärung finden können, die sie besänftigt hätte, was ich bei Vriska wollte. Ihre Schwester befand sich mit ‚sie braucht meine Hilfe‘ vollkommen zufrieden, aber bei Lina würde es nichts am inneren Chaos ändern.
      „Bei dir mag einiges nicht so sein, wie bei anderen, aber das heißt nicht, dass du kaputt bist. Jeder von uns muss sein Päckchen tragen, die einen mehr, die anderen weniger und ich habe einen starken Rücken“, munterte ich sie auf und legte meine Hand auf ihr Bein. Wie verängstigt zuckte Lina zusammen, aber umfasste meine Hand direkt, als sie zu mir sah.
      „Wir schaffen das zusammen“, entfachte sich plötzlich ein Feuer in mir, jenes Feuer, dass ich schon einmal bei ihr spürte. Ein kleines Feuer, aber stark genug, um es wahrzunehmen. Ich wollte ihr besseres Leben bieten kann, eins das sie verdient hatte.
      Da sie weiterhin schwieg, sprach ich weiter: „Und wie vertraut sollten den Vriska und ich sein, deiner Meinung nach? Ja, wir hegen Gemeinsamkeiten, aber nichts, das sich zwischen uns stellen würde. Ich habe das im Griff, weiß sie zu bändigen und hinter mir zu lassen. Es gibt genug Leute, die mich so ansieht, wie sie es tut. Sie bewundert mich nur. Das ist alles und ich sehe in ihr nicht mehr, als in allen anderen im Verein. Wir müssen dort an einem Strang ziehen, wenn wir Gruppensiege wollen. Dazu gehört auch, dass Vriska schnell auf das richtige Niveau kommt und dafür muss ich ihr helfen. Ich hätte sie im nächsten Jahr ungern auf der Ersatzbank, dafür reitet sie zu gut.“ Ich verstummte. Es war schon immer mein Problem, dass ich erst sprach und dann über die Worte nachdachte. Sie waren falsch gewählt und das Reiten in dem Satz auf jeden Fall eine andere Bedeutung bekam, versuchte ich im Inneren zu verdrängen.
      „Also Lina“, versuchte ich wieder auf das eigentliche Thema zu kommen, „ich habe alles im Griff. Du bist mein Mädchen und möchte niemanden an meiner Seite so sehr schätzen, wie dich.“ Gut gerettet. Erleichterter atmete ich aus und hoffte, noch die Kurve bekommen zu haben. Ihr Gesichtsausdruck vermittelte mir das. Sie lächelte zaghaft und die Wangen erröteten. Beherzt faste ich stärker nach ihrem Oberschenkel. Vor mir eröffnete sich der leere Parkplatz der Pizzeria und es stand sogar ein Schild auf ihm, dass sie erst in vier Stunden heute öffneten, also hatten wir genug Zweisamkeit.
      “Du findest einfach immer die richtigen Worte. Danke, dass ich dich an meiner Seite haben darf”, sprach sie tief aus dem Herzen und die Unsicherheit verschwand aus ihren Augen. Gab es darauf eine schlüssige Antwort darauf? Ich wusste es nicht, also schwieg ich und stieg als Erstes aus dem Fahrzeug und half ihr dabei.
      Im kleinen Imbiss wählte Lina einen Tisch ziemlich nah an der Küche, um die Zubereitung der Pizza beobachten zu können. Uns servierte der Chef, Remo, die Speisen und tat alles dafür, meine Freundin zufriedenzustellen. Mir schlug das Gespräch mit Vriska noch immer scheußlich auf den Magen. Schon der bloße Gedanke ans Essen verengte mich innerlich und Magensäure stieg mir in der Speiseröhre hinauf. Bestmöglich versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen, hörte aufmerksam jedes ihrer Worte aber schielte auf mein Handy, dass vor mir auf dem Tisch lag. Kein Zeichen von Vriska, keine einzige Nachricht. Es war stumm und genauso still wie ich, nur, dass das Gerät es sollte und ich nicht. Entschlossen griff danach und suchte nach Erik. Ich wollte nicht, dass es die beiden gibt, aber Vriska brauchte ihn, auch wenn sie es nicht eingestehen konnte. Seine Stille konnte ihre Ungeduld zeigen, oder alte Charakterzüge widerspiegeln. Von einem Fenster zum nächsten swipte ich und endete schlussendlich bei Eniro mit der Adresse in der Zwischenablage.
      > Vilken jävel!
      „So ein Bastard“, schrie deutlich lauter als ich wollte. Alle Blicke richteten sich zu mir, dann arbeiteten sie weiter.
      “Alles okay bei dir?”, fragte Lina bedacht, sah mich verwundert an. Stand es überhaupt in meiner Macht ihr zu erzählen von dem, was ich wusste, oder zumindest annahm zu wissen?
      „Bei mir? Ja, aber ich weiß nicht“, räusperte ich mich, „ob ich das so hinnehmen kann, allerdings geht es mich auch nichts an.“ Erst jetzt legte ich mein Handy zur Seite, dachte darüber nach, wie ich damit umgehen sollte und aktivierte nun doch noch die Benachrichtigung, wenn er den Ort wieder verlassen würde. Lina war sichtlich irritiert, schien diese Antwort allerdings so hinzunehmen und fragte nicht weiter nach, wechselte stattdessen das Thema.
      “Ich wollte dir noch was erzählen”, plapperte sie munter los, “und zwar, ich habe gestern ein voll cooles Pferd kennengelernt, also, nicht dass auf dem Hof nicht eine ganze Menge cooler Pferde herumständen, aber es ist ein Freiberger, genauer gesagt ein perfektes Beispiel, wie ein Urfreiberger aussehen sollte. Einheitssprache heißt er.” Sie tippe kurz auf ihrem Handy herum, bevor sie es zu mir herüberschob. Das Display zeigte den Kopf eines schwarzbraunen mit breiter Blesse, der neugierig in die Kamera blickte. Unter einem dichten, langen Schopf kamen blaue Augen zum Vorschein und die leicht ergrauten Stellen in seinem Fell ließen darauf schließen, dass er nicht mehr der Jüngste war. Kurz enttäuschte es mich, dass es immer nur zwei Themen bei uns gab: Den Beweis, dass sie mir wichtiger war als Vriska und Pferde. Aber was erwartete ich schon? Interessiert sah ich das Tier an.
      „Und was willst du mit dem? Kaufen oder was schwebt dir vor?“, brachte ich mich ins Gespräch ein.
      “Kaufen? Also ob meine Finanzen das hergeben würden”, scherzte sie trocken. “Nein, also man könnte sagen, er ist so was wie meine Reitbeteiligung”, fügte sie dann noch erklärend hinzu.
      „Brauchst du was?“, fragte ich überrascht, suchte meine Hose ab, bis ich den Bund fand und zu begann zählen.
      “Nein, stopp, du kannst mir doch nicht ständig Pferde kaufen, das ist doch viel zu teuer!”, protestierte Lina, “Außerdem steht er auch erst ab nächstes Jahr zum Verkauf.” Verwundert sah ich an ihr hoch.
      „Warum sollte ich dir das Pferd kaufen? Ich dachte einfach … so? Damit du etwas normal leben kannst, aber gut dann nicht“, lachte ich und orangen sowie roten Scheine zurück, „das da draußen ist schließlich auch von einem Monat Taschengeld.“
      “Danke, aber ich denke, kann mir mein Geld zum Leben hervorragend selbst verdienen, bin immerhin noch nicht verhungert”, entgegnete sie kurz angebunden bevor sie weitersprach. “Wenn das nur einen Monat Taschengeld ist, hast du eindeutig zu viel Geld”, lachte sie kopfschüttelnd.
      „Will ja keiner“, zuckte ich mit den Schultern. Bevor Lina noch etwas sagen konnte, wurde ihre Pizza gebracht, ganz klassisch belegt mit Mozzarella, Tomaten und ein wenig Rucola. Widerlich das grüne Zeug, aber zum Glück kam auch direkt mein Pizzabrot. Teig, der nur mit Kräuterbutter und Käse in den Ofen kam und nun einen Aioli-Datteldip getunkt wird, dazu einen Tomatensalat.
      „Perfekt, so muss Pizza sein“, teile Lina äußerst zufrieden mit als sie das erste Stück nahm und betrachte wie der Käse lange Fäden zog. Ich nickte bloß lächelnd und betrachtete mein eher karges Mahl, bis sich mein Handy äußerst dafür einsetzte, meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Je länger ich versuchte es zu ignorieren, umso hartnäckiger wurde es, als würde ein kleines Gespenst in ihm sitzen. Wer auch immer sein würde, musste noch eine Weile meinen Entzug erleiden.
      Später verstummte es und fertig gegessen, hatten wir auch. Somit konnte ich ihr endlich etwas zeigen, das mir schon einfiel, als Lina mir den Freiberger präsentierte. Wir hatten auch Stute bei uns, die ihm sogar ziemlich ähnlichsah.
      „Guck mal“, sagte ich, nachdem ich die Millionen Benachrichtigungen durch das X allesamt entfernt hatte, aber noch wahrnahm, dass Erik den Standort verließ. Auf dem Bild saß ich auf der Rappstute im Trab in unserer Reithalle. An den Wänden hingen Luftballons und einer der Kollegen hielt zwei Bengali. Wenn man zur Seite wischte, waren weitere Bilder von Redo von dem Training in Malmö.
      “Wow, dieses Pferdchen muss echt starke Nerven haben, ich kenne Ponys, die bekommen schon bei einem Ballon einen Herzinfarkt”, lachte sie, “aber bei einem Polizeipferd ist das natürlich zu erwarten. Und es läuft so schön unter dir. Wenn ich mich nicht täusche, ist das hübsche Tierchen ein Freiberger, oder?”
      “Ja, das ist unsere Anfängerstute aus der Schweiz und sucht einen neuen Möhrengeber, da ihre Dienstzeit vorbei ist“, erklärte ich, „möchtest du sie kennenlernen?“
      “Ich glaube, du kennst die Antwort schon, zu der Chance ein Freiberger kennenzulernen kann ich einfach nicht Nein sagen”, lächelte Lina, ihre Augen glitzerten vergnügt.
      „Na dann los“, stand ich überzeugt auf, richtete meine Hose und legte, vermutlich viel zu viele, Scheine auf den Tresen. Lina ließ sich noch die letzten Stücke einpacken und folgte zum Auto.

      Lina
      Nach knappen zwanzig Minuten tauchte ein Industriegebiet vor uns auf, wäre ich allein hierhergefahren, hätte ich umgedreht. Wirklich auffällig wirkte das alles nicht, erst als zur linken Seite plötzlich ein Kampfpanzer auftauchte und Niklas freundlich die Hand hob, sah ich mich genauer um. Ringsum standen Hallen aus Metall und am Ende der Straße, ja wirklich, sie endete einfach, erhob sich ein Backsteinhaus. Langsam fuhr Niklas an dem Gebäude entlang und dahinter erstreckten sich weitere Backsteingebäude, ein riesiger Reitplatz und Paddock. Interessiert nahm ich alles in Augenschein. Das hier war das komplette Gegenteil vom LDS, eher funktional und schlicht.
      “Hier arbeitest du also? Ganz schön riesig”, staunte ich, während Niklas parkte.
      „Für gewöhnlich bin ich nur Dekoration“, lachte er, „aber ja, hier verbringe einige Stunden am Tag.“
      “Hübsch aussehen und dann noch dafür bezahlt werden, du hast dir vielleicht einen einfachen Job gesucht”, sagte ich neckisch zu ihm, bevor ich die Tür des Wagens öffnete, um hinauszuhüpfen, neugierig auf die Stute, aber auch den Arbeitsplatz meines Freundes ein wenig kennenzulernen.
      „Ach das hätte noch leichter funktioniert, wenn ich bei Papa in den Vorstand gegangen wäre“, merkte er scherzhaft an, „aber was soll ich mit Stahl.“ Dann liefen wir durch eine ziemlich kleine und enge Tür, die uns den Weg zu den Pferden eröffnete. Schon bei dem Klappern des Schlüssels ertönte ein hektisches Wiehern aus dem Inneren und als Niklas zuerst das Gebäude betrat, musste er direkt einen Fuchs mit Blesse beruhigen, der aufgeregt in der Box hüpfte.
      „Irgendwie sind alle verrückt, wenn sie mich sehen“, lachte Niklas und strich seinem Partner über den Kopf. Der Fuchs schnaubte sanft ab und wir folgen der Gasse, bis zum Ende. Von rechts blickte mich der kräftige Kopf der Rappstute an. Ich streckte ihr meine Hand entgegen, die sie mit weit geblähten Nüstern beschnupperte.
      „Hallo du Hübsche”, raunte ich der Stute zu, strich ihr über den kräftigen, dunklen Hals. Neugierig inspizierte sie mich, offenbar auf der Suche nach etwas Essbarem. Das war eine der Eigenschaften, die alle Fribys gemeinsam zu haben schienen, sie sind alle furchtbar verfressen. Doch in diese Hinsicht musste ich die Stute enttäuschen, ich hatte keinen Leckerbissen dabei.
      „Wie heißt sie eigentlich?“, fragte ich Nik. Lässig lehnte er an der hölzernen Boxenfront und tippte dann auf das schwarze Schild über einer Abschwitzdecke.
      „Ready for Life, oder einfach Redo“, lächelte er.
      „Das scheint mir ein passender Name zu sein, sie sieht aufgeweckt aus“, stellte ich nach kurzer Betrachtung des Pferdes fest. Redo hatte die Futtersuche mittlerweile aufgegeben, mümmelte stattdessen an ihrem Heu.
      Niklas nickte. Wissbegierig wand ich mich wieder zu der Stute, versuchte sie mit sanfter Stimme hervorzulocken, doch es kam keine Reaktion, nicht einmal die Ohren der Stute bewegten sich in meine Richtung. Erst als sie zufällig den Kopf hob und ich wieder in ihrem Blickfeld war, stellte sie ihre Ohren freundlich auf und streckte ihren Kopf erneut heraus, noch ein paar Halme Heu in der Schnauze. Für einen Moment verschwand mein Freund und ließ mich allein mit der gelangweilten Stute. Noch immer lag ihr einziges Augenmerk auf das verbleibende Heu zwischen den Sägespänen.
      “Hier”, drückte Niklas mir einen Helm in die Hand und stellte neben der Box einen Putzkasten ab.
      “Sattelzeug hole ich gleich, muss noch mal zu Latte, bevor der die Box zerstört”, fügte er noch hinzu und drehte sich um, denn der Fuchs stand am Anfang des Ganges und wieherte ziemlich laut. Immer wieder schlug es laut gegen das Holz, bis es endlich verstummte.
      Reiten? Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Abwägen warf ich einen Blick an mir herunter. Das kurze Kleid war nicht unbedingt das beste Outfit um sich auf ein Pferd zu setzten, aber solang die Stute nicht beschloss irgendwelchen Unfug zu machen, würde das schon gehen. Ich griff nach dem Halfter, welches vor der Box hing. An dem braunen Lederhalfter war eine Plakette angebracht, in die das Wort Polisrytteriet graviert war. Als ich die Boxentür aufschob, nahm die Stute keine Notiz von mir, auch nicht als ich sie leise ansprach. Erst als ich ein paar Schritte auf sie zu machte fuhr ihr Kopf hoch und sie starrte mich mit weit geöffneten Augen an. Das Verhalten der Stute kam mir ein wenig seltsam vor, hätte sie mich doch schon lange hören müssen. Beruhigend strich ich Redo über den Hals, bevor ich ihr das Halfter überstreifte und sie auf der Stallgasse anband. Neugierig streckte ihr Boxennachbar den Kopf aus der Box, um zu kontrollieren, ob etwas Spannendes passierte. Kurz schnupperte das Pferd an der Bürste in meiner Hand, bevor es sich wieder in seine Box zurückzog. Mit kreisenden Bewegungen begann ich den Körper der Stute zu striegeln. Sonderlich viel Dreck kam nicht aus ihrem dunklen Fell, dafür jede Menge Haare, ein sicheres Zeichen, dass es bald richtig kalt werden würde. Samu hatte bei seinem Besuch am Montag erzählt, dass es auf dem Whitehorse Creek bereits die ersten Schneeflocken des Jahres gegeben hatte. Allerdings war es noch nicht kalt genug, als dass der Schnee liegen blieb. Es war nur wenig verwunderlich, dass es dort bereits schneite. Soweit oben in den Bergen wie das WHC lag, wurden die Nächte schnell frostig kalt, was auch das Wetter umschlagen ließ. Der Gedanke daran ließ mich ein klein wenig wehmütig werden, gerne würde ich Ivys “ersten” Schnee miterleben und sehen wie er darauf reagiert, wenn plötzlich alles weiß ist. Doch leider würde der Schnee schneller in Kanada einziehen, als mein Zauberpony wieder an meiner Seite sein würde.
      Vorsichtig stupste Redo mich an. In Gedankenversunken hatte ich wohl aufgehört zu putzen und die Stute schien sich zu wundern, warum ich denn noch vor ihr herumstand.
      “Du hast ja recht Süße, ich sollte mich lieber weiter mit dir beschäftigen”, seufzte ich leise, strich ihr über die breite Stirn, bevor ich die Bürste weglegte und gegen den Hufkratzer tauschte.
      „Immer noch nicht fertig?“, scherzte Niklas. Beim Laufen klapperten seine Schuhe, die er offenbar in der Zwischenzeit gewechselt hatte. Sie passten nicht wirklich zu seiner engen schwarzen Hose und der kombinierten Jeansjacke, die am Kragen Lammfell aufwies und dennoch sah er noch unverschämt gut aus.
      “Nein, noch nicht ganz, aber hab’s gleich”, gab ich zu Antwort und hob das Bein der Stute auf. Redo benahm sich ziemlich brav und hielt ihren Huf sogar selbst nach oben, nicht so wie viele Pferde, die ihr Bein einfach hängen ließen oder sich gar auf einen hängten, als würden sie gleich umfallen.
      „Gut“, hielt er sich kurz, verschwand und tauchte mit einem Dressursattel wieder auf, sowie einer dunkelblauen Schabracke, die mit dem Logo der Polizei bestickt war. An ihrer Trense hing eine kleine goldene Krone und alle wichtigen Stellen, wie Genick und Nasenbein waren mit Lammfellschonern umwickelt. Ich übernahm das Satteln und Niklas befestigte an den Beinen Gamaschen und Glocken. Auch hierbei benahm die Stute sich außerordentlich vorbildlich, sodass sie wenig später reitfertig war.
      “Wo lang?”, fragte ich Niklas erwartungsvoll, während ich mir den Helm auf dem Kopf setzte. Das Pferd neben mir kaute entspannt auf dem Gebiss herum, schien nur auf das Kommando loszugehen zu warten. Mit einer Handbewegung vermittelte er uns zu folgen. Der Weg führte uns durch eine große rot gestrichene Holztür, quer über den Hof, auf dem schon die Lampen leuchteten in Richtung eines weiteren Gebäudes, das genauso aussah wie der Stall von außen. Das Tor knarrte sehr laut beim Öffnen und vor mir öffnete sich eine riesige Halle, die wohl keine Turniermaße hatte, aber wie gewohnt gab eine Tribüne und sogar eine gläserne Galerie. Aus der Ferne erkannt ich, dass dort neben Malereien von Pferden, auch Bilder hingen sowie Banderolen. Das Licht benötigte einige Minuten, bevor es seine vollständige Leuchtkraft erreichte und in der Zeit erzählte mir Niklas einiges mehr über die Rappstute. So wurde sie ursprünglich als Polizeipferd in der Schweiz ausgebildet, wer hätte das nur vermuten können. Nach einigen Jahren Dienstzeit in Deutschland und Dänemark kam sie irgendwann nach Schweden, wo sie nun für kleinere Veranstaltungen eingesetzt wurde und vor allem für Anfänger im Reittraining diente. Redo hatte ihre besten Jahre in den Diensten des Staates erreicht und wollte nun eine Karriere als furchtloses Freizeitpferd beginnen. Aus dem Kollegium konnte sie niemand aufnehmen, da die meisten, wie auch Niklas, bereits eigene Pferde besaßen.
      Zugegeben, so wie ich die Stute bisher kennengelernt hatte, war die Versuchung groß, sie einfach direkt einzupacken und mit nach Hause zu nehmen. Man würde vermutlich nicht viele Exemplare der Schweizer Pferderasse in Schweden finden und das ruhige Gemüt der Stute sagte mir durchaus zu. Aber so viel Verstand besaß ich gerade noch, dass ich wusste, dass die Entscheidung sich ein Pferd zuzulegen nicht innerhalb von wenigen Minuten getroffen werden sollte. Gerade dann, wenn es bereits das Zweite innerhalb eines Zeitraumes von knapp einem Monat sein sollte, schließen hing so eine Entscheidung an ein paar mehr Faktoren, als nur an der Sympathie für das Tier.
      Ich führte Redo erst einmal ein paar Runden, so konnte ich mich schon einmal ein wenig auf das Pferd einstellen, bevor ich mich in den Sattel schwang. Die Stute hatte einen ziemlich flotten Schritt, der schon fast ein wenig zockelig wirkte wie bei einem Pony. Ansonsten war der Freiberger weiterhin tiefenentspannt und achtet gut auf mich und meiner Körpersprache.
      Nach gut zehn Minuten beschloss ich, dass ich genug zu Fuß unterwegs gewesen war und parkte Redo neben Niklas in der Hallenmitte, um nach zu gurten und die Steigbügel korrekt einzustellen. Die Stute war ungefähr so groß wie Divine, ich würde also knapp hinaufkommen, aber eher beschwerlich.
      “Magst du mir bitte hinaufhelfen?”, bat ich meinen Freund, der am Kopf der Stute stand.
      “Natürlich mein Schatz”, lachte er. Dann lief er mit wenigen Schritten zur Seite und hielt mir im Bügel gegen.
      “Vielen Dank”, lächelte ich und schwang mich in den Sattel der Stute. Es fühlte sich ein wenig ungewohnt an, denn die Stute war ein wenig schmaler, als zum Beispiel Divine oder auch Holy, aber sie war auch nicht ganz so schmal wie die Traber. Sanft drückte ich meine Schenkel gegen den Bauch der Stute. In einem flotten Tempo tippelte die Stute voran, was sich schon nach wenigen Metern als recht unbequem herausstellte oder zumindest war es ziemlich gewöhnungsbedürftig. Während des Aufwärmens fragte ich ein paar Basics ab, die die Stute alle einwandfrei beherrschte. Entgegen meiner Erwartung war Redos Trab relativ bequem, einzig die rutschige Strumpfhose erschwerte das ganze Etwas, weshalb ich lieber leicht trabte, auch um den Rücken der Stute zu schonen. Die gute Ausbildung war der Schwarze anzumerken, denn sie ließ sich gut stellen und lief in hervorragender Selbsthaltung.
      Das erste Angaloppieren war ein wenig holprig, was aber vermutlich eher an mir lag, der Galopp war schon immer meine Schwachstelle. Meistens dachte ich zu viel, was zum Ergebnis hatte, dass ich mich versteifte. Ich parierte die Stute durch, versuchte mich erst einmal wieder ein wenig zu entspannen, was mir unter Niklas Blick nur mäßig gelang. Es war nicht so wie sonst, dass ich mich zunehmend unwohler fühlte, wenn mich jemand bei der Arbeit mit den Pferden beobachtete. Nein, viel mehr wurde ich ganz kribbelig, wenn ich daran dachte, dass seine Aufmerksamkeit ganz allein mir galt. Dies spiegelte sich nun auch im Verhalten der Stute. Ihre bisher recht ruhigen Schritte wurden kürzer und sie wurde schneller, so konnte das nichts werden. Ich hielt Redo an, konzentrierte mich für einen Moment nur auf meine Atmung, wie die Luft in meine Lunge ein und ausströmte. Mit jedem Atemzug wurde ich ein wenig lockerer und fokussierter.
      Noch bevor ich wieder zu verkopft an die Sache herangehen konnte, galoppierte ich aus dem Stand heraus an. Es war zwar immer noch verbesserungswürdig, aber schon deutlich geschmeidiger als beim vorherigen Versuch. Ich ließ sie an der langen Seite ein wenig zulegen, ihre Galoppsprünge wurden länger und größer, aber es kostete mich einiges an Kraft, dass sie diese auch sauber durchsprang.
      Lächelnd lobte ich die Stute, als ich sie durch parierte, nachdem ich das Können der Stute ausreichend erprobt hatte. Die Stute machte Spaß, auch wenn ihr Schritt, in dem sie nun unter mir hertrotte, immer noch seltsam war.
      “So wie du schaust, schwebst du auf Wolke sieben”, lachte Niklas hatte sich neben uns positioniert. Redo kaute mit gesenktem Kopf zufrieden auf dem Gebiss, die Ohren wippten locker im Takt ihrer Schritte.
      “Ich fühle mich auch, als würde ich schweben”, antwortete ich entzückt, “Redo ist großartig.”
      “Also, gekauft?”, lachte er, als wäre es so einfach ein Pferd zu halten und vor allem zuzahlen. Wenn ich aber an seine Worte vor dem Restaurant zurückdachte, dann konnte Niklas das gar nicht nachempfinden, wie man sich dabei fühlte. Platz wäre sicher auf dem LDS, sofern Tyrell nichts dagegen hatte, aber schon ein Pferd strapazierte mein Konto genug, gerade da Divine derzeit noch teuren Spezialbeschlag und Zusatzfutter benötigte.
      “Wenn es denn nur so einfach wäre”, murmelte ich und senkte gedrückt den Blick zum Mähnenkamm der Stute.
      “Mein Angebot steht noch”, wedelte Niklas schon wieder mit den Scheinen herum, die er aus seiner hinteren Hosentasche. Warum lief er überhaupt mit so viel Geld in der Tasche herum, war er eigentlich komplett irre oder hatte er öfters vor spontane Pferdekäufe zu tätigen? So gern ich sein Angebot auch annehmen wollte, haderte ich damit. Nicht dass ich es mir wünschte, aber was wäre denn, wenn wir uns trennen würden, ich könnte das Pferd doch nur schwer wieder hergeben.
      “Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, aber was ist denn, wenn sich unsere Wege irgendwann wieder trennen sollten? Allein könnte ich zwei Pferde doch gar nicht finanzieren”, äußerte ich meine Bedenken.
      “Du weißt schon, dass der Staat die Kosten für Redo für zehn Jahre übernehmen wird und du nur ihre Versicherung und so Sachen wie Equipment zahlen musst? Natürlich auch einem Ablösebetrag, aber sonst wird es von Steuern gezahlt”, erklärte er, “aber wenn du nicht willst, alles gut.”
      “Nein, nein, sie ist wundervoll, gern würde ich ihr ein neues Zuhause geben”, lächelte ich wieder hochgemut, “aber das hättest du ruhig ein wenig früher erwähnen können.”
      “Okay, dann werde ich das klären”, grinste er und schien sehr erleichtert zu sein. Nochmal strich er über ihren Hals, entschuldigte sich für einen Augenblick und verschwand vom Sand. Glücklich lehnte ich mich nach vorn und umschlang ihren kräftigen Hals. Automatisch hob sie den Hals ein Stück, lief aber brav weiter voran.
      “Hörst du Süße, bald darfst du in ein neues Zuhause”, raunte ich ihr zu, “hoffentlich wird Ivy nicht allzu eifersüchtig, bei so hübscher Konkurrenz.” Die Rappstute schnaubte, aber ihre Ohren blieben unbewegt, was mich noch immer ein wenig irritierte. Normalerweise reagierten die Pferde zumindest mit einem leichten drehen der Ohren, nur dieses offensichtlich nicht. Ich richtete mich im Sattel wieder auf, ließ Redo locker am langen Zügel laufen und betrachtete uns in dem großen Spiegel an der kurzen Seite, auf den wir gerade zuritten. Mein eigenes Gesicht strahlte mir aus dem Glas entgegen, eingerahmt von den dunklen Haaren, die mir ausnahmsweise offen über die Schultern fielen. Gleichmäßig folgte mein Körper den Bewegungen, den die dunkle Gestalt des Freiberges vorgab, ihr Kopf gerade so hoch, dass man ihn noch über der Bande auf und ab wippen sah. Die unregelmäßige Blesse schlängelte sich hell schimmernd von ihrer Stirn bis hinunter zu den samtweichen Nüstern. Gerne hätte ich diesen Moment festgehalten, doch mein Handy lag mangels Taschen noch im Auto, also musste wohl meine Erinnerung ausreichen.
      Es fühlte sich so unreell an, vor fast einem Monat schien der Traum meiner Kindheit noch so ungreifbar weit weg, wie die Sterne. Und jetzt? Jetzt war dieser Traum gleich doppelt in Erfüllung gegangen, mit Tieren, die so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht. Zumindest optisch, charakterlich würde sich das wohl noch zeigen.
      Redo hatte wohl allmählich genug davon im Kreis herumzulaufen, denn sie wurde zunehmend langsamer und fragte, ob sie aufmarschieren durfte. Ich ließ der Stute ihren Willen und wendete sie ab, wo sie schon ganz von selbst auf der Mittellinie stehen blieb. Lobend strich ich über den samtigen Hals der Stute. Sabber flog durch die Luft, als sie entspannt den Kopf schüttelte und schnaubte.
      „Also, sie wird noch bis Ende des Monats im Dienst sein, aber dann wird sie vorbeigebracht“, kam Niklas ziemlich spät wieder. In der Zeit hatte ich den Sattel bereits in der Stallgasse entfernt und ihr die Decke von der Boxenfront befestigt.
      “Perfekt, ich freu mich schon”, strahlte ich ihn an und führte Redo wieder in ihre Box. Bevor ich die Tür zu zog, strich über die breite Stirn und raunte ihr noch ein paar liebe Worte zu. Auch jetzt wieder war keine wirkliche Reaktion auf meine Stimme zu bemerken.
      “Hört sie nicht so gut oder warum reagiert sie kaum auf Geräusche?”, fragte ich Niklas, denn so langsam dämmerte mir, dass es vermutlich einen physischen Grund für ihr Verhalten gab. Auf jegliche andere Art der Kommunikation reagierte sie nämlich mehr als gut.
      „Vor ungefähr drei Jahren bekam sie bei einer Eskalation nach einem Fußballspiel mehrere Blendgranaten ab, da half leider nicht einmal die Watte in den Ohren. Seitdem“, Niklas überlegte kurz, „seitdem hört sie nicht mehr so gut.“
      “Oh, armes Pony”, kommentierte ich mitfühlend. “Aber sie scheint ja erstaunlich gut damit zurechtzukommen, es wäre mir beinahe nicht aufgefallen”, fügte ich noch schmunzelnd hinzu.
      “Ja, es war auch kein vollständiger Verlust, aber sie ignoriert auch mal”, lachte er noch und drückte mit seinem Finger auf die Oberlippe. Neugierig spitze Redo die Ohren und begann zu flehmen.
      “Aww, niedlich. Ignorant, aber offenbar gelehrig”, grinste ich entzückt. Ich liebe es, wenn Pferde solche Kleinigkeiten konnten und umso mehr Spaß daran hatte ich daran, den Tieren so etwas beizubringen. Nicht, weil diese Tricks irgendwie nützlich sein, nein sie waren einfach nur drollig.
      “Du wirst sehen, da ist noch mehr, womit du deinen Spaß haben kannst”, fügte er hinzu, sah zum x-ten Mal auf seine Uhr an der linken Hand.
      “Wir müssen langsam los”, begann Niklas endlich sein passiv aggressives Erinnern an die Uhrzeit zu begründen, “ich habe noch ein Date. Mit dem Schießstand und einigen Hirschen.”
      “Ein Date also? Dann hoffe ich mal, dass die Hirsche mir nicht allzu große Konkurrenz machen”, scherzte ich, strich der Stute noch ein letztes Mal über die weichen Nüstern und folgte meinem Freund aus dem Stall.
      “Du hast Puls, die demnächst nicht mehr”, zuckte er mit den Schultern. Hinter uns schloss er die massive Tür und öffnete das Auto für mich, dass ich nicht weiter in der Kälte stehen musste. Niklas hatte sich seinen Pullover nicht mehr übergezogen, sondern stand luftig obenrum bekleidet im Wind. Nicht ein Härchen stellte sich bei ihm auf. Wie konnte er nicht frieren bei dieser Kälte?
      “Wie kannst du einfach so dastehen? Mir wird schon nur bei deinem Anblick kalt”, sagte ich kopfschüttelnd. Tatsächlich überkam mich ein Schauer, als ein Windstoß über meine Haut jagte, der durch die geöffnete Tür in das Innere des Wagens drang.
      “Sehr romantisch von dir”, lachte er, “für gewöhnlich bin ich heiß.”
      So viel Selbstvertrauen hätte ich auch gerne, wie Niklas es teilweise an den Tag legte. Tage, an denen ich mich gegenüber Fremden nicht gleich in Luft auflösen wollte, waren für mich schon die guten Tage.
      “Diese These sollte augenblicklich überprüft werden”, neckte ich ihn ein wenig und hüpfte wieder aus dem Auto, drückte mich ganz dicht an ihn ran. Tatsächlich strahlte seine Haut eine unglaubliche Hitze aus, als sein Niklas ein wandelnder Saunaofen. Sanft steig mir sein sinnlicher Geruch in die Nase. Ich ließ meine kühlen Finger über seine Brust wandern, sogar durch den dünnen Stoff seines Shirts spürte ich den deutlichen Temperaturunterschied.
      “Ich würde sagen”, unaufhörlich wandert meine Finger weiter, ”stimmt eindeutig.” Intensiv blicke ich ihn in die Augen. In dem schummrigen Licht schien, das blau darin nahezu gänzlich von dem sanften braun geschluckt zu werden, ganz so wie die Geräusche um uns herum. Warm lagen seine kräftigen Hände an meiner Taille, zogen mich näher an ihn heran.
      Meine Finger fanden von ganz allein ihren Platz an seinem Hals und nur einen Wimpernschlag später, lagen meine Lippen auf seinen. Niklas' Wärme schien auf mich überzugehen, ließ mich von innen heraus erglühen und jagte Wellen von Begierde durch meinen Körper. Wie aus dem Nichts schossen mir plötzlich Szenen aus meiner Vergangenheit durch den Kopf und die Alarmglocken in meinem Kopf begannen zu schrillen. Nein, Stopp! Das würde mir nicht diesen Tag vermiesen, nicht diesem Moment, dafür war er zu wertvoll. Mit all meiner Willenskraft drängte ich diese Dinge wieder zurück in die dunkle Ecke, in der sie jahrelang gelauert hatten. In der festen Überzeugung diesen Dämon nur allein bekämpfen zu können, beschloss ich mir nicht anmerken zu lassen, was sich innerhalb von Sekunden in meinem Kopf abspielte und ließ die Glückshormone wieder die Kontrolle übernehmen.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 78.656 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte September 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel nio | 9. Dezember 2021

      Vrindr // Lubumbashi // Form Follows Function LDS // Erlkönig // Alfred’s Nobelpreis // Satz des Pythagoras // Vintage // Forbidden Fruit LDS

      Vriska
      Lubi mümmelte genüsslich ihr Heu, wie alle anderen Pferde auch. Ansonsten war es still im Stall. Trymr lag neben mir auf dem Boden und beobachtete jeden meiner Schritte, während ich der Stute die Decke wechselte und die Transportgamaschen anlegte. Immer wieder sah ich auf mein Handy, hoffte, dass Niklas endlich da sein würde. Erik hatte sich noch immer nicht gemeldet, als hätte es uns nie gegeben, als würde sein haariger Freund nur ein lästiges Anhängsel sein, den er bei irgendjemanden abladen musste. Den ganzen Tag über lief der Hund mit den gespitzten Ohren vor die Tür, vermutlich in der Hoffnung, dass sein Herrchen wieder kommen würde, aber die Enttäuschung war groß, wenn nur einer der Einsteller kam oder Eltern ihre Kinder zum Unterricht vorbeibrachten. Bruce hatte heute bereits zwei seiner Pferde mit in den Reitunterricht eingebaut und alles wirkte so unglaublich vertraut, wie vor drei Jahren. Vor drei Jahren, als ich die Familie kennenlernte und auch mein Herz verlor auf dem Rücken der Tiere. Ich hatte mir Vrindr geschnappt, eine junge und äußerst sture Jungstute aus seiner Zucht. Auf der Ovalbahn drehten wir unsere Runden.
      „Da bist du“, unterbrach Niklas meine innerliche Tageszusammenfassung.
      „Wo dachtest du, sollte ich sein?“, fragte ich, „im Bett wartend auf dich, um von meinem Ritter mit geschwellter Brust gerettet zu werden?“
      Ich lachte.
      „Das wäre mal gewesen!“, grinste auch er, „aber nein, ich dachte schon draußen. Also beeil dich.“
      „Ja, ja. Ich komme schon“, sagte ich, griff nach dem Strick und öffnete die Tür der Box.
      Neugierig erhob sich der Kopf der großen Stute und ihre dunklen Augen funkelten mich erwartungsvoll an. Freundlich strich ich ihr über den Kopf. Dann hängte ich den Strick in den unteren Ring und führte sie hinaus. Hinter mir schaltete ich das Licht aus.
      „Muss der Hund wirklich mit?“, fragte mich Niklas, als Lubi selbstständig die Hängerklappe hinaufstieg und er auf der Fahrerseite einsteigen wollte. Auch mir war nicht ganz wohl bei der Sache, aber offensichtlich ging ich nun unter die Hundebesitzer.
      „Natürlich“, antwortete ich trocken. Dann öffnete ich eine der hinteren Türen, damit er es sich auf der Rückbank bequem machen konnte. Innerhalb von Sekunden verteilten sich kleine graue Haare auf die Rückbank. Ich verstand nun auch, warum Erik so einen Überzog hatte. Vielleicht sollte ich das auch noch kaufen gehen.
      „Warum hast du denn noch?“, kam Niklas auf das Thema über Trymr zurück, während ich noch immer verträumt in seine Richtung sah.
      „Weil“, überlegte ich laut, „ich denke, dass ich mich sonst ziemlich einsam fühlen würde.“
      Verblüfft sah Niklas zu mir, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und auf seiner Stirn bildeten sich exakt zwei Falten. Falten, die er von seinem Vater hatte. Falten, die Erik ebenfalls hatte. Ich vermisste ihn.
      „Warum fühlst du dich so?“, zögerte er zu fragen. Zwischen den Worten lagen Pausen. Aber ich wusste es nicht.
      „Es ist einfach so ein Gefühl“, blickte ich zum Fenster heraus, an dem die Lichter vorbeizogen. Wie so oft wurden meine Augen glasig, doch schaffte es, meine Tränen zu verbergen. Ich stellte auch mir selbst jeden Abend im Bett diese Frage, aber es gab keine logische Erklärung. Erst als ich Erik bei mir spürte, auch wenn Fredna stets zwischen uns lag, wusste ich, dass es richtig war. Doch es gab auch Zweifel, die vorrangig in dem Moment neben mir saßen und den Kopf verdrehten. Erik gegenüber fühlte es sich nicht fair an, so zu tun, als wäre da nichts. Ich hätte mit ihm darüber sprechen können, denn er bot von selbst öfter an, endlich die Katze aus dem Sack zu lassen. Aber ich drückte mich davor, denn sobald die Worte ausgesprochen waren, wurden sie real. So wusste ich aber auch, dass es ihm, aus unerklärlichen Gründen, egal war. Ob egal dafür das richtige Wort war? Keine Ahnung, auf jeden Fall würde es kein Problem für ihn darstellen. Für mich sollte es aber klar in meinem Kopf ablaufen, bevor ich mich jemanden vollends nähren konnte. Erik war der Richtige — nur zum falschen Zeitpunkt.
      „Vriska, hast du mir überhaupt zugehört?“, vernahm ich Niklas Worte. Der Motor war verstummt und vor mir leuchteten die Lampen vom Hof in Kalmar.
      „Nein“, gab ich zu, „ich war in Gedanken verloren.“
      „Dann hoffe ich, dass du gleich aufmerksamer bist“, rollte er mit den Augen und stieg aus dem großen Auto. Niklas wirkte plötzlich wieder so distanziert, verärgert. Zu gern würde ich mich erinnern können, was er sagte, aber in meinem Kopf herrschte stille. Ich entschied die Stute am Hänger fertig zu machen und holte sie heraus. Er stand noch einen Moment neben mir und tätschelte tatsächlich den strohigen Kopf des Hundes, den er zuvor von der Rückbank holte. Beide beobachteten jeden meiner Schritte, bis Niklas sich verabschiedete, um Form fertig zu machen.
      „Herr Olofsson?“, verließ es unwiederbringlich meine Lippen. Überzeugt drehte er sich um und blieb stehen. Seine Augen funkelte im Licht der Wegbeleuchtung und bis auf uns, war niemand zu sehen. Unüberlegt trabte ich zu ihm und legte meine Arme um seinen Hals. Alles, was dann passierte, kam aus den Tiefen meines Inneren. Erst rückte ich meine Lippen auf seine, bevor meine Hand langsam den Gürtel seiner Hose öffnete.
      „Vriska, das geht nicht“, flüsterte er mir betörend ins Ohr. Sein lautes Atmen verstummte, als ich die warme Hand sein Gemächt hielt.
      „Soll ich aufhören?“, sprach ich leise und begann seinen Hals zu küssen. Meine Augen hielt ich geschlossen, fühlte eine wohlige Wärme in mir. Es fühlte sich gut an einmal die Kontrolle zu haben. Kontrolle darüber, was ich wollte, was ich fühlte und was ich begehrte.
      „Nein, eigentlich nicht“, noch immer kam die Worte nur zaghaft aus seinem Mund und drückte seine Hände fest an meinen Po, während meine sich weiterhin von oben nach unten bewegte.
      „Aber man erwartet uns schon. Später?“, schlug Niklas dann vor und griff nach meinem Am.
      „Mal schauen, aber ich denke nicht. Hat mir schon gereicht“, schmunzelte ich und wischte meine Hände ab der Hose ab. Wie ein begossener Pudel blickte er an mir herunter, stand angewurzelt an der Stelle und begriff nicht so recht, dass ich Lubi satteln wollte. Ich warf ihm noch einen Luftkuss zu, dann drehte er sich um und lief kopfschüttelnd in den Stall. Gewonnen.
      Die Stute schloss langsam ihre Augen und schnaubte mehrfach ab, als ich die Bandagen an ihren Beinen befestigte. Den halben Tag lang übte ich das zusammen mit Bruce. Ich war natürlich noch nicht ansatzweise so schnell wie die anderen, aber immerhin stimmte nun das Ergebnis.
      „Kandare heute“, kam Chris zu mir gelaufen, der vermutlich von Nik erfuhr, dass ich auf dem Parkplatz stand. Zum Glück hatte ich sie eingepackt. Ich öffnete die knarrende Tür des Hängers, nahm das Zaum und hängte das andere zurück. Am Halfter führte ich Lubi zur Halle, gefolgt von Chris mit seinem Wallach.
      „Du machst Erik krank vor Sorge, weißt du das?“, sagte er aus dem Dunst heraus. Trymr spitze seine Ohren und drehte sich um, als suche er nach ihm. Aber natürlich war er nicht da und der Hund folgte mir weiter. Ich zuckte mit den Schultern und blieb stumm.
      „Vriska, was ist dein Problem?“, wurde er ernster.
      „Ich bin das Problem“, antwortete ich wenig überrascht und trieb die Stute etwas aktiver.
      „Na immerhin hast du das erkannt“, lachte er, „dann muss das mit Niklas auch enden.“
      „Aha“, versuchte ich meine Abneigung dem gegenüber zu überspielen.
      „Ich habe euch gesehen, deswegen sage ich das. Wenn er dir so wichtig ist, dann stell dich nicht zwischen seine Beziehung“, mahnte er.
      „Er will es auch“, zuckte ich mit den Schultern.
      „Ja, aber er kann nicht nein sagen. Deswegen musst du stark sein“, setzte er unbehelligt fort, „deine Probleme sind klein im Vergleich zu seinen.“
      Ach so ist das also, regte ich mich innerlich auf. Ich wusste nicht, dass man Probleme miteinander vergleichen konnte, um zu beurteilen, welche größer waren.
      „Und das schließt du woraus?“, erkundigte ich mich.
      Chris seufzte.
      „Ich weiß es einfach. Aber: wenn du ihm eine gute Freundin sein willst, dann stelle dich zurück und konzentriere dich auf das, was du haben kannst“, bar er mich erneut. Abstreiten, dass er recht hatte, konnte ich nicht. Seine Einwände waren berechtigt und vermutlich war es auch das, was ich hören musste.
      „Warum sagst du mir so was überhaupt?“, fragte ich im Moment der Stille, bevor wir den Flur zur Halle betrachteten. Chris blieb stehen und sah mir tief in Augen.
      „Ganz einfach“, begann er und atmete noch einmal tief durch, „es nervt unheimlich zwischen den Fronten zu stehen. Du hetzt die beiden immer mehr aufeinander auf und siehst es nicht einmal.“
      Das traf mich nachhaltig. Direkt entfloh ich dem Blickkontakt und setzte die Stute wieder in Bewegung, doch Chris stellte sich uns in den Weg.
      „Bitte Vriska, wenn dir beide so wichtig sind, wie du augenscheinlich zeigst, dann entscheide dich für Erik. Du kennst ihn nicht. Deswegen kann ich dir nur sagen, dass er sich noch nie so ins Zeug gelegt hat, auch wenn er Fehler macht“, plötzlich verstummte er, als wüsste er deutlich mehr als ich. Verwundert zog ich Brauen zusammen und musterte ihn.
      „Ach ja? Fehler also? Was denn?“, hakte ich skeptisch nach.
      „Also hat er nicht?“, seine Worte kamen zögerlich und äußert verhalten.
      „Nein, jetzt sag mir, was du weißt“, drängte ich. Die Neugier in mir verstärkte sich, auch wenn mein Herz es gar nicht wissen wollte. Erik war für mich die Unschuld in Person. Alles, was er bisher für mich tat, erstreckte sich mit mehr Leidenschaft, als ich mir vorstellen konnte. Er war rücksichtsvoll, vielleicht etwas forsch, aber immer darauf bedacht, das Richtige zu tun. Auch wenn es mich in den wenigen Tagen zusammen auf dem Gestüt etwas nervte, dass Erik sich nicht mehr so sehr ins Zeug legte, wie Kanada. Viel mehr war er nur da, beschäftigte sich jedoch nicht mit mir.
      „Du sprichst am besten mit ihm, oder du lässt es. Ich denke, dass das besser für euch beide wäre“, Chris seufzte und sah ins Innere. Auf dem Sand schwebte Niklas bereits auf seiner Rappstute und auch Eskil war zu sehen. Mein kleines Herz freute sich tatsächlich das Riesenbaby wiederzusehen.
      „Wenn du das sagst“, antwortete ich nur und durfte endlich weiter. Trymr legte sich vor dem Tor auf dem Teppich und sah mir geduldig nach. In der Halle holte ich die Kandare aus meiner Jacke und trenste Lubi auf. Entspannt begann sie zu kauen und über die Aufstiegshilfe erklomm ich das Pferd.
      Im Schritt am langen Zügel begann ich auf dem dritten Hufschlag meine Runden mit der Stute zu drehen. Sie schnaubte häufig ab. Hier in der Halle war sie, im Vergleich zur heimischen, entspannter. Ich bekam das Gefühl, dass sich alle Blicke zu mir richteten. Die Anspannung stieg ins Unermessliche und durch meinen Kopf flogen die Gedanken, alles Schlechte erschlug mich. Was machte ich hier eigentlich? Panisch sprang ich vom Rücken der Stute, ließ sie unbedacht stehen und rannte hinaus. Nun sahen wirklich alle zu mir, doch nur Trymr folgte mir. Ich lief einfach, wusste nicht, wohin und wieso, aber ich lief. Meine Schritte fühlten sich gigantisch an, und, obwohl alles um mich herum nur noch schwarz war, zog es an mir vorbei. Plötzlich hörte ich ein Auto, wusste nicht wo, aber ich hörte es. Aus einem wurden immer mehr. Dann öffnete ich die Augen.
      Ich stand auf der Brücke über der Fernstraße. Meine Knie sackten zusammen und ich knallte auf den Boden. An meiner Hand spürte ich etwas Warmes und Weiches. Dann bewegte es sich aufgeregt, berührte mich sanft an der Seite. Entgegen meiner Erwartung war es nicht eins meiner Körperteile. Trymr stand neben mir und versuchte, dass ich aufstand. Aber mir fehlte die Kraft, mich vom kalten Nass zu erheben. Seine Haare kitzelten im Gesicht. Langsam strich durchs Fell, versuchte mir klar darüber zu werden, was gerade schon wieder passierte. Ich machte aus einer Mücke einen Elefanten, ertrug es nicht mehr, ständig der Idiot sein zu müssen und unbewusst eine Freude dabei zu empfinden. Mich nervte es nur noch in meinem Körper zu stecken.
      Wieder berührte mich die Schnauze, jedoch intensiver und mit mehr Elan. Er steckte seinen Kopf zwischen Körper und Arm, lehnte sich vorsichtig an mich heran. Seine Wärme übertrug sich auf mich. Auf Stelle wollte ich einschlafe, wusste aber, dass es mitten im Nirgendwo auf einer Brücke nicht wirklich die klügste Entscheidung war. Es wurde kälter. Der Wind kam auf, durch Lkw und weitere große Fahrzeuge, die alles beben ließen. Ich sah hoch zu den Sternen, den wenigen, die am Himmel standen und nicht durch graue vorbeiziehende Wolken bedeckt wurden. Trymr zitterte.
      > „Ska vi gå hem?
      „Wollen wir nach Hause fahren?“, fragte ich den Hund. Wie vom Blitz getroffen, sprang er auf und der Schwanz wedelte eilig. Meine kalten Beine sträubten sich eine Bewegung, doch aus meiner Kraftlosigkeit drückte ich mich nach oben, schließlich konnte ich nicht ewig hier herumliegen. Ich taumelte beim Laufen, aber Trymr Ponygröße half dabei nicht umzukippen. Innerlichen zählte ich jeden Schritt, wischte mir immer wieder durchs Gesicht, denn die Tränen liefen noch immer, obwohl es mittlerweile viel mehr Schluchzen wurde, als wirkliche Flüssigkeit. Ich konnte sie nicht aufhalten. In mir schrie es, ich zitterte und wollte nicht mehr.
      „Vriska“, kam mir Eskil erleichtert entgegengerannt. In den Händen hielt er eine Decke, als wusste er schon, dass ich ziemlich unterkühlt sein würde.
      „Wir haben uns alle Sorgen gemacht“, sagte er dann. Aus mir kam kein einziges Wort, auch das Wimmern hatte aufgehört. Alles, was mir blieb, war die quälende Leere. Er legte seine warmen Hände auf meine vom Regen durchnässten Schultern und führte mich zur Reithalle, die plötzlich unglaublich heiß erschien. Am ganzen Körper glühte es.
      „Ich denke, du brauchst eine Pause“, kam Herr Holm zu mir. Noch immer starrte ich nach vorn, nichts an mir rührte sich bis auf das Zittern, dass mich begleitete. Immer mehr Leute kamen auf mich zu, redeten auf mich ein, bis Niklas aus der Ferne brüllte:
      > Om ni alla pratar med henne kommer det inte att hjälpa henne. Dra åt helvete.
      „Wenn ihr sie alle vollquatscht, ist ihr auch nicht geholfen. Verpisst euch.“
      Danke Niklas. Bis auf Eskil verabschiedeten sich alle mit gesenktem Kopf und plötzlich waren wir nur noch zu dritt. Herr Holm nickte mir noch zu, wirkte aber ziemlich erleichtert. Seine Worte klangen zuvor enttäuschend, aber ich schätze, dass sie es nicht waren. Zumindest erhoffte ich mir das. Zeit verstrich, wie viel? Keine Ahnung. Ich nahm nur wahr, dass Eskil irgendwann verschwand und Niklas Lubi bewegte. Sie beide flogen über den hellen Sand der Halle, glänzten im warmen Licht der Lampen. Chris' Worte hallten noch immer durch meinen Kopf. Wenn ich etwas für ihn tun will, soll ich mich zurückhalten, stark bleiben. Aber ich war nicht stark, ich schätzte mich schon immer als schwach ein.
      Irgendwann stand ich auf und lief zum Auto. Trymr blieb vor der Tür sitzen. Nur eine Sekunde gab ich ihm, mir zu folgen, bis es mir egal wurde. Es nieselte und der raue Wind zog unter der Decke an meiner nassen Hose entlang. Wieder begann ich zu zittern. In meinen Taschen suchte vergeblich nach meinem Handy und auch den Schüsseln.
      „Du willst doch so nicht nach Hause?“, musterte mich Niklas und folgte mir mit Lubi aus der Halle. Denn Hufschlag hinter mir, hatte weder bemerkt, noch für voll genommen. Alles, was hörte, waren die lüsternen und auch bedrohlichen Stimmen in meinen Kopf, der Wind, der an einem Dach rüttelte und lautes, blechendes Heulen auslöste.
      „Was denn sonst?“, murmelte ich mit heiserer Stimme. Ich konnte offenbar noch sprechen, wenn auch nur sehr unverständlich. Mit meiner Aktion sorgte ich wohl dafür, dass die Erkältung Rückkehrern würde, vielleicht sogar als Lungenentzündung. Im Krankenhaus könnte man mir besser helfen, hoffte ich.
      „Ich kann und will dich so nicht allein lassen“, gab er zu und legte seine Hand auf meine Schulter, „wir bleiben hier im Vereinshaus. Dort gibt es eine Einliegerwohnung, die aktuell leer sein müsste.“
      Mir fehlten die Worte, also schwieg ich. Trymr kam mittlerweile dazu, wedelte sanft mit seinem Schwanz und blickte zitternd an mir hoch.
      „Wenn du es nicht für mich tun willst, dann für einen haarigen Freund. Dem ist auch kalt“, scherzte er und strich dem Hund über den Kopf. Ich sah zu ersten Mal, dass er sich ihm überhaupt nährte. Also nickte ich und begleitete Niklas in den Stall. Die Abschwitzdecke der Stute war mittlerweile auch komplett durchnässt. Er hänge den Stofffetzen über eine Schnur vor der Box und holte aus der Sattelkammer eine andere, während ich langsam den Gurt des Sattels öffnete. Um den Sattel von Rücken zu nehmen, fehlte mir die Kraft. Also schlug ich nur die Bügel über die Sitzfläche und entfernte die Kandare. Lubi hielt ruhig ihren Kopf und begann sich erst zu kratzen, als das Halfter drum war. Die Box quietschte und knarrte. Niklas kam wieder, nahm den Sattel und reichte mir vorher die Decke. Lieblos warf ich sie über das Pferd und befestigte die Gurte.
      „Royal Equest, sehr nobel“, neckte ich Niklas beim Betrachten der gesteppten, dunkelblauen Decke. An der Seite war sein Name geschickt und der seiner Stute in einer geschwungenen Schrift in Gelb. Etwas stolz las ich beides. Dass Form jetzt schon so tief in sein Herz schaffte, bestärkte meine Annahme, dass er mit ihrem guten Karten haben würde.
      Niklas nickte.
      Ich brachte Lubi in eine der freien Boxen, holte noch Heu und dann schalteten wir das Hauptlicht aus. Nur noch einzelne gedimmte Lichter erhellten den Stall, sodass die Tiere nicht im komplett Dunklem standen. Niklas drückte noch auf diversen Knöpfen, deren Bedeutung mir nicht nur unbekannt war, sondern auch vollkommen egal, herum, bis er zufrieden lächelte und die Tür hinter uns schloss. Draußen war Ruhe eingekehrt. Der Wind beschloss nur noch seicht zu wehen und der Nieselregen hatte sich verabschiedet. Trymr zitterte noch neben mir.
      „Kommst du jetzt?“, drehte sich Niklas zu mir um. Ich bemerkte gar nicht, dass er losgelaufen war.
      „Ja“, antwortete ich heiser. Am Wegesrand erhellten uns kleine Lampen den Weg, die in Baumstämmen und anderen Hölzern eingearbeitet waren, bis wir an dem riesigen Haus ankamen, vor dem wir vor einigen Wochen gegrillt hatten. Alles war mit durchsichtigen Folien abgedeckt und wirkte wie bei einem Verkauf, wie man es aus Serien kannte. Dann öffnete er die große schwarze Tür. Im Inneren schaltete sich automatisch das Licht an. Der Flur war lang. Zur Rechten befand sich eine breite Treppe und zwei Türen, auf der anderen Seite waren noch mehr Türen und der Flur endete ich einem weitreichenden Zimmer. Wir nahmen die Treppe, bis Niklas abbog und eine weitere Tür aufschloss. Auch hier erhellte sich alles automatisch. Mitten im Raum stand ein Kingsize-Bett, dass wie frisch bezogen wirkte, dem gegenüber stand ein TV Board und darüber hing ein Fernseher an der Wand. Links stand eine Schiebetür offen zu einem geräumigen Badezimmer und um die Ecke rechts eine kleinere Küche, in der Niklas verschwand. Ich stand wie angewurzelt noch an der Eingangpforte und wusste nichts mit mir anzufangen.
      „Willst du was trinken?“, fragte er.
      Ich nickte.
      „Auch ein Glas Rotwein?“
      „Es ist“, sprach ich, sah zu der Uhr, die in dem kleinen Durchgang hing, „kurz vor drei, warum sollte ich da Alkohol trinken?“
      „Damit du locker wirst“, zuckte Niklas mit den Schultern und nahm beherzt die Flasche. Sie ploppte laut beim Öffnen und er setzte sie an seinen Mund. Wenigstens ein Glas hätte er sich nehmen können.
      „Ich gehe duschen“, murmelte ich und hänge die Decke über einen Stuhl. Dann lief ich zum Badezimmer und holte mir ein Handtuch aus einem kleinen Regal. Alle rochen wie neu und fühlten sich unglaublich weich an.
      „Du wirst wohl noch Kleidung brauchen, oder?“, kam er ungefragt rein und ich bedeckte mich schlagartig.
      „Nächstes Mal klopfst du“, rollte ich mit meinen Augen.
      „Nichts, was ich noch nie sah“, zuckte er wieder mit seinen Schultern und legte mir ein weißes Shirt an die Seite und eine kurze Hose, sowie blaue Socken mit dem Vereinslogo darauf. Besser als nichts, dachte ich und verschwand unter dem warmen Wasser. In meinem Kopf kehrte Ruhe ein, die Stimmen verstummten und ich fühlte mich endlich befreit von allem. Nichts konnte mir diesen Moment vermiesen.
      Ich spürte noch die Wärme an meinen Füßen, die über den Boden in mir aufstieg. Nach der Dusche ging es mir bedeutend besser. Sogar ein Lächeln huschte über meine Lippen.
      „Okay, und wo schlafe ich?“, fragte ich. Niklas klopfte neben sich und hielt die Decke nach oben. Der Fernseher lief, eine Serie schätze ich. Erst als ich einen genaueren Blick darauf warf, stellte ich fest, dass er Wallender schaute, Krimi also. Wer hätte das nur ahnen können? Wirklich wohlfühlte ich mich nicht bei dem Gedanken, mich zu ihm zu legen, erst recht nicht, weil er bis auf einer Unterhose nichts trug, aber ohne zu protestieren oder meine Bedenken zu äußern, kroch ich unter die Decke. Trymr hatte ein provisorisches Abendessen von Niklas bekommen und lag müde auf einem Teppich zwischen Bett und Fernseher. Kurz sah er auf, als ich mich ins Bett legte, aber senkte sich direkt wieder. Niklas richtete sich auf, legte seinen Arm gekonnt um mich und kam mir deutlich näher, als ich wollte. Im nächsten Moment spürte ich seine Hitze an mir, die auch umgehend unter meiner Haut zuckte und ein Ziehen im Unterleib auslöste. Mein Kopf lag an seiner Schulter und meine Hand auf seiner Brust. Leichte Stoppeln fühlte ich beim sanften Streichen darüber und seine Muskeln zuckten.
      „Vriska?“, flüsterte Niklas, ich murmelte, „schläfst du schon?“
      Jetzt nicht mehr. Ich öffnete meine Augen wieder, nur leicht, aber sie waren offen.
      „Was ist denn noch?“, fragte ich verschlafen.
      „Du reitest morgen früh noch mal, bevor wir abfahren. Da sind wir allein in der Halle“, strich er mir liebevoll einige Strähnen aus dem Gesicht. Ich nickte bloß, bevor mich das Land der Träume wieder einholte.

      Lina
      Niklas Auto stand noch immer im Hof, obwohl es schon halb elf war. Die beiden hätten schon längst zurück sein sollen vom Training und so allmählich begann ich mir Sorgen zu machen, ob vielleicht etwas passiert sei. Immer wieder tigerte ich ruhelos durch die Wohnung, blickte auf mein Handy oder starrte aus dem Fenster in der Hoffnung Scheinwerfer oder so etwas zu erkennen. An Schlaf konnte ich nicht einmal denken, nicht so lang ich im Ungewissen schwebte. Im Fernsehen lief irgendein seltsamer Film, keine Ahnung worum es ging, denn ich schaffte es keine zwei Sekunden der Handlung zu folgen. Eigentlich hatte ich ihn nur eingeschaltet, in der Hoffnung ein wenig Ablenkung zu finden, doch das Gebrabbel, nervte mich ziemlich bald, sodass ich ihn ausschaltete. Die plötzliche Stille zwischen den Wänden wirkte unheimlich, sorgte nur dafür, dass ich noch nervöser wurde. Ich wünschte, meine Schwester wäre noch hier, sie wusste immer was zu tun war oder zumindest wie sie mich beruhigen konnte.
      Zusammengekauert saß ich auf der Couch, starrte abwechselnd auf die Uhr an der Wand und mein Handy. Die Zeiger näherten sich allmählich immer mehr Mitternacht und mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs meine Anspannung nur noch mehr.
      Bereits vor einer Stunde hatte ich Niklas eine Nachricht geschrieben, warum sein Auto noch immer dastand, ob alles okay bei ihnen sei, doch bisher kam nichts zurück. Es war nicht ungewöhnlich nicht sofort eine Antwort von ihm zu erhalten, aber das war in diesem Fall nicht gerade beruhigend.
      Endlich verkündete mein Handy mit ein Ping, den Eingang einer Nachricht. Als ich vom Sofa aufsprang, stieß ich beinahe die Tasse von dem kleinen Tischen herunter, so eilig griff ich nach dem Gerät. Was ich dort las, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und ich musste es mehrfach lesen, bevor ich glauben konnte, dass ich mir das nicht nur einbildete. Nein, die Worte standen ganz eindeutig da, Vriska hatte versucht, Selbstmord zu begehen.
      Wie fremdgesteuert tippten meine zitternden Finger eine Nachricht, hoffte, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging und dass ich froh war, dass er sich um sie kümmerte. Keine Ahnung, ob das die richtigen Worte in einer solchen Situation waren oder ob es überhaupt richtige Worte geben konnte.
      Eine Ewigkeit starrte ich nur auf den dunklen Bildschirm vor mir, unfähig mich zu regen oder einen Gedanken zu fassen. Um mich herum schien es noch stiller geworden zu sein, einzig mein rasender Puls drang in meine Ohren.
      Scheiße, war der erste Gedanke, der durch meinen Kopf schoss. So schlecht ging es ihr also, so schlecht, dass sie offenbar keinen Ausweg mehr sah. Wie hatte ich das nur übersehen können? Vriska lebte direkt vor meiner Nase und ich hatte es nicht mitbekommen! Wie konnte das passieren? War ich so mit mir selbst gewesen, dass ich gar nicht richtig merkte, was um mich herum geschah? War ich jetzt ein schlechter Mensch, weil ich mich erst um mein eigenes Seelenheil gekümmert hatte? Tausende solche Fragen schossen mir durch den Kopf, darunter auch immer wieder die Frage, ob ich etwas hätte ändern können, wenn ich mich anders verhalten hätte oder mehr auf Vriska geachtet hätte.
      Zufällig richtete sich mein Blick auf die Uhr. Erst jetzt nahm ich wahr, dass es schon weit nach einer Uhr war, auch wenn meine Gedanken immer noch Karussell fuhren sollte ich zumindest versuchen zu schlafen, ich würde meine Energie noch benötigen. Mein Leben war zwar ein Ponyhof, aber Ponys bewegten sich nicht von allein. Mechanisch, wie ein Roboter machte ich mich bettfertig, versuchte meine kreisenden Gedanken zu ignorieren, doch sobald ich im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, kam diese in voller Intensität zurück. Erst in den frühen Morgenstunden verstummten sie endlich und ließen mich in einen traumlosen Schlaf sinken.

      Vriska
      Die Nacht war kurz, aber äußerst erholsam. In meine Nase kroch ein würziger und schmackhafter Geruch, der mir Wasser in den Mund laufen ließ. Langsam öffnete ich meine Augen und drehte mich wie üblich durchs Bett, streckte mich, bevor meine Füße auf den warmen Boden trafen. Dass Niklas nicht mehr im Bett lag, fiel mir zwar auf, aber kümmerte mich nicht. Denn dem Geruch zufolge stand er in der Küche und machte sich Frühstück. Trymr stand vor mir, freute sich und begann mit seinem täglichen Ritual. Seine düstere Stimme bebte bei jedem Jaulen. Aufgeregt trat er herum und legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln ab.
      „Ach schön, du bist pünktlich wach“, trat Niklas aus dem Zwischengang zur Küche hervor. Immerhin hatte er es geschafft, eine Hose anzuziehen. Sein Oberteil fehlte noch, damit ich mich nicht noch schlechter fühlte hier zu sein, als ich es tat. Ich wendete meinen Blick von seinem Körper ab und widmete mich wieder dem Hund.
      „Er war schon unten und hat auch gegessen. Also kannst du dich einzig allein auf dich konzentriert“, strahlte er und drehte sich wieder weg. Verdutzt sah ich ihm nach, fest verankert an dem Punkt, wo er zuvor stand. So viel Aufopferung hatte ich nicht von Niklas erwartet, aber freute mich tatsächlich darüber.
      „Jetzt beeile dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ich habe gleich noch Dienst in Kalmar“, rief er aus der Küche. Na gut, also stand ich endlich auf von der Bettkante und lief ins Badezimmer. Dort machte ich mich rasch frisch und zog meine Sachen von gestern wieder an, die Niklas offensichtlich in den Trockner geschmissen hatte und aufgehängt. Am Tisch erwartete er mich bereits.
      „Ich möchte nichts essen“, murmelte ich heiser. Meine Stimme verschwand langsam wieder, aber dann bemerkte ich die weiße Tasse mit einer dampfenden dunklen Flüssigkeit. Ausnahmslos musste, dass Kaffee sein und ich nahm einen Schluck. In meiner Kehle floss die warme und bittere Substanz hinunter. Direkt fühlte ich mich besser.
      „Doch, du isst was. Hast du dich mal angeschaut?“, fragte er ernst.
      „Ja, aber was geht dich das an?“, verteidigte ich mich.
      „Ich fühle mich für dich verantwortlich, solang niemand auf dich aufpasst. Also, iss“, lächelte Niklas. Wer sollte denn auf mich aufpassen? Meinem Handy zufolge hatte sich niemand Gedanken gemacht, dass ich nicht nach Hause gekommen war. Allerdings würde Tyrell spätestens am Abend dich darüber aufregen, dass sein Auto nicht an seinem Platz stand. Also nickte ich nur und pulte mit der Gabel auf dem Teller herum. Der Konsistenz deutete auf Tofu hin, aber mein Auge sagte Ei. Niklas wusste jedoch, dass ich niemals ungeborene Kinder von Hühnern essen würde, also musste es Tofu sein. Nach der ersten Gabel davon im Mund bestätigte sich meine Annahme und es schmeckte unbeschreiblich gut. Mein Hirn weigerte sich dennoch zu akzeptieren, dass ich aufaß und die Hälfte verblieb auf dem Teller.
      „Ich denke nicht, dass Lina das hier gefällt“, seufzte ich.
      „Dass wir zusammen frühstücken?“, fragte er ungläubig beim Abräumen des Tisches. Trymr bekam meine Reste und verschlang sie so gleich.
      „Nein“, begann ich, atmete tief durch, „das alles hier. Es tut mir leid.“
      „Jetzt höre auf, tausendmal darüber nachzudenken. Vielleicht ging das auf dem Parkplatz zu weit, aber sonst habe ich einer Freundin in einer schweren Situation geholfen. Mehr nicht“, lächelte er. Erleichtert war ich nicht, aber akzeptierte seine Ansicht. Was war das nur, dass ihn und seine nur schemenhaft vorhandenen Gefühle jeden Tag auf den nächsten als Verteidigungsstrategie nutzte, um meine eigenen zurückzustellen? Ich fühlte mich schlecht zu jemanden wie ihn aufzusehen und immer den Gedanken zu haben, dass ihn mir warmhalten müsste, obwohl es jemanden in seinem Leben gab. Jemanden, der nicht ich war. Dabei vergaß ich mich selbst, vergaß das auch jemanden hatte, der mir so viel gab. Doch Erik hatte innerhalb kürzester Zeit dafür gesorgt, nicht mehr interessant zu sein. Er bemühte sich nicht, um etwas wie eine Beziehung zu führen, sondern hatte in Schweden direkt das Gefühl vermittelt, schon seit Jahrhunderten an meiner Seite zu sein.
      „Komm, Kleines. Dein Schiff wartet“, legte Niklas schützend auf meine Schulter und ich legte meinen Kopf nach hinten, um zu ihm aufzusehen. Sein Aftershave lag prägnant in Luft und kitzelte in der Nase, auch wenn es ziemlich ätzend wirkte.
      „Fahren wir zusammen zur See?“, fragte ich übertrieben melodramatisch. Er lachte, dann nickte er und lief zur Tür. Ich folgte ihm. Nicht mehr von meiner Seite weichend trabte Trymr, denn ich mittlerweile nicht mal mehr an eine Leine befestigte.
      Auf dem Gestüt herrschte nahezu eine friedhofähnliche Stille. Aus der Ferne vernahm man einen Traktor und ein paar Pferde wieherte. Hinter einer dicken und grauen Wolkenfront versteckte sich die Sonne. An einem Samstagmorgen hätte ich mehr Bevölkerung erwartet, aber so akzeptierte ich es auch. Im Stall brannte bereits das Hauptlicht und die Türen zum Paddock waren offen. Einige Halfter hängen im Gang, ganz allein waren wir also nicht.
      „Ich würde gerne auf den Fleeceplatz“, sagte ich entschlossen und sah zu Niklas, der vor Lubis Box stand. Die Stute sah interessiert über die Front und kaute genüsslich.
      „Können wir machen“, zuckt er mit den Schultern. Niklas setzte sich in Bewegung und verschwand in der Sattelkammer. In der Zeit nahm ich das Halfter von der Front, holte das riesige Pferd heraus. Als Erstes entfernte ich ihre Decke.
      „Kannst du mir geben“, kam Niklas zurück und nahm seine Decke entgegen, während er die Putztasche an die Seite gegenüberstellte. Wann hatte er das Ding eigentlich aus dem Hänger geholt? Die rosa Tasche, die sonst sehr abgestimmt zu ihrem sonstigen Equipment war, musste Zeitnah ersetzt werden. Am liebsten würde ich auch jeglichen Zaum der Stute ersetzen und die roségoldenen Gebisse, aber dafür fehlte das nötige Kleingeld. Also ich konnte vom auszubildenden Lohn fabelhaft Leben, aber für solche Ausgaben war ich nicht vorbereitet. Rücklagen für mögliche Reparatur am Auto hatte ich, aber würde nicht für ein eigentlich fremdes Pferd investieren, also musste ich noch eine Weile damit klarkommen, dass Anna sie in einem typischen Mädchenlook einkleidete. Tatsächlich hätte sich mein altes ich darüber ziemlich gefreut, aber ich hatte mich weiterentwickelt und vordergründig sehr verändert.
      „Muss ich dir jetzt noch erklären, wie man ein Pferd putzt?“, lachte Niklas. Er stand urplötzlich hinter mir und legte seine Hand auf meine. Mit einer streichenden Bewegung bürsteten wir zusammen über das kurze Fell der Stute. Verwirrt drehte ich mich zu ihm um und blickte mit zusammen gekniffenen Augen zu ihm hoch.
      „Ich schaffe das allein“, drückte ich ihn weg und durfte selbst weiter machen. Er lachte noch immer. Idiot. Zum Glück verschwand er dann wieder, holte wieder das Sattelzeug und begann sie fertig zu machen. Das Fell war so gut wie sauber, was sollte auch dreckig werden, wenn sie eine Decke trug. Die Hufe hatte ich auch gereinigt, wobei ich merkte, dass der Hufschmied langsam mal kommen sollte. An der Seite wuchs bereits die Hufwand über das Eisen und der allgemeine Zustand wirkte auch sehr besorgniserregend. Hufe sollten eine gewisse Länge haben, aber ihre Waren viel zu steil und lang, um, dass sie die nötige Griffigkeit haben konnte und vernünftig abrollte.
      „Sind Sie so weit, der Herr?“, fragte ich Hulk an der Wand, der seine Augen auf dem Handy verloren hatte.
      „Oh“, sagte er. Wie bei etwas erwischt, steckte Niklas sein Handy weg und folgte mir.
      „Aber an eine formale Ansprache könnte ich mich gewöhnen“, lachte er dann.
      „Selbstverständlich, wenn Sie das gernhätten, Herr Olofsson“, kicherte ich, als wir am dunklen Reitplatz ankamen, der unschuldig neben den Ponypaddocks ruhte. Weitere Menschenseelen waren nicht in Sicht, was Niklas wohl nutzte, mit beinah bedrohlich nah zu kommen. Seine warmen Hände lagen an meinem Hals, drückten sanft meinen Kopf nach oben, dass ich gezwungen war, den innigen Blickkontakt zu halten. In seinen mehrfarbigen Augen funkelte die Lust. Der Griff wurde fester und eine Atmung tiefer.
      „Willst etwa nicht“, flüsterte Niklas verführerisch.
      Ich schluckte, konnte aber meinen Blick nicht abwenden.
      „Doch“, atmete ich schwer, „aber es geht nicht.“
      Genervt rollte er die Augen nach oben und ließen von mir. Zum Glück, denn noch länger hätte ich die Fassade nicht mehr halten können. Da nichts mehr von ihm kam, außer einem Kopfschütteln, führte ich Lubi in die Mitte des Platzes und gurtete noch einmal nach. Mit einem großen Schritt stieg ich in den Bügel und drückte mich in den Sattel hinauf. Ihre Widerristhöhe war nicht gerade niedrig bei einem Maß von hundertachtzig Zentimetern.
      “Du bist ziemlich langweilig geworden über Nacht, weißt du das?”, rief mir Niklas, beinah eingeschnappt, zu und stand mit verschränkten Armen am Zaun.
      “Wenn Sie das meinen”, lachte ich, “aber mit dem Trainer rumzumachen ist wohl nicht die feine englische Art.”
      “Ach, ich bin jetzt also dein Trainer?”
      Ich zuckte mit den Schultern.
      “Scheint so”, fügte ich hinzu und hielt Lubi vor ihm an.
      “Na dann, Ferse weiter runter, Schultern zusammen und Knie mehr an den Sattel. Weiter”, wurde sein Ton ernster und klopfte der braunen Stute auf den Po. Sie richtete ihre Ohren nach hinten, bis meine Hilfe kam zum Anreiten. Sie schnaubte ab.
      Besten Gewissens versuchte ich seinen Befehlen folgezuleisten, auch wenn es mir an einigen Stellen wirklich schwerfiel. Niklas verlangte dem Pferd und mir nicht nur physisch etwas ab. Nach einer intensiven Trabphase mit Versammlungen und Seitengängen, folgten Verstärkungen. Zwischendrin hielten wir an, wendeten auf der Hinterhand und aus der Bewegung heraus wieder in den Trab. Mir blieb dabei nicht viel Zeit, um über irgendetwas nachzudenken oder eine seiner Übungen anzuzweifeln. Kurz Verschnaufpausen durften wir machen aber mussten dann umgehend an derselben Stelle fortfahren. Im Galopp schaltete mein Kopf sich nahezu vollständig ab. Ich konzentrierte mich einzig allein auf seine Worte und bewegte meine Arme sowie Beine nur noch nach Gefühl, wusste nicht, worauf das hinauslief.
      “Wir werden jetzt noch seinen Zweiwechsel machen auf der Diagonalen”, sprach er und zeigte auf H. Dort bog ich ab und galoppierte drei Sprünge auf der geraden Linie. Dann folgte der erste Wechsel. Im Genick stellte ich sie minimal und legte im selben Atemzug meinen bisher inneren Schenkel vom Gurt zum Verwahren höher. Niklas zählte im Takt, wann ich wieder wechselte und das Pferden springen ließ. Erschöpft kaute Lubi mir die Zügel aus der Hand, schnaubte mehrfach ab und streckte den Hals unter das Buggelenk. Immer wieder lobte ich sie durch Streichen über den Hals. Ich war nicht nur vom Pferd begeistert, sondern auch von meiner Leistung.
      “Danke für Ihre Hilfe”, lachte ich Niklas an, der mit einem zufriedenen Lächeln noch am Zaun stand und von seinem Handy aufsah.
      “Kein Problem”, kam es als Antwort, doch er schien noch zu überlegen, “bekomme ich jetzt eine Gegenleistung?”
      Seine Augen begannen zu funkeln, als gäbe es einen Grund dafür. Ich drückte ein Auge langsam zu und zog dabei meine Lippe mit nach oben. Der Sache traute ich nicht ganz.
      “Was wollen Sie für eine Gegenleistung? Geld?”, fragte ich nach, ohne meinen skeptischen Blick von ihm zu wenden. Wieder überlegte er, zumindest tat er so. Niklas spitzte seinen Mund und beobachtete die Wildgänse am Himmel.
      “Schau mal”, sagte er auf einmal sehr überrascht und zeigte hinter die Zugvögel. Zwischen Wolken tauchte ein besonderer Vogel auf. Ich hatte ihn mittlerweile Tobias getauft, denn er verfolgte mich. Natürlich könnte es auch weiblich sein, doch mir fiel dieser Name als Erstes ein. Tobias war ein Gerfalke, der eigentlich nicht in Gefilden wie diese zu finden war. Wir hatten Winter und von Nähe erkannt ich, dass er kein Jungtier war. Nur Jungtiere zogen im Herbst für einige Wochen Richtung Dänemark und legten mehr als dreitausend Kilometer vom Brutnest zurück. Alttiere verblieben meistens im Norden Finnlands oder Islands. Auch oben in Schweden wurden Tiere dokumentiert, aber eigentlich nicht an der Ostküste ziemlich südlich.
      “Das ist Tobias”, lachte ich und sah wieder zu Lubi, die dem Vogel hoch oben am Himmel keinerlei Beachtung schenkte.
      “Was? Du kannst doch einem Gerfalken nicht den Namen Tobias geben. Was stimmt in deinem Kopf nicht?”
      “Alles”, scherzte ich weiter.
      “Gehört der dir?”, fragte Niklas verwundert nach. Ja, klar. Ich hielt mir Raubvögel, wie andere, Katzen.
      “Nein, Herr Olofsson”, klärte ich auf, “Tobias kommt immer, wenn ich Entscheidungshilfen brauche, als wäre er ein Zeichen des Universums.”
      Niklas musterte mich.
      “Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht. Aber was offenbart Tobias dir denn?”, fragte er dann doch überzeugt.
      “Was weiß ich? Sonst kann ich genau sagen, was Tobias mir mitteilt, doch heute bin ich sprachlos und erfreue mich seiner Präsenz”, zuckte ich mit den Schultern. Mir schwante Böses, was Niklas als Nächstes sagen würde. Ich konnte mir skizzenhaft vorstellen, was er als Gegenleistung erwartete und würde nun auch noch Tobias, meiner Entscheidungshilfe in der Not, als Grund aufführen. Was würde passieren, wenn ich meinem Vogel nicht nachkommen würde und einfach auf meine Vernunft hörte? Eigentlich wollte ich das Schicksal nicht herausfordern. Also trieb ich Lubi aktiver nach vorn, um mehr Raum zwischen ihm und mir zu gewinnen. Auf der gegenüberliegenden Seite drehte ich einige Volten und auch eine Acht, bis er wirklich noch eine Antwort fand. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als Niklas den Mund öffnete.
      “Also”, quälte er mich absichtlich und pausierte, bis er weitersprach, “du solltest dir schon eine kreativere Gegenleistung ausdenken als Geld.”
      “Wenn Sie es so wollen, überlege ich mir etwas Schönes, aber das sollten Sie im Voraus mit Ihrer Partnerin klären. Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen in Erklärungsnot geraten”, blieb ich standhaft. Wieso, ich ihm etwas schuldig war, erschloss sich mir aber auch nicht. Im Zimmer zeigte er sich noch distanziert, als wäre es das normalste der Welt jemandem zu helfen und nun verlangte er eine Gegenleistung dafür. Diese Gegenleistung sollte aber offenbar tiefer eindringen, als es mir lieb war. Ich schüttelte den Kopf, nein. Nichts mehr würde unter der Gürtellinie ablaufen.
      “Übertreibst du nicht ein wenig, dass du immer nur an Lina denkst?”, kam er langsam auf mich zu. Meine Augen zogen sich schlagartig weit auf.
      “Offensichtlich tun Sie das nicht, also gehört das nun in mein Aufgabenfeld”, rollte ich mit den Augen. Kaum zu fassen, dass er so mit der Tatsache umging, eine Beziehung zu führen, für die er mehr oder weniger selbst in die Wege leitete. Undankbar, wirklich. Lina tat wirklich Vieles für ihn, folgt sogar extra in ein sehr weit entferntes Land. Natürlich war es mit Samu eine glückliche Fügung und Tobias schlug zu, dennoch hätte sie sicher ein besseres Leben auf dem WHC mit ihrem magischen Einhorn und Menschen, die sie kannte und vertraute. Mir zu vertrauen wäre auch keine gute Idee, nicht mal ich selbst konnte das.
      “Ich merke schon, plötzlich interessiert dich, was andere denken”, kam seine hochnäsige Art wieder, als hätte ich ihm gerade vor allen Menschen bloßgestellt. Prüfend sah ich mich um, aber niemand schien zu uns zu sehen oder dem Gespräch zu folgen. Dann stieg ich ab. Niklas ballte seine Fäuste und trat wie ein wütendes Kind durch die Fleece Fetzen.
      “Niemand kann etwas dafür, dass Sie eine Beziehung führen”; zuckte ich mit den Schultern. Schlagartig drehte er sich um zu mir, kam einige Schritte auf mich zu und legte wieder seine Hände an meinen Hals. Meine Atmung wurde erneut tiefer, aber ich versuchte mir vorzustellen, was für schlimme Dinge Lina passieren würden oder könnten. Ich wollte nicht, dass sich in Situationen wiederfand, die ich beinah tagtäglich durchlebte.
      “Niklas, lass mich los”, sagte ich ernst.
      “Beantworte mir eine Frage”, stellte er schon wieder Forderungen.
      Ich nickte.
      “Wenn du urplötzlich deinen sonst so vergötterten Kerl abgeschossen hast, weil du Angst hast vor den Gefühlen, die du mir gegenüber empfindest und ich zugegebener Maße auch – Was stört dich an ihm?”
      Was redete er da? Hatte er getrunken? War die Flasche Wein vielleicht nicht nur das nächtliche Getränk der Wahl, sondern auch zum Frühstück? Den Teil mit den Gefühlen versuchte ich bestmöglich zu ignorieren, denn das lief so nicht, selbst, wenn es Lina nicht geben würde. Es stand für uns fest, dass es nur eine nette Zeit zusammen sein sollte mit viel Spaß, aber ohne eine tiefgründige Bedeutung. Daran hielt ich gedanklich fest.
      “Erik”, ich seufzte, ihm von seinem Bruder zu erzählen, fühlte sich falsch an, aber jemanden musste ich mich öffnen. Trymr, der am Tor saß und alles haargenau beobachtete, spitzte die Ohren.
      “Erik war sich seiner Sache zu sicher und damit wirkte er plötzlich so langweilig. Ich will jemanden, der was erleben möchte, nicht nur mit seiner Tochter irgendwo hinfährt, wodurch ich dann allein zu Hause sitze. Er soll sich anstrengen und mehr Elan zeigen. Keine Ahnung, klingt bescheuert”, zuckte ich mit den Schultern.
      “So?”, kam er wieder sehr nah und konnte seine Finger nicht von meinem Hals lassen.
      Aber ich nickte.
      “Dann sag es ihm”, schlug Niklas vor.
      “Nein, soll er sich selbst etwas einfallen lassen”, antworte ich trocken und durfte endlich mein Pferd zurückbringen. Müde trottete die Stute mir nach in den Stall. Mittlerweile fühlte sich die Gasse. Eine gutaussehende, deutlich größere, jüngere Dame kam auf uns zu, musterte uns von oben bis unten.
      „Seid ihr endlich fertig mit herummachen“, pikierte sie eingeschnappt. Niklas und ich sahen einander ziemlich schockiert an.
      „Was auch immer du gesehen haben willst“, begann er entschlossen zu sagen, „entspricht nicht der Wirklichkeit. Wir haben über ihren Freund gesprochen.“
      Ahja, gut. Dann spiele ich mal mit, dachte ich und nickte.
      “Ihr werdet schon noch sehen, wo das endet”, betrachtete sie uns weiter, griff nach den Zügeln ihres Pferdes und verließ die Gasse.
      “Du bist doch nur neidisch”, rief ich noch nach. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen, derartige Behauptungen an den Kopf geworfen zu bekommen, auch wenn sie stückweise recht hatte.
      “Auf dich? Hast du mal in den Spiegel geschaut? Außerdem habe ich es gar nicht nötig, mir jeden Tag neue Dinge einfallen zu lassen, damit auch wirklich jeder hier am Hof auf dich schaut und mit mir in Kiste hüpfen will”, schnaubte sie.
      Mir war neu, dass, bis auf Niklas, jemand dringend ein Bedürfnis hatte, das nur mit mir befriedigt werden konnte. Er sah ihr noch nach und bekam meinen Ellenbogen in die Seite.
      “Aua”, störte er sich und sah böse zu mir herunter.
      “Hör auf ihr auf den Arsch zu glotzen”; flüsterte ich.
      “Wieso? Ich darf doch wohl noch gucken, wenn du mich nicht machen lässt”, schmollte Niklas theatralisch. Man, hör auf so zu sein, das macht mich verrückt!
      “Aus guten Gründen und jetzt hilf mir lieber, du musst gleich arbeiten”, erinnerte ich ihn. Dann sammelte er die Sachen ein von Lubi, während ich mich mit Hund und Pferd auf die kleine Reise zum Hänger machte. Dort nahm Niklas mir netterweise den Sattel vom Rücken des Tieres und lud alles ein. Lubi lief zufrieden die Rampe hinauf, mit einer Decke bekleidet und den Transportgamaschen an den Beinen.
      Im Auto fielen mir immer wieder die Augen zu, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es eine gute Entscheidung war, ihn ans Steuer zu lassen. Erst wenige Meter vor dem Hof wurde mir klar, dass ich gegenüber Lina in Erklärungsnot geraten würde, sollte sie mich fragen anstelle ihres tollen Freundes, warum sein Auto noch dastand und ich erst vierzehn Stunden später nach dem eigentlichen Training wieder am Hof war. Aber natürlich hatte Tobias dafür gesorgt, dass mit einem langen beigen Mantel auf der Terrasse stand, mit der Hand am Ohr und dem Blick unseres Autos folgte.
      “Na toll, darauf habe ich jetzt Lust”, murmelte ich und lehnte mich tief in den Sitz.
      Niklas lachte.
      “Jetzt stell dich nicht so an, was soll schon passieren?”, kommentierte er und provozierte mich mit seiner Hand auf meinem Oberschenkel.
      “Finger weg!”, beschwerte ich mich, “Vielleicht frisst sie mich, dann wäre ich wenigstens weg und sie satt.”
      Er lachte wieder.
      “Was ist denn bitte so lustig? Soll ich dich mal in das Gefühl hineinzuversetzen?”, versuchte ich an seine Vernunft zu appellieren.
      “Viel Erfolg”, grinste er und fuhr weiter langsam entlang. Beherzt griff ich ihm in den Schritt, nicht unbedingt sanft, sondern herausfordernd, mit Intention, als wäre es eine Vorbereitung für eine schnelle Nummer im Auto. Seine Augen wurden größer und als ich langsam die Knöpfe der Jeans öffnete, hielt er mich am Handgelenk fest.
      “Ist okay, ich verstehe es”, stammelte Niklas und schloss wieder alles.
      Gewonnen. Zwei zu null für mich, genau genommen, hatte ich schon drei Punkte und er zumindest einen. Unwichtig. Ich lag in Führung.
      Niklas parkte das Auto auf dem Parkplatz und stieg aus. Er fummelte sich erneut an der Hose herum und sah dabei unter seinen abgestützten Arm hindurch, den er am Dach lehnte. Dann öffnete er plötzlich mit seiner rechten Hand die Knöpfe wieder und den Stoff ein Stück nach unten, gerade so, dass ich alles sehen konnte, aber von hinten alles normal wirkte. Peinlich berührt sah ich weg, nach dem ich zu intensiv hinsah und stieg aus dem Auto. Niklas richtete sich gerade und schloss alles im Handumdrehen.
      “Mit dem rasieren üben wir noch mal”, lachte ich und lief zum Hänger. Es ging ums Pferd, na klar. Zumindest, wenn jemand fragten sollte.
      “Das ist dann wohl trotzdem ein Punkt für mich”, scherzte er und warf den Schlüssel über das Dach zu mir. Nur mit einem Schritt nach hinten konnte ich das Ding fangen und rempelte geradewegs gegen mein Auto, dass mich als Bedrohung ansah und laut begann zu piepen. Ich trat noch mal gegen und es wurde wieder leise.
      “Zwei”, triumphierte Niklas.
      “Genaugenommen habe ich drei und du jetzt zwei, okay?”, offenbarte ich meine Zählung.
      Er nickte. Langsam kam Lina angelaufen, sprach noch so etwas wie eine Verabschiedung in ihr Handy, glaube ich zumindest, denn eigentlich verstand ich kein Wort davon. Doch, die Tatsache, dass sie kurz darauf das Gerät wegpackte, unterstützte diese Hypothese.
      “Schön, dass ihr auch wieder auftaucht. Ihr habt ja erstaunlich gute Laune”, sagte sie kurz angebunden, blickte zwischen uns her. Wo hatte sie denn ihre sonst so gute Laune verloren.
      „Ich freue mich auch dich zu sehen“, lächelte aufgesetzt falsch, „aber okay. Soll ich lieber einem Typen nach heulen, der seinen Hund einfach bei mir abgeladen hatte und plötzlich zu einem Waschlappen wurde? Wenn dir das lieber ist, schaffe ich das.“
      Dann zuckte ich mit den Schultern, beide sahen mich verwirrt an, aber das fühlte sich an, wie mein Moment und ich wetterte weiter.
      „Offensichtlich ist seine Tochter ansteckend, ich nicht mehr interessant genug, um Macht zu demonstrieren. Er traut sich ja nicht mal richtig zu kuscheln, weil er dann eine Beule in der Hose bekommt, wie tragisch“, rollte ich immer wieder mit den Augen und schmiss das Zeug der Stute aus dem Kofferraum. Vermutlich ging das nun doch inhaltlich etwas zu weit, aber ich musste gerade überspielen, dass ich ihn in Wahrheit wirklich vermisste, auch wenn’s soweit stimmte. Wichtig war auch, mir nicht einzugestehen, dass ich keine Entscheidung treffen konnte oder wollte. Ich hätte gerne die Wahl, wer bei mir war.
      „Das reicht“, stoppte Niklas mich, in dem er meinen Arm zur Seite zog. Eigentlich wollte ich gerade zum nächsten Manöver ansetzen, aber bekam einen kleinen Zettel in die Hand gedrückt, denn ich unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Das meinte ich, wenn ich sagte, dass es mit Erik langweilig sei. Ja, wir mussten uns nicht vor neugierigen Blicken schützen, aber trotzdem.
      Lina fehlten die Worte, aber ihr Freund wusste sie auf etwas anderes zu lenken. Gab es dafür auch Punkte? Wenn ja, war er mir einiges voraus, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Aber ich sei Gewissen- und Morallos, logisch. Ich hatte noch anderes zu auf meinem Plan, holte zunächst Trymr von der Rückbank, der erst mich begrüßte und dann Lina aus Niklas Armen riss. Innerlich lachte ich ziemlich darüber, aber dann fiel meine Aufmerksamkeit auf den dunklen Anhänger am Auto.
      „Ich komme doch schon“, sagte ich zu Lubi, die begann im Hänger zu trampeln und zu wiehern. Neugierig streckte den Kopf durch die Seitentür und schnüffelte interessiert. Sanft strich ihr mit meinen kalten Fingern über das weiche und warme Maul. Dann wühlte ich ein Leckerli heraus, dass sie gierig verschlang. Hinten öffnete ich die Klappe allein, den die beiden Verliebten hatten überhaupt kein Interesse daran, mir noch ansatzweise zu helfen. Aber selbst ist die Frau! Lubi wartete mit dem langsamen Rücktreten, bis ich die Stange entfernt hatte und an der Seite stand. Dann liefen wir zusammen in den Stall, in dem die Box auf sie wartete. Die Decke nahm ich ab und warf sie in die Ecke, um aus der Sattelkammer eine gefütterte zu holen. Kurz überlegte ich eine von uns zu nehmen, denn das altrosa konnte ich langsam nicht mehr sehen, aber ich fad auf Anhieb sonst keine, die ihr passen könnte und gefüttert war. Also musste das Ding herhalten. Ruhig wartete sie, bis ich fertig war und die beiden Türen zum Paddock öffnete. Immer wieder streckte Lubi ihre Oberlippe nach einem Heuhalm aus, um ihn mit chirurgischer Genauigkeit zu zerkauen.
      “So, viel Spaß”, sagte ich und klopfte auf ihren Po, als sie ins Freie stürmte. Interessiert streckte sie ihren Kopf über die hohen Gitter und flirtete mit Nobel. Der Fuchshengst stand auf dem ersten Paddock und trabte aufgeregt am Zaun entlang, machte jedoch keine Anstalten intensiv zu versuchen, zu der Stute zu gelangen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne dem Pferd gegenüber hielt auch nur kurz an, bevor der Heusack interessanter wurde. Neben Lubi blickte mich Smoothie interessiert an, danke! Die Schimmelstute erinnerte mich daran, dass ich noch den kleinen Zettel von Niklas bekommen hatte, der in meiner Hosentasche seinen Platz fand.
      In der Stallgasse setzte ich mich auf eine der Bänke und Trymr hatte sich auf meine Füße gesetzt, den Blick fest zum Rolltor gerichtet. Ich hielt den sehr klein zusammengefaltet Zettel in der Hand, wechselte immer vom Hund zu dem Stück Papier. Egal, was darauf stehen würde, war es das wert? Sollte ich mir überhaupt darüber Gedanken machen, es mir durchlesen und damit die Welt verändern? Es war ein typisches Problem, entweder ich blieb im Ungewissen, in dem ich das Ding verbrannte und nicht mehr daran dachte, oder ich öffnete es und. Und was? Ich wusste es nicht, aber meine Vermutung war groß, dass ich damit den Zeitstrang änderte in etwas, das nur kurzzeitig anstand, kurzzeitig Spaß machte und die Zukunft negativ beeinflusste. Meine Knie wippten aufgeregt.
      “Komm, wir gehen erst mal rüber. Bei einem Kaffee kann ich besser denken”, sagte ich zu Trymr, der ohnehin nichts verstand. Aber er folgte mir zum Haus. Von Lina und Niklas war nichts mehr zu sein, auch sein Auto stand nicht mehr. Aber der Hänger war geschlossen und auch die Seitentür zu.
      “Danke”, flüsterte ich ins Leere, als spreche ich mit einem ominösen Hofgespenst, dass heimlich aufräumte.
      Meine Hütte war kalt und still. Wenig Licht fiel durch die hohen Fenster und ich drückte zunächst auf den Lichtschalter, um einen Überblick zu bekommen. Verwundert sah ich zu dem schwarzen Koffer, der neben der Couch stand. War das nicht der von meinem Bruder? Er hatte diesen eigentlich im Schrank verstaut und nicht dort hingestellt. War er hier? Trymr schnüffelte interessiert alles ab, folgte vom Koffer ins Schlafzimmer. Schockiert hielt ich mich an der Wand fest.
      “Was machst du hier?”, rief ich aufgebracht. Harlen drückte sich verschlafen von der Matratze hoch.
      “Wie spät ist es?”, murmelte er.
      “Kurz vor Zwölf”, antwortete ich.
      “Dann lass mich noch ein paar Minuten.” Umgehend drehte er sich wieder ins Kissen. Was genau passierte hier? War ich die Einzige, die die Welt nicht mehr verstand? Ich glaube kaum. Rücksichtslos zog ich mich um, schlüpfte in eine viel zu große Jogginghose und wechselte meinen Hoodie gegen einen anderen. Dabei nahm ich fein säuberlich den Zettel aus der Reithose und steckte ihn an die Seite in meine lockere Hose. Die Tasche hatte einen Reißverschluss, denn ich überzeugt hochzog. In der Küche funkelte mich die Kaffeemaschine an, die mir innerhalb kürzester Zeit ein Heißgetränk zubereitete und dabei laute Geräusche verursachte.
      “Muss das sein?”, beschwerte sich Harlen genervt aus dem Schlafzimmer.
      “Ja, du bist hier eingebrochen und ich muss auch leben”, lachte ich nur und nahm die Tasse entgegen. Vom Haken griff ich mir eine dicke Jacke, in der eine Schachtel Zigaretten steckte. Bewaffnet, mit allem, was ich brauchte, lief ich hinaus auf die Terrasse und setzte mich auf einen der Holzstühle an meinem kleinen Tisch.
      Der Glimmstängel kratzte ekelhaft im Hals, aber nach zwei weiteren Zügen normalisierte sich der Geschmack wieder. In Kombination mit dem Kaffee fühlte ich mich ungewöhnlich frei. Trymr blieb im Haus, aber saß vor einem der Fenster und starrte genau in meine Richtung, um mich nicht aus den Augen zu verlieren. Ich musste diesen Zettel lesen, strömte es durch meinen Kopf und ich holte das geknickte Papier heraus. Langsam öffnete ich es, hielt die Augen geschlossen. An meinem Hals pulsierte die Hauptschlagader und meine Finger zitterten in der Kälte. Meine Knie wippten wieder aufgeregt und ich musste mehrfach tief durchatmen, um nicht die Fassung zu verlieren. Du schaffst das Vriska, flüsterte ich mir leise zu und öffnete die Augen.
      > Glöm inte Erik, ha honom i åtanke, men hitta en distraktion för att hålla huvudet kallt.
      “Vergiss Erik nicht, behalte ihn im Hinterkopf, aber suche dir eine Ablenkung, um einen klaren Kopf zu behalten”, las ich in Niklas ordentlicher Handschrift auf dem Kästchen Papier. Darunter standen noch Ablenkung und eine Telefonnummer. Nervös biss ich mir auf meinem Daumen herum, solange, bis ich Schmerzen empfand. Einerseits tat er alles dafür, dass ich nicht mit Erik Zeit verbrachte, aber andererseits, setzte Niklas sich dafür, dass ich mich an ihm festhielt. Er verhielt sich genauso inkonsequent mit seinen Aussagen wie ich, obwohl ich ihn immer als sehr ausdauernd und genau einschätzte. Aber was solls? Ich speicherte die Nummer als ‘Avledning’ ein. Direkt bot es mit iMessage an und ich verfasste an meine Ablenkung. Es konnte nur eine weitere Nummer von Niklas sein, denn mich an irgendwen weiterzuleiten, schien nicht sein Fachgebiet zu sein.
      “Hej Avledning”, tippte ich. ‘Gesendet’ wechselte direkt zu ‘Gelesen um 12:04 Uhr’. Mein Herz schlug Purzelbäume, als die drei Punkte gleichmäßig sich wellenartig bewegten, bis sie endeten und eine graue Nachricht erschien. Ich schloss meine Augen und sperrte das Handy aufgeregt. Was passierte hier?
      “Keine Namen, keine Bilder, nur der Moment”, leuchtete es auf dem Bildschirm, als ich doch nachsah. Niklas saß vermutlich im Auto, also wie würde er das schreiben sollen? Vielleicht war es doch nicht? Aber mir egal, ich brauchte Ablenkung, das stand fest. Ich stimmte der Nachricht zu, die umgehend gelesen wurde, aber eine Antwort kam nicht direkt. Mehrfach sah ich auf das leere Display des Handys, bis ich den Boden der Tasse betrachtete und entschied mein Chaos zu beseitigen.
      Obwohl ich ungewöhnlich motiviert den Hänger ausräumte und säuberte, ließ mich der Zettel in Gedanken nicht mehr los. Ich hatte alles getan, was er von mir wollte, aber es kam nichts. Was sollte das für eine Ablenkung sein? War es vielleicht noch Niklas, und wenn nicht, wer dann? Welchen Grund gab es, dass ich die Handynummer von jemanden wild Fremdes bekam? Auch, dass mein Bruder urplötzlich wieder da war und tat, als wäre nichts geschehen, brachte mich aus dem Konzept. So sehr, dass ich blind in Lina hineinlief, die gerade Vintage durch die Gasse führte. Seine Beine waren vollständig mit Matsch bedeckt, sowie sein Bauch und auch ihre Stiefel. Mürrisch knurrte sie mich an.
      “Tut mir leid”, murmelte ich beschämt.
      “Schon okay, aber mach das nächste Mal deine Augen auf”, brummelte sie und setzte das Pferd wieder in Bewegung. Ihr Ton irritierte mich, auch wenn ich nachvollziehen konnte, dass Lina nicht wirklich gut auf mich zu sprechen war.
      “Ich wünsche mir den Sommer zurück”, rief ich ihr nach, ohne mich einen Schritt bewegt zu haben. Die Schubkarre knallte auf den kalten Beton. Vinnies Ohren drehten sich kurz nach hinten, aber er blieb ruhig.
      “Welchen Teil davon? Das Chaos oder das Wetter?”, ging sie auf meine Aussage ein, ohne dabei anzuhalten. Mein Kopf senkte sich intuitiv, während meine rechte Hand energisch den linken Unterarm zerdrückte.
      “Das was wir hatten”, sagte entschlossen, aber es kam keine Reaktion. Also atmete ich noch mal tief durch, sah hoch an die Decke zu den freistehenden Balken und unterdrückte meine Tränen.
      “Meine beste Freundin ist zwei Tage vor meinem Geburtstag im April gestorben”, sprach ich unberührt aus, “ich bin mit ihr zum Kindergarten gegangen. Jetzt ist sie weg, für immer und alle anderen auch.” Lina verharrte für ein paar Sekunden in der Bewegung, bevor sie sich umwand. Der eben noch so misslaunige Ausdruck auf ihrem Gesicht war milderer geworden. Stumm kam sie zurückgelaufen, schloss einfach ihre Arme um mich.
      “Das tut mir wirklich leid für dich, das muss schrecklich für dich sein”, sprach sie leise und es klang wirklich aufrichtig.
      “Ihr Tod war nicht das Schlimmste daran, sondern das es niemanden interessierte. Jeder von uns machte weiter, wie zuvor, als wäre nichts passiert”, offenbarte ich das Tiefste in mir, “Keiner sprach darüber, sie wollte nicht einmal mich sehen und ich bekam auch keine Einladung zur Beerdigung. Alles war einfach zu Ende, weg. Es tut mir leid”, wechselte mein Hirn wieder das Thema. Gerade als ich dazu ansetzte, mich dafür entschuldigen zu wollen, dass ich in einem Bett mit ihrem Freund schlief, intensivierte sich die Umarmung und ich verstummte. Vielleicht gab es Dinge, die zu einem späteren Zeitpunkt geklärt werden sollten, denn ich wollte den Typ nicht und das musste sie wissen.
      “Es ist schrecklich, sich nicht verabschieden zu können”, sagte sie sanft und es schien mehr als nur bloßes Mitgefühl in ihren Worten zu liegen. Sie drückte mich noch einmal fest bevor sie die Umarmung löste und mich mild anlächelte. Ich lächelte zurück.
      Wieder wollte mein Hirn endlich das Thema beenden, als mich das Vibrieren in meiner Hosentasche schlagartig meine vollständige Aufmerksamkeit verlangte. Neugierig griff nach dem Gerät. Anstelle einer Nachricht waren es sogar drei von demselben Kontakt.
      “Ich hatte zu tun – Jetzt will ich dich – Woran denkst du gerade?”, perplex sah ich auf das Display, dann hoch zu Lina, die mich irritierte musterte. Der Ausgangspunkt dafür sollte mein viel zu strahlendes Gesicht sein, dass alle Muskeln anspannten, die man für Freude benötigte und das übertrieben kräftig. Je mehr ich mich anstrengte, das wieder loszuwerden, umso stärker wurde es. Unangenehm, wenn es gerade noch um die schmerzhafteste Erinnerung meines Lebens handelte.
      “Das müssen ja erfreuliche Nachrichten sein”, sprach sie das offensichtliche aus, “Ich werde dich dann mal damit allein lassen, Vinnie wartet.” Sie war schon im Begriff den Weg mit dem Hengst fortzusetzen, als sie sich noch einmal umwand: “Falls du mich noch mal brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.”
      Plötzlich vibrierte es erneut.
      “Antworte.”
      Schnell tippte ich auf dem Touchscreen: “Ich unterhalte mich gerade mit meiner Arbeitskollegin”, und antwortete ich nickend zu Lina, “Danke, du kannst auch jederzeit rüberkommen, aber klopfe vorher. Mein Bruder ist manchmal ziemlich knapp bekleidet.” Dann lachte ich und spürte in meinen Händen schon wieder die Vibration im Sekundentakt. Hatte es sonst keine Hobbys? Besonders die erste Nachricht lief mir kalt den Rücken herunter.
      “Wenn ich dir schreibe, dann hast du zu antworten, egal was deiner Meinung nach wichtig erscheint.” Ich schluckte. Meine Kehle fühlte sich unglaublich rau an und in meinem Bauch begann es zu kribbeln. Halt, stopp Körper, so funktioniert das nicht. Aber die Anzahl der Nachrichten ebbte erst ab, als ich begann langsam eine Antwort zu formulieren mit zittrigen Fingern. Anstelle einer bedeutungslosen Entschuldigung schrieb ich: „Okay, ich werde mich daran halten in Zukunft.“
      Schon nach dem nächsten Atemzug tauchten die drei Punkte in der linken Ecke wieder auf. Dann folgte eine Nachricht und eine weitere, wieder die Frage, woran ich gerade dachte. Interessierte es sich wirklich dafür? Durch meinen willkürlichen Versuch Lina zu vermitteln, dass ich ihren Freund nicht mehr belästigen werde und der kleine Zettel seltsame Schwingungen in meinem Kopf auslöste, schwebte noch Niklas noch verankert in der Gedankenwelt.
      „Darf ich vorher meine Aufgabe beenden und danach dir berichten, bitte?“, bat ich freundlich um etwas Zeit. Wenn ich die Schubkarre im Weg stehen ließe, nur um eine relativ lange Nachricht zu tippen, dann würde in fünf Minuten irgendwer darüber fallen. Das wollte ich vermeiden. Meine Bitte wurde bewilligt, aber ich hätte nur zehn Minuten. Auf meinem Handy stellte ich den Timer auf neuen Minuten, steckte es weg und rannte förmlich mit der eiernden Karre zum Misthaufen, der hinter dem Heulager sich befand, also mehrere Meter entfernt. Hektisch pochte mein Herz in der Brust und konnte sich nicht ganz vorstellen, worauf das alles hinauslaufen würde. Seine Nachrichten lösten ein unermessliches Interesse seinerseits aus, oder ihrerseits? Eher unwahrscheinlich, dass solche Worte von einer Frau stammten oder das Niklas nicht so weit dachte, dass es vielleicht mal passieren könnte. Hirn! Stopp! Über den Bildschirm flogen erst wenige Nachrichten und dennoch überlegte ich schon, wie sich seine Haut auf meiner fühlen würde, sein Geruch, der mich in der Nase kitzelte oder ob er eine maskuline Stimme hätte mit Feinheiten, die sie besonders machten.
      Mein Handy klingelte als Zeichen, dass der Timer abgelaufen war. Somit blieb mir noch eine Minute, um eine Nachricht zu schreiben. Im Laufen flogen meine Daumen über den matten Bildschirm und wussten nicht genau, ob ich von Niklas Technik erzählen sollte, oder wie sehr ich mir gerade nach ihm sehnte.
      „Ich dachte gerade darüber nach, wie sehr ich es vermisse in der Nacht, jemanden bei mir zu haben, der mich genauso sehr wollte wie ich ihn. Mich dazu bringt, Dinge zu tun, die sonst keiner verlangt und hemmungslos in mich eindringt“, entschied ich zu schreiben. Damit würden beide Gedanken gut zueinanderpassen.
      „Was würdest du dafür geben mich dazuhaben?“, kam es direkt als Nachricht.
      „Wir kennen uns nicht, dennoch“, mein Finger schwebte über dem w, aber konnte mir noch sicher sein, in welche Richtung das weitergehen würde, „würde ich mich darüber freuen.“
      „Freuen? Sicher, dass das deine richtige Wortwahl ist?“, erkundigte er sich. Aber nein, sie war es nicht. Wohl dabei mit ihm zu schreiben und zu sagen, dass ich ihn ins Bett drücken würde und mit allen meiner Mittel in eine andere Welt befördern wollte, fühlte ich mich nicht. Aber ich entschied genau das zu schreiben und jeder Augenblick, jedes Atmen und Pochen in meiner Brust wusste, dass es richtig war, mit einem Fremden meine tiefsten Wünsche teilen zu können. Gedanken und Träume, die mich tagtäglich quälten und durch Niklas so fassbar wurden. Wurde er dadurch weniger interessant? Nein, aber ich fühlte mich plötzlich kontrollierter, wieder Herr über meine Gefühle und Handlungen, auch wenn man zweiteres erst einmal sehen musste, wenn er in meiner Nähe war. Frohen Mutes schlürfte ich über die Terrasse in die Wohnung und fiel auf die Couch, ohne mich umzusehen. Trymr sprang direkt zu mir und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Seine Augen bewegten sich langsam zu mir nach oben, das Weiß kam zum Vorschein und leise jammerte der Rüde.
      > Trymr, tyvärr vet jag inte när din herre kommer tillbaka.
      “Trymr, ich weiß leider nicht, wann dein Herrchen wieder kommt”, strich ich dem Hund über den Kopf. Langsam kaute er und schluckte dann. Ich konnte auch nicht nachvollziehen, warum er ihn hierließ und nicht einmal sagte, wann er ihn abholte. Offenbar war es eine Selbstverständlichkeit, dass Erik, wenn er Zeit hatte für mich, einfach wieder mit Fredna kommt. Aber nein, nicht mit mir. Allerdings konnte ich nicht erwarten, dass ich Informationen bekam. Ich hatte ihn blockiert, um zu schauen, ob er mich auf anderen Wegen versuchen würde zu kontaktieren, aber nichts. Wichtig schienen wir also beide nicht zu sein. Frustriert sah ich hinunter auf mein Handy, ich hatte zwei neue Nachrichten von Avledning.
      “Ich denke nicht, dass du dem würdig bist, meine Anwesenheit spüren zu dürfen. Beweise dich erst mal”, folgte ich mit meinen Augen den Worten, nach meiner Frage, wann ich spüren dürfte, wovon er sprach. Würdig, damit begann wieder das Thema, dass ich mich irgendwem erst einmal beweisen musste. Einem Fremden etwas Gutes zu tun, wirkte in meinem Kopf so leicht, doch er wusste, was er tat, als gäbe es nichts Einfacheres. Obwohl mir klar war, dass es nur ein Traum sein konnte, hielt ich daran fest.
      “Sollte ich mir Gedanken machen?”, ertönte plötzlich eine ernste Männerstimme hinter mir. Für mehrere Sekunden stoppte mein Atem und panisch fiel mein Handy zu Boden. Immer, wenn ich dachte, dass es kaputt sein, klang es dumpf, aber ich spürte innerlich, dass das Ding auf irgendwas gefallen ist. Der Schock saß noch tief.
      “Hör auf mich so zu erschrecken”, fauchte ich meinen Bruder an, der liebevoll seine Arme von hinten um mich schlang und mir einen Kuss auf die Haare gab. Angeekelt wehrte ich mich aus seiner Befestigung und holte mein Handy vom Boden aus.
      “Ja, super”, antwortete ich mit scharfer Stimme und in meinen Augen funkelte der Hass. Der Bildschirm war vollständig in seine Einzelteile aufgelöst und seltsame Streifen formten sich hinter dem Glas. Damit hatte sich wohl die Bekanntschaft beendet, mir auszumalen, was er tat, wenn ich ihm nicht Folge leistete, beängstige mich.
      “Vriska, ich”, stammelte Harlen unschuldig, “das wollte ich nicht. Was machen wir jetzt?”
      “Wir? Du musst dir jetzt Gedanken machen, weil ich das so schnell wie möglich zurück brauche”, rollte ich mit den Augen und stand frustriert auf, um auf der Terrasse den Krebs zu füttern. Mehrfach setzte mein äußerst liebenswerter Bruder noch zu Entschuldigungsversuchen an, die ich allesamt ignorierte.
      Aufgrund fehlenden Zeitmessers starrte ich Ewigkeiten, die sich später als vier Minuten herausstellten, in die Leere und zog an dem Glimmstängel. Meine Lunge brannte und in meinem Rachen kratze alles. Je kräftiger ich atmete, umso stärker rückte der Schmerz in den Vordergrund. Ich hatte es geschafft über meinen Schatten zu springen, jemanden von meinem Schicksal zu erzählen und im selben Zuge meinen Traummann kennenzulernen. Das Wort beschrieb ihn ganz gut, denn es existierte nur diese eine Version von ihm in meinem Kopf, die weniger real erschien, als ein paar Buchstaben auf einem, kaputten, Bildschirm.
      “Vivi, warum bist du auf einmal so eingeschnappt? Letzte Woche hättest du mich nicht so angefallen, wenn dein Handy kaputtgegangen wäre”, versuchte Harlen ein klärendes Gespräch zu führen. Wieder funkelte ich ihn erbost an, aber versuchte mich ebenfalls daran, ruhig zu bleiben. Mein Traummann hatte sich bestimmt auf die Suche begeben zur nächsten Kandidatin.
      “Du hast mir gerade eine Chance versaut”, fluchte ich.
      “Chance? Du meinst, die seltsamen Nachrichten mit dem Kerl? Vivi, du bist mit Erik zusammen, vergessen?”, zog er seine Augenbrauen nach oben und fasste sich einige Male durch sein leicht nach oben gestyltem Haar.
      Ich zuckte mit den Schultern.
      “Wir sind nicht mehr zusammen”, erklärte ich kurz gebunden und starrte wieder in die Leere. Meine Zigarette hatte den Heldentod erlitten und lag bis zum Filter verbrannt im Aschenbecher neben den anderen Kameraden, die erfolgreich in die Schlacht zogen, aber nie ihre Familie wiedersehen werden. Ich seufzte und fühlte mich teilweise wie meine Stummel.
      “Was hast du schon wieder getan?”, rollte er mit seinen Augen und setzte sich dazu, bemerkte dann aber, dass Trymr jeden seiner Schritte genau beobachtete. Kurz öffnete den Mund, als würde er noch etwas fragen wollen, aber verstummte dann.
      “Es ist nicht in Ordnung, dass du direkt davon ausgehst, dass ich etwas getan habe”, knurrte ich, “aber ich habe es beendet, weil mir etwas fehlte bei uns.”
      “Sex?”, lachte Harlen. Ich schob meine Unterlippe über die obere und drückte das Kinn nach oben zu einem Schmollmund. Meine Augen bewegten sich nach oben, dann nickte ich. Noch immer lachte mein Bruder und legte grundlos seine Hand auf mein rechtes, wippendes Knie unter dem Tisch.
      “Kaum zu glauben, dass er ein Olofsson ist”, antwortete er.
      “Was hat das damit zu tun und woher weißt du das?”, wunderte ich mich.
      “Das hat bei uns in der Firma ziemlich die Runde gemacht, nach dem wir dank deiner Hilfe nun fein raus sind”, lächelte er stolz.
      “Warte”, unweigerlich kratzte ich an meiner rechten Hand, “das komische Gespräch hat dafür gereicht, das Familienunternehmen aus einem Skandal wie diesem zu verhelfen?”
      “Das ist also nicht der Grund?”, fragte mein Bruder später, als es wieder still geworden war.
      “Nein”, ich zog noch einmal kräftig Luft und Rauch ein, “ich erinnere mich an nichts mehr und Erik hatte es mir anderes erzählt. Spätestens jetzt müsste er mir aber einiges erklären.”
      Harlen nickte.
      “Aber warum machst du das schon wieder?”, tastete er sich langsam an die seltsame Firmenfeier heran.
      Ich zuckte mit den Schultern. Es gab keinen Grund dafür, eigentlich hatte nichts einen Grund. Vieles tat ich einfach, weil ich es wollte. Vielleicht bewies ich mir selbst etwas damit, aber eins stand fest – es bereitete mir einen mordsmäßigen Spaß, den Rausch der Gefühle mit älteren Männern, die mich als kleines Püppchen ansahen und genauso behandelten. Ein Psychologe würde das genauer erklären können, vermutlich war das der Grund, warum ich meine Sitzungen schwänzte. Ich brauchte niemanden, der mir mein Leben erklärte und vermutlich auch als ungesund erklärte.
      “Darum”, antwortete ich mit Versatz.
      “Aber was machst du jetzt wegen meines Handys?”, wechselte ich rasch das Thema. Vielleicht war er noch da und wartete auf mich, ich hoffte es.
      “Sieh hier”, sagte Harlen und zeigte ein Handy vom Festland auf einer Kleinanzeigen-Anwendung. Ich nickte. Wortlos stand er auf, verschwand in der Wohnung, kam viele Minuten später wieder angezogen heraus, mit meinem Autoschlüssel in der Hand. Er verabschiedete sich. Trymr spitze die Ohren, folgte seinen Schritten, bis er aus dem Sichtfeld verschwand. Innerlich erdrückte es mich schon, dass ich mich nur schemenhaft an den Akt erinnerte, denn ich wollte schon wissen, ob es gut war. Jedoch konnte soweit aus Erfahrung sagen, dass ich mir darum keine Sorgen machen musste. Nur ein entspanntes Wochenende sah anders aus, besonders, wenn ich in der nächsten Woche das erste komplett eigene Berittpferd vor Ort habe und auch Fruity noch reite.
      Ich lief hinein, holte aus dem Kasten ein Craftbier von den netten Leuten an der Ecke, bei denen Tyrell öfter für alle bestellte. Das Erste floss in Sekundenschnelle meine Kehle hinunter und das zweite folgte sogleich. Die Druckbetankung endete bei vier und zwei weiteren in der Hand, als Weggestaltung. Mit dem Hund im Schlepptau klopfte ich bei Lina an der Tür. Es fühlte sich an, als wartete ich Stunden auf sie, bis sie endlich öffnete.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 73.376 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte September 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tio | 29. Dezember 2021

      Lubumbashi // Millennial LDS // HMJ Holy // Sign of the Zodiac LDS // Enigma LDS // Götterdämmerung LDS // Waschprogramm // tc Herkir // Glymur // Forbidden Fruit LDS // Girlie

      Vriska
      Ehrlich gesagt hatte ich mir genauso mein Leben vorgestellt. Mittlerweile fuhr ich zweimal die Woche nach Kalmar zusammen mit Lubi zum Training. Freitagnachmittag stand das Gruppentraining mit Herrn Holm an, dass Herr Norsberg gerne begleitete und mit stolzer Brust erzählte, dass eine der besten sei aus der Akademi und mir diesen Platz redlich verdient hatte. Da die Turniersaison so gut wie beendet war, gab es nicht viel, worauf ich hinarbeiten konnte. Umso wichtiger wurde es, dass die Lektionen sicherer ritt und Lubi erledigte den Rest für mich. Dienstags verabredete ich mich mit Niklas, der großen Gefallen daran hatte, mir weiterhin Befehle zu geben, die ich treu meiner Persönlichkeit befolgte. Das sorgte natürlich dafür, dass wir stets das Gespräch am Hof waren und die Gerüchteküche brodelte. Aber was soll ich sagen? Ich hatte es wirklich geschafft mich emotional von ihm zu lösen und seine Ablenkung verrichtete großartige Arbeit. Er war ein toller Mann mit genauen Vorstellungen vom Leben, und von mir. Schon der bloße Gedanke an ihn sorgte für ein leichtes Kribbeln in meinen Fingern. Mit Erik hingegen wurde es still. Wir hatten uns einige Male getroffen, aber diese magische Verbindung zwischen uns schien wie durchtrennt. Ich vermisste, was wir hatten, aber klammerte mich nicht mehr panisch daran, zumindest versuchte ich mir das einzureden. Wenn ich morgens wach wurde und feststellte, dass es keine Guten Morgen Nachricht gab, wusste ich schon, dass der Kontakt eher spärlich verlaufen würde. Ich vermisste seine Nähe.
      Mein Bruder hatte die Geschäftsführung des Hofes übernommen und blühte tagtäglich darin auf. Die Klage aus England wurde mit einer unnötig hohen Summe an Geld beglichen und es lief, mehr oder weniger. Er repräsentierte weiterhin das Unternehmen, aber entschied, dass jemand anderes das Geschäftliche regeln sollte.
      Es regnete wie aus Eimern, als ich einen Blick aus der Reithalle nach draußen warf, in der ich gerade Millennial abritt. Die junge Stute hatte vor einigen Tagen ihr erstes Rennen und schlug sich wacker zwischen den ganzen Cracks. Einen Sieg gab es für sie nicht, aber die Erfahrung war so viel wichtiger als eine weitere Scherbe in der Sattelkammer. Zum Ausgleich ritt ich sie seit Anfang September ein. Mill hatte Temperament und davon nicht wenig, dennoch bemühte sie sich einen Gang runterzuschalten. Verschwitzt drehten wir unsere Runden auf der ganzen Bahn, denn das Lenken ließ noch zum Wünschen übrig.
      “Denkst du daran, dass wir nachher noch aufs Folkes Geburtstag anstoßen?”, erinnerte ich Lina daran, die gerade mit Zoi den Stall betrat. Ihr Regencape war vollkommen durchnässt und auch die braune Stute wirkte sehr unzufrieden mit der Gesamtsituation.
      “Ja, ich denke daran, also zumindest jetzt”, erwiderte sie und schob sich die nasse Kapuze vom Kopf. Seitdem ihre Schwester nicht mehr da war, fanden wir immer mehr zueinander und mittlerweile würde ich sagen, dass wir Freunde waren. Sie wusste nichts von den ganzen Gerüchten, worüber ich froh war. Schließlich waren es auch nichts mehr Gerüchte, die sie nur wieder verunsichern würden.
      “Wenn du mit Zoi fertig bist, müssen wir uns mal Holy zusammen anschauen. Die wird immer dicker, obwohl sie schon auf Diät ist”, rief ich noch über die Bande. Mill hielt laute Geräusche für weniger lustig und legte die Ohren an. Sanft strich ich ihr über den nassen schwarzen Hals.
      “Okay. Ja, das ist mir auch schon aufgefallen, ziemlich seltsam”, nickte Lina stirnrunzelnd. Ich ritt mit der Stute noch weitere Runden, bevor ich aus dem Sattel rutschte und mit beiden Beinen fest im Sand landete. Millennial schüttelte sich, versuchte ihren Kopf an mir zu reiben und konnte gar nicht schnell genug wieder zurück auf den Paddock. Immer wieder bremste ich sie beim Verlassen der Halle und legte ihr das Halfter um, dass direkt neben dem Tor hing. Zur Kostensenkung hatte mein Bruder eine grandiose Idee, die mich nur zum Kopfschütteln brachte. Am Eingang hing neben dem Halfter auch ein Hufkratzer, mit dem wir den Sand aus den Hufen entfernen sollten und danach alles mit dem Besen zurück fegen. Ein Schicksal des Sandes war es, dass Tyrell alle drei Monate eine Fuhre nachorderte, um die Höhe zu halten. Durch das Auskratzen und Zurückfegen sollte das nun verhindert werden, schauen wir mal. Ich denke nicht, dass das etwas bringen würde.
      Mills Augen fielen immer wieder zu, als sie unter dem Solarium stand und die Wärme genoss. Lina stand daneben mit Zoi und versuchte mit aller Kraft der jungen Stute die Hufe auszukratzen, doch sie stellte sich stur und belastete immer wieder das gewünschte Bein. Amüsiert betrachtete ich die Szenerie, bis mich entschloss, doch zu helfen. Energisch patschte ich mit meinem Handrücken gegen das Bein der Stute, die umgehend das Bein hob.
      “Bei ihr brauchst du nicht höflich sein, sonst verarscht sie dich weiter”, erklärte ich und half noch bei den restlichen Beinen. Lina nickte und versuchte es beim letzten Huf allein. Zoi gab nach. Zusammen liefen wir zur Sattelkammer. Sie griff auch aus der großen ein Kappzaum und durchwühlte den riesigen Deckenhalter nach einer Weidedecke für Mill. Ihre richtige Decke hing noch zum Trocknen im Heizungsraum, also musste eine andere her.
      “Die sollte passen”, sagte ich im Selbstgespräch zu mir, als ich eine dunkelgrüne Decke in der Hand hielt, die genauso groß war wie ich. Zum Tragen knüllte ich sie irgendwie zusammen und lief über die Stufen hinaus. Millennial schlief beinah unter dem roten Licht und funkelte mich mürrisch mit ihren großen blauen Augen an, als ich es ausschaltete. So gut ich konnte, schmiss ich das Ding auf die trockene Stute und bahnte mir dann weg hinaus in den Regen. Obwohl die Wege befestigt waren, rutschten wir einige Male aus, bevor wir am Paddock ankamen. Mit angelegten Ohren sah sich mich an, als wollte sie sagen ‘Muss ich jetzt wirklich hierbleiben’ und gesellte sich zu den anderen Stuten unters Dach. Enigma stupste sie freundlich an, während Götterdämmerung versuchte, ihre Position neben der braunen Stute zu verteidigen, doch Mill wusste sich zu wehren und schnappte nach ihr. Die Diskussion war damit beendet und ich rannte zurück unters Dach, um nicht noch mehr durchweicht zu werden. In der Gasse machte ich etwas Ordnung und schielte immer wieder zu Lina hinüber, die Zoi versuchte für die Arbeit zu motivieren. Doch die Stute dachte gar nicht daran, sie für voll zunehmen und lief Runde um Runde im Kreis, schlief die Füße durch den Sand und schüttelte immer wieder den Kopf. Ich fand nicht die richtigen Worte, um den beiden zu helfen.
      “Hast du nachher Lust noch einen Film zu schauen?”, ertönte es hinter mir, gefolgt von Hufschlag. Tyrell betrat zusammen mit Bruce die Stallgasse. Perplex klammerte ich mich am Besen fest und musterte sie von oben bis unten. Die Beine der Hengste waren bis zu den Knien mit Matsch belegt und vom Schweif tropfte der Regen hinunter.
      “Du kannst es auch nicht lassen, oder?”, lachte Bruce und gab seinem Bruder einen leichten Schlag in den Oberarm mit der Faust. Tyrell funkelte ihn verärgert an, aber sagte nichts.
      “Können wir gern machen”, lächelte ich und stellte den Besen zurück an seinen Platz. Dabei stupste mich Herkir an meiner Hose an, in der sich wie immer Leckerlis versteckte. Ich kramte ihm umgehend nach einem und gab auch Waschi eins. Sanft fummelte er die Belohnung von meiner Handfläche. Ich strich beiden Pferden über den nassen Hals und schaltete das Solarium an, um die Hengste zu trocknen.
      “Kannst du ein Auge auf ihn haben?”, bat Bruce mich und bewegte seinen Kopf in Richtung des Hengstes, “ich muss mal nach Jonina gucken, die mit Cissa in der Reithalle sein sollte.”
      “Natürlich”, antwortete ich und stellte mich demonstrativ zu dem Fuchs. Bruce bedankte sich und zog die Kapuze über seinen Kopf, bevor er zurück in den Regen lief, um die zur anderen Halle zu gelangen. Lina schielte zwischen durch zu uns, aber hatte die junge Stute mittlerweile dafür motivieren können, aktiver vorwärtszulaufen.
      “Wir haben noch Red Sparrow auf der Liste”, kam Tyrell überraschend wieder, nach dem er Waschi auf den Paddock gebracht hatte. Mir entging, dass wir im April eine Liste erstellten mit Filmen und Serien, die wir ansehen wollten. In der Prüfungszeit und Vorbereitung zur Reise nach Kanada wurde meine Zeit immer knapper. Außerdem fühlte ich mich nicht wohl dabei, ihm immer näherzukommen.
      “Klingt gut”, schmunzelte ich, “aber vorher ist erst mal noch Folke an der Reihe.”
      “Wo ist der eigentlich?”, erkundigte er sich.
      “Er ist mit Hedda in Linköping, sollte jedoch demnächst wieder da sein”, erzählte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann verlangte Herkir wieder meine Aufmerksamkeit. Sinnloses herumstehen gefiel ihm nur mittelmäßig. Er tänzelte auf der Stelle, versuchte in die seitliche Befestigung zu beißen und wurde nervöser, je länger nicht von der Stelle kam. Sanft strich ihm über den Nasenrücken und hielt ihm am Halfter unten. Allmählich fand er sich mit seiner Situation, konnte sogar noch etwas dösen, bevor ich ihn in seine Box brachte. Er stand zusammen Glymur in unserem Stall und freute sich endlich wieder seinen Mitstreiter zu sehen.
      „Na mein Hübscher“, begrüßte ich den Hengst, für den ich seitdem intensiven Training mit Lubi, Fruity und der Göttin kaum noch Zeit schenken konnte. Auch er entschied meine Hosentasche, als äußerst interessant zu empfinden und fummelte mit seiner Oberlippe daran herum. Herkir spitze ebenfalls die Ohren. Für beide kramte ich eins heraus und übergab sie ihnen. Intensiv strich ihn durch die mittlerweile wieder volle Mähne und das plüschige Fell. Ich hatte extra meine Handschuhe ausgezogen, um seine Wärme spüren zu können. Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu vernachlässigen, aber ich wusste, dass ich eine Entscheidung treffen musste und die nun mal, gegen das Gangreiten sprach. Ich träumte davon mit ihm selbige Prüfungen zu reiten wie ich mit Lubi vorbereitete, konnte mir aber schon denken, dass es für reinstes Gelächter sorgen würde. Glymur war trotz seiner fünf Gänge sicher im Trab und Galopp zu reiten und sogar so weit ausgebildet, dass eine L-Klasse locker mit einer Schleife belegen könnte, doch Bruce hatte schon lachend nur mit dem Kopf geschüttelt, als ich von dem Ritt in Kanada erzählte.
      „Würdest du bitte Platz machen? Ich möchte Glymur herausholen“, sagte die neue Trainerin, die Bruce ans Wasser zog für die Reitschule.
      „Ich denke nicht“, brummte ich genervt und wurde unfreundlich zur Seite gedrückt. Sie warf mir einen scharfen Blick zu und legte dem Hengst ein deutlich zu großes Halfter an. Dann verließ sie den Stall mit hocherhobenem Kopf. Tyrell zog mich zur Seite.
      „Vriska, so geht das nicht“, ermahnte er mich.
      Ich rollte übertrieben mit den Augen.
      „Das auch nicht!“, wurde seine Stimme lauter.
      „Aber der gehört mir“, protestierte ich und wusste, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Das bekam ich direkt bitter zu spüren.
      „Dir gehört hier rein gar nichts“, tadelte mich Tyrell weiter, „ich teile mir mit meinem Bruder die Eigentumsrechte an dem Pferd. Wir haben dir freundlicherweise Glymur zur Verfügung gestellt und nun hast du dir das teure Dressurpferd angelacht.“ Dabei nickte er mit seinem Kopf zur vorletzten Box, in der Lubi ihren Kopf heraussteckte und albern wippte. Sie streckte die Zunge heraus, nach einem teuren Dressurpferd sah sie dabei nicht aus, eher nach einem Trottel, den man auf dem Jahrmarkt geschenkt bekommen hat.
      “Schon gut”, beendete ich wehleidig die Diskussion und wand mich von ihm ab. Ich spürte, dass er mir sehr auffällig nachsah, doch ich wollte ihn gerade wirklich nicht mehr vor den Augen haben. Stattdessen suchte ich Lina auf, die vermutlich alles davon mitbekam. Sie sammelte die braune Stute gerade ein, als ich am Tor auf sie wartete.
      “Gefällt dir wohl nicht so, dass jemand anders jetzt mit Glymi arbeitete, mh?”, erfasste sie die Situation, als sie mit Zoi im Schlepptau auf mich zukam.
      “Nicht so eingebildete, blöde Kuh”, sprach ich leise, damit Tyrell uns nicht hörte, “wenn ich das Geld hätte, wäre es schon mein Pferd.” Als erhörte jemand meinen Wunsch, vibrierte mein Handy. Ich warf einen kurzen Blick darauf: 1 Message from Niklas. “Also heute Abend ist die kleine Feier?”, schrieb er. Ich antwortete mit einem kurzen ‘Ja’ und steckte es zurück in die Brusttasche meiner Jacke.
      “Kann ich vollkommen nachvollziehen, ich wäre auch so drauf, ginge es um Ivy”, nickte Lina verständnisvoll.
      “Und dann kam der nicht adlige Prinz”, lachte ich aufgesetzt, “während meiner aus dem Frust heraus, sich direkt ‘nh andere sucht.” In dem Moment fiel mir ein, dass ich ihr noch gar nicht davon erzählt hatte und schämte mich für beides. Ich trat einige Schritte zur Seite, um ihr Platz machen am Anbinder. Neugierig zupfte Zoi an meinem Ärmel und bekam einen kleinen Klaps von mir, mehr als unkontrollierte Bewegung, als zur Erziehung. Ich seufzte.
      Lina hielt für einen Moment inne die Riemen des Kappzaums zu lösen und sah mich fragend an: “Soll ich fragen, was Erik angestellt hat oder willst du lieber nicht drüber reden?”
      „Ich weiß es nicht genau“, atmete ich erneut zu laut aus und ballte meine im Ärmel zur Faust, „er hat mir nichts Genaues erzählt, weil ich es nicht wollte. Alles, was ich weiß ist, dass er noch am Tag, als ich zutiefst im emotionalen Chaos versank, mit einer anderen schlief. Und als wir dann vor ein paar Tagen essen waren, meinte er, dass sich da etwas Ernstes entwickelte. Ich freue mich für ihn, aber es tut weh.“
      Zwischendrin schluckte ich immer wieder, fühlte mich schlecht dabei und noch schlechter, dass Trymr auch nicht mehr da war. Stattdessen klammerte ich mich an einem Typen, dessen Namen ich nicht kannte und womöglich die beste Chance im Leben verspielte. Ich war mir meiner Sache zu sicher, er war sich seiner Sache zu sicher und damit verloren wir beide das vermutlich wichtigste in dem Moment.
      “Das tut mir wirklich leid für dich, ich kann mir vorstellen, dass das schmerzt”, erwiderte sie mitfühlend. Lina meinte es gut, aber es war nicht wirklich das, was ich hören wollte. Dennoch lächelte ich und schniefte. Dann sah ich mich im Stall um, damit sonst keiner uns zuhörte.
      “Vielleicht”, murmelte ich, “sollte ich nachher wirklich noch zu Tyrell.”
      “Wenn du denkst, dass es dir guttut, mache es”, lächelte Lina freundlich.
      “Man”, protestierte ich laut stark und trampelte auf der Stelle herum. Zoi schreckte mit dem Kopf hoch, aber begriff im nächsten Wimpernschlag, dass ein Zwerg, wie ich es war, keine Bedrohung darstellte. Schockiert sah auch Lina mich an und setzte fort: “Du bist doch auch keine Hilfe. Weiß ich doch nicht, was mit guttut. Ich könnte vermutlich auch zu Vidar fahren und der würde sich zumindest mehr freuen.” Lachte ich zu sehr, um das es wie ein Scherz klang. Kurz dachte ich darüber nach, aber das war es wirklich nicht wert, knappe vierzig Minuten in die Höhle des Drachens zu fahren.
      “Entschuldigung”, beschwichtigen nahm Lina die Hände nach oben,” aber letzteres halte ich für eine sonderbare Idee. Noch ist nicht gesagt, dass das mit Erik und dir endgültig aus ist.”
      “Aber dann wäre wohl beides nicht ganz klug”, antwortete ich und überlegte kurz, “oder hast du Angst, dass ich deine Schwiegermutter werde?” Ich wusste, dass es nicht nur vollkommen absurd war, sondern auch geschmacklos. Doch irgendwie hatte Spaß daran, das Gespräch mit ihr zu führen, obwohl Lina ziemlich schockiert mich anblickte und nicht wusste damit umzugehen. Wir waren noch immer allein im Stall. Gegen die großen Fenster pladderte noch immer der Regen und der Wind toste an den offenen Toren vorbei. Die Pferde störte der Sturm nicht ansatzweise, doch mich beunruhigte es etwas.
      “Ähm, nein …”, sagte sie und blickte mich noch immer ein wenig verstört an, “und ob das andere unklug wäre, kann ich nicht beurteilen, weil ich keine Ahnung habe, was in deinem Kopf vor sich geht.”
      “Um dir das zu erzählen, bräuchten wir Alkohol, sonst könnte es dich ziemlich überfordern”, grinste ich. Meine Schulter lehnte an einen der Holzpfähle, rutschte ab, aber ich konnte mich noch rechtzeitig fangen. Wieder schlug das junge Pferd seinen Kopf nach oben.
      “Wenn es dich ernsthaft interessiert, kannst du zu mir kommen”, bot ich ihr beim Verlassen der Stallgasse an, “aber jetzt versuche ich erst mal Erik ein schlechtes Gewissen machen.” Dann lief ich weiter, noch rechtzeitig fiel mir noch ein, dass Niklas in wenigen Minuten da sein wollte.
      “Ach ja”, rief ich vom Tor, “dein Kerl ich gleich da.”
      Eine Antwort bekam ich nicht mehr, stattdessen blickte sie mich nur mit ihren großen Augen an. Nicht nur sie dachte gerade, dass ich verrückt sei, auch ich wusste das bereits. Aber normal kann jeder. Ich legte mir die Kapuze auf dem Kopf und rannte über den Kiesweg zu meiner Hütte. Eine Welle aus heißer, stickiger Luft kam mir entgegen, als ich die Schiebetür meiner Terrasse öffnete. Den Regenmantel warf ich in die Dusche und wechselte zunächst meine Kleidung. Da die Pferde bei dem Sturm nicht auf die Weiden sollten, gab es auch nichts weiter zu tun. Frisch umgezogen, ließ ich mich auf die weiche Couch fallen und konnte es eigentlich nicht abwarten, schlafen zu gehen und am nächsten Tag von vorne zu beginnen. Ein Tag sah bei mir seit Wochen sehr ähnlich aus: Ich stand auf, zog mich an, trank einen Kaffee und arbeitete mit drei Pferden, bevor ich mich an die Boxen machte und dann mit zwei Jungpferden fortsetzte. Danach variierte es, welche Pferde meine Aufmerksamkeit verlangten oder ob ich in die Stadt fuhr und Besorgungen machte.
      „Annäherungsversuche beim Chef machen, ja oder nein?“, schrieb meiner unbekannten Gesellschaft, die immer einen guten Rat zu schreiben hatten. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er meine Nachricht las und am Tippen war.
      „Eigentlich ist das immer eine idiotische Idee und du bist kein Idiot, junge Dame“, antwortete er.
      „Auch nicht, wenn ihm Gefühle vollkommen egal sind?“, formulierte ich frei heraus, denn ich wusste, dass Tyrell diese Sorte Mann war.
      „Erst recht nicht dann“, kam eine weitere Antwort, bevor die nächste bereits folgte, „schließlich hast du mich dafür. Also, was hast du auf dem Herzen?“
      „Der wichtigste Unterschied zwischen ihm und dir ist aber, dass er zur Verfügung steht und du dich hinter verführerischen Nachrichten versteckst, die mit aller Wahrscheinlichkeit immer Fantasie bleiben würden“, fühlte ich mich selbstsicher und kuschelte mich zwischen den Kissen ein. Mein Handy hielt in die Luft über meinen Kopf und grinste schelmisch. Mittlerweile konnte ich gut einschätzen, was ihm auf die Palme brachte und womit sich sein Ego nicht gut fühlte. Dazu zählte ganz klar die Tatsache, dass er ungern hinter anderen Männern gestellt wurde. Ewig pulsierten die drei Punkte, bis eine Antwort auf dem Bildschirm erschien: „Ach, so ist das also? Denkst du ernsthaft, dass ich nicht in der Lage bin, dich genauso glücklich zu machen, wie ich es sage? Das würde mich stark enttäuschen und glaube mir, du möchtest nicht, dass ich enttäuscht bin.”
      Mein Lächeln wurde immer breiter, ihn anzustacheln bereitete mir große Freude. Prüfend sah ich zur Tür. Der Regen wurde immer stärker und Lina noch kommen würde, bezweifelte ich immer mehr. Für mich selbst zuckte ich mit den Schultern und schrieb dann eine Antwort: “Was wäre denn, wenn du enttäuscht bist? Schließlich ist es für mich schwer einzuschätzen, ob du dazu in der Lage bist oder nicht, schließlich wagst du es dich nicht, mich physisch zu berühren.” Als hätte er schon beim Schreiben mitgelesen, leuchteten wieder die Punkte auf.
      “Das werden wir noch sehen”, provozierte er mich.
      “Ich will dich sehen”, nervös biss ich mir auf der Unterlippe herum, hoffte innerlich darauf, dass es ihn so sehr aus der Bahn warf, dass er noch heute herkommen wusste. Doch ich wusste, dass er keinesfalls an einen Ort kommen würde, an dem sich einer von uns beiden auskannte. Wir hatten bereits darübergeschrieben, wie das erste Treffen aussehen könnte und das würde auf jeden Fall in einem Hotel sein, dass für uns beide mehrere Stunden entfernt lag.
      “Sehen würdest du mich nicht, aber spüren würde doch schon reichen”, kam es als Antwort. Mein Herz pochte immer schneller, die Adern kochten und an meinem ganzen Körper breitete sich ein Zittern aus. Vielleicht sollte ich das alles nicht zu ernst nehmen, aber der Gedanke, dass er sich mehr Mühe gab, als der Kerl, von dem ich dachte, er sei der Eine, brachte mich zum Nachdenken. Ich war zu schwach, um ihm mehr zu schreiben, doch das war gar nicht nötig, denn er setzte direkt fort: “Aktuell hätte es niemand anderes mehr verdient als du. Wenn ich ehrlich bin, pulsiert alles auch nur für dich. Mein Herz ist bei dir.”
      Ich schluckte und schloss den Chat. Dann legte ich das Handy neben mich in die Couchritze und beobachtete, wie der Regen weiterhin gegen die großen Scheiben peitschte. Es wirkte hypnotisierend. Durch meinen Kopf liefen verschiedene Szenarien, wie es laufen würde, je nachdem welche Entscheidung ich treffen würde. Vor den Fenstern verdunkelte es sich und meine Augen fielen auch immer schneller zu, bis ich panisch wach wurde und nach meinem Handy in der Ritze wühlte. Neben vier Nachrichten hatte von meinem Unbekannten, hatte auch Erik mir geschrieben.
      “Ich glaube, du musst wieder Trymr zu dir nehmen”, las ich.
      “Warum?”, tippte ich auf den Bildschirm ein. Natürlich würde ich mich sehr darüber freuen, doch am Ende des Tages schien nur dieser Hund uns noch zu verbinden, als gäbe es sonst nichts mehr.
      “Er jault nur noch und frisst kaum”, vibrierte mein Handy umgehend. Ich atmete tief durch, wäre es der richtige Moment ihm zu sagen, dass es auch mir so ging? Immer wieder flogen die Finger über die matte Anzeige, löschten alles, um dann erneut dasselbe zu tippen. Ich hatte dafür gesorgt, dass er sich distanziert und ich die Kontrolle verlor. Es lag alles an mir, nur das sollte ich mir vor Augen führen. Eine Träne tropfte auf den Bildschirm und rief ihn unbemerkt an, was ich erst Minuten später bemerkte. Ich rieb mit meinen Händen durchs Gesicht, schluchzte immer wieder ‘Warum’ und weinte weiter. Dann hörte ich ihn: “Vriska?” Vor Schreck hielt ich den Atem an, verschluckte mich dabei und schnappte panisch nach Luft. Mit meinem Handballen wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und sah in mein Handy. Erik strahlte mich mit seinem übertrieben breiten Lächeln und winkte. Das war auf allen Linien einfach nur peinlich.
      “War ich das?”, fragte ich nasal und schniefte.
      “Ja, eindeutig”, lächelte er weiter, “aber jetzt sag mir, was los ist, sonst fahre ich zu dir.”
      Es gab Gründe, warum ich es in meinem Leben mied FaceTime abzuhalten. Dazu zählte, dass man seinem Gegenüber direkt sah und vor allem das, was im Hintergrund ablief. Trymr hatte mich offensichtlich an der Stimme erkannt und sprang über die äußerst hässliche Couch direkt auf seinen Schoß. Von Eriks Gesicht war nicht mehr viel zu sehen, dafür beobachtete der Hund genau, was auf dem leuchteten Bildschirm passierte und kam mit seiner großen Nase dem Touchscreen bedrohlich nah. Ich hörte auch Fredna quengeln, die vermutlich nicht in Bett wollte, sondern lieber mit den Pferdchen spielte. Obwohl noch immer Tränen über meine Wange liefen, lachte ich.
      „Ich spreche mit dir, was ist los?“, wiederholte Erik versucht seinen Hund vom Schoß loszuwerden, doch dieser rührte sich kein Stück.
      „Ich vermisse dich“, schluchzte ich.
      „Also fahre ich jetzt los“, beschloss er energischer und Trymr sprang überzeugt auf.
      „Nein, ist schon gut. Ich komm klar“, log ich und wischte mir erneut durchs Gesicht mit meinem Handrücken.
      “Jetzt lüge mich nicht an. So wie du aussiehst, kommst du nicht klar”, sagte Erik bedenklich und fuhr sich durch das offene Haar. Ihn nicht im Anzug zu sehen, war ein ungewöhnlicher Anblick, aber keiner, der mich an ihm zweifeln ließ.
      “Na gut”, murmelte ich und setzte mich ordentlicher auf das Sofakissen, “aber du musst nicht herkommen, möchte dich nicht belasten.”
      Erik begann zu Lachen und schüttelte den Kopf.
      “Dafür ist es reichlich spät. Also wie lange willst du noch diskutieren? So oder so mache ich mich gleich auf dem Weg”, erklärte er. Leider handelte es sich nicht mehr um einen Weg von vier Stunden, die er vor sich haben würde, um herzukommen, stattdessen waren es knappe dreißig Minuten, denn er zog vor zwei Wochen in ein Haus mit seiner Schwester am Rand von Kalmar.
      “Wenn es dich glücklich macht”, raunte ich.
      “Ja”, sagte Erik beschlossen, “aber ich ziehe mich erst mal ordentlich an.”
      “Nein”, rief ich sofort. Verwundert blickte er mich an.
      “Ich möchte nicht die Einzige in Jogginghose sein”, fügte ich noch hinzu.
      “Bis du mich in Jogginghose siehst, muss die Welt untergehen”, lachte er und bewegte das Handy nach unten. Erleichtert atmete ich aus, denn er trug eine Hose, eine Anzughose – wer hätte das nur denken können.
      “Dann bleib, wo du bist, ich packe deinen Freund ein und komme vorbei. Aber holst du mich dann mit einem Schirm vom Parkplatz ab?”, fragte er und stand auf. Aus dem Hintergrund ertönte:
      > Vart är du på väg nu? Har du tittat på din klocka?
      ”Wo willst du denn jetzt noch hin? Hast du mal auf die Uhr geschaut?)” Seine Schwester war von Anfang an ziemlich schlecht auf mich zu sprechen. Erik antwortete entschlossen:
      > Jag ska träffa min ängel och kommer inte tillbaka förrän i morgon.
      ”Ich fahre zu meinem Engel und komme erst morgen wieder.” Wieder stoppte mein Atem kurz. Hatte ich das gerade richtig gehört, oder verzog sein Dialekt wieder einmal die Worte.
      > Vriska, jag går nu.
      „Vriska, ich fahre jetzt los”, lächelte er und legte auf. Verkrampft hielt ich noch mein Handy in der Hand, starrte in dieselbe Richtung. Es half wirklich mit Menschen einfach darüber zu sprechen, was man wollte, anstatt es in sich hineinzufressen.
      Nervös tigerte die Wohnung auf und ab, es herrschte hier nicht nur das reinste Chaos, sondern es standen auch überall benutzte Teller und Kaffeetassen herum, die eigentlich in der vergangenen Woche bereits abgewaschen werden hätte sollen. Stattdessen stand alles hier herum.
      Zittrig nahm ich wieder mein Handy und sagte Lina Bescheid, dass ich entweder alles richtig gemacht habe, oder mich in das nächste Chaos katapultierte: “Ähm, Erik kommt gleich. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.” Dann atmete ich tief ein und wieder aus, steckte mein Handy weg und versuchte in der verbleibenden Zeit zumindest minimale Ordnung hineinzubringen. Nicht zu vergessen, dass wir in circa einer Stunde noch Folkes Geburtstag feiern wollten und ich nicht so genau wusste, wie erwünscht weiterer Besuch war. Es dauerte nicht lange bis eine Antwort von Lina kam: “Wenn er jetzt noch extra herkommt, scheint es als würdest du es brauchen, das wird schon.”
      Meine Finger zitterten, als ich fest umschlossen mich am Handy klammerte und immer wieder die Nachricht mit meinen Augen überflog. ‚Als würdest du es brauchen‘, verbiss sich wie ein wütender Terrier in mir. Vielleicht konnte ich mir einfach nicht eingestehen glücklich zu sein und zu schätzen, was ich hatte. Es war ein Auf und Ab, dass ich stets versuchte zu bändigen.
      „Ich glaube, dass ihn liebe und es mir nicht eingestehen will“, schrieb ich Lina nach reichlicher Überlegung. Eigentlich hatte sie immer einen Rat, oder zumindest unterstützende Worte. So hoffte ich auch diesmal das Richtige von ihr zu hören. Nervös starrte ich auf den Bildschirm, aber sie kam einfach nicht mehr online. Einmal mehr wünschte ich mir, dass Niklas nicht existieren würde oder Jenni noch meiner Seite, denn auch sie wüsste mich nun zu bändigen. Verzweifelt tippte ich eine Nachricht an meinen Unbekannten, auch wenn das vermutlich die Stimmung für immer über den Haufen warf.
      „Du bist ein Mann, ein guter sogar. So ein wenig kennst du die Vorgeschichte und glaube, dass da mehr zwischen ihm und mir ist, zumindest fühle ich etwas, das vorher noch nie so mein Leben steuerte, mich in Bedrängnis brachte und mich nicht mehr klar denken ließ. Würdest du das erfahren wollen oder sollte ich lieber nicht mit ihm sprechen?“, tippte ich und drückte auf den blauen Pfeil zum Absenden der Nachricht. Im selben Moment trudelte auch endlich eine Antwort von Lina ein: “Schon allein, dass du mir diese Nachricht schreibst, sagt mir, dass da definitiv etwas ist. Ich weiß selbst, Gefühle zu akzeptieren ist nicht immer einfach, aber gehe nicht so verkopft an die Sache heranzugehen. Versuche einfach auf körperlicher Ebene zu fühlen, ohne zu bewerten. Lass dich von deinem Herzen leiten und akzeptiere, was du fühlst. Um mir Gefühle einzugestehen, hilft es mir persönlich häufig, wenn ich das Gefühl visualisiere, oder aufzuschreiben wie ich mich fühle, zu ergründen, wo es herkommt und warum ich mich so fühle. Habe keine Angst davor und denke stets daran, jemanden zu lieben ist schön und geliebt zu werden noch viel schöner. Ich weiß, dass du es zulassen kannst, du musst nur noch selbst daran glauben.” Kein Wunder, dass sie bei so einem Roman einen Augenblick länger benötigte zum Antworten. Zwischen den Tränen funkelte auf meinen Lippen ein Lächeln auf, „danke“, hauchte ich nur ins Leere meines Zimmers und stellte die benutzten Tassen in die Spülmaschine. Den Wäschehaufen verstaute ich in dem dazugehörigen Korb. Zumindest sah die Hütte nun weniger chaotisch aus. Da Eriks Auto im Vergleich zu Niklas‘ ziemlich laute Geräusche machte, entging es meinen Ohren nicht, dass er langsam über den Kiesweg zum Parkplatz einfuhr. Ein letzter Blick auf mein Handy verriet mir, dass auch mein Unbekannter eine Antwort parat hatte.
      „Dann solltest du es ihm sagen, es bringt nichts, wenn du dich wochenlang oder Monate damit quälst. Also erzähle mir später davon“, las ich, schnappte mir den Regenschirm und steckte das Handy weg. Bis zum Parkplatz waren es nur einige Meter, die jedoch reichten, um meine Reitschuhe vollkommen zu durchnässen. Mit Wasser in den Sohlen platschte ich weiter und hielt vor seinem Auto an. Lachend schielt Erik zu mir hoch und Trymr steckte seinen Kopf in die vordere Sitzreihe. Dann öffnete er langsam die Tür und nahm den Schirm schützend über sich. Unbeholfen stand ich daneben, wusste nicht genau, wie ich ihn begrüßen sollte. Sonst umarmten wir uns immer, doch heute fühlte es sich seltsam ab. Dann lies Erik zunächst den Hund ins Freie, der direkt zu mir rannte, quietschte und jaulte. An den Pfoten trug er etwas, dass ich als Schuhe bezeichnen würde und über dem ganzen Körper einen gelben, regenabweisende Pyjama. Willkürlich begann ich zu lachen.
      „Er soll doch auch nicht nass werden“, zuckte Erik mit den Schultern und zog mich am Kopf zu sich heran. Der sonst so stechende und ätzende Geruch seines Aftershaves wurde durch etwas Freundliches ausgetauscht, dass deutlich besser zu ihm passte. Auch ich legte dann meine Arme um seinen Oberkörper und drückte mich einfach nur fest.
      „Danke, dass du da bist“, raunte ich. Sanft strich er mir durch mein wüstes Haar.
      „Für dich immer, Engelchen“, lächelte er. Mir wurden die Knie weich, klammerte mich weiter an ihm unter dem Mantel an seinen Oberkörper und spürte, dass seine Muskeln zuckte bei jeder meiner Bewegung.
      “Lass uns drin weitermachen”, zog Erik mein Kinn nach oben, dass ihn ansehen musste, „hier ist eklig.“
      Ich nickte langsam. Aus dem Kofferraum nahm er eine große Ledertasche und zusammen liefen wir zur Hütte, eher rannten wir, denn der Regen wurde immer stärker und der dazugehörige Wind sprühte das Wasser unter den Schirm. An der Tür reichte ich Erik ein Handtuch für sich und den Hund, während ich die Schuhe zur eigentlichen Haustür brachte. Meistens ging es über die Schiebetür der Terrasse ins Innere meines Hauses, anstelle der eigentlichen Haustür neben der Küche.
      “Aber ich muss gleich noch mal weg, weil wir auf Folkes Geburtstag anstoßen, außer du kommst mit”, lächelte ich und schaltete die Lichterketten im Wohnzimmer ein über den Hub an der Wand.
      “Da Niklas offensichtlich da ist, nein”, schüttelte Erik entschlossen den Kopf und kramte neben einer Laptoptasche auch eine große Schüssel aus seiner Tasche, die ich direkt im Kühlschrank verstaute. Trymr hüpfte mir um die Füße und wollte so gernhaben, was ich trug.
      “Senare (später)”, hauchte ich dem Ungetüm zu. Mit großen Augen sah er an mir hoch, wollte nicht so recht akzeptieren auf sein Futter warten zu müssen. Je länger ich zu ihm heruntersah, umso größer schien das Funkeln in seinen Augen zu werden und sein Schwanz wischte energischer den Boden.
      “Erik, dein Hund stirbt gleich vor Hunger”, sagte ich mitfühlend und strich dem armen Tier über dem Kopf. Er drückte sich fest an mich heran, ehe er auf dem Rücken lag und den Bauch gekrault haben wollte.
      “So schnell stirbt es sich nicht”, lachte Erik und sah über die Lehne der Couch hinweg zu uns, “und wenn hier einer stirbt, dann bist du es, wenn du nicht herkommst.” Oh, was? Schnellen Schrittes stürzte ich mich über die Rückenlehne und wurde umgehend getadelt. Verlegen wich ich seinem stechenden Blick aus, starrte im Wechsel zur Decke und meinen Füßen, die ich überkreuzt auf dem Sitzkissen hatte. Wieder legte Erik seine Hand an mein Kinn. Es fühlte sich wieder so vertraut an, ihn bei mir zu haben, als hätte es die ganzen Vorfälle nicht gegeben, die zwischen uns lagen. Dabei wusste ich nicht einmal, wie es ihm damit ging. Immer heulte ich herum, nahm überhaupt keine Rücksicht auf seine Gefühle und hoffte darauf, dass er mit mir darüber sprechen würde, wenn ihm etwas missfiel. Aus dem Augenwinkel heraus musterte ich ihn heimlich und mir gefiel, was ich sah. Erik trug ein einfarbiges weißes Shirt und eine braun karierte Anzughose, die unnötigerweise mit einem Gürtel an seinem Becken saß. Die dunklen Härchen an seinen Armen stellten sich auf, als ich ihn grundlos in die Wange pikste und sagte: “Boop.” Langsam bewegten sich seine Augen meine Richtung und er warf mir ein strahlendes Lächeln zu.
      “Möchte da etwa jemand Aufmerksamkeit?”, grinste Erik und lehnte sich tiefer in die Rückenkissen.
      “Wir werden wohl kaum bis morgen früh auf der Couch sitzen und den Regen beobachten, wie er gegen die Scheiben plätschert”, erkundigte ich mich forsch.
      “Ach nicht? Ich finde es eigentlich ganz schön”, sagte er munter und legte seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. Nervös schluckte ich. Mein Herz klopfte wie wild, bei Linas Nachricht im Hinterkopf, dass ich mich darauf einlassen sollte. Ich schielte zur Uhr an der Wand, langsam wurde es Zeit, dass ich zur Halle ging, um mit den anderen auf Folke anzustoßen.
      “Du verwirrst mich”, sprang ich aufgeregt auf, “doch jetzt muss ich kurz rüber.” Im Schlafzimmer warf ich mir ein anderes Oberteil über und suchte nach dem kleinen Paket, das ich für ihn vorbereitet hatte. Als ich vor einigen Wochen mit Niklas noch kurz in der Stadt war, fand ich die richtige Tasse für ihn. Ständig nahm sich jemand aus dem Aufenthaltsraum seine, worüber Folke sich lautstark Unmut machte.
      „Wieso verwirre ich dich?“, tauchte Erik unverhofft neben mir auf, grinste frech und zog sein Oberteil aus. Kopfschüttelnd stand ich wie angewurzelt an der Tür meines deckenhohen Kleiderschranks und musterte ihn wieder einmal von oben bis unten.
      „Weil“, stammelte ich, “deswegen.” Gestikulierte ich wild in der Luft herum und formte dabei imaginär seinen Körper. Er lachte nur, schien das ganze weiterhin für einen ziemlich guten Witz zu halten. Doch in mir zog sich alles zusammen, Hitze stieg mir in den Wangen herauf und langsam konnte ich mich wirklich nicht mehr davor verstecken, was ich noch immer fühlte. Tief atmete ich ein und auch wieder aus. Mit kleinen Schritten nährte ich mich ihm und wusste nicht genau wohin mit meinen Händen, was macht man sonst mit denen? Die hingen so sinnlos an meinem Körper herum, schwitzten wie wild und ballten sich immer wieder zu Faust. Auch meine Knie wurden immer weicher und mein Magen schlug weiterhin Purzelbäume. Mir wurde heiß, kalt und schlecht gleichzeitig. War es schon immer so warm in meiner Hütte, oder musste ich ihm die Schuld dafür zuschieben? Ich schloss die Augen und hoffte darauf, plötzlich im Konferenzraum aufzutauchen und Folke zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag zu gratulieren, dabei neben Lina zu stehen und irgendwelche blöden Scherze zu machen. Stattdessen erblickten meine Augen nur Eriks Gesicht, bedrohlich nah an meinem. Offenbar hatte mich, mein Weg wirklich zu ihm geführt und ich spürte seine ebenfalls schwitzige und warme Haut an meinen Händen. Langsam strich ich an seinem seitlichen Bauch entlang, wodurch in mir alles noch stärker kribbelte und gar nicht mehr aufhörte, mir den Verstand zu vernebeln. Ich schluckte wieder.
      “Solltest du nicht endlich Klartext sprechen?”, hob Erik seine Brauen nach oben und lächelte noch immer viel zu selbstsicher, um ihn weiterhin etwas vorzumachen.
      “Ich muss wirklich rüber”, stotterte ich. Es blieben noch mehr als zwanzig Minuten, bis auch der große Zeiger die Zwölf erreichte mit dem kleinen zusammen, aber ich fühlte mich gerade viel mehr als nicht wohl.
      “Man hat mir mein Pony weggenommen”, senkte ich den Kopf. Erik legte seine Hände an meine Schulter und drückte mich minimal von sich weg.
      “Warte”, schüttelte er verwirrt den Kopf, “damit habe ich nicht gerechnet.”
      “Du wolltest wissen, was los ist. Glymur wird jetzt von der Neuen umsorgt, die mich immer mehr von ihm losreißt”, seufzte ich.
      “Ach so, Stimmt. Das hatte ich gefragt”, murmelte er und kratzte sich am Kopf. Kurz sah er auf sein Handy und sagte dann: “Das klingt nach einer schwierigen Situation, wie kann ich dir helfen? Möchtest du, dass ich ihn kaufe oder was stellst du dir vor?”
      “Nein, auf keinen Fall, dann bist du arm und kannst dir nicht mal den Treibstoff deines Autos leisten”, lachte ich und wurde umgehend finster von ihm angeblickt. Noch bevor ich weitersprechen konnte, zischte er: “Wenn ich was will, dann bekomme ich es, schließlich muss man es sich auszahlen lassen vom Vater vernachlässigt zu werden.”
      “Wenn das so einfach wäre, dann könnte ich auch so verschwenderisch mit Geld umgehen”, rollte ich mit den Augen und hatte wirklich die Tatsachen in meinem Kopf verdrängt, dass er auch ziemlich verwöhnt wurde und unnötigerweise mit Geld um sich würft, als gäbe es kein Morgen.
      “Ich denke nicht, dass wir jetzt darüber diskutieren sollten”, verzog er verächtlich seine Mundwinkel, aber löste seinen stechenden Blick nicht von mir.
      “Es tut mir leid”, entschied ich zu antworten, was umgehend seinen Gesichtsausdruck wieder veränderte, “Ich wollte nur mit jemanden über Glymur sprechen, damit ich besser mit der Situation umgehen kann. Mehr erwarte ich nicht von dir, außer dass du für mich da bist.” Wieder schielten meine Augen zur Uhr, noch zwölf Minuten, bis wir auf den Geburtstag anstoßen wollten.
      “Hast du mir auch noch etwas zu sagen?”, erkundigte ich mich, eher erwartungsvoll, dass ich mich nicht öffnen musste.
      “Gerade nicht, nein. Finde es nur nicht in Ordnung, dass ich wegen des Pferdes hergekommen bin”, überlegte er, “das hättest du wirklich am Telefon sagen können, oder mir schreiben.” Das schmerzte tief im Herzen.
      “Aber ich wollte, dass du herkommst”, schämte ich mich, dass er Glymur als ein einfaches Pferd abstempelte und ihn für ersetzbar hielt. Ich musste jedoch einsehen, dass die Verbindung zu einem solch kraftvollen und majestätischen Tier für Außenstehende oft unbegründet wirkte.
      “Damit kommen wir der Sache doch langsam näher”, schmunzelte er schmutzig.
      “Egal was du noch hören willst, ich gehe nun zum Geburtstag, wir sehen uns gleich wieder”, strich ihm über die Brust und gab ihm einen flüchten Kuss auf die Wange.
      “Vivi, warte”, sagte er noch überraschend, als ich an der Tür stand, mit dem Geschenk unter dem Arm und mir die Regenjacke übergeworfen hatte. Abrupt blieb ich stehen und drückte die Tür wieder ins Schloss.
      “Ich komme doch mit, wenn es für dich in Ordnung ist”, schnappte er sich ein Hemd aus seiner Tasche und knöpfte des bis zum Hals zu, richtete den Kragen und folgte mir.
      “Na gut, gern”, lächelte ich glücklich und gab ihm den Schirm. Zusammen kämpften wir uns durch den Sturm und kamen mehr oder weniger trocken im Stall an. Durch die Fenster des Hauses leuchteten bunte Lichter und der Bass vibrierte auf dem Boden. Zusammen liefen wir die Treppen hinauf. Je näher wir der Tür kamen, umso sicherer fühlte ich mich. Meine Jacke streifte ich ab und hängte sie an den Haken im Flur. Der Regen tropfte vom glatten Material auf den Teppich, der komischerweise überall in den Räumen des Versammlungsgebäudes verlegt war. Ich zögerte, als ich meine Hand auf der Klinke hatte.
      “Willst du nicht hereingehen?”, fragte Erik überrascht und legte den Kopf leicht schräg, ohne seinen Blick von mir zu wenden.
      “Ich”, stammelte ich wieder unbeholfen, “ich muss vorher noch etwas klären.” Ehrfürchtig sah ich hoch zu ihm und atmete tief durch.
      “Und was?”, kratzte er sich am Kinn.
      “Du hast gesagt, dass das mit der was Ernstes ist”, vergewisserte ich mich nervös.
      “Ja, aber nein”, gab er zu und atmete selbst tief durch, “Ich wollte dich damit nur provozieren, um endlich ehrlich zu sein.”
      “Du bist ein Arsch”, antwortete ich entsetzt und wollte ihn weiter fertig machen, doch er holte mich durch eine einfache Berührung an meiner Hand zurück. Seine Augen funkelten auf einmal so sehr, dass ich mich fragte, ob er schon immer mich so ansah.
      “Ich habe meine Gefühle für dich die ganze Zeit verdrängt, weil ich Angst habe, dich immer wieder zu verletzten. Aber ich bin vermutlich in dich verliebt und will nichts mehr als dich zurückhaben”, ratterte ich herunter ohne Luft zu holen. Auch jetzt wagte ich nicht einen weiteren Atemzug zu nehmen.
      “Wir reden nachher weiter”, hauchte er in mein Ohr und öffnete die Tür. Na toll, jetzt sprach ich darüber, was ich fühlte und er verschob das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt? Das war unfair, aber im Raum freuten sich die Leute, für meinen Geschmack, viel zu sehr mich zu sehen.
      “Da bist du endlich”, umarmte mich Hedda überschwänglich und musterte meine Begleitung.
      “Wie schleppst du denn schon wieder mit dir herum, ich dachte, dass das zu Ende ist”, flüsterte sie mir zu.
      “Es ist kompliziert, habe ich dir doch schon erklärt”, zischte ich verärgert.
      “Ja, ja. Und gleich erklärst du mir, dass ich zu jung bin, um das zu verstehen”, rollte Hedda mit den Augen und lachte dreckig.
      “Ne, so was sage ich nicht, aber du verstehst es trotzdem nicht, weil ich selbst nicht tue”, antwortete ich kläglich. Endlich verschwand sie wieder zu ihrem Bruder. Erleichterte atmete ich aus und griff entschlossen nach Eriks Hand, um von dem kleinen Buffet an der Wand ein Getränk zu holen. Er blickte auf meinen Annäherungsversuch und sagte: “Ach ja? So ist das also?”
      “Pff”, rollte ich übertrieben mit den Augen und versuchte mich wieder zu lösen, aber er klammerte sich an mir fest, “offensichtlich, ja.” Für Zuschauer könnte das ziemlich übertrieben kitschig wirken, doch ich hatte meinen Spaß daran. Bewaffnet mit einem Getränk starrten wir zur Uhr, die sich in Sekunden schneller der Zwölf nährte und alle plötzlich begannen zu zählen. Nur ich schielte zu Lina und Niklas hinüber, die uns auch schon entdeckt hatten, aber auf ihrer Stelle wie angewurzelt stehen blieben.
      Auf die Sekunde genau stimmten wir das Geburtstagslied an und gratulierten ihm herzlich. Folke stand mit seiner Freundin an der Seite, lief rot an und konnte nicht wirklich mit unserer Freundlichkeit umgehen. Ich ließ Erik an Ort und Stelle stehen, lief zu meinem Arbeitskollegen und übergab ihm das Päckchen. Überrascht riss er das Papier ab und bestaunte die Tasse.
      “Endlich”, lachte er. Das Besondere an dem Geschenk war, dass sie einen Fingerabdrucksensor hatte und nur dadurch verwendbar war. Effektiv nutzen konnte man das Teil bestimmt nicht, aber die Idee war dennoch lustig. Dennoch konnte so niemand das Gefäß benutzen, denn sie war verschlossen, bis der Finger erkannt wurde. Der Verkäufer erklärte mir noch, dass dadurch die Flüssigkeit auch länger warm blieb.
      “Vriska, danke dir”, umarmte er mich glücklich und auch Eorann lachte. Lina gesellte sich nun auch dazu, um herzlich zu gratulieren, bevor sie sich neben mich stellte.
      “Du warst ja ziemlich knapp erst hier. Bist du der Lösung deines Problems nähergekommen?”, raunte sie mir neugierig zu und schielte zu besagtem Mann, der noch immer dort stand, wo ich ihn stehen ließ.
      „Ich weiß es nicht genau“, stammelte ich besorgt, „also ich denke ja, aber seine Antwort war, dass wir später darüber sprechen. Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass es mich erst knapp vor fünf Minuten dazu entschloss, es zu sagen. Nachdem er Glymur als ein Pferd wie jedes andere abstempelte.“ Das Glas in meiner Hand zitterte vor Aufregung, erst recht als Niklas dann auch dazu kam und nicht mehr sagte, als mich streng anzublicken. Ja, ich hatte ihm versprochen nichts mehr Alkoholisches zu mir zu nehmen, da meine letzte Ekstase bei einer kleinen Runde am Hof ziemlich ausuferte, wovon aber Lina noch nichts wusste und sonst eigentlich auch niemand.
      “Ein Pferd wie jedes andere? Hat er nicht gesagt”, hinterfragte sie verständnislos, “aber mach dich jetzt nicht verrückt, vermutlich möchte er dir in alle Ruhe antworten und nicht zwischen Tür und Angel.” Aufmunternd legte sie mir eine Hand auf die Schulter.
      “Nein, so genau hat er das natürlich nicht gesagt. Es war viel mehr, dass er hinterfragte, warum er wegen eines Pferdes zu mir kommen sollte”, gab ich zu.
      “Das klingt nach ihm”, runzelte Niklas die Stirn.
      “Sei ruhig”, zischte ich verärgert, “aber ich versuche ruhig zu bleiben, wird schon.”
      Zynisch lächelte ich und konnte kaum glauben, dass die Worte meinen Mund verließen. Auch Lina stimmte mit ein, während ihr Freund einige Schritte zur Seite wich und sie fest an sich zog. Ich wollte mir das nicht weiter ansehen, denn in meinem Magen rumpelte es energisch. Also schluckte ich, drehte mich um und lief zu Erik, der mich schon zu erwarten schien.
      “War es das schon?”, erkundigte er sich. Ich schüttelte den Kopf.
      “Ich muss noch kurz zu meinem Chef, dass ich doch keine Zeit habe”, erklärte ich.
      Er stand zusammen mit seinem Bruder am Buffet und hielt ein Gespräch ab mit der neuen und meinem Bruder. Die vier so vertraut miteinander zu sehen, verursachte weitere Zuckungen meiner Hand und die Stoppeln an meinem Körper stellten sich unangenehm auf. Sie kratzten an dem weichen Stoff meiner Hose.
      “Vivi, lässt du dich auch blicken”, lachte Harlen und musterte mich von oben bis unten. Natürlich, schließlich trug ich als einzige eine Jogginghose und in Kombination mit dem schwarzen Pullover, der eine Aufschrift auf der Brust hatte, wirkte ich nicht sehr festlich.
      “Entschuldige, ich habe auch den ganzen Tag gearbeitet und sogar mein Training abgesagt. Da brauche ich am Abend auch mal eine Ablenkung”, tadelte ich ihn. Erwartungsvoll blickte Tyrell zu mir hinüber.
      “Damit meinst du aber vermutlich nicht unseren Filmabend?”, erkundigte er sich scherzhaft, worauf ich mit einem Kopfschütteln antwortete.
      “Deswegen bin ich hier, wollte mich entschuldigen. Verschieben wir auf einen anderen Tag, okay?”, sagte ich einen Augenblick später.
      “Ach alles gut, mache dir nicht so einen Stress. Die Filme rennen nicht weg, aber wehe, du guckst sie ohne mich”, scherzte Tyrell. Erleichtert atmete ich aus.
      “Hast du dich erholt davon, dass du mit Glymur nicht arbeiten kannst?”, griff mich Jonina aus heiterem Himmel an und bekam direkt eine Ermahnung von Bruce.
      “Ja”, antwortete ich schockiert, aber versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Darauf kam zum Glück nichts mehr und ich verabschiedete mich, schließlich musste ich morgen um neun auf dem Pferd sitzen, damit ich Fruitys Trainingsplan aufrecht halten konnte.
      “Netflix and Chill?”, funkelte ich Erik an und hielt seine Hand. Wieder schnellte mein Puls nach oben und ich konnte nicht genau einschätzen, ob ein kleines Glas Wein diese Selbstsicherheit auslöste, oder die Überwindung zumindest ansatzweise ihm von meinen Gefühlen berichtet zu haben.
      “Werden wir sehen”, lachte er, “aber Netflix klingt gut.”
      Zusammen liefen wir zur Tür.
      “Vriska, warte kurz”, kam Lina angelaufen, ”was ist jetzt eigentlich mit Holy? Das haben wir vorhin ganz vergessen.”
      „Oh gut, dass du das noch sagst“, antwortete ich ein wenig überrascht und ließ Eriks Hand.
      „Zur Sicherheit holen wir noch einen Schwangerschaftstest aus dem Büro, nur um sicherzugehen“, sagte ich noch und zog mir die Jacke drüber. Irritiert sah er zwischen uns Hin und Her, bevor er überrumpelt fragte: „Soll ich mir Gedanken machen?“
      „Ach alles gut, du kannst nicht noch mal Vater werden“, lachte ich frech.
      „Mich brauchst du auch nicht so ansehen oder sehe ich aus wie ein Pferd“, fügte sie amüsiert hinzu, bevor sie mir lachend folgte durch den Flur. Erik sah uns irritiert nach. Ich konnte ihm nicht immer alles recht machen, schließlich sollte er auch mal etwas über sein Verhalten Gedanken machen. Zusammen standen wir vor der verschlossenen Tür, die nicht nur einfach gesichert war, sondern dreifach. Also gab ich die unterschiedlichen Codes auf dem Panel ein und hoffte, die richtige Reihenfolge getippt zu haben. Im nächsten Augenblick piepte es und die Tür öffnete sich.
      “Manchmal ist das alles sehr paranoid hier”, kommentierte ich und verschwand in dem großen Raum, einen Schreibtisch in Richtung des Reitplatzes ausgerichtet hatte und auf so was wie einem Podest stand. Dahinter türmten sich verschiedene Ordner in meterlangen Regalen, die Tyrell noch immer zur Sicherheit hatte. Vor dem Fenster neben dem Tisch war ein Apothekerschrank. Nach einander durchwühlte ich die Schubfächer, bis ich fand, wonach ich suchte. Triumphierend hielt ich das Päckchen in die Luft und steckte es in die Jackentasche.
      “Brauchst du sonst noch was? Ketamin?”, lachte ich.
      „Na, lass mal. Ich hatte nicht vor heute irgendwen zu entführen“, lehnte sie lachend ab.
      “Aber ich vielleicht”, überlegte ich kurz und sah in den verschlossenen Schrank in der Mitte. Aber stand dann auf, drehte mich um und verschloss das Büro wieder hinter mir. Mit Lina im Schlepptau machten wir uns auf dem Weg zum Paddock. Überraschenderweise stand Erik noch immer vor dem Konferenzraum.
      “Du hättest doch schon mal vorgehen können”, sagte ich im Vorbeigehen, aber er stoppte mich, in dem er an meinem Arm zog.
      “Wie redest du schon wieder mit mir?”, zischte er leise, damit Lina es nicht hörte. Langsam bewegten sich meine Augen nach oben. In mir bebte es, was nicht an dem Bass im Nebenraum lag.
      “Es tut mir leid”, tat ich auf unschuldig und klimperte mit meinen Augen. Ich konnte ihm nun doch noch ein verstohlenes Lächeln entlocken.
      “Entschuldigung akzeptiert”, grinste Erik und drückte seine Lippen auf meine Stirn, “aber beeile dich, ich warte im Zimmer auf dich.” Ich nickte und lief schnellen Schrittes mit Lina, die letzten Stufen herunter. Vor dem Rolltor tobte der Sturm, wirbelte die großen Tropfen durch die Luft und auch Äste flogen an uns vorbei. Dass es so ein Unwetter werden sollte, konnten nicht einmal die Wetterdienste erwarten. Schemenhaft erkannt ich im Kampf gegen das Wetter, die Stuten auf dem Paddock stehen oder viel mehr unter dem großen Unterstand. Keines der Tiere wagte es so verrückt zu sein wie wir, sich bei Orkanböen, die über das flache Eiland wehten, nur einen Zentimeter unter dem wolkenverhangenen Himmel zu bewegen.
      Holy stand schützend neben ihrer bekannten Girlie und kaute genüsslich das verbleibende Heu im Gang. Lina drückte den Lichtschalter am neben den Gittern und klirrend schaltete sich die spärliche Deckenbeleuchtung an.
      “Wenn sie wirklich trächtig sein sollte, denkst du, wie können das bei den Veranstaltern melden?”, sagte ich heiser zu Lina, die ihre Jacke vom Regen freischüttelte.
      “Mhm, das können wir sicher, aber ich weiß nicht, ob das viel bringen wird”, antwortete Lina stirnrunzelnd.
      “Aber irgendwer muss doch das Sorgerecht übernehmen”, musterte ich den runden Bauch der gescheckten Stute, “oder zumindest die Verantwortung.” Das Fohlen würde sicher noch verrückter sein als seine Mutter, die komplette Herde aufmischen und bestimmt uns alle in den emotionalen Ruin bringen.
      “Ja, da hast du schon recht, vor allem, weil dieses Fohlen sicher nicht von der ruhigen braven Sorte sein wird”, stimmte sie nachdenklich zu, “aber vielleicht sollten wir jetzt erst einmal feststellen, was Sache ist, bevor wir überlegen, wie es weitergeht.”
      “Stell dir mal vor, dass Ivy der Papa ist”, lachte ich und überlegte, wie man über so einen Test macht. Also klar, ich wusste, dass man dafür Urin benötigt, aber ich konnte schlecht das Pferd darum bitten, einfach mal in den Becher zu pinkeln. Doch glückliche Fügung kam schneller als ich dachte, denn die Tinker Stute begab sich zur Tränke und schlürfte genüsslich aus dem Wasserspender. Aus meiner Ausbildung erinnerte ich mich, dass sich durch Wasser recht schnell der Magen füllte und sich ein Fohlen dabei umlagerte. Also zog ich meine Handschuhe aus und legte meine Hände in ihr plüschiges Fell, wartete einige Zeit, bis ich plötzlich was spürte. Aufgeregt rief zu Lina: “Komm schnell.” Dabei kreischte ich viel zu sehr, als dass man mir glauben würde, dass ich riesige Abneigung gegen Schwangerschaften hatte. Natürlich war diese nur auf den Menschen bezogen, den tierische Babys konnte man gar nicht blöd finden. Interessierte kletterte Lina durch die Gitter. Ich griff eifrig nach ihren Händen und drückte sie auf die Stelle, an der sich das Fohlen bewegte.
      “Ohhh, dass das Fohlen, oder?”, fragte Lina aufgeregt und ihre Augen begannen begeistert zu leuchten. Natürlich musste es kommen, dass einer der Männer uns nicht einige Minuten allein lassen kann. Von der Seite kam Niklas dazu und ich wand meinen Blick umgehend von ihm ab, sondern strich der Stute zufrieden über den Hals.
      “Seid froh, dass ich mein Handy nicht dabeihabe. Das sieht nicht nur amüsant aus, sondern hört sich genauso an”, scherzte er und stellte sich provokant zu uns.
      “Ach schade, es wäre eigentlich schön gewesen diesen Moment festzuhalten”, grinste ich Lina an, die noch immer fasziniert den Bauch von Holy abtastete.
      “Liebling, weißt du eigentlich schon, wann die Tierärztin kommt, um Smoothie zu untersuchen?”, schien er nicht mal ansatzweise die Aufmerksamkeit auf jemand anderes zu lassen, als sich und dem was sich in seinem Kosmos befand. Ich rollte mit den Augen und blieb treu bei der Kugel stehen.
      “Ja, warte kurz”, entgegnete Lina ihrem Freund und kramte ihr Handy aus der Jacke. Das Gerät leuchtete auf, woraufhin sie zweimal darauf herumtippe.
      “Nächste Woche Dienstag um elf”, vervollständigte sie die Antwort und ließ das Gerät wieder in ihrer Tasche verschwinden.
      “Oh”, überlegte Niklas und auch meine Ohren spitzen sich, “da bin ich eigentlich mit Vriska verabredet zum Training. Aber das können wir doch verschieben auf einen anderen Tag, oder?” Ich sah kurz zu ihm, wusste genau, dass es darauf nur eine Antwort gab.
      “Ja, klar. Kein Problem”, zuckte ich mit den Schultern. Kein Problem, welch Irrsinn. Ich brauchte das Training so viel mehr, als dass er sich fünf Minuten lang Bilder auf einem Bildschirm ansah, die eventuell ein Fötus zeigten oder eben nicht. Mit zusammen gekniffen Augen sah er mich genau an, als suche er, dass ich log, aber fand es offensichtlich nicht.
      “Ich schätze, dass wir uns das hier jetzt sparen können”, sagte ich noch minimal gekränkt zu Lina und drückte ihr den Schwangerschaftstest in die Hand, stieg durch die Gitter und wünschte beiden eine gute Nacht, bevor ich mich zurück in den Sturm stürzte.
      “Ja, das war ziemlich eindeutig”, stimmte Lina zu, ”Lass dich nicht wegwehen auf dem Weg nach drinnen, Gute Nacht.”
      Zustimmend nickte ich noch, was sie wohl kaum noch sehen konnte und zog die Kapuze eng an meinen Kopf. Wild wirbelten Blätter um mich herum und flatternd blies der es in meine zu weiter Jacke. Ich fühlte mich für einen kurzen Moment so frei in der Dunkelheit, bis das Licht der Wegbeleuchtung sich in den Tropfen spiegelte und alles in Meer auf hellen Punkten verwandelte. Regen gehörte vermutlich in Alltag eines guten Briten, ohne sich davor zu ekeln oder undefinierte schlechte Gefühle auszulösen. Stattdessen erinnerte es mich an viele gute Momente, wie den Ritt mit Fruity, bei dem ich es vermutlich das erste Mal schaffte allen Mut aufzuraffen und nicht in der Scham versank. Natürlich gehörte auch Erik in diese Erinnerung, wenn es auch nur kurz die Glückseligkeit widerspiegelte. In einem Sturm wie diesen traf ich mich nach vielen Jahren mit meinem Bruder, den ich in meiner Kindheit nur selten zu Gesicht bekam. Zusammen liefen wir vollkommen geblendet an der Themse entlang und kamen irgendwann so nass in ein Geschäft, dass wir im selben Atemzug wieder den Laden verlassen mussten. Darüber amüsierten wir uns so stark, dass ich einen Laternenmast übersah und mit der Nase vorneweg dagegen lief. Mehr als eine Platzwunde an der Stirn zog ich mir bei dem kleinen Zwischenfall nicht zu, aber bis heute gehörte diese Geschichte zu einer, die mein Bruder zu gerne erzählte. Tatsächlich gab es sogar Bilder davon. Ich konnte mich glücklich schätzen ihn nun bei mir zu haben, auch wenn es zum Leid der anderen, durchaus ungemütlich werden konnte, denn Harlen war nicht gerade der freundlichste Geschäftsführer, wenn es um Kostenminimierung ging.
      “Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr”, lächelte mich Erik von der Couch aus an mit den Beinen auf dem Tisch. Auf seinem Schoß thronte sein Laptop und Trymr rannte vergnügt zur Tür, jaulte mich glücklich an.
      “Es tut mir leid, wir mussten Babybauch bewundern”, zog ich die klebrige Regenjacke vorsichtig aus, um nicht die Holzdielen in der Hütte zu beschädigen. Er klappte sein Gerät zu und legte ihn auf dem Tisch ab. Dann kam er einige Meter auf mich zu.
      “Freut mich zu hören, dein Pferd?”, erkundigte Erik sich und beobachtete, wie ich ein Kleidungsstück nach dem anderen auf der Fußmatte ablegte. Tatsächlich schaffte es der Regen mich bis auf die Unterwäsche zu durchnässen, obwohl es sich bei dem Weg vom Paddock bis zum Haus, um gerade mal fünfzig Meter handelte, wenn man zwischen den Weiden hindurchlief.
      “Ich habe kein Pferd”, erinnerte ich ihn. Er nickte missmutig und ich hob alles auf, um es im Badezimmer in der Dusche aufzuhängen. Mir wurde kalt trotz der paradiesischen Temperaturen hier im Inneren. Auf Schritt und Tritt folgten mir die beiden Kerle, als hätte ich Zucker in den mehr vorhandenen Taschen.
      “Habe ich etwas verpasst, oder darf ich mich nicht einmal mehr umziehen?”, versuchte ich ihn daran zu erinnern, dass ich alt genug war, das allein zu schaffen.
      “Was ist, wenn ich dir sagen, dass du so bleiben sollst?”, zog Erik seine Brauen nach oben und hielt seine Hände verdächtig nah an meinem Körper, um das ich mir keine Hoffnungen machte auf mehr.
      “Dann muss ich dich enttäuschen, denn mir ist super kalt”, folgten meinen Augen sehr genau, was er vorhatte. Zwei weitere Schritte setzte er auf mich zu und drückte mich an der Hüfte fest an sich heran. Gejagt von einer Gefühlsexplosion zur nächsten stieg Hitze in mir hinauf. Seine warmen Hände fühlten sich wie Feuer an, das mich immer weiter verbrennen ließ und mich quälte. Tief atmete ich ein und mindestens doppelt so lange wieder aus, bevor ich den Augenblick fassen konnte.
      “Wir wollten noch weiterreden”, kamen die Worte nur noch in Fetzen aus meinem Mund, obwohl ich mir beachtliche Mühe dabei gab, mich ordentlich zu artikulieren. Spitz grinste Erik mich an und lehnte sich ziemlich weiter nach unten, so weit, dass ich seinem Atmen auf meiner Haut spürte und sich den Haarwurzeln am ganzen Körper zum x-ten Mal aufstellten. Verlegten schluckte ich.
      “Na dann rede”, grinste er bedeutsam und folgte jeder Bewegung meiner Augen, die sich nicht scheuten, das zu begaffen, was vor mir strahlte.
      “Gleich”, verzog ich lüstern mein Gesicht und knöpfte langsam sein Hemd von oben nach unten auf, um sanft über seine Brust zu streichen und seinen Oberkörper an meinem zu spüren. Seine Hände bewegten sich von meiner Hüfte hinauf zu meinen Schultern, bevor er flink den Verschluss meines BHs öffnete und die Träger von mir streift. Ich vernahm die eigentliche Fremdheit ihm gegenüber, die mein Interesse von Anfang an weckte und neben Entdeckungslust auch Angst auslöste, doch im selben Atemzug schwang diese Vertrautheit mit, als würden wir einander auf eine besondere tiefe Art kennen, ohne es in Worte fassen zu könnten.
      “Erik?”, hauchte ich in sein Ohr und versuchte weiterhin mein Stöhnen zu unterdrücken.
      “Ich höre? Aber wie war das mit der Höflichkeit?”, zog er noch immer seine Mundwinkel nach oben und biss sich ungezwungen auf der Unterlippe herum, was sonst mein Ding war. Eigentlich wäre es so viel klüger es auf mich zukommen zu lassen, was nun noch passieren würde, aber ich konnte es nicht unkommentiert lassen.
      “Was wird das hier, wenn es fertig ist”, fragte ich unsicher und legte meine Lippen auf seinem Hals ab. Ein lustvolles rachenlastiges Ausatmen verließ seinen Mund, bevor er wieder am Kinn nach oben drückte und mich tief in seine Seele blicken ließ.
      „Ich habe einen Wunsch“, sagte er ziemlich ernst und starrte mich weiter an.
      „Und der wäre?“, raunte ich, hoffte auf das, was mir durch die Gedanken flog, jeden vereinzelten Tagen.
      “Können wir jetzt endlich einen Film gucken und nicht im Badezimmer herumstehen?”, lachte er und schob mich zur Seite. Das Blut hämmerte durch meine Adern und ich sah ihm nur mit weit geöffneten Mund nach, als er sich auf die Couch setzte und den Fernseher anschaltete. Ungläubig riss ich meine Augen auf, starrte ihn böse an und schloss die Tür hinter mir im Bad.
      “Ist das ein Nein?”, rief Erik.
      “Ganz klar”, schüttelte ich den Kopf und musste erst mal warm duschen gehen, um diese Frechheit zu verarbeiten. Viel musste ich nicht mehr ausziehen, bis mir das warme Wasser an den Haaren herunterlief, aber es nicht schaffte, mich auch der Euphorie zu entreißen, die ich noch verspürte auf meinem ganzen Körper. Es war nicht das erste Mal, dass er sich als Stimmungskiller entpuppte, doch mittlerweile konnte ich mir nicht einmal sicher sein, ob es seine Masche war, mich so an ihn zu binden. Immer wieder fluchte ich, schüttelte den Kopf und versuchte das alles von mir zu waschen. Ich rieb tatsächlich so lange, dass alte Wunden an meinen Beinen wieder aufrissen und das Wasser rot färbten. Noch lauter fluchte ich, als ich es bemerkte und das Wasser abschaltete. Zu meinem Glück waren nur noch weiße Handtücher in fassbarer Nähe, die ich dann in den Müll hauen konnte. Meine nassen Haare wickelte ich in einen dieser ein, und für den restlichen Körper stand ich so lange herum, bis ich trocken war. Da mein Handy noch in meiner Hosentasche steckte, schrieb ich in meiner Verzweiflung Lina in einer kurzen, eher undetaillierten Nachricht, was passiert war und hoffte, dass sie es besser fassen konnte als ich. Genervt blickte ich auf den leuchteten Bildschirm meines Handys, aber konnte die Spannung nicht lange aushalten und wechselte auf Instagram. Als wäre es mein Schicksal, tauchte natürlich Niklas ganz oben auf, eins von seinen tausenden Strandbildern unterstrich meine Lust auf mehr. Willkürlich starrte ich zu lange darauf, likte und wischte dann weiter nach unten. Wichtig dabei war zu sagen, dass ich nie seine Bilder likte, sondern nur kurz drauf sah und dann in der Timeline niedliche Pferdebilder bewunderte.
      “Oha, gemein dein Kerl, aber denke daran, dass er dir noch eine Antwort schuldig ist”, kam nur eine knappe, aber bestimmte Nachricht von Lina zurück.
      „Ich will immer noch mit ihm alt werden, obwohl er das bestimmt bis zu meinem Lebensende tun wird“, hämmerte ich auf dem Glas herum, sodass meine Fingernägel immer wieder laute Geräusche verursachten. Dann sperrte ich das Gerät und lief ins Schlafzimmer, um mir was drüber zu ziehen. Dass Erik mir intensiv nachsah, entging mir nicht, aber ich ignorierte sein rüpelhaftes Verhalten und versuchte mir möglichst provokante Kleidung herauszusuchen. Dabei war ich mir nicht ganz so sicher, ob knapp mit der größten Menge an Haut eine gute Wahl sein würde oder lieber mein geliebter Schlabberlook, den er nur allzu gut kannte. Von einem der Kleiderbügel strahlte mich dann wohl eins der provokantesten Stücke an, die hatte — mein Cheerleading Outfit, aber die Wahl fiel nur auf das Oberteil. Als Hose wählte ich eine schwarze Jogginghose mit einem ‚Fuck Off‘ Schriftzug. Ein letztes Mal rieb ich mit dem nassen Handtuch durch meine Haare, bis ich es wieder ins Badezimmer hängte und zur Couch schlenderte. Auf dem Weg dahin meldete sich mein Handy noch mal mit einer Nachricht von Lina: “Dann genieße mal die Zeit beim alt werden mit ihm :D
      Lachend steckte ich es zurück, ohne ihr noch eine Antwort zu geben, denn wir könnten morgen sicher bei einem Ausritt lange genug sprechen, denn über Niklas gab es sicher auch genau zu erzählen.
      „Na, was ist so lustig?“, musterte mich Erik und legte seine Hand an meinem Arm, als ich um die Couch lief, um Trymr nicht zu wecken, der vorne lag.
      „Dass ich offensichtlich mehr Gefühle für dich habe, als du mich aufbringst“, fauchte ich provokant und blieb hinter ihm stehen. Er legte seinen Kopf auf der Rückenlehne ab, blickte mich mit seinen grauen Augen an, die genauso funkelten im seichten Schein der Lichterketten und Kerzen, die Erik am Tisch angezündet hatte.
      „Und das behauptet wer genau?“, seine Stimme klang besorgt.
      „Ich, sonst würdest du mich nicht jedes Mal aufs Neue so hängen lassen“, blieb ich meinem Standpunkt, aber umfasste sanft sein Gesicht, das so einladend wirkte. Durch das fehlende Gel waren seine Haare so unglaublich weich, dass ich mich dazu zwang, nicht immer wieder darin meine Hände verschwinden zu lassen.
      „Du hast doch nicht mal gefragt, ob ich mit duschen kommen möchte“, schmollte er weiter.
      „Warum sollte ich mit dir duschen wollen?“, überlegte ich starrte hinauf zur Decke, dann fiel mir doch ein Grund ein, „na gut, du hast recht. Schließlich bist du ziemlich schmutzig heute.“
      „Ich glaube, jeder der uns gerade zuhört, wird schlecht bei so viel kitsch“, lachte er schließlich und versuchte mir mit seinen Lippen näher zu kommen, doch diesmal was ich klar im Vorteil und verteidigte meine höhere Stellung, wie ein Soldat im Krieg.
      „Wer sollte uns zuhören“, kniff ich skeptisch die Augen zusammen und ließ den Blick durch den Raum schweifen, als Erik leider nutzte, um mich an den Armen auf die Couch zu ziehen und mich im nächsten Moment dominierte, in dem er sich über mich Stützte. Mein Puls begann wieder zu rasen und seine Lippen kamen mir bedrohlich nah, dich anstatt sie auf meine zu drücken, küsste er sanft meinen Hals. Mit Wollust genoss er die Folter, der er mich aussetzte, mich ebenfalls mit Sinneslust erfüllte, bis zärtliches Stöhnen aus meinem Mund klang.
      „Ich finde das nicht fair“, ächzte ich kläglich und ich versuchte ihn möglichst behutsam von mir zu stoßen.
      „Zum Glück sind wir hier nicht bei Wünsch dir was, sondern im wahren Leben“, löste er sich von meinem Hals und sah mich wieder aus ganzer Seele an, langsam könnte er sich das blöde Grinsen sparen, denn ich wusste schon, dass sein Durchhaltevermögen größer war, als meins.
      „Dann warte ich halt, bis du fertig bist“, schloss ich entschlossen die Augen.
      „Sie“, kam es trocken über seine Lippen.
      „Na gut, dann bis Sie fertig sind“, schüttelte ich kurz den Kopf. Noch fester drückte ich meine Lider aufeinander, damit ich ihn nicht sehen könnte. Tatsächlich hatte es einen positiven Nebeneffekt, denn er ließ von mir ab und sagte: „So macht das keinen Spaß, wenn du nicht leidest.“ Ich lachte und durfte mich endlich richtig hinsetzen.
      „Aber jetzt mal im Ernst“, richtete er seine Frisur und blickte mich freundlich an, „alles, was du bisher sagtest, entsprach der Wahrheit?“ Ich musste kurz überlegen, denn ich hatte heute wirklich viel gesagt, also zumindest seitdem ich wach war, denn die Uhrzeiten schon lange nach null Uhr an und verriet im selben Zuge, dass ich bereits lange schlafen sollte. Vielleicht schlief bereits und das alles hier, war nur ein Traum? Ich kniff ihn in den Oberarm, wodurch er schmerzerfüllt aufschrie.
      „Was sollte das!“, schüttelte er den Kopf.
      „Wollte nur prüfen, ob ich wach bin“, sagte ich entschlossen.
      „Deswegen kneifst du mich?“
      „Ja.“
      Dann überdachte ich weiter meine Worte, zumindest soweit ich mich erinnern konnte.
      „Bei einer Sache entsprach es wohl nicht ganz der Wahrheit“, gab ich zu.
      „Und die wäre?“, fragte Erik neugierig nach und strich mir sanft den Arm.
      „Als Niklas vorhin fragte, ob es in Ordnung wäre, wenn wir den Termin verschieben“, überlegte ich weiter. Auffällig verdrehte er seine Augen und sagte nur: „Und warum genau, sollte mich das jetzt interessieren?“
      „Na, du hast doch gefragt, ob alles der Wahrheit entsprach“, wunderte ich mich, „oder bist du eifersüchtig?“
      „Ich meinte damit, was wir besprochen haben und ja. Mittlerweile stört es mich, wenn ich ehrlich bin, dass du immer noch so viel Zeit mit dem verbringst. Ich will dich bei mir haben und nicht so ein Möchte-gern wie er, soll mir wegnehmen, was mir gehört“, zischte er genervt. Ohne weiter nachzudenken, drückte ich meine Lippen auf seine und es fühlte sich so verdammt gut an, endlich wieder ihn vollständig bei mir zu haben. In einer unmöglich zu definierender Geschwindigkeit raste mein Puls nach oben, vernebelte mir den Verstand. Entschlossen fuhr meine Hand über seine Brust, öffnete das Hemd erneut, aber streifte es diesmal über seine Schultern ab. Er half mir dabei so gut er konnte, ohne dass sich unsere Lippen voneinander lösten. Erst als auch mein Oberteil daran glauben musste, kamen für einen Augenblick voneinander ab, das nutze ich auch dazu, auf seinen Schoß zu klettern und möglichst nah zu spüren, dass es der Wahrheit entsprach, was er sagte. Wieder trafen sich unsere Lippen noch leidenschaftlicher. Als ich in versehentlich anrief, kam noch gar nicht in den Kopf, dass wir Stunden später nur noch spärlich bekleidet auf der Couch sitzen würden und ich eine Gefühlsexplosion nach der anderen erleben würde.
      Langsam schob sich meine Hüfte immer stärker auf seinen Schoß auf ab, bis sich ein Quietschen neben mir in den Vordergrund schob. Im Begriff aufzuhören, spürte ich Eriks verschwitzen Hände in meine lockere Hose und umfassten meinen hinteren Teil und leise stöhnte ich in seinen geöffneten Mund. Doch das starrende Gefühl ließ mich nicht los, ich fühlte mich beobachtet, als stände eine Kamera neben der Pflanze in der Ecke und zeichnete das alles für die Nachwelt auf. Ich öffnete meine Augen und sah neben uns. Trymr wedelte aufgeregt mit dem Schwanz
      „Herr Löfström?“, funkelte ich ihn innig mit meinen Augen an, „mir fällt es schwer, mit dem Gedanken bei ihm zu bleiben, wenn wir beobachtet werden.“
      Er rappelte sich auf der Couch auf, aber hielt mich weiterhin fest. Dann sah er hinunter zu seinem Hund.
      „Ich schätze, dass er nun noch Essen haben wollen würde. Tut mir leid“, gab er mir einen flüchtigen Kuss und ich kletterte von ihm herunter. Erik richtete seine Hose beim Aufstehen, die nicht ganz unbefleckt erschien, als er etwas genervt in die Küche trottete und aus dem Kühlschrank die Schüssel holte. Sein Napf stand bereit auf der Theke und aufgeregt, trampelte der Hund links nach rechts, als er mit seiner Nase eindeutig Futter identifizierte. Verliebt lehnte ich über die Rückwand der Couch und beobachtete, wie liebevoll er mit dem Tier umging, obwohl seine Körpersprache nur Ärger zeigte. Ich lächelte.
      „Engelchen, ich meinte das Ernst“, wiederholte er.
      „Was genau meinst du?“, fragte ich überrascht.
      „Du sollst nur mir gehören und mit einem Großteil deiner Freunde werde ich vermutlich dich teilen können, aber nicht Niklas“, seufzte er und kniete sich zu seinem Hund.
      „Aber er ist mein Trainer und ohne ihn, kann ich nächstes Jahr keine internationalen Turniere reiten“, versuchte ich die Situation zu entschärfen, doch Erik schüttelte nur den Kopf.
      „Ihr habt doch noch mehr gute Leute am Stall. Was ist Eskil?“, hoffte er mich umzustimmen.
      „Der würde das sicher machen, aber wenn nicht“, stammelte ich und wurde unliebsam unterbrochen.
      „Frage ihn bitte, sonst suche ich dir jemanden und gebe meine letzte Öre dafür, um dir die beste Trainerin zu beschaffen, das schwöre ich“, bettelte Erik förmlich. Zustimmend nickte ich. Es hatte etwas, wieder jemanden im Leben zu haben, dem es wichtig war, was ich tat, auch wenn noch nicht ganz einschätzen konnte, wie weit das gehen würde. Vom Tisch griff ich das goldene Gerät und öffnete den Nachrichtendienst, um Niklas umgehend eine Nachricht zu schicken. Ich zögerte und schielte zwischen Bildschirm und Erik hin und her. Entschied, seinem Wunsch nachzukommen und tippte: „Hej! Es tut mir leid mitteilen zu müssen, dass wir ab sofort nicht mehr zusammen trainieren werden. Mir fällt diese Entscheidung nicht leicht, aber danke dir, wirklich! Du hast mich sehr weitergebrachte.“
      „Habe es ihm gesagt“, steckte ich mein Handy wieder weg und sah zu Erik, der erleichtert ausatmete. Die wenigen Meter zwischen uns überwand er im Handumdrehen und legte seine Hände an meinem Kopf.
      „Ich bin dir sehr dankbar, dass du keine Diskussion beginnst“, lächelte er und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
      „Wenn es sonst nichts ist“, funkelte ich ihn weiter an, „dann tue ich das sehr gern. Aber leider sollten wir ins Bett, denn ich muss morgen spätestens um acht Uhr aufstehen.“
      „Okay, aber ich muss noch einige Dokumente durchsehen im Bett“, nickte Erik und holte sein Laptop vom Tisch, während schon zum Bett lief und ein Shirt aus dem Schrank wühlte, um es mir überzuwerfen. Dann strich die Hose von mir ab, legte sie ordentlich über den Stuhl und warf mich in das frisch bezogene Bett. Da meine Haare noch immer feucht waren, band ich sie in einem locker geflochtenen Zopf zusammen. Selten wirkte die frisch aufgeschüttelte Decke so verlockend wie heute, um sein Gesicht darin zu verstecken und vor Freude zu schreien, während der Regen weiterhin gegen die Scheiben prasselte.
      “Sollte ich mir Sorgen machen?”, grinste Erik und zog sich ebenfalls aus, doch so langsam, dass meine Augen jede seiner Bewegungen verfolgt, wie locker seine Muskeln zuckten.
      “Ja. Nein, brauchst du nicht”, murmelte ich abwesend, abgelenkt, nicht mehr klar, ob ich so schnell einschlafen könnte, wie ich es mir wünschte. Behutsam legte ich mich auf seiner Brust ab und strich ihm verliebt über den Arm.

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      kapitel elva | 29. Dezember 2021

      Forbidden Fruit LDS // Anthrax Survivor LDS // CHH' Death Sentence // Hawking von Atomic // Liv efter Detta LDS // Vandal LDS // Heldentum LDS // Lu‘lu‘a // Northumbria // Einheitssprache // HMJ Divine // Outer Space // Wunderkind // Raleigh // Satz des Pythagoras // Ready for Life // Maxou // Arktikkfrost LDS // Yumyulakk LDS

      Vriska
      Überpünktlich stand ich im Stall und putzte den Sand vom Kopf der Stute, die immer wieder interessiert an meiner Jackentasche zupfte, in der Hoffnung eins der wertvollen Leckerlis ergattern zu gönnen. Trotzig schlug sie mit dem Schweif, wenn ich sie keins bekam, doch ich schenkte dem nur wenig Beachtung und reinigte auch noch den Rest ihres Körpers. Der Regen und Sturm wurde in früher Stunde vom Nebel abgelöst, der eine Frostwelle auslöste. Von einer zur anderen Stunde glitzerten die letzten Grashalme im matten Licht der aufsteigenden Sonne auf den Weiden und neben den Wegen. Durch die großen Fenster im Stall konnte man winzige Eisblumen entdecken, die das Licht trübten und ein malerisches Farbspiel auf dem Reitplatz in der Halle bewirkten. Eigentlich wollte ich eine Runde durch den Wald drehen, um die Schäden zu begutachten, an Flur und Forst.
      “Morgen”, spuckte mir Jonina verärgert entgegen, ohne stehenzubleiben, sondern rauschte wie ein geölter Blitz an Fruity und mir vorbei. Verwundert sah ich ihr noch nach, wobei ich nicht einmal die Möglichkeit hatte, die Begrüßung zu erwidern. Wir lernten uns schon am ersten Tag auf dem falschen Fuß kennen und klärten das nicht einmal, um ein entspanntes Arbeitsklima zu erreichen. Stattdessen spuckte sie wie ein Geist durch unseren Stall, sah abfällig an mir vorbei und ignorierte mich ansonsten.
      Die kaum größere Stute zupfte wieder an meiner Jacke, als ich den Gurt fester zog zum Aufsteigen. Ich entschied mich gegen die mystische Stimmung auf dem Sand und wollte die Zäune der Weiden im Wald prüfen. Mit einem leichten Druck am Schenkel setzte ich Fruity in Bewegung an der Ovalbahn entlang zur Lichtung, die sonst unsere Galoppstrecke darstellte. Doch ich hielt das Tempo, gab der Stute die gesamte Länge des Zügels und schweifte mit meinem Blick durch die Landschaft. Zwischen den Birken funkelten einige alte Eichen hindurch und in hellen Orangetönen getauchte Ahornbäume, die das triste Braun aufgelockerten. Ich konnte kaum weitersehen als fünf Meter, aber erkannt, dass zwei junge Füchse auf dem Feldweg spielten und bei ertönen des Hufschlags panisch in das Buschwerk stürzten und von rechts rannte die Mutter ihnen nach. Neugierig spitzte Fruity die Ohren. Neben uns raschelte das Geäst und zwei große Augenpaare fokussierten uns, musterten jeden Schritt, den Fruity über den gefrorenen Sand machte, bis wir schließlich aus der Sichtweite waren. Die kommenden Meter zur Weide trabten wir, was ich nutze, um meine Fähigkeiten im Aussitzen auf die Probe zu stellen. In der Prüfung hatte ich mich zwar ziemlich gut angestellt, doch in den vergangenen Trainingseinheiten entwickelte die Falbstute immer mehr Schwung und das zeigte sich umgehend im Trab. Wie ein Kartoffelsack wackelte ich im Sattel, versuchte die Stöße durch meine Füße abzufangen, doch fand den Takt nicht. Frustriert parierte ich wieder durch, aber kam im selben Augenblick an der ersten Weide an, auf der die Junghengste ihr Unwesen trieben. Sogleich kamen Death und Anti zum Zaun getrabt, um den Besuch freundlich zu begrüßen. Von weiter kam auch Hawking mit seiner halbstarken Gruppe aus Arktikk und Vandal. Immer mehr blauäugige Augen funkelten Fruity an, die sich zwischen den ganzen Hengsten gar nicht zurechtfand und fortan Schritte zurückwich. An meinem Bein bog ich die Stute am Zaun entlang und entdeckte noch Heldentum, eins der Wunderpferde, dass sich mit seiner unbekannten Fellfarbe fernab der anderen Pferde versteckte, häufig in Begleitung mit Yumyulakk, einem ziemlich freundlichen Architekkt Sohn, der sich ebenso gern aus der Herde zurückzog.
      “Jungs, wir müssen weiter”, trieb ich die Stute weiter und untersuchte noch die Damen auf der anderen Seite. Natürlich hielt ich mich dabei mehr die Zäune zu beachten. Auf dem offenen Feld hing der Nebel noch stärker, was mir die Arbeit nicht erleichterte. Treu trampelten aber zwei Jungstuten entlang, die mir zumindest Hoffnung gaben, dass alles noch an Ort und Stelle war. Die Criollo Stute Liv wackelte bei jedem ihrer Schritte lustig mit den Ohren, während Mitternacht, die vermutliche einzige helle Stute mit diesem Namen, nur unmotiviert nachlief.
      Die Sonne rückte ihre Position immer erhabener am Himmel, wodurch der Nebel wie zu verschwinden schien und uns die Möglichkeit eröffnete, zu traben. Fruity schnaubte ab und genoss die Abwechslung auf dem Feld an Tempo zulegen zu dürfen, ohne panisch von mir gebremst zu werden. Meter für Meter beäugte ich kritisch und war ziemlich froh darüber, keinerlei Schäden entdeckt zu haben. Aus der Ferne hörte ich den Trubel am Hof, der hauptsächlich aus Traktorengeräuschen bestand und dem Hufschlag der Pferde auf dem Beton. In einem der Gebäude klopfte unser Schmied neue Eisen an die Hufe, gut das ich nicht zum Dienst eingeteilt war, denn sinnloses herumstehen konnte ich nur wenig ausstehen.
      „Und, wie war sie heute?“, fragte Tyrell interessiert und klopfte stolz den verschwitzen Hals der Stute.
      „Großartig, wie immer“, schwärmte ich, während ich mich aus dem Sattel schwang und die Zügel über den Hals zog.
      „Das höre ich gern“, grinste er, „aber ich habe eine wohl schlechte Nachricht für euch beide.“ Schlagartig verzog nicht nur ich meine Miene, sondern auch Tyrell wirkte nervös.
      „So schlecht wird das schon nicht sein“, versuchte ich die Stimmung aufzulockern. Zusammen betraten wir den Stall, in dem der besagte Schmied neue Schuhe an den Hufen von Lu befestigte.
      „Morgen kommen Interessenten für die Stute“, seufzte er und lockerte den Gurt am Bauch.
      „Interessenten?“, schrie hysterisch durch den Stall, was einige Leute zu mir sehen ließ, bevor sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten widmeten. Dann atmete ich noch tief durch und sagte: „Ich dachte, dass du die Stute behalten möchtest, für deine geplante Kuhherde.“
      Tyrell nickte unsicher.
      „Stimmt, aber für den richtigen Betrag ist jedes Pferd verkäuflich“, zuckte er mit den Schultern und trug den Sattel weg. Wie verwachsen mit dem betonierten Untergrund blieb ich an der Stelle stehen, kam aus dem Schock nicht heraus, bis Fruity im am Rücken anstupste und höflich nach einem Leckerli fragte. Aus meiner Jackentasche fischte ich eilig eins heraus und strich ihr liebevoll über die Blesse.
      „Unwahrscheinlich, dass ich so einen Betrag für dich übrighabe“, murmelte ich. Dann kam mein Chef auch wieder zurück mit ihrer Weidedecke.
      „Jetzt sei nicht traurig, sie würde am Hof bleiben“, lächelte er. Schön, dann könnte ich mir sogar ansehen, wie ein so tolles versaut wird, klingt nach grandiosen Aussichten.
      „Ich komme klar“, griff ich energisch nach der Decke in seinen Armen und zog sie der Stute über. Keinen müden Blick warf ich ihm noch zu, spürte aber, wie er mich weiterhin stumm anstarrte. Unverständlich stammelte er vor sich hin, doch ich hörte nicht zu, sondern löste den Strick von der Box und führte Fruity zurück auf den Paddock. Sie verspürte meine Anspannung bestimmt, aber trottete wie an jedem anderen Tag neben mir und fummelte an meiner Jacke. Mit großen Augen blickte mich Humbria an beim Öffnen des Tors. Auch sie bekam ein Leckerli.
      “Kommst du zum Frühstück?”, erkundigte sich mein Chef, der mir offensichtlich zum Paddock folgte.
      “Nein, ich habe noch Besuch und möchte gerade nicht auf heile Welt machen, wenn du eins deiner besten Pferde verkaufst”, rollte ich mit den Augen, strich Humbria über dem Hals. Wir kamen gut miteinander klar, doch das Wetter spielte seit Wochen nicht mehr mit, um mit ihr eine Runde am Sulky durch den Wald zu drehen.
      Tyrell nickte anerkennend, drehte auf der Ferse um zur Halle. Ich hängte das Halfter an den Haken unter dem Dach und strich durch die Weiden zur Hütte. Vor der Scheibe sah ich Trymr aufgeregt auf und ab laufen, stieß dabei immer wieder mit der Nase gegen das Glas und verursachte unschöne Flecken. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich auch Lina, die wohl zum Frühstück wollte. Bevor ich zu ihr stürmte, schob ich die Terrassentür nur einen Spalt auf, durch den das Ungetüm stürmte und täppisch an meinen Beinen hinaufsprang, um an meinen Händen knabbern zu können.
      “Guten Morgen”, strahlte ich sie an, denn die erholsame Nacht hing mir noch so stark im Körper, dass der Fruity-Schock mich nicht so sehr aus dem Konzept brachte.
      “Guten Morgen, Vriska”, trällerte sie fröhlich. Wie so häufig sprühte sie auch heute nur so vor Energie. Offenbar hatte sich Niklas nur an mir in der Nachricht darüber beschwert, was ich mir einbilde, ihn derartig vorzuführen. Mir war es ziemlich egal, vermutlich mehr, als es sollte.
      “Und, hat es heute Nacht mal gefunkt zwischen euch?”, grinste ich schelmisch.
      “Du bist auch überhaupt nicht neugierig”, erfasste sie haarscharf, ”ja … Nein …, noch nicht so wirklich” Sie nuschelte, ein wenig unverständlich und augenblicklich legte sich eine leichte Röte auf ihre Wangen.
      “Entschuldigung”, rollte über dramatisch mit den Augen und klopfte ihr auf die Schulter, “ich frage nicht mehr. Aber willst du bei uns mit Essen? Ich mag Tyrell nicht mehr unter die Augen treten, denn er will Fruity morgen verkaufen. Kannst du dir das vorstellen?”
      Schneller als es mir lieb war, ratterte ich die neuesten Nachrichten herunter und versuchte sie auf die dunkle und deutliche bessere Seite des Hofes zu ziehen, auch wenn es dafür eher keinen Grund gab und auch der Gedanke ziemlich idiotisch war. Verwirrt kratzte ich mir ab Kopf, aber grinste dann auffällig lange, bis Trymr mich erneut ansprang und mit seinen matschigen Pfoten meine Hose dekorierte. Wo hatte er eine Pfütze gefunden, wenn alles gefroren war? Ich wischte mit meinen kalten Händen auf meinen Oberschenkeln herum und schickte ihn zurück, was er viel mehr als eine Spielaufforderung ansah und mich wieder anbellte. Lina blickte zu dem Ungetüm und betrachte ihn: “Ich glaube, du solltest ihm ein Spielzeug besorgen.”
      Dann kam sie auf das eigentliche Thema zurück: “Das ist traurig, dass Fruity verkauft werden soll, sie ist doch so ein tolles Pferd und ihr wart doch so erfolgreich auf dem Turnier.”
      „Ich werde nicht das Gefühl los, dass das dazu beitrug“, murmelte ich und überlegte, womit ein Hund wohl spielt. Aus Sendungen wusste ich, dass Menschen Stöcke warfen, aber für ihn müsste ein Baum herhalten, um genug zu sein. Noch immer biss er in meine Hand, nicht aggressiv und es fühlte sich auch eher so an, als würde ich als Nuckel verwendet werden.
      „Na gut, mir wird jetzt kalt. Kommst du mir oder nicht?“, hakte ich erneut nach und drehte mich mit meinem Körper Richtung Hütte, aus der ein warmes Licht durch die Fenster schien und die Bäume gegenüber reflektierten auf dem Glas.
      “Ja, komme ich”, nickte sie und setzte an mir zu folgen. Erfreut sprang ich in die Luft, drehte mich dabei, wie ein Kind, dass einem langen Winter wieder über eine Frühlingswiese tollte und die ersten Sonnenstrahlen des Jahres nutzte. Meine Euphorie war genauso wenig erklärlich wie vermutlich neunzig Prozent meines Verhaltens, aber das wusste sie bereits und so bekam ich, bis auf ein irritiertes Kopfschütteln keinen Kommentar reingedrückt. Langsam schob die Terrassentür auf und zog davor die Schuhe aus.
      „Was? Geht die Welt heute unter?“, fragte ich Erik schockiert, der in einer meiner Jogginghosen in der Küche stand und irgendwas in der Pfanne zubereitete. Mein sonst so guter Partner Nase machte mir einen Strich durch Rechnung und war von der kalten Luft vor der Tür, verstopft.
      „Ich wundere mich viel mehr, dass sie selbst mir zu groß ist“, lachte er und sah an sich herunter. Erst dann bemerkte er Lina, schien sich umzusehen und etwas zu suchen. Zugegeben, ich hätte den Besuch vorher ankündigen können und dass er bis auf einer Hose nichts trug, wirkte eventuell auf Außenstehende verstörend. Aber was erwartete man schon in meiner Hütte? An meinen Wänden hingen neben seltsame Zeichnung und einige erotischste Bilder von wildfremden Männern und auch Frauen, die ich auf Flohmärkten fand. Oder auch Holzmasken, die vermutlich mal ein Teil einer skurrilen Ausstellung waren und mit Graffiti besprüht wurden. Vor knapp einer Woche hatte noch Kartons von mir im Lager gefunden und rigoros umgestaltet.
      „Schatz?“, zog ich unnötig lang das Wort und Erik sah mich verwirrt über die Schulter an. Entschlossen machte ich ein Foto mit meinem Handy, schließlich musste man so eine Premiere festhalten. Dann hüpfte ich genauso erfreut zu ihm und gab ihn einen flüchtigen Kuss auf den Mund.
      „Das mit dem Begrüßen üben wir aber noch“, hauchte er mir ins Ohr und zog mich an der Hüfte fest an sich heran. Dann gab er mir deutlich leidenschaftlicher einen weiteren Kuss. Es muss für Lina mehr als unangenehm sein, deswegen drehte ich mich entschlossen um. Mit weit aufgerissenen Augen strahlte sie in meine Richtung, hatte aber genau die Ausstrahlung, dich ich bereits vermutete.
      „Sorry“, lächelte ich breit und zog meine Brauen nach oben. Dann ließ Erik von mir ab und gab ihm ein Shirt aus dem Schlafzimmer.
      “Alles gut. Vielleicht lass ich dir das nächste Mal besser einen Vorsprung”, scherzte sie und lächelte schief. Ich bat sie heran.
      “Und mein Hund muss draußen bleiben?”, schloss sich auch Erik dem kurzen Gespräch an. Trymr drückte seine Nase durch den schmalen Spalt zwischen Schiebetür und Rahmen ins Innere. Entschlossen öffnete ich die Pforte wieder, die er sogleich durchlief und sich auf dem Teppich vor die Couch legte. Seine Ohren stellten sich bei dem Geklapper in der Küche auf, ohne das etwas für ihn auf dem Fußboden landete.
      Linas Jacke hatte ich noch immer in der Hand und hängte sie an den Kleiderhaken in den Flur, wo sie stand. Inständig betrachtete sie verschwiegen die seltsamen Masken über der Kommode im Flur und ließ den Blick schweifen über die Bilder aus den vergangenen Jahrzehnten, die teilweise nicht einmal meine Eltern miterlebten. Zwischendrin entdeckte sie auch die Partybilder von meinen Freunden und mir, auf denen auch Jenni zu sehen war. Lange hatte auch ich nicht mehr genauer hingesehen. Eins der besagten Fotos stammte noch aus der Anfangszeit mit meinem Ex-Freund, der ziemlich stolz mich auf seinem Rücken trug und auf dem nächsten Schnappschuss seine Lippen auf meine drückte. Entschlossen nahm ich Rahmen von der Wand und verstaute ihn in einer der Schubladen der Kommode, bevor ich die wenigen Schritte zur Küche machte und den Tisch für uns deckte.
      In meinem Nacken spürte ich einen warmen Atemzug, der meine Haare aufstellte und sogleich das Blut in Wallungen brachte. Langsam schloss ich meine Augen und öffnete sie bei einem tiefen Atemzug wieder. Lüstern berührten seine Lippe meinen Hals und begleitet mit einem sachten Saugen, breitete sich das Kribbeln am ganzen Körper aus. Eriks Händen strichen mir über den Arm.
      “Ich finde auch schön, dass du hier bist, aber wir haben Besuch”, raunte ich. Mehrmals schluckte ich, krampfte mich an der Tischplatte fest und versuchte mir von seiner Nähe nicht den Geist zu nebeln.
      „Ach, sie ist doch gerade noch beschäftigt und zwischen uns ist die Wand“, flüsterte Erik und drückte sich ein weiteres Mal an mich heran.
      „Sie ist doch nicht blöd, also setz dich“, versuchte ich ihn zur Vernunft zu bekommen. Glücklicherweise gab er schneller nach als ich vermutete, zog nun endlich das Shirt über seinen wohl gezeichneten Oberkörper, den ich stundenlang betrachten könnte.
      „Linchen, was möchtest du trinken?“, fragte ich noch, als der Kaffee durch die Maschine lief und sie sich mit an den Tisch setzte.
      "Hast du vielleicht Tee da? Ansonsten begnüge ich mich auch mit Wasser", bekam ich zur Antwort.
      „Natürlich“, lachte ich und öffnete eine der oberen Schranktüren. Dahinter verborgen sich Unmengen an Teesorten, die wild durcheinander standen und keine genaue Reihenfolge aufwiesen. Mit meiner Hand zeigte ich die Menge an und ließ ihr die freie Wahl.
      "Klasse, gleich so eine Auswahl", lächelt Lina begeistert, "Den da bitte." Sie deutete auf eine Packung mit Früchtetee, der hauptsächlich aus Brombeere und Granatapfel bestand.
      Zum Glück konnte die Maschine im Handumdrehen Wasser zum Kochen bringen und erfolgreich stellte ich Lina ihre Tasse hin. Ein lieblicher, beeriger Geruch breitete sich in Windeseile im ganzen Raum aus und entfaltete bei jedem Atemzug weitere Nuancen in Mund und Nase. Die Verlockung war für einen Wimpernschlag so groß, ebenfalls einen zu trinken, doch die dunkle Flüssigkeit vor mir holte mich zurück. Nur Kaffee konnte mein Leben vervollständigen. Da Erik sich zu fein war, das Essen zu servieren, übernahm ich das wohl auch noch.
      „Oh, du hast Pancakes gemacht“, freute ich mich überschwänglich und beinah tanzend lief ich zum Tisch. Jeder bekam für den Anfang drei Stück.
      „Nur für dich mein Engel“, grinste Erik verlegen und verschränkte die Arme.
      In einer gemütlichen Runde aßen wir, beobachteten, wie die bunten Blätter vor der Scheibe ihre Runden drehten und in geschwungenen Linien tanzten, so ungezwungen und frei. Trymr versuchte sie zu fangen, wenn auch nur ein Zentimeter Blatt und Scheibe zwischen ihnen lag. Dafür, dass der Rüde solch höllische Töne von sich geben konnte und auch äußerlich eher einem Monster glich, bewegte er sich wie ein junges Kalb und wirkte so liebenswert in seinem Spieltrieb. Ich fühlte mich gut, wirklich gut. Erik, der immer wieder zu mir hinüberschielte und über meinen Oberschenkel strich, Lina, die vergnügt lachte. Beides löste eine wollige Wärme aus, dass aus dem Grinsen nicht mehr herauskam und dachte, dass sie so Familie anfühlen musste, Heimat, ein Ort an dem man Willkommen ist. Es fehlte mir an nichts, doch dann kam ich im Gedanken wieder auf Lina zurück.
      „Sag‘ mal, wann kommt Ivy eigentlich?“, sagte ich mit kratziger Stimme.
      “Der genaue Termin steht noch nicht, aber bald hoffe ich. Es hängt derzeit nur noch an den Behörden”, erzählte sie hoffnungsvoll. Dass sie es kaum erwarten konnte, ihr Pferd wiederzuhaben, war kaum zu übersehen, denn sie strahlte über das ganze Gesicht.
      „Aber er braucht doch nur Gesundheitspapiere, die offiziell unterschrieben wurden“, murmelte Erik schulterzuckend, ziemlich abwesend.
      „Hör auf dich so zu benehmen“, schlug ihn behutsam mit meinem Handrücken gegen die Brust. Böse sah er zu mir runter und griff kräftiger in mein Bein. Schmerzerfüllt verzog ich mein Gesicht. Während bei Lina es eher so wirkte, als hätte sie Angst davor, dass in wenigen Sekunden ein Ehestreit ausbrach und sie mittendrin feststeckte. Aber ich wandte mich ihr zu und sagte: „Dann dauert es bestimmt nicht mehr lange. Ob er sich gut mit Rambi versteht?“
      Rambi war der Hengst einer Einstellerin, mit dem sie viel Zeit verbrachte. Da Einheitssprache sich nur ziemlich bescheuert rufen lässt, wurde aus Rampensau irgendwann Rambi. Er präsentierte sich gern und konnte somit ziemlich gut ihn ihr Beuteschema passen, wenn man ihren Prinzen dazu zog.
      “Ich denke, Ivy wird das kleinste Problem dabei sein, der hat sich bisher mit jedem Pferd verstanden, aber ob Rambi das genauso sieht? Man wird sehen”, erwiderte sie optimistisch.
      „Bevor wir uns hier verquatschen und Erik die Ohren abfallen, sollten wir weiterarbeiten“, beschloss ich ihn von den Pferden zu erlösen. Zumindest hatte ich die kleine Portion aufgegessen und die anderen teilten sich die restlichen gerecht auf.
      „Du bleibst noch kurz und darfst dann gehen“, hielt mich Erik an Ort und Stelle fest. Seine Stimme klang ernst und nickte ich Lina zu, dir bereits ihre Jacke holte.
      „Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber würdest du Alfi schon fertig machen?“, sagte ich selbstsicher und versuchte meine Unsicherheit durch ein freundliches Lächeln zu überspielen.
      “Ja klar, mache ich”, antworte sie bevor sie uns schließlich allein ließ. Er sah ihr noch nach, bis Lina endgültig aus der Sichtweite verschwand und auch Trymr zurück auf den Teppich tippelte. Seine Ohren standen stets gespitzt nach oben, um dem Gespräch zu folgen.
      Erik stand auf und stellte sich entschlossen hinter mir. Seine Arme eng umschlungen an meinen Schultern. Ich schloss meine Augen und versuchte ruhig zu bleiben, um dem Verlangen nicht nachzukommen, dass er bei jeder Berührung auslöste.
      „Willst du dich nicht entschuldigen?“, hauchte er kaum hörbar in mein Ohr und setzte dort fort, wo er vorhin aufhörte. Langsam berührten seine Lippen meinen Hals. Sie waren feucht und an einigen Stellen ziemlich rau. Meine Haare stellten sich wieder auf.
      „Wofür sollte ich mich entschuldigen?“, zitterte meine Stimme, denn er ließ nicht von mir ab, sondern konnte es, gefühlt, nicht abwarten, auch mich an sich zu spüren. Sein plötzliches Verlangen nach mir und forsches Auftreten löste nicht nur Spannungen zwischen uns aus, sondern machte es dynamisch. In meinem Kopf blitzten tausende Bilder auf.
      „Mich vor anderen aufzuführen, sollte in Zukunft nicht mehr vorkommen“, drückte Erik fest an meinem Hals, ohne dabei seine Lippen von mir zu lösen. Ein zärtliches Stöhnen huschte aus meinem Mund und brachte ihn zum Lachen. Langsam öffneten sich meine Augen, schielten durch meine Lider zu ihm hoch. Unverkennbar strahlte er, durch die Lippen funkelte die obere Zahnreihe hindurch.
      „Natürlich. Entschuldigen Sie mein törichtes Verhalten“, hauchte ich. An meinem Rücken spürte ich seine feste und pulsierende Bewegung, die sich so positioniert äußerst skurril anfühlte. Dann trat er zurück, ließ auch seine Hände von meinem Hals. Stattdessen blicken Eriks satten Augen in meine.
      „Du hast es verstanden“, sprach er in meinen leicht geöffneten Mund, zog begehrend mit seinen Zähnen an meiner Unterlippe. Alles explodierte in mir, neue Energiequellen entstanden und schickten durch meinen ganzen Körper kleine Blitze, die Kettenreaktionen mit sich brachten.
      „Bitte“, stammelte ich benebelt vor Glück, „verlass mich nicht mehr.“
      „Auf keinen Fall, aber jetzt wartet deine Freundin“, drückte er mich nach oben aus dem Stuhl und ich bekam einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Am ganzen Körper zitterte ich, konnte mich nur schwer damit abfinden, dass der innige Moment so schnell wieder endete. Ich fühlte mich nie derartig geliebt, wie von ihm. Dann verzog ich mich ins Schlafzimmer, denn neben neuer Unterwäsche, musste ich auch einen anderen Pullover anziehen. Fruity hatte überall Flecken hinterlassen, die nur durch einen Waschgang zu beseitigen waren. Somit landete auch dieses Stück Stoff bei den anderen im Wäschekorb, bevor ich zur Tür lief und meine Schuhe anzog.
      „Erik?“, steckte ich noch meinen Kopf ins Innere. Belustigt drehte er sich um, als suche er zusammen mit mir nach der angesprochenen Person. Dann lehnte er sich entschieden zurück, verschränkt die Arme wieder und blickte tief durch meine Augen zur Seele.
      „Danke, dass du da bist“, schmunzelte ich glücklich.
      “Das kann ich nur zurückgeben”, spiegelte er mich, bevor sein Laptop dann doch interessanter wurde. Sehnsüchtig sah mit Trymr nach. Ich entschied schon nach einigen Metern umzudrehen.
      “Schon wieder da?”, lachte Erik und klappte den Bildschirm ein Stück zur Tastatur, um darüber hinweg zu mir zu sehen.
      “Dein Hund würde sicher gern mitkommen”, sagte ich beim Holen der Leine vom Kleiderhaken, auf dem nur noch mein Overall hing sowie Eriks Mantel und Jacke. Panisch suchte ich den Ständer ab, aber fand nichts weiter als einen Schal. Neben mir ertönten Schritte und beim Umdrehen stand er dann wieder neben mir.
      “Das hier suchst du?”, wedelte Erik mit der Leine in der Hand vor meiner Nase herum, mit einem schmutzigen Lächeln auf den Lippen. Jedes Mal, wenn ich danach griff, zog er sie nach oben, sodass mir nichts andere übrigblieb, an ihm hochzuspringen. Den Grund dahinter hatte ich schnell raus. Meine Hand lag auf seiner Schulter, als auch seine mich packten und fester an seinen Oberkörper drückten. In meine Nase stieg wieder sein unverkennbarer Geruch, der mich wie zuvor zuhause fühlen ließ. Ich wollte zu Lina, doch drängte mich das Verlangen bei ihm zu bleiben, mich nicht von der Stelle zu bewegen und für immer in seinen Armen zu liegen. Mit weit geöffneten Augen sah ich hoch in seine glänzenden, hoffte ihn ein letztes Mal spüren zu können, bevor es Abschied bedeutete für einige Stunden und nach Hause wollte er auch noch.
      „Bist du noch da, wenn ich zurückkomme?“, fragte ich flehend.
      „Je nachdem wie lang du unterwegs bist, dennoch würde ich sagen, vermutlich nicht“, äußerte sich Erik zurückhaltender, aber hielt mich weiterhin fest, auch wenn seine Hände in der Zwischenzeit weiter nach unten wanderten und meinen Po umfassten. Innerlich stritten Vernunft und Leidenschaft um ihre Stellung im emotionalen Minenfeld, dass sich in wahnsinniger Geschwindigkeit mit Nebel zuzog. Aus der wirtlichen Wärme wurde übergangslos eine klirrende Kälte, die erst meine Adern erstarren ließ und nach einem Wimpernschlag den Rest meines Körpers. In meinen Ohren ertönte der schnelle Herzschlag aus meiner Brust und vor mir wurde es schummerig. Elendig rang ich nach Luft, gab alles, um das schwere Gefühl loszuwerden. Ungewiss, was geschah, lichtete sich im nächsten Moment der Nebel vor meinen Augen und in meinem Geist. Ich spürte das Kribbeln wieder, das unter meiner Haut wie tausende kleine Nadelstiche mich durchsetzen, aber keinesfalls etwas Schlechtes bedeutete. Viel mehr fühlte ich lebendig.
      “Geht es dir besser, Vivi?”, raunte Erik in mein Ohr. Seine Lippen hatten sich in ein weiches Rot getaucht, das sich langsam wieder legte. Auf meinen spürte ich es auch. Unsere Annäherung konnte nur von kurzer Dauer gewesen sein, denn ich erinnerte mich nur wage, aber sein Geschmack lag mir noch im Mund, festgesetzt wie ein intensives Getränk. An meinen Schultern lagen seine Arme, fest genug, um die Berührung zu spüren, locker genug, um mich frei zu bewegen. Ich atmete bewusst ein und wieder aus.
      “Ja”, nickte ich und spürte ein heftiges Kratzen in meinem Rachen, das vor wenigen Sekunden noch nicht da war.
      “Was war das?”, erkundigte er sich langsam, weniger forsch als noch am Tisch.
      “Ich weiß es nicht”, niedergeschlagen murmelte ich in den Kragen meiner Jacke, wich seinen Blicken aus und musterte intensiv meine dreckigen Reitstiefel, die ich mir vor einigen Wochen erst gekauft hatte. Dann fragte ich resigniert: “Wann kommst du wieder?”
      “Das liegt an dir”, holte er meinen Kopf wieder nach oben, “du hast Abstand verlangt, Freiheit, die ich dir gab und nun kommst du gar nicht mehr weg von mir.” Auf seinen Lippen zeichnete sich wieder der liebliche Rotton und ein verzauberndes Lächeln.
      “Es macht mir Angst”, versuchte ich mich zu erklären, doch legte er seinen Zeigefinger auf meinen Mund und ich verstummte umgehend. Eriks hellen Augen funkelten.
      “Ich hole dich heute Abend ab. Wir veranstalten eine kleine Runde unter Freunden und ich möchte, dass du sie kennenlernst”, bot er an. Aus meiner Schwermut wurde umgehend Vorfreude, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt nicht einschätzen konnte, was das zu bedeuten hatte und ich es im Nachhinein bereuen würde.
      “Okay, machen wir so”, druckste ich und drückte flüchtig meine Lippen auf seine, nahm ihm die Leine ab und ging schlussendlich aus der Hütte, zusammen mit Trymr, der die ganze Zeit am Glas wartete.

      Lina
      “Na, ich zwei, meint ihr, sie kommt heute noch?”, fragte ich die beiden Hengste neben mir, allerdings erhielt ich keine Reaktion. Wunderkind hatte schon vor einer viertel Stunde entspannt den Kopf gesenkt und döste mit halb geschlossenen Augen, die rosa Unterlippe locker herunterhängend. Alfi hingegen scharrte fordernd mit den Hufen über den Boden und wippte ungeduldig mit dem Kopf auf und ab. Tadelnd klopfte ich dem Hengst auf die Schulter, was zumindest für einen Moment Wirkung zeigte.
      Bevor der Schimmelhengst zu einer erneuten Randale ansetzen konnte, ertönten endlich Vriskas Schritte auf der Stallgasse, begleitet vom Klackern der Hundepfoten. Trymr trabte freundlich auf mich zu und forderte auch augenblicklich eine angemessene Begrüßung ein.
      “Ahh, da bist du ja endlich und ich dachte schon, du gehts ohne uns spazieren”, scherzte ich. Was auch immer sie noch gemacht hatte, es schien sehr einnehmend gewesen zu sein.
      “Tut mir leid, ich war mir nicht bewusst, dass es so lange dauern wird”, verschloss sie den Reißverschluss ihrer dunkelblauen Jacke und fummelte dann weiter an der hellbraunen Lederleine des Hundes.
      “Alles gut. Wollen wir dann los?”, entgegnete ich freundlich und stupste Wunderkind, an dem sein Kopf mittlerweile gemütlich im Halfter hing, als sei es zu anstrengend, ihn selbst oben zu halten. Langsam kamen seine blauen Augen wieder unter seinen Lidern zum Vorschein und blickten mich an, synchron dazu hob sich auch der Kopf des Pferdes wieder an.
      “Auf jeden Fall”, grinste sie und holte noch den Helm aus der Sattelkammer. Es dauerte nicht lange bis wir dann schließlich auf den Pferden saßen. Während Alfi frisch und spritzig voranschritt, musste ich Wunder ein wenig motivieren. Er schien noch nicht wieder ganz aus seinem Delirium erwacht zu sein. Zugegeben bei den frostigen Temperaturen, war es dem Hengst nicht zu verdenken, dass er lieber weiterschlafen wollte, ein kuscheliges Bett wäre jetzt schon ziemlich verlockend. Alternativ wäre eine Sauna sicher auch okay, aber die würde ich hier auf dem Hof vergeblich suchen. Schließlich waren wir hier nicht in meiner Heimat, wo es sogar mitten im Wald Schwitzhütten gab. Auch wenn die Sonne den morgendlichen Nebel bereits vertrieben hatte, glitzerte immer noch Frost auf den beschatteten Stellen des Bodens und ein Habicht zog auf der Suche nach Beute seine Runden über den beinahe wolkenlosen Himmel. Kurzum es war ein wunderschöner, idyllischer Herbstmorgen. Genüsslich ließ ich die kühle Luft in meine Lungen strömen, nahm die Gerüche von feuchter Erde, nassem Laub und natürlich auch von den Pferden wahr.
      “Ist das nicht schön, all die bunten Farben, die die Natur jetzt zeigt”, sprach ich einfach meine Gedanken aus, die mir gerade durch den Kopf geisterten, “Weißt du, früher hatte ich mal eine Freundin, die sagte, es mache sie traurig, wenn die Natur im Herbst beginnt zu sterben, aber ich sehe das anders. Ich meine, der Herbst ist doch eher ein Neubeginn. Eichhörnchen verstecken Nüsse und aus denen, die sie vergessen, waschen im nächsten Jahr neue Bäume, auch die Elchbrunft legt neue Lebensgrundlagen und mit den Fruchtkörpern der Pilze kommt eines der größten Lebewesen weltweit ans Tageslicht. Was denkst du dazu?”
      “Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht”, antwortete Vriska abwesend und war im Wechsel damit beschäftigt den Hengst zu bremsen und Trymr zurückzurufen, der immer wieder eine neue Spur ins Dickicht nahm. Mittlerweile hatte sein Fell von Grau zu Braun, matschig gewechselt. Ich wartete auf ihre Antwort, beobachtete die Natur währenddessen weiter und bemerkte zwischen den jungen Kiefern und älteren Birken eine sehr alte Eiche, die fest verwurzelt an Ort und Stelle stand. Ringsum kaum Bäume, nur ihr eigenes Refugium.
      “Ich denke, dass die Natur einen Grund dafür hat und wir Menschen viel zu klein auf dem wahnsinnig großen Planeten sind, um uns dem in den Weg zu stellen”, murmelte sie.
      “Ja, da magst, du recht haben” stimmte ich zu, betrachte den knorrigen Baum, der Ehrfurcht gebietend vor uns aufragte. Die Eiche war sicher schon einige Jahrzehnte alt, wenn nicht sogar Jahrhunderte und schien so viel beständiger als der Wald ringsherum.
      “Wir sind nur eine winzige, kurzweilige Existenz in dieser Welt”, fügte ich gedankenvoll hinzu.
      “Wenn wir so weiter machen, sagen wir noch Sachen, die wir nicht so meinen”, kam es verschlossen aus Vriska, die dann noch Lächeln anknüpfte und den Hengst energisch vorwärtstrieb, um im langsamen Pass voranzukommen. Ihre Aussage irritierte mich ein wenig. Hatte ich etwas Falsches gesagt oder war das mal wieder einer ihrer rätselhaften Launen?
      Um nicht den Anschluss zu verlieren, trieb auch ich meinen Hengst an. Wunder erhöhte zwar seine Geschwindigkeit, aber aufgrund der ziemlich unrunden Bewegungsabläufe, war ich mir sicher, dass ich zuverlässig Gangsalat produziert hatte. Man hatte mir zwar mittlerweile oft genug erklärt, wie das funktionierte mit den Trabern, und den mehr Gängen, dennoch schaffte ich es immer mal wieder Gänge zu aktivieren, die ich nicht wollte oder gänzlich Chaos zu verursachen. Ein Wunder das noch keines der Pferde einen Knoten in den Beinen bekam. Mein Glück, dass das Pferd unter mit klüger war als ich, denn nach weniger Metern entschied der Hengst selbst die Wahl der Gangart zu übernehmen und sich dem Schimmelhengst anzupassen und den Abstand zu ihm zu verringern.
      “Vriska, warte doch”, versuchte ich Vriska wieder zum langsamen Reiten zu bewegen, “ist etwas los?” Eine Reaktion folgte jedoch nicht, stattdessen schnaubte Alfi ab und hielt sein Tempo, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. Aber der Weg wurde zunehmend unsicherer, viele Wurzeln durchzogen den Sandboden, die sich unter den Hufeisen und leichten Frost darstellten. So entschied Vriska endlich das Pferd zu parieren, erneuert stellte ich meine Frage und diesmal sah sie sogar zu mir, während der Hengst sich erholt streckte.
      „Es ist ein erneutes Mal alles etwas viel“, schnaufte sie laut. Ihre Hände fummelten unkontrolliert an der Mähne des Pferdes herum, strichen ihm über den Hals, bis sie schließlich den Reißverschluss wieder in den Fingern hatte.
      “Verstehe ich, es ist mal wieder ziemlich viel los hier”, antworte ich einfühlsam. Zu gut konnte ich Vriska verstehen. Fruitys Verkauf, Glymur, den sie abgeben musste, Erik, der auf einmal wieder da war, es war fast so, als kenne Vriskas Leben nur Action und gab keine Zeit für Erholungspausen.
      „Und dann noch die ganzen Einsteller, die zur kalten Jahreszeit Beritt wollen. Ich kann mir auch nur schlecht vorstellen, wie ich sonst mein Leben regelte“, grinste sie.
      “Ja, das ist schon erstaunlich”, lächelte ich, „das kenn ich so gar nicht. In Kanada wurde es zum Winter her eher weniger Arbeit. Aber okay, wir hatten auch gerade einmal zwei Einsteller auf dem Hof.” Gleichmäßig zu Wunders Atemzüge, stiegen kleine, weiße Atemwölkchen aus seinen Nüstern empor und die wenigen Stellen, an der er begonnen hatte zu schwitzen, dampften ein wenig.
      „Klarer Fall von keine-Lust-bei-dem-Wetter-das-Pferd-selbstzubewegen“, zuckte Vriska mit den Schultern und holte Alfi im Tempo wieder zurück.
      „Nicht nachvollziehbar. Ich glaube nach spätestens zwei Tagen, wüsste ich nichts mehr mit mir anzufangen so ohne Pferde. Solang am Ende des Tages eine warme Dusche auf mich wartet, ist das sogar beim ekeligen Wetter okay“, entgegnet ich verständnislos. Sie zuckte auch nur mit den Schultern und musterte den Himmel, an dem immer mehr Wolken aufzogen und die letzten wärmenden Strahlen der Sonne verdeckten. Die Kronen der Bäume bewegten sich sanft im Wind, knarrten mysteriös und bunte Blätter fielen in unsere Richtung. Diese Idylle wurde lediglich kurz unterbrochen durch einen leisen Signalton meines Handys. Ich brauchte nicht nachzusehen an was das Gerät mich erinnern wollte, denn ich dachte schon ungefähr seit drei Tagen ununterbrochen daran.
      “Vriska, habe ich dir eigentlich erzählt, dass heute mein neues Pony kommt?”, grinste ich voller freudiger Erwartung. Tatsächlich war ich mir nicht ganz sicher, ob ich tat, denn ich hatte bereits mit so vielen Leuten darüber gesprochen, dass ich vergaß, wen genau ich schon davon in Kenntnis setzte.
      “Warte”, bremste sie eruptiv den Hengst ab, “du hast dir noch ein Pferd gekauft?” Ihre Stimme klang kratzig und äußerst stark auf ‘noch ein’ betont. Kurz räusperte sie sich, wand sich dem Hund zu, der erneut seinen Weg in das Dickicht des Waldes suchte. Mit einem einzigen Pfiff folgte Trymr uns wieder.
      “Dann ist die Box neben Smoothie also für deinen neuen Begleiter? Ich will alles wissen”, jubelte Vriska erfreut und sah mit ihren Augen starr in meine Richtung.
      “Ja, eigentlich war ich ja nicht auf der Suche, weil ich ja Ivy habe, aber ich konnte nicht nein sagen, als Niklas sie mir gezeigt hat. Sie ist nämlich, wer hätte das nur erwartet, ein Freiberger.” Ich begann wie ein Honigkuchenpferd zu strahlen und spürte, wie nun langsam die Aufregung in mir stieg, wie bei einem Kind an Weihnachten, wenn die Geschenke bereits in Sichtweite unter dem Baum lagen.
      “Redo ist ein Polizeipferd und hat mit ihren elf Jahren nun genug Dienst geleistet, weshalb sie jetzt bei mir ihre Rente genießen darf. Optisch ist sie wohl eher das Gegenteil von Divine, denn sie ist schwarz wie die Nacht und hat eine unglaublich niedliche Blesse, aber das wirst du ja später selbst sehen”, schwärmte ich voller Elan von meinem neuen Pferd.
      “Ach so, toll”, murmelte sie überzogen, aber folgte der Erzählung. Schon als ich den Namen meines Freundes erwähnte, rollten ihre Augen und der Blick verschwand zur Seite.
      “Warum bist du heute so seltsam, Vriska? Da steck doch sicher mehr dahinter, als dass aktuell viel los ist”, hakte ich nach und musterte sie prüfend. Erneut räusperte sie sich: “Erik ist eifersüchtig, weil ich mit Niklas trainiere, obwohl wir schon so weit gekommen sind. Darüber schien er nicht sehr begeistert zu sein. Erst jetzt, wo ich etwas mehr darüber nachdenke, kommt es mir blöd vor.”
      “Ja, ein wenig blöd klingt das schon, aber ganz ehrlich, ich kann es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, ich meine bei eurer Vergangenheit …”, murmelte ich und schielte verhalten zu ihr hinüber, “aber das ist sicher nicht das, was du hören wolltest.” So gut wie ich Eriks Seite nachvollziehen konnte, so konnte ich auch Vriska verstehen.
      “Jedenfalls, denke ich, er hat einfach nur Angst davor dich zu verlieren. Wenn dich etwas an seinem Verhalten stört, solltest du mit Erik darüber reden und versuchen einen Kompromiss zu finden, mit dem ihr beide leben könnt”, riet ich ihr. Ohne recht zu wissen warum, strich ich Wunderkind über den gescheckten Hals, woraufhin er schnaubte.
      “Vergangenheit. Ah ja”, schnaubte sie und unterstrich ihre Aussage mit einem sehr deutlichen Augenrollen, dass wohl auch die Hengste zu deuten wussten. Ihr gefiel meine Aussage ganz und gar nicht, doch statt wie gewohnt dann die Flucht anzutreten, atmete Vriska tief durch und sah mich starr an. “Aber nein, ich werde nicht darüber mit ihm sprechen, denn es das einzige Anliegen, was er je geäußert hat und dem werde ich nichts entgegentreten”, fügte sie deutlich gelassener hinzu, aber setzt dann doch noch einmal zu einem scharfen Zusatz an: “Dein Kerl hatte damit ein so viel größeres Problem und musste mir daraufhin urig lange Texte verfassen, die davon geplagt waren, wofür ich ihm so dankbar sein sollte oder so.”
      “Jap, das glaube ich dir gern. So ist er, der Herr”, kommentierte ich das Ganze trocken. So ganz nachvollziehen, warum sie sich bei mir darüber beschwerte, konnte ich nicht, schließlich war Niklas mein Freund und nicht mein ungezogenes Kind, aber wenn es ihr damit besser ging, solle sie mal machen. Immerhin wusste ich wie anstrengend er mit seinen Eigenheiten manchmal sein konnte. Verdutzt entglitten ihre Gesichtszüge, um nun doch ein schnelleres Tempo mit dem Hengst anzustreben. Im Pass bretterte Alfi los, gefolgt von Trymr, der mit lockerem Zug hinterherrannte. Sein Schwanz bog sich zwischen die Beine, als wäre er auf der Jagd nach einem Hasen, der ihm zufälligerweise über den Weg lief. Auf der Bahn erlangte Wunderkind viele Siege, aber sobald ein Sattel auf seinem Rücken lag, musste man kontinuierlich mit den treibenden Hilfen am Ball bleiben, dass er nicht zurückfiel. Sosehr ich mich auch bemühte dem Wunderkind zu etwas mehr Geschwindigkeit zu verhelfen, der langbeinige Schimmel hatte mehr davon, womit Vriska jeden Kommunikationsversuch abblockte. Der Wind blies mir kräftig entgegen, zerzauste das, was mal ordentliche Zöpfe gewesen waren und der Matsch spritze Wunder mindestens bis an die Brust und bedeckte sein Fell mit graubraunen Punkten.
      Erst als Vriska am Hof gezwungen war Alfi zu bremsen, hatte ich die Chance sie einzuholen. Ein wenig angestrengt lenkte ich den gescheckten Fuchs neben den Hengst, der mit geblähten Nüstern die Luft in seine Lungen zog und kleine Wolken in der Luft bildete.
      “Möchtest du mir verraten, was ich gesagt habe, dass du vor mit flüchtest oder hüllst du sich lieber weiter in Schweigen?”, versuchte ich wieder, die Kommunikation mit ihr aufzunehmen. Noch bevor sie ein Wort sagte, musterte auch den Parkplatz, den sie offensichtlich mit ihren Augen absuchte. Wie vermutet, standen dort nur noch unsere Fahrzeuge vom Hof und drei Autos der Einsteller, die aktuell ihre Pferde besuchten. Eine von ihnen, Eve, kam uns freudig entgegen und saß auf ihrem Kaltblüter Hengst Raleigh, der neugierig die Ohren aufstellte, als Trymr ihm entgegentrat. Die schulterlangen schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der am Helm hinten wie ein kleines Hörnchen herausstand.
      “Immer noch keinen Sattel gefunden?”, fragte Vriska höflich. Offenbar lag es doch an mir, denn mit Eve begann sie umgehend ein Gespräch, obwohl ich wusste, dass sie nicht leiden konnte. Vermutlich wäre auch einfacher aufzuzählen, wen sie mochte und dafür würde eine Hand reichen.
      “Leider nicht”, antwortete Eve kurz und ritt weiter. Der Hengst schnaubte ab, schenkte den beiden Rennpferden überhaupt keine Beachtung. Sein dreckiger Beinbehang schob sich durch den Kiesweg und hinterließ größere Löcher, als die anderen Pferde. Mehrmals drehte ich mich noch um und bewunderte etwas, dass sie ohne Sattel so selbstsicher auf dem Riesen saß. Vriska hingegen schwieg, aber ich spürte, dass es in ihrem Kopf brodelte. Sie warf mir einen fragenden Blick zu und ihre Augen glitzerten gläsern im Licht der kalten Lampen an der Außenwand des Stallgebäudes. Eine Träne kullerte über ihre Wange, die sie sofort wegwischte.
      “Ich will nicht, dass du mich hasst”, zitterte ihre Stimme, “aber dieses Auf und Ab die letzten Wochen mit Erik, tat mir noch weniger gut, als sein nicht da sein zuvor. Ich verlor mich in Gedanken, wusste nicht, was ich wollte oder verstand, was ich tat. Das endete darin, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte, was ich sonst immer relativ gut schaffte und auch emotional davon abschottete. Dennoch fand ich mich betrunken auf Niklas Schoß wieder und zwei Shots später, fühlte er sich ebenfalls bereit dafür. Wäre Chris nicht dagewesen, weiß ich nicht, worin es geendet hätte.” Die Worte waren durchtrieben von Schluchzten und lauten Atmen. Dass es wieder mal so einen Auslöser geben würde, dachte ich mich bereits, versuchte meinen Geist aber zu beruhigen. Vermutlich gehörten solche Ekstasen zu seinem Dasein und ich musste akzeptieren, ihn immer mit seinen schlechten Eigenschaften teilen zu müssen. Eine Antwort kam mir nicht in den Sinn, doch Vriska keuchte mit roten Augen, die weiter mit Tränen besetzt waren, weiter: “Sonst gehe ich ihm schon immer aus dem Weg und reduzierte den Kontakt aufs nötigste, um mich auf das wesentliche zu konzentrieren. Aber beim Training fühlte ich mich so frei, geborgen und es unwichtig wer ich bin oder was ich darstellen sollte. Das verletzt mich und noch so viel mehr, dass ich immer wieder zwischen euch funke, obwohl das überhaupt nicht mein Plan ist. Deswegen überlege ich wieder nach Hause zu fahren.” Das Gesagte war bitter, doch die Qual darin war so deutlich, dass ich es beinahe selbst zu spüren glaubte. Es betrübte mich, dass Vriska so sehr litt, dass sie in der Flucht den einzigen Ausweg sah. Verübeln, könnte ich es ihr allerdings auch nicht, schien es doch der leichteste Weg zu sein, einfach aus diesem Leben hier zu verschwinden und weit wegzukommen, an einem anderen Ort neu anzufangen.
      “Ich hasse dich nicht”, sprach ich sanft, bevor ich auf der Suche nach den richtigen Worten innehielt, “viel mehr danke ich dir für deine Aufrichtigkeit. Ich spüre wie es dich zerreißt und es tut mir leid, dass das Training als Wohlfühlort nun wegfällt. Aber ich würde mir wünschen, dass du hierbleibst, nicht das aufgibst, was du dir aufgebaut hast. Ich meine, wie du selbst schon, sagtest du bist bisher so weit gekommen und auch wenn du es vermutlich nicht glauben kannst, ich brauche dich. Wer unterstützt mich denn sonst dabei, der Männlichkeit hier nicht völlig die Macht zu überlassen?” Aufmunternd lächelte ich ihr zu, bevor ich die Rede fortsetzte: ”Außerdem, hast du mit Erik einen wundervollen Menschen an deiner Seite, der dich sicher unterstützen wird. Wenn du wirklich zurück in deine Heimat willst, bin ich die Letzte, die dich aufhalten wird, aber lass uns vorhersehen, ob es nicht auch eine andere Lösung geben könnte.”
      Das Schluchzen endete und verlief sich im Säuseln der Blätter, der jungen Birken am Wegesrand. Von außen betrachtet standen wir sinnlos herum, weder links noch rechts hatte jemand die Möglichkeit an uns vorbeizukommen und die Hengste schnappten verspielt nach einander. Erst nach geraumer Zeit griff Vriska in das Geschehen ein und tadelte den Schimmel. Er wippte mit dem Kopf und trat zwei Schritte zurück. Dann lobte sie ihn, Ruhe kehrte wieder ein, obwohl ihr Atem noch sehr präsent war. Obwohl sie ihr Piercing schon länger aus der Unterlippe nahm, biss sie mit der oberen Zahnreihe darauf herum und versuchte nicht vorhandene Objekt mit der Zunge zu drehen. Es sah schon aus wie Ivy, wenn er eine Banane auf dem ganzen Boden verteilte.
      “Wir kennen ihn beide kaum, um das beurteilen zu können”, seufzte Vriska und wischte eine Haarsträhne aus dem Gesicht, “aber ich soll heute seine Freunde kennenlernen.”
      “Ausgezeichnet, dann nutzt deine Chance ihn besser kennenzulernen”, versuchte ich sie weiter aufzumuntern.
      “Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu?”, lachte Vriska mit verstopfter Nase, “erst mal sehen, ich habe Angst und weiß nicht, ob das nicht einfach so ein aktuell verstehen wir uns echt gut, mit ihm sein wird.”
      “Nein, da setzt mein Hirn regelmäßig aus”, schmunzelte ich, freute mich aber Vriska aufmuntern zu können, “Dann lass dir Zeit mit deiner Entscheidung, tu das womit du dich am wohlsten fühlst.”
      “Merke ich. Aber ich weiß nicht, womit ich mich wohlfühle. Er ist toll, aber nur solang er bei mir ist für einige Stunden. Außerdem”, sie schluckte, bevor die Worte zittrig ihre Lippen verließen, “ist da auch noch Fredna, mit der ich mich nicht so recht anfreunden kann.”
      “Ersteres wirst du wohl leider allein rausfinden müssen. Erforsche einfach langsam, was du willst und was Fredna betrifft … ich denke, das benötigt Zeit, Geduld und Verständnis. Das ist sowohl für dich als auch für die Kleine eine komplett neue Situation. Erwarte nicht sofort, dass sie dich vergöttert, mach dir aber auch selbst keinen Druck, Erwartungen erfüllen zu müssen oder dass es sofort funktionieren muss”, riet ich Vriska und lächelte sie aufmunternd an.
      “Das sagst du so leicht, dich mag sie”, wieder seufzte sie, aber schwang sich aus dem Sattel. Der Wind wurde rauer und auch mir wurde zunehmend unangenehm kalt auf dem offenen Feld. Prüfend sah Vriska sich im Stall um, ehe sie ihre Verteidigung wieder aufbaute, als sollte ich von meiner Stellung ablassen und ihr dazu raten, Erik erneut fallenzulassen: “Ich weiß nicht, was ich erwarte, schließlich hatte ich nicht mehr damit gerechnet, mir Gedanken machen zu müssen, was passiert, wenn man jemanden an seiner Seite haben könnte. Spaß wollte ich haben, ansonsten wird mir hier doch alles geboten. Na gut, ein eigenes Pferd wäre noch toll.”
      “Dann wird es jetzt mal Zeit, dass du dir darüber Gedanken machts oder du wartest einfach ab, wohin das Leben dich führt”, blieb ich bei meiner Haltung, dass sie Erik zumindest eine weitere Chance geben sollte, auch wenn ihr das Modell feste Beziehung und dann auch noch mit einem Kind im Spiel, ziemlich zu schaffen machen schien.
      “Und ich glaube da mit dem Pferd, könntest du sicher erfüllen, wenn du dein Geld nicht so viel für überteuerte Schabracken ausgeben würdest, wobei ich dir zustimme, dass dieser Barbielook von Lubi auf Dauer nur schwer erträglich ist”, ging ich auch noch auf ihren letzten Satz ein, bevor ich den Sattel von Wunders Rücken zog und mich mit diesem auf den Weg in die Sattelkammer machte.
      “Die hat nur 1199 Kronen (ca. 120 Euro) gekostet”, murmelte Vriska verstohlen in ihren Kragen und folgte mir mit dem Sattelzeug des Schimmels, den sie entschlossen in das Solarium stellte. Trymr hatte sich derweil auf einer der Decken platziert und streckte alle Viere von sich, erschöpft aber glücklich wedeltet die Rute langsam.
      “Und was Erik betrifft”, setzte sie nach einem Augenblick der Stille wieder an, “der gibt sich doch auch kaum Mühe, hofft nur, dass etwas Nähe reicht. Ich weiß nicht einmal, was er aktuell macht nach dem er gekündigt wurde. Es ist blöd so, aber was weiß ich schon, was man ändern sollte. In meinem Kopf hüpfen nur bunte Ponys.”
      “Weißt du, es gibt da so etwas, das nennt sich Kommunikation. Ich habe gehört, das soll helfen, wenn man sich wünscht, dass Menschen sich verändern sollen. Sag ihm, dass du das, wie es aktuell läuft, doof findest, dass dir da etwas fehlt. Vielleicht findet ihr zusammen den Punkt, an dem es hakt”, versuchte ich ihr besten Gewissens zu helfen, was angesichts der Tatsache, wie unsicher Vriska in Bezug auf Erik war, nicht gerade einfach war.
      “Kannst du das nicht machen? Schließlich scheint es ihm an nichts zu fehlen”, zuckte sie mit den Schultern, dann griff sie in ihr Fach, in dem normalerweise das Handy lag. Jedoch befand sich dort nichts.
      “Ja, das kann ich für dich tun, aber ich kann dir nicht versprechen, dass das den gewünschten Effekt hat”, erwiderte ich ehrlich. Ich konnte nachfühlen, dass sie das Thema nicht selbst ansprechen wollte, schließlich ging ich selbst der Konfrontation mit unangenehmen Themen, wenn möglich, aus dem Weg.
      “Ach schon gut, ich werde erst mal sehen, was sich heute ergibt. Mir würde schon reichen, wenn ich überhaupt etwas über ihn im Internet finden würde, aber nein. Er ist ein Phantom”, legte sie laut und griff immer wieder in das leere Fach, als konnte sie nicht glauben, dass sich das Gerät dort nicht befand. Vriska seufzte und drehte sich schließlich zu mir, klemmte die Schuhe zwischen ihre Knie und band sich das lange weiße Haar zu einem neuen Zopf.
      “Apropos Phantom. Ich habe deinen ehemaligen Kerl gefunden”, dreckig lachte sie und ein falsches Lächeln durchzog ihr Gesicht. Für ein paar Sekunden fühlte es sich an, als sei mein Herz stehen geblieben, bevor es umso heftiger pulsierend wieder einsetzte und dabei das gesamte Blut aus meinen Extremitäten in die Körpermitte zu saugen schien.
      “Du hast was?”, presste ich hervor und starrte sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Auf Social Media hatte meine Schwester damals dafür gesorgt, dass er blockiert wurde und alles andere wo Bilder oder Beiträge von ihm auftauchen konnte, mied ich wie die Pest. Er war einer der Gründe, weshalb Dinge wie das Jahrbuch aus meinem Abschlussjahr zusammen mit einem Sammelsurium an Fotos und anderer Dinge in einer Kiste einstaubten.
      “Ich habe doch gesagt, wenn ich ihn finde, mache ihm das Leben zur Hölle”, zuckte sie mit den Schultern und zog den Gummi fester. Ich bewegte mich nicht von der Stelle, spürte aber, dass sie ihre Hand auf mir ablegte, bevor sie weitersprach.
      “Offensichtlich puscht er sein Ego nun damit, von anderen Mädchen angehimmelt zu werden und ich nutze bewusst diesen Begriff. Im ersten Überblick waren die zwischen zwölf und siebzehn”, ungläubig schüttelte sie mit dem Kopf, “beliebt wurde er durch einen Unfall, der ihn ziemlich viel Aufmerksamkeit brachte und seine internationale Ice Hockey Karriere trug wohl den Rest dazu bei. Ach, und der ist mit so einem Model aus Estland zusammen, was aber ziemlich gestellt wirkt. Viel Zeit verbringen sie nicht miteinander, denn die gefühlten stündlichen Story-Updates zeigen nur selten beide zusammen am selben Ort. Bilder hingegen waren nur gemeinsam. Seine Agentur hat auch gute Arbeit verrichtet, zu verschleiern, was vor seiner großen Onlinekarriere kam. Ich fand einige Dokumente über einen mehrjährigen Gefängnisaufenthalt wegen Körperverletzung, durch das verstoßen gegen Bewährungsauflagen. Also hat er seine Strafe bekommen, wenn auch zu kurz.”
      Ein wenig gruselig, wie viele Informationen Vriska einzig aufgrund eines Vornamens herausgefunden hatte. Doch die Anspannung löste sich langsam von mir, auch wenn mein Kopf einen Moment benötigte, um die Informationen zu verarbeiten.
      “Warum wundert mich das nicht, dass seine Freundin offenbar nur Fake ist …”, murmelte ich vor mich hin. Schon nach der Trennung hatte ich die bittere Erkenntnis, dass weder ich noch irgendein anderes Mädchen für ihn jemals mehr gewesen waren als ein dekoratives Schoßhündchen.
      “Gefängnis, sagst du?”, wiederholte ich und Vriska nickte bestätigend, „dazu kann ich nur sagen, Karma ist eine Bitch. Nur traurig, dass sie ihn wieder herausgelassen haben.” Erstaunlicherweise fühlte es sich überraschend gut an, zuhören, dass das Leben dieses Arschlochs, nicht nur aus Glanz und Gloria bestand. Es macht die Ereignisse zwar nicht ungeschehen, deren unsichtbare Narben ich auf dem Herzen trug, aber es der Gedanke, dass das Leben ihn strafte, machte es geringfügig erträglicher damit zu existieren.
      “Tyri hat bis heute nicht bekommen, was er verdient”, gab Vriska nur trocken von sich und trat aus der Sattelkammer heraus. Von außen drang das Piepen des Solariums hinein, was womöglich ihre Flucht beantwortete.
      “Das tut mir leid”, bekundete ich meine Anteilnahmen und folgte aus dem Raum. Auf dem Putzplatz fand ein schlafendes Wunderkind vor. Bisher war mir noch kein Pferd begegnet, welches so viel döste, äußerst energieeffizient für ein Rennpferd. Mit einem sanften Stupser weckte ich den Hengst und versuchte ihn in Bewegung zusetzten. Langsam stellte er sich normal hin, streckte sich und folgte mir dann doch langsam in seine Box. Vriska befreite derweil den Schimmel aus dem Solarium und stellte ihn ebenfalls weg.

      “Lina, jetzt hör doch mal auf hier herumzulaufen wie ein aufgeschrecktes Huhn”, sagte Vriska augenrollend, als ich sicherlich bereits zum dritten Mal prüfte, dass die Box für Redo auch wirklich ausreichend vorbereitet war, aber natürlich war sie das, weil außer das eine Box frisch eingestreut war, gab es nichts vorzubereiten.
      “Aber wo soll ich denn dann hin mit meiner ganzen Energie?”, entgegnet ich und wippte auf meinen Zehen auf und ab. Es konnte nicht mehr lange dauern bis die Transporter mit meinem neuen Pferd auf den Hof rollte.
      “Keine Ahnung, aber so machst du nicht nur mich kirre, sondern auch die Pferde”, antwortete, sie schulterzuckend und deute auf Smoothie, die in der Box hinter mir stand, eines der riesigen Ohren nach vorn, eines nach hinten gedreht und mich irritiert anstarrte, um kurz darauf nervös mit dem Kopf zu schlagen. Dem Pferd zuliebe mühte ich mich, das Wippen einzustellen, was sich dafür darin niederschlug, dass ich ersatzweise an meinem Armband herumnestelte. Wenn das so weiterginge, würde es noch in einem Übermaß an nervöser Energie kaputtgehen.
      Glücklicherweise wurde es davor bewahrt, da nun das Dröhnen eines Motors draußen zu vernehmen war, was dem ganzen Warten endlich ein Ende setzte.
      “Sie sind da”, quietsche ich begeistert und lief schnellen Schrittes zum Tor. Im Schein der untergehenden Sonne rollte der überdimensionierte Transporter auf den Hof. Wenn man ihn so sah, könnte man denke ich habe eine ganze Herde gekauft und nicht nur ein einziges Tier. Das Gefährt kam zum Stillstand und ein Mann kletterte aus der Fahrerkabine, der nach einer kurzen Begrüßung, noch ein wenig Papierkram hervorkramte. Schnell waren die Formalien erledigt, sodass es ans Ausladen gehen konnte.
      Aufgeregt beobachte ich wie der Mann, die Klappe und das leere Abteil, welches vor meiner Stute war, öffnet. Als er einen kleinen Teil öffnete, kam sogleich der Kopf der Stute zum Vorschein. Mit neugierig aufgestellten Ohren streckte sie dem Mann die Schnauze entgegen, der einen Strick an ihrem Halfter befestigte, bevor er die Seitenwand komplett öffnete. Routiniert, als würde sie das jeden Tag machen, ließ sich die Stute die Rampe herunterführen.
      Neugierig, aber ganz ruhig stand Redo am Fuß der Rampe und nahm die neue Umgebung in Augenschein, während ich den Strick von dem Mann entgegennahm. Eine Welle von Endorphinen jagt durch meinen Körper und ließ meinen Puls unwillkürlich in die Höhe schnellen. Das mag jetzt bescheuert klingen, aber es fühlte sich irgendwie ziemlich erwachsen an zu wissen, dass ich dieses Pferd von meinem eigenen Geld gekauft hatte.
      > Tervetuloa kotiin kauniisti.
      „Willkommen Zuhause, Hübsche”, raunte ich der Stute zu und strich ihr von Glück erfüllt über den kräftigen Hals. Kurz beschnupperte Redo mich, bevor sie die Nase zum Boden hinuntersenkte, um diese zu inspizieren.
      “Darf ich vorstellen, das ist Ready for Life. Sie darf ab heute ein Leben als Freizeitpferd genießen”, wand ich mich nun stolz an Vriska, die die ganze Szene mit etwas Abstand beobachtet hatte.
      “Das ist doch toll”, lachte sie aufrichtig und hielt der Stute ihre Hand hin, die konsequent ignoriert wurde. Gerade als sie den Mund öffnete, um weiteres zu sagen, stoppte sie und sah hektisch zur Seite. Niklas hatte die Tür seines Autos zugeworfen und lief großen Schrittes zu uns.
      “Mein Einsatz, viel Spaß euch”, duckte sie sich ein Stück nach unten und verschwand zur anderen Richtung. Offenbar setzte sich das seltsame Fluchtverhalten von heute Morgen noch fort. Doch anstatt mir darüber Gedanken zu machen, strahlte ich meinen Freund an, dessen Anblick nur noch mehr Glückshormone durch meinen Körper jagtet. So viele, dass ich ihm am liebsten in die Arme gesprungen wäre, was ich aber in Anbetracht des Pferdes in meiner Hand besser ließ. Stattdessen kam nur ein kurzes, “Hey Schatz”, über meine Lippen, bevor ich diese stürmisch auf seine drückte. Die wohlige Wärme, die von ihm ausging, schien meine Haut geradezu zu absorbieren, damit sie auf direktem Weg mein Herz erwärmte. Langsam löste ich mich meine Lippen wieder von ihm, aber mein Blick konnte sich nicht von seiner perfekten Erscheinung lösen. Erst ein leichter Zug auf dem Strick, dessen Ursprung Redo war, die ein paar Schritte getan hatte, um an drei einsame Grashalme heranzukommen, holte mich von meiner Liebeswolke hinunter.
      “Du kommst genau richtig, ich wollte mein Pony gerade in ihr neues Zuhause bringen”, lächelte ich und holte mir mit einem sachten zupfen am Strick den Kopf der Stute wieder zu mir. Daraufhin suchte sie nun in meinen Jackentaschen nach etwas Essbarem. Tatsächlich hatte ich noch Leckerlis in der Tasche, von denen ich ihr eines in die Schnauze stecke.
      “Ach und ich glaube, dein Pferdchen würde sich über deine Anwesenheit freuen, die war heute Morgen ziemlich launisch”, fügte ich noch hinzu, bevor ich meine Rappstute in Bewegung setzte. Smoothie hatte heute Morgen nicht nur das Vollblut raushängen lassen, sondern zusätzlich auch noch die Stute, was wirklich keine sonderlich umgängliche Mischung war.
      “Jeder freut über meine Anwesenheit”, grinste er verschmitzt und folgte mir.
      “Natürlich Liebster, nur manche freuen sich ein wenig mehr als andere”, stimmte ich ihm schmunzelnd zu. Als wir die Stallgasse betraten, schien seine Stute diese Aussage unterstützen zu wollen, denn kaum erblickte sie Niklas, quietschte sie auf und sprang in ihrer Box herum wie ein junges Fohlen. Redo schien von dem Gehampel weitestgehend unbeeindruckt und versuchte neugierig Kontakt zu den Pferden aufzunehmen, die ihre Köpfe über die Boxentüren reckten. Während mein Freund sein hüpfendes Schimmeltier beruhigte, ließ ich meine Stute gewähren, schließlich bestand heute kein Zeitdruck. Schon nach einem kurzen Schnuppern verloren die meisten allerdings bereits das Interesse und zogen sich in ihr Boxen zurück.
      In ihrer Box nahm ich Redo das Halfter ab bevor ich mich zurückzog, damit sie sich in Ruhe alles ansehen konnte. Lächelnd beobachtete ich wie der Freiberger den Kopf senkte, ein Stück durch die Box stiefelte und sich niedersinken ließ. Brummelnd kugelte sie in den Holzspänen umher. Allem Anschein nach entsprach zumindest schon einmal der Bodenbelag den Vorstellungen der Stute. Nach einigen Minuten rappelte sie sich auf, schüttelte sich und steuerte zielstrebig das Heu an.
      “Kleiner Nimmersatt”, murmelte ich in mich hineinlächelnd und sah der Stute beim Fressen zu. Es erfreute mich, dass sie sich direkt so wohl hier zu fühlen schien. Unbewusst wanderte mein Blick zu Niklas hinüber, der in der Nachbarbox mit seiner Stute herumblödelte. Schon allein bei seinem Anblick regte sich etwas in mir, was sich einfach wundervoll anfühlte und mich immer wieder darin bestätigte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hier wollte ich bleiben, denn dieser Ort war ein Zuhause geworden und Niklas war ein nicht unwesentlicher Teil davon. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so akzeptiert und geborgen bei jemandem gefühlt, der nicht Samu oder meine Schwester war.
      Das Einzige, was noch fehlte, um das ganze vollkommen zu machen, war mein Zauberpony, denn dann würde die Sehnsucht in meinem Herzen endlich ein Ende nehmen.
      Mein Handy, welches plötzlich Aufmerksamkeit verlangte, holte mich aus meinen Gedankengängen. Samus Name leuchtete auf dem Bildschirm, besser hätte es gerade ja nicht passen können. Hoffnungsvoll, dass er anrief, weil er gute Neuigkeiten hatte, drückte ich auf den grünen Hörer: “Hei, Samu.”
      > Lina, mitä kuuluu? Onko päiväsi ollut mukava tähän asti?
      „Hey Lina, wie geht's? War dein Tag schön bisher?”, kam es durch den Hörer. Leider konnte ich seine Stimmung nicht richtig deuten, sodass ich wohl abwarten musste, ob er vielleicht Neuigkeiten hatte.
      > Minulla menee loistavasti. Ready for Life on juuri saapunut ja näyttää tuntuvan melko mukavalta täällä, ainakin ruoka on heidän prioriteettinsa.
      ”Mir geht es wundervoll. Ready for Life ist gerade angekommen und scheint sich hier schon ganz wohlzufühlen, zumindest ist Futter ihre Priorität”, erzählte ich und warf lächelnd einen Blick auf die Stute, die immer noch an ihrem Heu mümmelte. Als sie merkte, dass sie angesehen wurde, hob sie ihren Kopf und kam zu mir getrottet. Sanft strich ich Redo durch die kurze Mähne.
      > Kuulostaa siltä, että hän on selvästi oikea Freiberger
      ”Klingt als sei sie ganz eindeutig ein echter Freiberger”, lachte Samu.
      > Onko poikaystäväsi kanssa kaikki hyvin?
      „Und mit deinem Freund ist auch alles gut?”, fragte er seltsam bemüht darum, dass es beiläufig klang.
      > Odotatko jo hääkutsua vai miksi kysyt niin oudosti?
      „Wartest du schon auf die Hochzeitseinladung oder warum fragst du so seltsam?”, amüsierte ich mich,
      > Mutta kyllä, kaikki hyvin. Ilman sitä olisit kuunnellut tätä kauan.
      ”Aber ja, alles gut. Wäre es nicht so hättest du das schon lange zuhören bekommen.”
      > Jos asia on niin, odotan innolla, että päivästäsi tulee vielä kauniimpi.
      ”Na, wenn das so ist, freue ich mich deinen Tag gleich noch schöner zu machen”, kündigte Samu groß an, rückte aber nicht mit der Sprache raus. Er wollte mich wohl echt auf die Folter spannen.
      > Samu, sano kyllä.
      „Samu, jetzt sag schon”, forderte ich nachdrücklich,
      > Ole hyvä.
      „Bitte.”
      > Eläinlääkäri oli juuri siellä ja Ivy saa nyt lähteä.
      ”Der Veterinär war gerade da und Ivy darf jetzt ausreisen”, gab er mir endlich die Neuigkeiten durch, auf die ich schon seit Tagen hoffte. Redo, die begonnen hatte, sanft mit ihren Lippen an meinen Zöpfen herumzuspielen, zuckte zurück, als ich freudvoll auf quietschte und einen kleinen Hüpfer machte. Von Niklas erntete ich daraufhin einen schrägen Blick. Entschuldigens strich ich Redo über den flauschigen Hals, bevor ich wieder an Samu wandte:
      > Kiitos Samu, olet paras. Milloin hän tulee?
      „Danke Samu, du bist der Beste. Und wann wird er dann hier sein?”
      > perjantaina lastaamme hänet tänne lentokoneeseen, mikä tarkoittaa, että lauantaina taikaponisi on kanssasi.
      ”Am Freitag laden wir ihn hier in das Flugzeug, das heißt am Samstag ist er bei dir”, erklärte Samu offenbar amüsiert über meine überschwängliche Reaktion.
      > Linchen, minun on palattava töihin. Lähetän tarkat päivämäärät uudestaan ja tänä iltana tai sinulle huomenaamulla saat päivittäisen Ivy-raporttisi. Hyvää illanjatkoa.
      „Okay Linchen, ich muss jetzt zurück an die Arbeit. Die genauen Daten schicke ich dir dann noch mal und heute Abend bzw. für dich morgen früh bekommst du dann noch deinen täglichen Ivy Report. Dir noch einen schönen Abend“, beendete Samu schließlich das Gespräch.
      > Myös mukava päivä ja jälleen valtava kiitos siitä, että huolehdit siitä. Heippa.
      „Dir auch noch einen schönen Tag und noch mal ein Riesen-Dankeschön, dass du dich darum gekümmert hast. Tschüs”, bedanke ich mich noch mal überschwänglich bei ihm bevor das Gespräch endgültig ein Ende fand. Der Abend war heute ohnehin schon von jeder Menge Glück erfüllt, aber die Nachricht, dass ich am Samstag wieder mit meinem geliebten Vierbeiner vereint war, toppte einfach alles. Das breite Grinsen, was sich seit der Verkündung dieser Nachricht auf meinem Gesicht ausgebreitet hatte, wollte gar nicht mehr verschwinden. Um weiteren Gefühlsausbrüchen zu entgehen, hatte mein anderes Pferd sich in seine Box zurückgezogen und mümmelte wieder entspannt an ihrem Heu. Anders als Divine war sie wohl eher weniger an menschlichen Emotionen interessiert.
      “Niki”, fröhlich lief ich zu der Nachbarbox, um die Informationen gleich mit meinem Freund zu teilen, “Samu hat gerade angerufen, in wenigen Tagen kommt Ivy endlich her.” Um Smoothie, die im Gegensatz zu heute Morgen nun wieder äußerst freundlich aussah, nicht zu verschrecken, bemühte ich mich meine Körpersprache zu mäßigen.
      “Dann bist du endlich wieder vollständig”, grinste auch Niklas mich an.
      “Ja, du sagst es”, trällerte ich heiter, “ich glaube der Tag kann jetzt nicht mehr viel besser werden.” Meine Hände ließ ich präventiv in den Jackentaschen versinken, bevor sie wieder abenteuerliche Figuren in der Luft beschreiben würden. Neugierig streckte sich mir eine rosa Pferdenase entgegen, die auch sogleich erkannte, dass sich neben meinen Händen noch etwas Essbares in den Taschen befand. Jetzt wollte Smoothie offenbar doch das Leckerli, welches sie heute Morgen verschmäht hatte. Niklas sorgte allem Anschein nach nicht nur bei mir jedes Mal für eine erhebliche Verbesserung der Launen, sondern bei seiner Stute schien er diese Wirkung ebenso zu haben. Schon allein wie sie immer herumsprang, wenn sie ihn nur hörte, irgendwie niedlich.
      Gierig schnappte die Stute nach der Leckerei, fast so als sei sie ein ausgehungertes Krokodil. Meine Finger hatten sie auch bereits zwischen ihren Lippen und diese entkamen ihren Zähnen nur knapp. Kaum hatte Smoothie das Leckerli verschlungen war ich aber auch schon wieder komplett uninteressant für sie. Gegen Niklas unwiderstehliche Aura kam ich nicht an, was mich auch wenig wunderte, da Smooth geradezu vernarrt in ihn war. Eines der wenigen Dinge, die die Stute und ich wohl gemeinsam hatten.

      „Du hast ein perfektes Timing“, rief ich Niklas beschwingt zu, der gerade die Wohnung betrat, bevor ich mich wieder summend dem Herd widmete. Während in dem einen Topf das Rentier vor sich hin köchelnde und einen wunderbaren Duft aussendete, warte ich nur noch darauf bis die Kartoffeln endlich weich waren.
      „Perfektes Timing wofür?“ Niklas zu mir gestiefelt und warf einen Blick über meine Schulter. Liebevoll gab er mir einen Kuss auf den Scheitel und legte seine Hände an meine Taille. Augenblicklich begann meine Haut unter seinen Berührungen zu kribbeln.
      „Was kochst du denn da schönes?“ Sanft kitzelten die Worte über meine Haut und sorgten dafür, dass sich die winzigen Härchen in meinen Nacken aufstellten und sich das wohlige Kribbeln in mir weiter ausbreitete.
      „Poronkäristys“, entgegnete ich fröhlich, nicht bedacht darauf, dass es damit vermutlich nichts anfangen konnte. „Also Rentier-Geschnetzeltes mit Kartoffelpüree und Preiselbeermarmelade“, fügte ich dann noch erklären hinzu, „nach einem Familienrezept.”
      Bereits seit einigen Tagen gelüstete es mich nach diesem Gericht, allerdings hatte ich nicht die Zeit gefunden es zu kochen. Mit knapp einer Stunde Kochzeit war es kein Gericht für schnell zwischendurch. Außerdem war es auch viel zu schade dafür, denn dieses Essen musste man genießen. Das Rezept dafür stammte noch von meiner Oma mütterlicherseits. Leider hatte ich sie niemals kennengelernt, denn sie verstarb bereits vor meiner Geburt. Aber mein Bruder, sagten immer, dass sie stets das beste Poronkäristys gemacht hatte, nicht mal das Rezept seiner Verlobten komme daran.
      “Es schmeckt sicher so wundervoll wie es duftet”, raunte Niklas mir sanft ins Ohr und umschloss mich nun vollständig mit seinen kräftigen Armen.
      “Das will ich doch hoffen”, lächelte ich geschmeichelt und ließ sanft meine Hände auf seinen nieder, worauf sich unsere Finger wie von selbst miteinander verwoben. Mit jeder Faser meines Körpers nahm ich ihn wahr und gab mich der Welle an Gefühlen hin, die durch meine Adern pulsierten. Alles, was sich in meinem Verstand regte, schien auf einmal zum Stillstand zu kommen, denn es war nur noch Platz für eine Sache: Niklas. Wie der Mond die dunkle Nacht erhellt, schaffte er es, das Dunkel in meinem Inneren zu bändigen.
      Von Zeit zu Zeit vergaß ich noch immer, dass das hier die Realität war, denn was er in mir auslösen, fühlte sich viel zu schön an, als dass es wahr sein könne. Für einen Augenblick verlor ich mich in dem Strudel aus Sinneswahrnehmungen und Gedanken und erst der Timer für die Kartoffeln lenken meinen Fokus wieder auf das Abendessen. Nur widerwillig ließ ich die alltäglichen Gedanken wieder die Kontrolle übernehmen und löste meine Finger aus seinen.
      Mit dem Messer pikste ich, welches noch in dem kleinen Chaos auf Arbeitsfläche lag, in die Kartoffeln, um zu testen, ob sie schon fertig seien, was mittlerweile auch der Fall war. Also stellte ich die Herdplatte aus, bevor ich den Topf nehmen wollte, um die Kartoffeln abzugießen, wobei die eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch Niklas ein wenig hinderlich war. Zu gern hätte seine Nähe noch ein wenig weiter genossen, doch dann würden wir wohl hungrig bleiben. Durch den köstlichen Duft, der durch die Küche zog, hatte ich mittlerweile immensen Hunger und ich war mir sicher, meinem Freund ging es ähnlich.
      „Schatz, magst du schon mal den Tisch decken?“, bat ich ihn sanft.
      „Natürlich“, entgegnete er gutmütig und hauchte mir noch einen zarten Kuss in den Nacken, bevor er mich freigab.
      Dampfend kamen die Kartoffeln aus dem Topf, welche ich schließlich zurück auf die Herdplatte stellte, bevor ich die Knollen in eine Schüssel gab und zu Brei verwandelte. Ich spürte wie Niklas Blick auf mir ruhte, während ich noch immer summend die Mahlzeit zubereitete. Seine Aufmerksamkeit genoss ich in vollen Zügen, auch, wenn es sich trotz der mehr als zwei vergangenen Monate noch ein wenig befremdlich anfühlte. Flinn hatte mich früher nie so angesehen wie Niklas es jetzt tat, es fühlte sich so viel besser an. Bei Niklas fühlte ich mich geschätzt als das, was ich war und nicht als etwas, was irgendjemand in mir sehen wollte. Bei meinem Ex-Freund hatte ich den verheerenden Fehler begangen, mich von ihm verbiegen zu lassen, sodass ich für ihn nicht mehr war als ein beliebig austauschbares Spielzeug. Im Nachhinein betrachtet war Flinn auch nur in sehr wenigen Aspekten, dass was ich mir unter einem idealen Partner vorstellte. Aber Schluss damit, Flinn gehörte der Vergangenheit an und so sollte es auch bleiben.
      Als ich, die köstlich duftenden Teller auf den Tisch stellte, sah ich, dass Niklas offensichtlich die Weinflasche entdeckt hatte, die ich gestern zum Kochen genutzt hatte, denn es standen zwei Gläser mit der dunkelroten Flüssigkeit darin auf dem Tisch.

      Vriska
      Mit lautem Getöse fuhr Erik mit seinem Oberklassen-Coupé die steinige Auffahrt entlang und hielt genau vor meinen Augen an. Mein Handy, auf dem ich zuvor noch eine letzte Nachricht an meinen heimlichen Verehrer tippte, steckte ich in meine kleine Handtasche. Zeitgleich stieg er höflich aus, ohne den Motor abzustellen. Trymr, der neben mir saß, jaulte vergnügt und schob mit seinem Schwanz die Kieselsteine von links nach rechts. Fest klammerte ich mich an der Leine, obwohl der Hund keinerlei Anstalten machten loszuspringen.
      „Sollte ich mir Sorgen machen?“, musterte ich sein Outfit von oben bis unten. Es war fast undenkbar geworden, dass er keinen seiner Anzüge trug, die in meinen Augen so etwas wie sein Lebensstil war und eigentlich wie angewachsen seinen Körper umspannten. Auf seinen Schultern hing ein lockerer elfenbeinfarbener Wollpullover mit Rollkragen, die Ärmer nach oben geschoben, kombiniert mit einer hochgekrempelten Jeans, an den Füßen Boots.
      „Ich wollte dir bei nichts nachstehen“, lächelte er verlegen und lud als Erstes den Hund ein, bevor Erik auch für mich die Autotür öffnete. Im Wind des abendlichen Lüftchens wehte das weite Kleid an meinen Beinen zur Seite und durch seinen Mantel, den ich tragen sollte, ließ mich der Zug ein wenig frösteln. Doch einsteigen wollte ich noch nicht. Stattdessen sah ich zu ihm nach oben.
      „Du hast dir deine Augenbrauen gemacht?“, wunderte ich mich und legte meine Hand auf seiner Wange ab. Ich spürte kleine Stoppeln, die er womöglich beim Rasieren übersehen hatte, seine Augen lachten wie seine Lippen und den Blick abzuwenden, wagte ich nicht. Stattdessen schloss ich meine Augen, spürte sofort eine Explosion aus Gefühlen im Inneren meines Körpers, als er mich an sich herandrückte und sich unsere Lippen berührten. Nur durch ihn verlor ich nicht den Halt, klammerte mich an seinem Hals fest mit meinen Armen. An meiner Haut spürte ich, wie seine Halsschlagader pulsierte, unsere Körper zu einem Kreislauf wurden und alles in einem Takt schlug. So musste sich fliegen anfühlen.
      Seine Lippen ließen von meinem ab, doch alles sehnte sich nach mehr, auch wenn meine Knie schlotterten in der klirrenden Kälte. Sanft strich er mir durchs Haar und sagte leise: „Das fällt vermutlich nur dir auf“, dann bekam ich einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor ich in das warme Fahrzeug stieg. Die Tür fiel neben mir zu. Auch er stieg noch ein und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Leichter wurde es nicht. Nervös zupfte ich an den Enden des Kleides herum und blieb mit meinen Augen an Linas Fenster hängen, bei dem ich erkannt, dass sie endlich näher zueinanderkamen. Und dann gab es mich, undankbar darüber, was ich hatte und verängstigt, einzugestehen, dass nicht alles ein Abenteuer sein konnte. Ich verlor mich wie so oft in Gedanken, was auf dem Planeten zu suchen hatte, ob sogar besser wäre, wenn ich aus dem Leben aller verschwinde. Vielleicht eine Hütte mitten im Wald, allein, ohne Zivilisation, wenn das Geld reichte, sogar auf einem Berg und wenn morgens meinen Kaffee genoss, sah ich hinunter. Ein kleiner Fjord erhellte meine Augen und spiegelte die säuselnden Bäume oder eine Reihe von Bergen. Auf der kleinen Veranda lag ein Block mit Feder und Tinte, ich schrieb Bücher, obwohl selbst nie viel las und meistens Jenni alles in der Schule zusammenfasste, während ich ihre Mathematik Aufgaben löste. Ich vermisste sie, vermutlich lebte sie deshalb in meinen Gedanken und war stets mein Begleiter.
      „Vivi, wir sind da“, lächelte mich Erik an und rieb mit seiner warmen Hand über meinen linken Oberschenkel. Sofort griff ich nach ihr, als prüfe ich, ob es der Realität entsprach. Erleichtert atmete ich aus, ehe ich begriff, wo er das Auto geparkt hatte. Wir standen vor dem hell erleuchteten Haus der Olofsson und urplötzlich musste ich nach Luft schnappen, klammerte mich noch fester an seiner Hand.
      „Nicht dein Ernst, oder?“, stotterte ich aufgelöst.
      „Wenn ich das gesagt hätte, wärst du sicher nicht mitbekommen“, gab er sich selbstsicher und versuchte mir einen Kuss zu geben. Doch ich drehte mich weg. Strafend drückte Erik seine Finger fest um meinen Oberschenkel und ich biss mir zu Kompensation auf der Unterlippe herum. Ein Gefühl von Sicherheit schlich sich durch meinen Verstand, obwohl der eisenhaltige Geschmack im Mund andere Zeichen sendete.
      „Erik?“, fragte ich mit zittriger Stimme und drehte mich wieder mit meinem Blick zur linken Seite. Ungewöhnlich weit öffneten sich seine Augen, als hätte er nicht auf eine Eingebung meinerseits gerechnet. Seinen Oberkörper ließ er in das Polster fallen und drehte sich mit verschränkten in meine Richtung. Ohne seine Hand schützend auf dem Bein fühlte ich mich nackt, allein gelassen, als würde eine kleine Welt in mir zusammenbrechen. Auch das Gefühl von Nutzlosigkeit kam auf.
      „Denkst du, dass eine so vielversprechende Idee ist, wenn ich deinem Vater wieder unter die Augen trete?“, noch immer konnte ich es nicht in Worte fassen und mit ihm ein Gespräch darüberzuführen, stellte ich mir seltsam vor. Ein klemmendes Gefühl drückte mir wieder auf den Magen.
      „Sonst hätte ich wohl kaum dich eingeladen, denkst du nicht?“, das Lächeln auf seinen Lippen wandelte sich vertraut.
      „Mir ist das unangenehm“, gab ich zu und stammelte weiter, „und dir sollte es das doch auch.“
      „Ich bitte dich, hör auf. Was soll ich denn noch alles tun, um dir zu beweisen, dass du mir wichtig bist und meinerseits nichts zwischen uns steht?“, fragte Erik ernst und schüttelte nur den Kopf. Die Distanz wurde unspezifisch größer. Alles in mir trieb mich zurück in meine warme Hütte, sitzend auf dem Bett mit dem Blick aus dem Fenster.
      „Du bekommst nun die letzte Chance von mir. Die Chance mir zu zeigen, was du wirklich willst. Zeig mir, dass du noch da bist und das, was dich in Kanada zu mir trieb. Jetzt stell dich nicht so an und steh dazu. Es nervt mich, schließlich habe deine Worte befolgt. Ich nahm Abstand, gab dir deinen Freiraum, aber das kann nicht ewig so weitergehen, dass ich auf Knopfdruck für dich da sein soll. Du bist mir verdammt wichtig“, tadelte er mich weiter und aus heiterem Himmel fühlte es sich endgültig an, als könnte es der letzte Abend mit ihm sein. Dann öffnete er wortlos die Tür, schien keine Antwort darauf zu erwarten und holte im Anschluss auch seinen Hund raus. Ich atmete tief durch, schloss die Augen und stieg aus dem Auto. Erik stand nur wenige Meter neben mir und begann wieder zu strahlen.
      „Tack“, murmelte er und griff direkt nach meiner Hand, als ich zu ihm lief. Das Auto leuchtete zweimal den Lichtern auf und Klicken der Zentralverriegelung ertönte dumpf im Hintergrund. Zunehmend übernahm die Musik im Haus die Oberhand und stellte das leise Rauschen des Meeres zurück. Ein paar Seemöwen krächzten und für einen kurzen Moment vergaß ich, wie viel Leid ich mir selbst mit negativen Gedanken zufügte. Mit einem Lächeln sah ich zu Erik, der wieder gut gelaunt war und mich spiegelte.
      „Du bist mir auch wichtig“, gab ich seine letzten Worte zurück. Entschlossen zog er mich an sich heran. Mit seinen Händen fuhr er langsam an der Seite meines Körpers herunter, bis er schließlich an meinem Po ankam und fest zudrückte. Dann trafen sich unsere Lippen und ich spürte, wie sich seine Hüfte an mich schmiegte. Ein leichter Druck entstand, bis wir uns wieder voneinander lösten. Verliebt strahlte ich hoch zu ihm.
      „Siehst du“, grinste Erik und gab mir noch einen flüchtigen Kuss, bevor er flüsterte: „So wünsch ich mir das.“
      Die Zeit schien für mich wie stehen geblieben und dass sein Hund wieder einmal selbstständig den Weg auf dem weitläufigen Gelände suchte, bemerkte ich erst, als er ihn lautstark zurückrief. Wie angewurzelt blieb ich auf der Stelle stehen, sah ihm nicht einmal nach, sondern war in Gedanken dabei, wie er dominant mich bei sich hielt.
      „Kommst du bitte auch?“, wurde nun auch ermahnt. Kurz schüttelte ich meinen Kopf, um aus der Starre wieder in die Realität einzutreten. Vor der Haustür nahm ich einen kräftigen Atemzug, noch einen und noch einen, bis uns freundlich sein Vater begrüßte. Erik strich sich achtungsvoll über die Hose und, dass seine Knie leicht zitterten, entging mich nicht. Etwas zurückhaltend legte ich meine Arme um ihn, den er hielt seine weit offen, um zu einer Umarmung anzusetzen.
      > Jag är glad att du också kom. Känn dig som hemma.
      „Freut mich, dass du auch gekommen bist. Fühl dich wie zu Hause“, reichte Vidar mir eine Flasche Wasser und wendete sich seinen Sohn zu, der gar nicht mehr von der fröhlichen Stimmung abzubringen war. Sie standen rechts von mir und mein Blick fiel in das Wohnzimmer, dass menschenleer wirkte und ich Zweifel hatte, ob Eriks Freunde hier sein sollten, vor allem: warum bei seinem Vater? Doch mir wurde der Gedanke umgehend untersagt. Aus der geöffneten Terrassentür strömten drei weitere Gestalten hinein, die sich direkt auf Trymr stürzten. Schützend platzierte ich mich an der Wand, um den spielenden Ungetümen nicht in den Weg zu kommen. Sie rollten als Knäuel um die Treppe herum und ich flüchtete zu meinem Freund, der sich noch im Gespräch befand und lachte. Ich griff nach seinem Arm und schob ihn ein Stück nach vorn, um mich an seinem Rücken vor der Meute zu schützen.
      > Är du rädd?
      „Hast du Angst?“, fragte Vidar und pfiff die Hunde zurück aus dem Haus heraus.
      > Nej, jag har respekt för dem.
      ”Nein, Respekt“, schielte ich zu den Tieren hinüber mit zittriger Stimme.
      > Hälsosam inställning.
      „Gesunde Einstellung“, grinste er breit und klopfte mir auf die Schulter. Erik schob mich wieder nach vorn, aber ich behielt meine Hände an seinem Arm. Noch immer pulsierte das Herz in meiner Brust wie in einem Marathon, auch meine Atmung wollte nicht langsamer und leiser werden, wie ein Fisch auf dem Trocknen schnappte ich nach Luft.
      „Kann ich dir behilflich sein?“, fragte er schließlich, aber ich schüttelte nur den Kopf und löste mich von seinem Arm. Gemeinsam liefen wir in die Richtung, in der die Hunde verschwanden. Vor mir eröffnete sich eine große Gruppe von Menschen, die gespannt uns anblickte und nacheinander standen Personen auf, wovon mir nur zwei Gesichter äußerst bekannt vorkamen. Doch bevor ich schalten konnte, drang die Traube an Menschen zu vor. Jeder von ihnen begrüßte mich äußerst freundlich, umarmten mich und nannten ihre Namen. Aber in meinem Kopf drängte sich nur eine Frage in den Vordergrund: Wie sollte ich mir so viele Namen merken? Mein Körper handelte nur, legte immer wieder die Arme um fremde Personen und meine Augen starrten gefühlt in die kalte Leere. Auf meinen Lippen dominierte ein Grinsen, doch viel mehr aus der Überforderung heraus anstelle der Freude, dass ich so herzlich empfangen wurde. Die Menge war bunt durchmischt, was ich erst als eine reine Männerrunde empfand, wandelte sich zu einigen Pärchen und auch offensichtlich alleinstehenden Frauen. Insgesamt müssten um die fünfundzwanzig Leute auf der großen gepflasterten und überdachten Terrasse sein, die schon alkoholisch besudelt waren. Das Getümmel löste sich auf und Erik saß mittlerweile zwischen zwei Typen, mit denen er bereits ein ziemlich intensives Gespräch führte und ich stand wie angewurzelt da. Überfordert bewegte ich nur meine Augen, suchte nach einem anderen Ort zum Verweilen, bis eine sanfte Stimme neben ertönte: „Du kannst dich mit zu mir setzen.“ Die junge Dame, nur etwas größer als ich, zeigte auf eine Bank, an der noch zwei weitere Leute saßen und freundlich winkten. Ich folgte ihr und setzte mich dazu. Von allein drei hatte ich Namen bereits vergessen und überhaupt, erinnerte ich mich an keinen einzigen.
      „Zugegeben“, zögerte ich kurz und beobachtete, wie der einzige Mann am Tisch nervös mit seinem Finger über den Rand eines Weinglases fuhr, „ich habe eure Namen schon wieder vergessen.“
      „Ich bin Majvi und das sind Zwen und Rika“, stellte sie alle vor. Umgehend reichte man mir einen warmen Met, denn das Wasser hielten sie nicht für aussagekräftig, um den heutigen Anlass zu feiern. Ich nickte bloß. Mich zu outen, dass ich überhaupt keinen Schimmer davon hatte, was der Plan des Abends war, ließ meine Knie zittern unter dem Tisch. Zu den Gesprächen über den letzten Urlaub konnte ich nur wenig beitragen. Höflich hörte ich den einzelnen Worten zu und gab eine Antwort, wenn man mich nach etwas fragte, sonst schwieg ich. Im Laufe des Abends legte sich Trymr zwischen meine Beine auf den kalten Fußboden. Wenn jemand an der Bank vorbeilief, wedelte sein Schwanz langsam. Der Wind zog an meinen Beinen vorbei und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ziemlich fehl am Platz war. Es hatte nichts mit den Leuten zu tun, schließlich waren sie sympathisch und versuchten mich zu integrieren, sondern daran, dass sich Erik nicht zu mir setzte. Ich schielte zwischendrin zu ihm hinüber, doch sein Blick war seinen Freunden gewidmet, die ihm äußerst interessante Dinge erzählen mussten.
      „Du kannst auch rübergehen“, Majvi hatte meine ständigen Kopfbewegungen gemerkt und klang zuversichtlich.
      „Nein, schon gut. Er hat zu tun“, murmelte ich unsicher.
      „Ach, jetzt stell dich nicht so an. Du tust fast so, als würdet ihr einander nicht kennen“, lachte Rika. Willkürlich zuckte ich mit den Schultern und mein Kopf senkte sich leicht nach unten.
      „Er redet nur über dich, also komm“, beschloss Majvi und stand auf. Dabei zog sie mich mit nach oben, um den Weg zur Sitzgelegenheit auf der anderen Seite anzusteuern. Besorgt folgte ich, belastete mich unnötigen Gedanken. Ihre schulterlangen, rötlichen Haare bewegten sich im ruhigen Wind, der auf der Terrasse wehte. Kaum aufzuhalten tippte sie ihm auf der Schulter an. Er zuckte kurz, aber freute sich umgehend.
      „Na ihr beiden, was ist los?“, fragte Erik überrascht und sah zu uns hoch von seiner niedrigeren Position auf der Couch. Auch seine beiden Freunde sahen uns an, während ich vor Scham im Boden versickern wollte. Was würde ich dafür geben, dass sich unter meinen Füßen ein Riss bildete und direkt ins Innere der Erde brachte, zu den Dinosauriern. Natürlich wusste ich, dass wohl kaum die Steinplatten sich spalten und das Auswirkungen auf ernstlichen Erdschichten hätte. Aber Dinos wären schon cool.
      „Deine Freundin hat dich vermisst, also hier“, schob mich Majvi plötzlich am Arm zur Seite, wodurch ich ins Straucheln geriet und auf seinem Schoß landete. Umgehend breitete sich neben der Wärme in meinen Wangen auch ein Kribbeln im Magen aus, dass nur durch seine Berührung ausgelöst wurde. Fest drückte er mich an sich und gab mir einen flüchtigen Kuss auf meine Haare. Die neue Bekanntschaft meinerseits, setzte sich gegenüber auf das Sitzpolster und wurde direkt in ein Gespräch eingewickelt.
      „Warum bist du dann nicht allein hergekommen?“, flüsterte Erik mir ins Ohr und strich die Strähnen zur anderen Seite. Ihm zu erklären, dass ich eine undefinierte Angst dabei verspürte und es mir auf eine gewisse Weise peinlich war, blieb mir erspart. Seine kalten Lippen trafen auf meinen Hals und den Mund, den zuvor öffnete, um ihn zu antworten, drückte ich fest zusammen und schloss die Augen. Fest biss ich mir auf die Zunge, um die schlagartige Wollust zu zügeln. Glücklicherweise beließ er es bei einem langen Kuss und ich lehnte mich an seiner Schulter an.
      „Es freut mich, dass du wieder jemanden hast“, sagte sein Kumpel, neben den sich Majvi gesetzt hatte. Ich ersparte mir meinen Kommentar, dass wir nicht darüber sprachen, ob mein plötzlicher Stimmungsabfall wirklich eine Trennung bedeutet, oder ob es sich dabei um eine gesetzliche Reklamation handelte, die jeder innerhalb der ersten vierzehn Tage machen konnte. Viele Fragen standen im Raum, aber sie anzusprechen, fiel mir bedeutend schwerer, als so zu tun, ob nie etwas vorgefallen war. Also grinste ich nur und griff nach seiner Hand, die er auf meinem Oberschenkel abgelegt hatte. Er drehte sie auf den Handrücken, sodass meine Finger in seine Zwischenräume rutschten und wir einander fest umklammerten. Das Kribbeln intensivierte sich.
      „Ich auch“, sagte Erik überzeugt. Mit seiner anderen Hand schob er meinen Kopf zu sich, um mir nun einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund zu geben. Umgehend wechselte ich meine Position und saß breitbeinig auf seinem Schoß, mit den Rücken den anderen zugewendet. Vor mir sah ich nur noch ihn, wie er mich angrinste, bevor ich meine Lippen auf seine drückte. An den Beinen fuhren seine Hände langsam entlang und griffen energisch an meinen Po. Ich genoss es mit ihm zu sein, bereute nicht, dass Majvi mich hier hergezerrt hatte. Hinter mir vernahm ich zunehmend Getuschel.
      > Du borde få ett rum.
      ”Sie sollten sich ein Zimmer nehmen“, drang eine tiefe männliche Stimme in den Vordergrund, worauf Erik direkt seine Lippen löste. Ein kurzer Blick erhaschte ich auf seine geröteten Wangen, bevor ich mich neben ihn platzierte. Viele Augen starrten in unsere Richtung, als wären wir die einzigen. Dann drehten sie sich wieder weg und setzten die Gespräche vor. Auch ich wurde zunehmend offener an seiner Seite, obwohl es nicht leicht war von seinen Augen loszukommen. Nicht nur heute benahm er sich ungewöhnlich, bereits gestern verspürte ich Dinge von ihm, die zuvor keine Intensität hatten oder bei ihm etwas auslöste. So versuchte ich aus seinem Verhalten schlau zu werden und weiterhin Teil des Gesprächs über Tattoos zu bleiben. Torulf, ein kräftiger bärtiger Typ, der neben Majvi saß, präsentierte mir stolz die Kunst unter seiner Haut. Neben typischen Wikinger Tattoos, darunter verstand ich diverse Darstellungen von Göttern und Runen in Kombinationen mit Mustern, zeigte er mir das Abbild seiner Katze. Dieses Tier hatte nur ein Ohr und sah danach aus, als hätte es schon seine beste Zeit hinter sich gelassen. Fröhlich erzählte er geschickten über seinen Kater, Carl, wie er eine Taube fing oder eines Tages eine trächtige Katze im Schlepptau hatte, somit aus einem Kater vier wurden. Die anderen erzählten ebenfalls Geschichten von ihren Haustieren, für mich ein klarer Grund zu schweigen. Es lag nicht daran, dass Trymr in der reinen Theorie mein Erstes war, sondern vielmehr, dass das meiste sehr verantwortungslose Erzählungen darstellte. Und meine Vokabelkenntnisse könnten an dem Tag etwas besser sein. Also lehnte ich mich wieder zurück, tiefer ins Polster, und widmete mich meiner Instagram Startseite, die, neben ziemlich eintönigen gestellten Fotografien meiner ehemaligen Freunde, den neusten Beitrag von Lina präsentierte. Erst scrollte ich weiter, bis mein Finger dann doch interessiert wieder nach unten wischte, um ihren Post zu zeigen. In dem Karussell befanden sich drei, nicht sonderlich schöne, Bilder ihres Hengstes, der in Kanada bereits wie ein Teddybär aussah, wie ein dreckiger Teddybär. Dazu schrieb sie, dass sie ihn in wenigen Tagen endlich in die Arme schließen würde. Natürlich freute ich mich darüber, wenn auch nicht so sehr, dass ich ihr eine lebensbejahende Nachricht schreiben würde. Vordergründig eröffnete sich das Gefühl, dass sie hatte, was ich nicht haben konnte — das Seelenpferd. Nein, stattdessen dümpelte ich auf irgendwelchen Tieren herum, die zwar ihren Reiz mit sich brachten, aber nicht dasselbe vermittelten, was ich bei Glymur verspürte. Ich seufzte und verließ die App, ohne eine Gefällt mir Angabe zu hinterlassen. Eher wechselte ich umgehend zur schwedischen Variante einer Kleinanzeigen-Anwendung und machte mich auf die Suche nach einem Pferd. Einige interessante Tiere fielen mir vor die Augen, aber von der Masse fühlte ich mich erschlagen, denn ich wusste nicht so recht, was ich überhaupt wollte.
      „Und, was machst du da?“, lehnte sich Erik zu mir herüber, worauf ich umgehend das Gerät mit dem Display gegen meinen Oberkörper drückte, um ihn den Blick darauf zu verwehren. Skeptisch erhob er seine Brauen und nahm es mir sanft, aber eindringlich, aus der Hand, um schließlich selbst zu sehen.
      „Pferde also, wer hätte das nur gedacht“, lachte er und gab es mir zurück. Erleichtert atmete ich aus.
      „Ja, schon“, murmelte ich und begann wieder zu scrollen.
      „Bei euch stehen doch genug. Ist da nichts bei?“, erkundigte er sich.
      „Nicht wirklich“, überlegte ich laut, „überwiegend sind das Rennpferde, teure Rennpferde.“
      „So viel weiß ich von Pferden, das, was du auf Turnier geritten bist, war keins“, strich er mir aufmunternd durchs Haar. Ich drückte laut Atem durch meine Nase, offenbar so laut, dass auch die anderen auf unser leises Gespräch aufmerksam wurden und sich Eriks Freund, dessen Namen ich immer noch nicht aufschnappen konnte, zu uns drehte.
      „Nein, aber die kommt morgen jemand anschauen“, sagte ich unmotiviert und wischte weiter auf meinem Bildschirm herum, bis Erik seinen Finger auf den Touchscreen legte und ein Pony auswählte, das ich bewusst nicht anklickte. Es war betitelt mit „besondere Stute sucht ihren Menschen“, das konnte nur bedeuten, dass etwas in ihrem Kopf falsch lief und von solchen Tieren kannte ich genug. Doch Erik war gar nicht zu bremsen und wischte interessiert durch die Bilder. Darauf zu sehen eine helle Pony-Stute, vermutlich nicht größer als hundertvierzig Zentimeter und besonders oft dargestellt mit schrecklichen Zöpfen, die wohl die Kinder gemacht hatten, die ebenfalls zu sehen waren. Viele von denen standen um sie herum, während ihre Ohren gelangweilt zur Seite hingen und die Augen leer wirkten. Doch auch professionelle Bilder von einem Turnier waren dabei, sowohl in der Dressur als auch beim Springen. Bis auf ihre Fellfarbe wirkte nichts besonders an dem Pony. Dann durfte ich endlich weiter scrollen zum Text, der für mich die nächsten Hürden aufwarf. Ich konnte zwar Erfahrungen in Frankreich nachweisen, aber deren Sprache ließ nur Fragezeichen in meinem Kopf aufblicken.
      „Kannst du das lesen?“, fragte ich und drückte ihm meinem Handy in die Hand.
      „Klar“, zuckte er mit den Schultern. Was fragte ich eigentlich? In einer wahnsinnigen Geschwindigkeit huschten seine Augen über den leuchtenden Bildschirm und sein Daumen schob den Text nach oben, bis zum nächsten Atemzug ich mein Handy zurückbekam.
      „Also sie ist dreizehn Jahre alt, im höchsten Dressur Niveau ausgebildet und springt bis ein Meter zwanzig. Sie beschreiben das Pferd mit einer besonderen Geschichte, denn sie wurde mit der Flasche aufgezogen und ist sehr anhänglich. Manchmal fordert Maxou ihren Reiter heraus, aber das schafft jeder zu bändigen. Ansonsten Schmied kein Problem, Tierarzt auch nicht, kennt die Turnieratmosphäre. Aktuell hat sie zwei Reitbeteiligungen, da es für ihre Tochter gekauft wurde, die jetzt kein Interesse mehr hat“, erklärte Erik. Es machte mich direkt stutzig, dass das Pony so günstig angeboten wurde, noch zum Verkauf stand, wenn es so hoch ausgebildet wurde. Mehrmals wischte ich durch die Bilder, um Anzeichen zu finden, was der Haken war, wieso die hübsche Stute so strafte, keinen Besitzer zu finden.
      “Wonach suchst du?”, musterte er mich und seine Stimme klang deutlich euphorischer, als es mir lieb war. Natürlich weckte das Pony mein Interesse, aber zu gleichen Teilen auch die Skepsis, dass es viel zu gut passen würde, als es möglich war. Schließlich saß ich mitten in der Woche, in der Nacht, auf einer Terrasse, umgeben von wildfremden, betrunkenen Menschen, wovon die neben mir gerade über den Geschmack von Ölfarbe diskutierten. Warum machte man sich darüber Gedanken? Tatsächlich erwischte ich mich für einen Augenblick dabei, ob es wohl einen Unterschied zu Ölpastellkreide machen würde. Schnell kam ich wieder zu dem Fakt, dass Erik Maxou unbedingt kennenlernen wollte und ich den Schritt zumindest wagen würde. Einen unverbindlichen Termin machen, tat keinesfalls weh, noch setzte ich mich einer Art von Verpflichtung aus.
      “Kannst du das machen?”, suchte ich den Blickkontakt. Meine Augen trafen umgehend auf seine, denn strahlend saß er neben mir, sah im Wechsel zu mir und zum Handy. Je länger ich das funkelnde Hell betrachte, umso stärker wurde das Gefühl, alles richtigzumachen. Für einen Wimpernschlag schwieg es in mir, als würde auch mein Herz für das My einer Sekunde aussetzen, ehe mich das Glück wie eine Flutwelle traf und eine Kettenreaktion auslöste. Nacheinander kribbelte es überall, ich schluckte, versuchte standhaft zu bleiben, mich nicht der Sehnsucht seiner Nähe und Zärtlichkeit hinzugeben. Seinerseits wirkte es so leicht, als wollte Erik genau diesen plötzlichen Anstieg an Lust jedes Mal aufs Neue auslösen, um mich zu verunsichern, an sich zu binden und zu fesseln. Ob das sein Plan war, oder nur sein Zeichen für Zuneigung, erfuhr ich nicht, wusste jedoch, dass es funktionierte. Meine zittrigen Finger suchten am Rand des Geräts nach dem Sperrknopf, während sich mein Blick nicht löste. Mit jedem Atemzug krampfte mein Unterbauch, stärkte, gab mir keine Verschnaufpause, aber ich konnte ihm diesen Erfolg nicht lassen.
      „Können ja“, antwortete er endlich, „aber möchte ich das?“ Auf seinen Lippen weichte das sanfte Lächeln einem zugespitzten Gesichtsausdruck. Erik hatte sich unter Kontrolle, nutzte seine Position aus, aber gab mir damit die nötige Sicherheit.
      „Wenn du nicht möchtest, dann akzeptiere ich das. Aber bitte. Ich flehe dich an, dass du mir unter die Arme greifst und das regelst“, sprach ich leise und weinerlich, wodurch auch seine Ungeduld anstieg. Eins der Beine wippte und seine Hand klopfte auf dem Oberschenkel, im Wechsel mit einem Wischen der Handflächen über den Stoff seiner Hose.
      „Ach, du flehst mich also an?“, bedrohlich nah kam er mir mit seinem Gesicht und die Worte wurden leiser, aber noch immer verständlich genug. Wie eine Schlange, die ihre Beute an fokussiert, bewegte sich sein Kopf in der Schräglage langsam von links nach rechts, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns lagen. Ich spürte seinen warmen Atem, der wie ein Waldbrand über meine kalte Hand fegte und mit einem Gefühl von gleißender Hitze auslöste.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 97.196 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel tolv | 31. Januar 2022

      Forbidden Fruit LDS // Lubumbashi // Ready for Life // Sturmglokke LDS // Klinkker LDS // Girlie // Maxou
      HMJ Divine // Keks // Legolas


      VRISKA
      Wie hatte ich das noch vor wenigen Jahren geschafft so spät ins Bett zu kommen und dennoch pünktlich aufzustehen, ohne müde zu sein? Der mittlerweile vierte Wecker drängelte mich aus der warmen Decke und stellte mir ernsthaft die Frage, ob arbeiten und leben an einem Ort wirklich die richtige Entscheidung war. Neben mir hatte es sich das Monster bequem gemacht, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, als er mir in die Augen blickte. Nur mit Mühe konnte ich sie offenhalten und strich verschlafen dem Tier über den Kopf. Aus dem Wohnzimmer ertönte mechanisches Tippen in einem gleichmäßigen Rhythmus.
      “Gehst du jetzt unter die Autoren?”, rief ich heiser und schmunzelte in mich hinein. Die Geräusche verstummten. Es folgte ein kratziges Schieben über den Holzfußboden, ehe das Knarren ertönte und sich Schritte nährten.
      “Nein”, lachte er und nahm Platz auf der Bettkante, “vielleicht so ähnlich.”
      Interessiert zog ich eine Braue nach oben, krabbelte über die Decke hinweg zu ihm. Noch bevor eine Antwort kam, legte er eine Hand an meinem Kopf, strich sanft mit dem Daumen über meine Wange. Seine Lippen umzuckte ein Lächeln fröhlicher Zuversicht, als wolle Erik mir mitteilen, dass ich nichts mehr zu verlieren hatte. Innerlich strafte mich jedoch ein Gefühl der Zerrissenheit, und dem Wissen einander nur etwas vorzumachen. Er versteckte seine Angst, Kummer und Scheu hinter einer Fassade aus Selbstbewusstsein, konnte sich nicht eingestehen, die echten Gefühlen zu zeigen oder sich dem hinzugeben. So auch ich. Für mich gab es nur Kampf oder Flucht, obwohl mir der Rausch in seiner Nähe oft den Kopf vernebelte und ich alles gab, meine Unsicherheit zu überspielen. Ich schloss meine Augen, hoffend darauf mehr von ihm zu spüren. Aber in den Genuss kam ich nicht sofort. Trymr sprang zwischen uns, warf mich um und ich begann zu lachen. Das Fellknäuel ließ sich auf meinem Schoß fallen, als wäre das Tier nur wenige Zentimeter größer als eine Handtasche.
      “Ach Trymr”, stöhnte ich vergnügt und drückte seinen Hintern mehrfach zur Seite. Immer wieder kam er zurück, wedelte mit dem Schwanz und quietschte.
      > Gå ner!
      „Geh runter”, tadelte Erik und blickte ernst zu seinem Hund, der die Pupillen nach oben schob. Das Weiß kam hervor.
      “Er hätte auch hierbleiben können”, richtete ich mich wieder auf, strich die wenigen Hundehaare von meinem dunklen Oberteil.
      „Absammeln hilft bei den dünnen Haaren nicht“, erklärte er mir.
      Zur gleichen Zeit klopfte es zweimal laut an der Haustür. Direkt bekundete Trymr sein Leid, bellte und jaulte auf, als hätte er Angst, aber wolle gleichzeitig uns vor dem Geräusch schützen. Kurz drehte ich mich zur Seite, beschloss dann, mich weiter um die Morgentoilette zu kümmern.
      „Ich komme“, rief Erik, dann folgten Schritte. Wirr um den Kopf reckte ich diesen durch die Badezimmertür in den Flur.
      „Reicht dafür ein Klopfen?“, lachte ich. Mit einem Mal stand er vor mir, als hätte Erik sich zu mir gezaubert. In der Hand hielt er sein Hemd, legte es wie einen Schal um meinen Hals und drückte mich an sich heran. Erneut setzte das Kribbeln ein und in seinen blau-grauen Augen funkelte es wollüstig.
      “Wenn du es mir verwehrst?”, schmunzelte er.
      Ich schluckte und antwortete mit kratziger Kehle: “Du machst es mir nicht leicht.”
      “So der Plan.”
      Dann ertönte das Klopfen erneut, aber energischer und klang dringlich. Trymr bellte laut auf.
      “Ich geh’ dann mal nachsehen”, ließ Erik von mir ab, streifte sich das Hemd über und knöpfte es beim Laufen zu. Ich machte mir erneut die Haare. Der Spiegel vor mir sprach Bände. Mein Gesicht war übersät von kleinen geplatzten Adern unter meiner Haut, in Augen ebenfalls. Dazu traten die beiden Löcher an einem Mund hervor, wo sich mal die Lippenpiercings befanden. Schnell griff ich nach meiner Schminke und sorgte dafür, dass ich gesellschaftstauglich wirkte, auch wenn ich nur auf einem Pferdehof meine Zeit verbrachte.
      “Vivi, ist für dich”, wurde ich gerufen und sprang fröhlich aus dem Bad. Er trat zur Seite. Lina stand in der Kälte und grinste. Obwohl ich vor nicht mehr als einer Minute die Röte meiner Wangen verdeckte, spürte ich, dass sie wie Weihnachtsbeleuchtung wieder strahlte. Für gewöhnlich war mir nur sehr wenig unangenehm, doch dass Erik halb nackt die Tür öffnete, verunsicherte mich mehr als ich wollte. Die reflektierte und erwachsene Seite vertraute darauf, dass Lina ein Engel an Sanftmut war, weder kokett noch mit lüsterner Blicke auf ihn bedacht. Allerdings beruhte meine Erfahrung darauf, dass stille Wasser tief sind und ich ihn nicht teilen wollte, bestenfalls mit niemandem.
      „Ich“, kam es nur in Fetzen aus meinem Mund, „bin gleich so weit.“
      „Stress dich nicht“, munterte Lina mich auf. Dann hielt ich die Tür ein Stück weiter auf, um sie hereinzubitten. Ein eisiger Luftzug streifte mein Gesicht. So schnell wie möglich drückte ich die Eingangspforte zurück ins Schloss, um den Hauch aus dem Norden vor dem Haus zu lassen.
      „Kaffee? Tee?“, fragte ich höflich. Sie verneinte.
      Wir standen in der einigermaßen geräumigen Küche, die ausnahmsweise in einem ansehnlichen Zustand war, in der Trymr innig von Lina begrüßt wurde und eine intensive Streicheleinheit genoss. Währenddessen diskutierte ich mit meiner Kaffeemaschine, dass sie genug Wasser im Tank hatte, um mir das gewünschte Heißgetränk zuzubereiten. Sie hörte mit dem nervigen Piepen nicht auf, also füllte ich mit einem Messbecher aus dem Schrank die letzten Milliliter des Tanks, womit sie nun endlich zufriedengestellt war. Laut ertönte das Mahlwerk, dass die Bohnen zerkleinerte und dadurch das Wasser in die Tasse drückte. Ich nutze den Augenblick auf das ursprüngliche Gespräch zurückzukommen. Es wurde Zeit, etwas mehr über ihn zu erfahren.
      “Wenn du keinen Bestseller-Roman schreibst, was dann?”, sah ich über meine Schulter hinweg zu Erik, der sich zum Schutze meines geistigen Zustandes die Hose wieder übergezogen hatte.
      “Vielleicht geht er ja unter die Journalisten”, stellte Lina eine gewagte Hypothese auf.
      “Interessante Idee”, überlegte ich laut. Vor der Couch schielte er zu uns und schüttelte belustigt mit dem Kopf.
      “Später könnte beides der Fall sein, aber das würde noch einige Jahre dauern und bedauerliche Morde benötigen”, sagte er forsch und stellte sein Laptop zur Seite, “aber ich erkläre es dir so, dass du es verstehen solltest.”
      “Was soll das denn heißen?”, beschwerte ich mich lautstark. Dann sippte ich am Rand der Tasse, verbrannte mir natürlich die Zunge. Bedauerlich wedelte ich mit meiner Hand vor dem Mund. Autsch.
      “Dass du manchmal schwer von Begriff bist. Aber ich halte mich kurz. Wir müssen gerade ein Fallbeispiel bearbeiten und dafür werte ich diverse Statistiken aus, untersuche Zusammenhänge und vergleiche Zeugenaussagen, um erste Indizien zu finden”, erklärte Erik. Sonderlich spannend klang es allerdings nicht und ich sah auch keinen wirklichen Grund dafür schon vor acht Uhr aufgestanden zu sein.
      “Statistiken so früh am Morgen, wirklich spannend”, sprach Lina mein Gedanken aus und der sarkastische Unterton war nur schwer zu überhören.
      “Ihr seid doch doof”, schenkte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Elektrogerät. Wir beide ließen ihn in Ruhe, die Aufgaben weiterbearbeiten und unterhielten uns über die Pferde, besonders ihre Rappstute, Redo, war das Thema des Morgens. Die Freude übertrug sich phasenweise immer mehr auf mich. In meinem Verstand manifestierte sich die Tatsache, dass auch ich womöglich heute mein eigenes Pferd bekam, aber es auf dem Hof nichts besonders sein würde. Hier kamen andauernd neue Vierbeiner. Was war mein Problem? Ich durchforste die Nervenstränge meines Hirns, bis ich den Ursprung fand des Schweregefühls. Lubi wurde zwar die ersten Tage bewundert, wenn ich in der Halle ritt, doch mittlerweile ignorierte mich jeder, niemand lobte mich oder gab mir das Gefühl, etwas beizutragen. Schrecklich, dass ich mir darüber überhaupt Gedanken machte, schließlich war alles wie immer.
      “Hast du heute Nachmittag schon was geplant?”, fragte ich vorsichtig und konnte endlich einen kräftigen Schluck der bitteren Flüssigkeit.
      “Nein, bisher noch nicht”, antwortete sie, „warum fragst du?”
      “Ich … ähm, nein, eher wir gehen uns nachher ein Pony angucken. Aber ich habe doch keine Ahnung”, gab ich wehleidig meine Unfähigkeit zu, senkte mein Kopf Richtung Tasse, die ich im Anschluss erneut ansetzte. Warm floss der Kaffee mir die Kehle herunter, löste den schweren Kloß und ich bekam wieder das Gefühl tief durchatmenzukönnen.
      “Ich nehme an, deine Frage zielt darauf ab, dass ich euch begleite?”, fragte sie nach, woraufhin ich bestätigend nickte.
      “Toll, dass du jetzt auch unter die Pferdebesitzer gehen möchtest”, frohlockte sie, “Liebend gerne helfe ich dir dabei.”
      “Aber erst muss ich mit meinem Kontostand ein ernstes Gespräch führen”, murmelte ich und sah die letzten Ersparnisse erstaunlich schnell schwinden, sobald ein Vierbeiner in mein Leben treten würde. Keines der Tierheime wollte ich mitteilen ab sofort die Zahlungen einzustellen, denn auch die Hunde in Griechenland benötigten meine Hilfe. Auch, wenn es noch eine andere Möglichkeit gab.
      “Vivi, jetzt mach’ dir nicht um solch unnötige Dinge Gedanken”, kam es stillschweigend von der Couch. Erik spukte immer in meinem Kopf herum, als hätte er mir einen Chip am ersten Abend eingesetzt und verfolgte seitdem alles, was in mir herumschwirrte.
      “Ist klar, dass du wieder so großspurige Töne spuckst”, rollte ich mit den Augen.
      “Musst du nicht langsam arbeiten?”, provozierte er belustigt weiter. Lina nickte. Dann war es das Zeichen den Kampf in der Kälte zu beginnen.

      Später im Stall

      Unter meinen Pullover zog ich noch einen Rollkragen Pullover. Den Kragen stellte ich so hoch wie möglich auf, um den Kräften der Natur standhaft gegenüberzutreten. Na gut, holte so schnell wie möglich Fruity vom Paddock, die mit aufgestellten Ohren und blauen lachenden Augen neben mir hertrottete. Der Schweif pendelte gelassen bei jedem der weiten Schritte. Lina hatte in der Gasse bereits alles vorbereitet, ja, sogar das Sattelzeug hing schon da.
      “Danke, dass du mitgedacht hast”, grinste ich und band die Stute in der Putzbox an. An uns vorbeihuschten verschiedene Gestalten mit ihren Pferden und auch Folke mit Sturmi, einem jungen Hengst der Rennpferde. Er erzählte kurz, dass er mit ihm nun den zweiten Heat des Tages fahren gehen würde und die Zeiten vom ersten bereits sehr vielversprechend waren. Aus meiner Hosentasche kramte ich ein Leckerli. Interessiert hob die Stute ihren Kopf und verdrehte ihn leicht zur Seite, ihre Art, um zu betteln. Ich lachte und stopfte den kleinen Brick ins Maul des Pferdes. Dann strich ihr über den rasierten Hals, ehe ich mit dem vollen Putzprogramm begann. Obwohl sie auf dem Paddock die dicke Winterdecke trug, hatte Fruity es geschafft an ihrem ganzen Körper Sand zu verteilen, der sich nur mit Mühe entfernen ließ. Verärgert wechselte ich mehrfach die Bürste, bis ich am Ende noch einmal die Stehmähne gerade schnitt und auch den Schweif einige Millimeter kürzte.
      “Ich würde sagen, du siehst perfekt aus, aber ich wünsche mir so sehr, dass du hierbleibst”, musterte ich die Stute.
      “Jap, sieht gut aus”, bestätigte Lina, die mein fertiges Werk betrachtete, “Bei deinem Wunsch würde ich dir zustimmen, aber man kann leider nicht alles haben.”
      “Natürlich könnte man”, protestierte ich. Aber noch bevor ich weitere Hasstiraden schüren konnte, kam Tyrell von der Seite mit musterndem Blick.
      “Ich sehe schon, ihr beiden habt das im Griff”, grinste er. Wir nickten.
      “Und du musst noch lernen, professionell zu bleiben. Nimm’ dir ein Beispiel an Lina, sie macht das wirklich gut”, fügte unser Chef noch hinzu, bevor er mit dem Halfter weiter zum Paddock der Hengste lief.
      “Verschwende deine Energie mal nicht aufs Schimpfen, die kannst du gleich noch viel besser verwenden”, blieb Lina vollkommen unberührt und begann die türkisfarbenen Fesselkopfgamaschen an den Beinen der Falbstute zu befestigen.
      “Willst du nicht lieber Warm- und Vorreiten?”, erkundigte ich mich. Sie hatte deutlich mehr Erfahrung als ich und ihre Reittechnik war ebenfalls besser. Schade, dass sie nicht im Team reiten durfte, denn ich schätzte sie als gut genug ein. Aber sagen wir es anders: ununterbrochen vibrierte es in meiner Hosentasche am Bein. Natürlich zügelte ich meine Neugier auf das Nötigste, um schnellstmöglich mit dem Pferd fertig zu werden, aber in meinem Inneren brannte es, besonders in meinem Kehlen.
      “Du lässt heute auch nichts unversucht”, stelle sie schmunzelnd fest, “aber nein. Erstens kennst du Fruity genauer als ich und beim Reiten bewundert werden kannst du auch viel besser. ”
      Ich seufzte.
      “Das sagst gerade du!”, ein wirklich gutes Argument fiel mir jedoch nicht ein, also führte ich Fruity der Box heraus zur Halle. Lina öffnete mir freundlich die Tür und dann stieg ich auf. Mit meiner Hand griff ich zu meinem Kopf – kein Helm, egal. Im Schritt führte ich die Stute zunächst einige Runden durch den Sand, ehe ich mich auf der Mittellinie aufstellte, den Gurt zwei Löcher enger zog und mich in den barocken Sattel schwang. Leider musste ich mir eingestehen, dass die Neugier mich immer mehr auf die Folter spannte, als wäre sie ein Bogen mit Pfeil, bei dem nur noch das My fehlte, um zu zerreißen. Weit und breit war noch niemand zu sehen, also beschloss ich, die wohl einzige Regel zu brechen, die ich mir bisher zum Reiten setzte; kein Handy auf dem Rücken eines Pferdes.
      Aus der seitlichen Tasche an meinem Bein zog ich das Gerät heraus und es entsperrte sich umgehend mit der Gesichtserkennung. Im Nachrichtenordner befanden sich drei an der Zahl, eine davon war noch immer von Niklas, die ich mir seit gestern ersparte zu lesen, denn schon der Anfang klang nach typisch männlichem Geheule, durch kränken seines Egos. Doch darüber leuchtete eine blaue Zwei neben Avledning. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und nach einem tiefen Atemzug tippte ich mit geschlossenen Augen auf dem Chat. Meine Augen fuhren schnell über die Worte: “Godmorgon. Wolltest du mir nicht mitteilen, wie es gelaufen ist? Enttäuschend. Also, ich warte ungern, du weißt.” Schlagartig beschleunigte mein Herzschlag und mit meiner Hand, in der ich das Gerät hielt, drückte gegen meine Brust, als wäre die ultimative Heilung durch meinen Körper gefahren. Einhändig tippte ich mit einem breiten Lächeln auf den Lippen: “Hej. Es tut mir leid, wirklich. Ich hätte dir Bescheid sagen sollen, dass ich zeitlich ziemlich eingespannt bin. Es lief gut, wir haben uns wieder zusammengerauft.” Dann sah ich hoch, bremste die Stute mit meinem Sitz im Tempo ab. Noch immer waren keine Gäste in Sicht, umso mehr Glück erfuhr ich. Der Unbekannte antwortete umgehend.
      “Freut mich, aber was ist mit uns? Besteht weiterhin dein Interesse an Ablenkung, oder möchtest du es beenden?”, las ich erst einmal, dann erneut und wieder. Mir blieb die Luft weg. Was wollte ich? Unsicher hielt ich vor Lina an, das Lächeln schien immer noch präsent in meinem Gesicht, denn sie musterte mich sehr genau. Ihr Blick schwankte von unten nach oben, als wüsste sie genau, worum es ging.
      “Ich kenne diesen Blick”, erfasste sie, “Du schreibst noch immer mit dem Unbekannten.”
      “Eher schon wieder. Und er fragt, ob es dabeibleibt, oder ob ich aufhören will”, beim Sprechen strich ich mir eine der losen Haarsträhnen hinters Ohr.
      “Und offensichtlich denkst du noch über die Antwort nach, sonst würden deine Finger bereits über die Tastatur fliegen”, bemerkte sie und musterte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
      “Ja, weil ich Angst habe, dass Erik wieder geht”, für einen Augenblick hielt ich inne. Es fühlte sich so real an, als würde mit ihm alles auf Kipp stehen und jeder kleinste Fehler meinerseits wieder das Verlassen werden einleiten. Ich atmete tief durch und sagte: “Obwohl es nur so was wie ein guter Freund ist, also nichts worüber man zweifeln sollte. Vielleicht wegen der Inhalte, aber sonst.” Aus der Ferne ertönten die Schritte von drei Personen und vergnügtes Lachen. Scheint, als würden unsere Gäste in wenigen Minuten da sein.
      “Ich verstehe deine Angst, aber wenn es nicht zu zweifeln gibt, gibt es doch auch keinen Grund das zu beenden”, antworte sie erwägend. Verschmitzt grinste ich Lina an. Wenigstens einer, der es verstand. Ich nickte und ritt Fruity wieder an, während meine Finger über den Touchscreen fegten: “Aus welchem Grund? Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Aber entschuldige mich bitte, ich muss nun arbeiten. Wir schreiben später.”
      Für einen Augenblick starte ich noch auf mein Telefon, bis die Schritte so nah klangen und eine Nachricht erschien noch. In meiner Brust sprang es einige Male auf und ab, denn ungewöhnlicherweise leuchtete am Ende seiner Nachricht ein schwarzes Herz auf, das eine Art Motivation in mir weckte. Ich steckte es zurück und trabte am langen Zügel an.

      Whitehorse Creek, Kanada.

      SAMU
      Müde fuhr ich mir mit der Hand übers Gesicht, als pünktlich um sieben Uhr dreißig der Wecker klingelte. Die letzte Nacht war kurz gewesen, denn zum Anlass meiner endgültigen Abreise aus Kanada hatten meine Kollegen noch eine kleine Abschiedsfeier organisiert und wie das so häufig war, ging das Ganze länger als geplant. Ich zog die Vorhänge auf, um die ersten Sonnenstrahlen, die über die entfernten Bergrücken kletterten, hineinzulassen. Die Welt draußen war überzogen von Frostkristallen, die im ersten Licht des Tages glitzerten. Doch, für die Betrachtung der Natur bleib heute keine Zeit, denn schon um zehn Uhr mussten die Pferde auf dem Hänger stehen, damit wir pünktlich am Flughafen sein würde. Noch im Halbschlaf schlurfte ich ins Badezimmer, um mithilfe einer warmen Dusche, erst einmal meine Lebensgeister zu aktivieren.
      Eine halbe Stunde später saß ich mit einer dampfenden Tasse Kaffee, die ihren kräftigen Geruch in der Küche verteilte, am Küchentisch und kaum hatte ich mein Handy in der Hand, ploppten auch schon zahlreiche Benachrichtigungen auf. Ungefähr fünf der Nachrichten stammten von Lina, die mir einerseits Bilder ihrer neuen Stute geschickt hatte und sich andererseits darüber beschwerte, dass sie gestern kein Update über Divine bekommen hatte. Was auch immer es war, was Schweden an sich hatte, dass sie sich nun schon das zweite Pferd anschaffte, ich freute mich für sie. Dass sie mal mehr als einen der felligen Vierbeiner besitzen wurde, war mir schon lange klar, nur, nicht dass es so schnell gehen würde. Wenn sie so fortschreiten würde, würde sie nur allzu bald in die Fußstapfen ihrer Tante treten und ihre eigene Pferdezucht auf die Beine stellen und Schweden mit lauter kleinen Freibergern überfluten.
      Aber außer Lina verlangte auch noch jemand anderes nach Aufmerksamkeit, denn die Nachricht, die gerade eintrudelte, stammten wie jeden Morgen von meiner Freundin, die mir immer nach der Arbeit, einen kleinen Morgengruß sendete. Selig vor mich hinein grinsend tippte ich Enya eine ausführliche Antwort. Ich konnte es kaum erwarten meine Mädchen wieder in die Arme zu schließen, fehlte sie mir seit dem Besuch in Schweden noch mehr als vorher.
      Eine Nachricht von Jace, holte mich aus meinen Gedanken und erinnerte mich daran, dass noch einiges zu tun war, bis es zu diesem Ereignis kommen würde. Mit einem Zug leerte ich den Kaffeebecher, bevor ich die Küche aufräumte, um anschließend noch die letzten Dinge in den Koffer zu werfen. Die Pferdesachen hatte ich gestern bereits zusammengepackt, wobei Linas Zubehörsammlung, die sich noch in Divines Spind befand, den Großteil einnahm. Wie konnte man nur so viele Schabracken besitzen und mit Gewissheit konnte ich sagen, dass sie den Großteil davon anschaffte, bevor sie auch nur ein einziges Pferd besaß.
      An der Tür griff ich mir meine Jacke und lief zum Stall hinüber, wo Jace bereits dran war, die Pferde zu füttern.
      “Guten Morgen”, grüßte ich meinen Kollegen, der mit kurz zunickte und anschließend seiner Arbeit weiter nachging. Keks, die es wie so häufig nicht erwarten konnte, bediente sich einfach schon mal selbst aus der Schubkarre. Ach, wie ich die Pferdebande hier doch vermissen würde, einige der Tierchen waren mir doch ziemlich ans Herz gewachsen. Aus der Sattelkammer griff ich mir Divines Halfter, an dem der kleine Schutzengel baumelte, sowie auch das von Legolas, um die beiden Pferde von der Koppel zu holen.
      Der weiße Freiberger, der mittlerweile eher einem plüschigen Teddybären mit seinen kleinen Öhrchen ähnelte, wartete bereit am Tor. Eigentlich hatte ich Lina ein sauberes Pferd mitbringen wollen, nur Ivy schien andere Pläne zu haben. Irgendwie schaffte er es, sich die leichte Decke, die ich ihm gestern angezogen hatten, halb auszuziehen. Die Decke hing zu Hälfte auf dem Boden und ein dunkler Matschfleck hob sich von dem hellen Fell ab.
      Ich zog mein Handy aus der Tasche und beschloss Linas Wunsch nach einem Ivy Update zu befriedigen: “Dein Pony hat sich extra für dich hübsch gemacht”, kommentierte ich das Bild und drückte auf den Knopf zum Senden.
      In mich hinein grinsend öffnete ich das Koppeltor und streifte das Halfter über seinen Kopf. Der kräftige Hannoveranerhengst stand nicht weit entfernt und kam gutmütig auf mich zu getrottet, sobald ich nach ihm reif.
      “Na kommt ihr zwei”, setzte ich die beiden in Bewegung, nachdem ich auch den Rappen aufgehalftert hatte und führte sie zum Stall.
      Legolas stellte ich in die Box, denn als Erstes wollte ich versuchen den Matschfleck aus Divines Fell zumindest ein wenig auszubürsten. Die Regendecke von Divine tausche ich mit einer Abschwitzdecke aus, bevor ich mich mit Schimmelspray bewaffnet an seinem Fell zu schaffen machte. Nach knapp zwanzig Minuten war Ivys Fell wenigstens wieder ansatzweise weiß. Schweif und Mähne flocht ich ein, denn Lina wusste es sicherlich zu schätzen, wenn die mühevoll herangezüchtete Mähne unversehrt blieb.
      “Samu, bist du bald so weit? Wir sollten so langsam das Auto packen und die beiden verladen”, rief Jace über die Stallgasse.
      “Ja, in fünf Minuten bin ich fertig, aber du kannst ja schon mal anfangen”, entgegnete ich, während ich die kräftigen Beine des Hengstes mit Transportgamaschen umhüllte. Jace nickte und verschwand aus der Stallgasse. Divine war somit Abfahrt bereit, fehlte nur noch mein eigenes Pferd. Bei Lego tauschte ich lediglich die Decke und verpackte auch seine Beine sicher in Gamaschen. Ich ließ die beiden Pferde auf der Stallgasse stehen und trat aus dem Stall hinaus, um nach Jace zu sehen. Dieser hatte mittlerweile das Auto samt Hänger vorgefahren und packte gerade die Koffer ein. Perfekt, denn dann konnten die beiden Pferde auch gleich verladen werden. Ich verschwand wieder im Stall und füllte noch Heunetzte, die ich im Hänger platzierte, damit die beiden auch etwas zu knabbern, hatten auf der Fahrt.
      “Okay, ist das so weit alles bis auf die Pferde?”, erkundigte sich mein Kollege, der gerade den letzten Koffer ins Auto packte.
      “Wenn du auch Linas Pferdekoffer aus der Stallgasse mitgenommen hast, ja”, lachte ich.
      “Pferdekoffer?”, fragte Jace stirnrunzelnd nach.
      “Ja, da sind ihre ganzen Schabracken und all das Zeug drin”, antworte ich.
      “Ah, das war also drin”, sagte Jace, ”aber ja, den habe ich eingepackt.” Gemeinsam gingen wir zurück in den Stall, um nun auch noch die Pferde zu holen. Jace wirkte fast ein wenig trübselig, als er dem Freiberger über das lange Fell strich, bevor er ihn losband. So hundertprozentig schien er noch nicht über Lina hinweggekommen sein, obwohl er sich seit ein paar Wochen des Öfteren mit einem Mädchen traf.
      “Jace, alles okay bei dir?”, hakte ich nach, als er immer noch wie angewurzelt neben dem Freiberger stand und ihn streichelte, als ich mit Legolas loslief.
      “Ja, alles gut”, seine Stimme klang ein wenig belegt und ich glaubte ein verräterisches Glitzern in seine Augen zu sehen, was er eilig hinfort blinzelte. Schweigend verluden wir die beiden Hengste. Ein letztes Mal wand ich mich um, nahm den Hof in Augenschein. Viele Erinnerungen kamen auf. Momente voller Freude, aber auch Momente voller Trauer, Sorge und Wut. Ursprünglich war gar nicht vorgesehen, dass wir hier so lange bleiben würden, ein Monat war angedacht, sollte das Whitehorse Creek doch eine der letzten Stationen sein, bevor es zurück in die Heimat ging. Doch Lina hatte sich hier so wohlgefühlt, blühte richtig aus, dass aus einem Monat zwei wurden und aus Monaten wurden schließlich Jahre. Jahre, in denen jeder von uns eine feste Rolle hier hatte und auf seine eigene Weise den Hof bereicherte, nicht zu vergessen auch die persönliche Entwicklung. In meiner Ausbildung, die ich auf einem ziemlich prestigeträchtigen Hof machte, hatte ich ausschließlich mit hochkarätigen Pferden zu tun, die einen Stammbaum mit sich brachten, der durchzogen war von den erfolgreichsten Pferden der Szenen. Bei uns wurde nie ein Pferd angeritten, bevor es nicht mindestens 4 ½ Jahre alt war, aber immer mal wieder hatten wir junge Pferde in Beritt, die bereits 4-jährig S-Lektionen liefen, was in den meisten Fällen aber auch viele Probleme mit sich brachte. Unwillige, hypersensibler Tiere, die nur in Haltung liefen, wenn der Reiter sie mit dem Zügel in Position hielt, waren keine Seltenheit in der Dressur. Häufig wurde diese mangelnde Ausbildung mit schwungvollen Gängen und großrahmigen Pferden zu überdecken versucht. Traurigerweise sah man solche Pferde viel zu oft auf europäischen Turnierplätzen und für meinen Geschmack bekamen sie viel zu häufig, viel zu gute Noten. Im Springen hingegen sah man viel Pferde, die unkontrolliert durch den Parcours bretterten und der Reiter allein durch eine harte Hand und ein scharfes Gebiss überhaupt Kontrolle über ihr Tier hatten. Auf dem Whitehorse Creek genoss ich es regelrecht weit weg von der dem alltäglichen Wahnsinn der Turnierwelt zu sein. Das sollte man nicht falsch verstehen, ich präsentiere gerne das, was ich mit einem Pferd erreicht habe, aber mir geht es dabei immer, um Fairness gegenüber dem Tier und den Spaß an der Sache. Insgesamt empfand ich die Atmosphäre hier in Kanada stets als sehr angenehmen. Dadurch, dass die englische Reitszene nicht ganz so groß war wie die europäische, schien man alles auf nationaler Ebene deutlich entspannter zu sein. Neben der gemäßigten Atmosphäre auf den Turnieren werden mir auch die schier endlosen Ausritte durch die Rockey Mountain fehlen, die ihren ganz eigenen Charme mitbrachten und nicht zu vergessen auch die Hofgemeinschaft, die über die Jahre eine zweite Familie geworden war. Auch, wenn ich mich hier immer sehr wohlgefühlt hatte, konnte Kanada nie wirklich zu einer Heimat für mich werden, weshalb nun der Zeitpunkt für eine Veränderung gekommen war. Dankbar über all die Erfahrungen, die ich hatte, sammeln dürfen, würde ich diesen erinnerungsträchtigen Ort hier hinter mir lassen.
      “Na, komm, wir müssen los”, forderte Jace mich freundlich dazu auf ins Auto zu steigen. Einen, nun wirklich, allerletzten Blick warf ich auf das Gestüt, bevor ich in den Wagen stieg. Im Auto herrsche eine melancholische Stimmung und jeder von uns hing so seinen Gedanken nach. Meine Gedanken driften von dem, was ich hinter mir ließ, immer mal wieder zudem, was jetzt auf mich zukommen würde, durchmischt mit Fragen, wie es Lina wohl in dem vergangenen Monat ergangen sei. Diese Frage drängte sich immer wieder in mein Bewusstsein, obwohl wir ja in regem Austausch miteinander standen. Am Telefon konnte ich ihre Stimmungen nur eingeschränkt deuten, zumal Lina noch nie jemand gewesen war, der gerne telefonierte, weshalb sie Gespräche für gewöhnlich kurzhielt. Der Gedanke, dass sie etwas versteckte, um mir keine Sorgen zu bereiten, schlich sich in den letzten Wochen öfter in meine Gedanken. Im Vertrauen darauf, dass Lina trotz der Distanz auf mich zukam, wenn ihr etwas auf dem Herzen lagt, schob ich ihn allerdings beiseite.
      “Samu”, sprach Jace plötzlich in die Stille hinein, “Jetzt, wo du Ivy mitnimmst, fühlst es sich an, als würde auch das letzte Stück von Lina mit ihm verschwinden.” Jace starrte mit zusammengepressten Lippen auf die Straße vor ihm.
      “Ich habe Angst davor, dass mit den letzten physischen Spuren ihrer Existenz auch die Erinnerung schwindet, als sei sie nie da gewesen. Samu, ich möchte sie nicht vergessen. Gleichzeit habe ich Bedenken dabei mit ihr in Kontakt zu treten, dass ich damit etwas Schlechtes heraufbeschwören könnte”, sprach er kummervoll, “Ich möchte doch, nur dass sie glücklich ist.”
      Es war ungewöhnlich für Jace, dass er so frei heraus sprach, waren solch tiefe Einblicke in seine Seele doch meist Alec vorbehalten.
      “Jace, ich weiß, jemanden loszulassen ist nicht einfach, aber wenn du ihr weiterhin so hinterhertrauerst, wirst du dir nur selbst im Weg stehen und damit ist niemandem geholfen. Vergiss nicht, Lina ist nicht aus der Welt und auch deine Erinnerung werden sich nicht einfach in Luft auflösen. Zudem hat sie deutlich mehr Spuren zurückgelassen außer ihrem Pferd, du musst nur ein wenig genauer hinsehen”, sagte ich ermunternd. ”Ich kann dir nur sagen, dass es Lina aus meinem aktuellen Blickwinkel super geht, sie hat sich sogar gerade erst ein weiteres Pferd gekauft.” Jace nickte beim letzten Satz als sei das keine neue Information für ihn. Ich vermute, auch er hatte ihre kleine Story gesehen, die sie zu Ankunft der Stute online gestellt hatte.
      “Das ist auch alles schön und gut, aber was ist denn mit ihrer Beziehung? Ich mag diesen Kerl zwar ausgesprochen wenig, aber wenn das Linas Wahl ist, möchte ich dem auch nicht wieder im Weg stehen”, brachte Jace seinen Zweifel hervor. Einige der Dinge, die im Sommer, zwischen ihm und Lina vorgefallen waren, schien er wirklich zu bereuen.
      “Jace, du müsstest dich schon wirklich dämlich anstellen, um aus der Entfernung im Weg zustehen. Lina mag zerbrechlich wirken und ich kenne dein Bedürfnis, sie vor allem Unheil schützen wollten, nur zu gut, aber sie ist stärker als man glauben mag. Das zeigt sie jeden Tag aufs Neue”, sprach ich bedacht darauf, nicht aus Versehen Dinge preiszugeben, die nicht für Jace Ohren bestimmt waren. Der letzte Satz war tatsächlich nicht nur so dahingesagt, nein es entsprach der Wahrheit. Viele Dinge trägt sie mit sich herum und obwohl es einige Menschen gibt, die ihr mit diesen Belastungen helfen wollen, offenbart sie diese nur ungern, was es schwer macht sie, als Persönlichkeit vollständig zu erfassen.
      “Danke Samu, für deine Worte”, murmelte Jace. Auf der weiten offenen Fläche eröffnete sich nun das umzäunte Rollfeld, auf dem eine gigantische Maschine Fahrt aufnahm, um dann in einem steilen Winkel in den Himmel emporzusteigen. An einer Kreuzung bog Jace ab und folgte der breiten Straße zur Animal Lounge, wo wir als Erstes die beiden Pferde abgeben würden, bevor ich mich dann selbst auf dem Weg zum Boarding machte. Nachdem ich uns am Serviceschalter angemeldet hatte, kam auch sogleich ein Mitarbeiter, der uns zeigte, wo wir die Tiere ausladen konnten. Als Erstes luden, wird Divine aus, bevor ich auch meinen Rappen von der Rampe führte. Neugierig nahmen die beiden Hengste ihre Umgebung in Augenschein und der Freiberger ließ ein aufgeregtes Wiehern ertönen. Am Eingang der großen Halle bekamen die beiden nach der Überprüfung des Mikrochips noch jeweils ein Schild an ihr Halfter, wo Flugnummer, Zielflughafen, Name, sowie auch Farbe und Geschlecht darauf standen. Die Decken mussten die beiden ausziehen, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass sie damit in der Kiste irgendwo hängen bleiben würden, zudem wurde der Bauch des Flugzeugs extra beheizt, damit die lebende Fracht nicht fror. Als Erstes nahmen die Männer Legolas entgegen. Anstandslos ließ sich der Rappe in die große Metallkiste führen. Divine hingegen wehrte sich ein wenig. Mit aufgerissenen Augen starrte der Hengst die Kiste an und wollte keinen Fuß auf die Rampe setzen. Erst nach viel Gutem zu reden, ließ der Freiberger sich in den Container schieben. Erleichterung breitet sich aus, das hätte mir jetzt noch gefehlt, dass ich Lina sagen musste, dass ihr Pferd leider in Kanada bleiben musste, weil er nicht in den Container wollte.
      Nachdem die beiden Pferde verladen waren und sich auf dem Weg ins Flugzeug befanden, stand nun auch das Boarding für mich an. Jace half mir noch das Gepäck aufzugeben, bevor Abschied nehmen hieß.

      Am späten Nachmittag, zurück in Schweden.

      VRISKA
      Mit zittrigen Beinen stand ich neben gescheckten Hengst Klinkker, nur Heinz genannt von uns, der seinen Kopf in die gelbe Schüssel steckte und mit kleinen Bissen das Futter kaute. Alles in seiner Umgebung musste Gelb sein, das filterte sich bereits als Jährling heraus, erzählte mein Chef häufig. Sobald jemand in einem Kleidungsstück am Zaun oder der Box vorbeilief, stellten sich seine Ohren auf, die Augen funkelten und eine unbeschreibliche Kraft strahlte er aus. Könnt ihr euch vorstellen, wie schwer es war, die Richter bei der Körung davon überzeugen, dass ich ein gelbes Shirt tragen musste für die Vorstellung? Nun, genauso schwer wie mich. Aber es fruchtete und damit durfte Heinz nicht nur als der beste Hengst gekürt werden, sondern fand einen festen Platz auf dem Gestüt. Zumindest so fest, wie man es von Fruity behaupten konnte. Zu meiner Zufriedenheit war es Chris, der Interesse an der Stute fand und sie für seine kleine Schwester wählte, die am heutigen Tag ihren vierzehnten Geburtstag feierte und endlich ein eigenes Pferd bekommen sollte. Die Freude war groß, als sie die Blauäugige in der Halle laufen sah und wenige Minuten später selbst im Sattel saß. Missmutig übergab ich ihr die Zügel, aber blieb dabei, nicht nach meinem Handy zu greifen, wie jetzt auch. Stattdessen beobachtete ich den Hengst.
      Um seine Augen herum war es dunkel und der Rest seines Körpers, der mit einer Decke bedeckt war, triefte vor Schweiß. Wir hatten eine kurze, aber intensive Reitstunde bei Tyrell, die viel mehr meine reiterlichen Fähigkeiten ausbaute als das Talent unter dem Sattel des Hengstes.
      “Heinz, bist du immer noch nicht fertig?”, rollte ich mit den Augen und schwankte die Schüssel ein wenig in der Luft, um den Inhalt zu prüfen.
      “Warum Heinz?”, fragte Lina, die gerade mit Girlie die Stallgasse entlangkam, ein wenig verwirrt und blieb mit der Stute vor mir stehen. Umgehend erhob der Hengst sein Haupt, die Nüstern blähten sich auf und ein leises Brummen ertönte. Mit einem kleinen Klaps an der Brust hielt ich ihn zurück einen Schritt nach vorn zu setzen, denn er sollte endlich auffressen.
      “Der hat nur Faxen im Kopf und als wir hierherzogen, das erste Grillen hatte, entschied er sich aus der Box zu befreien und vom Tisch die Ketchupflasche zu klauen. Anfangs hielten wir es für einen blöden Zufall, doch mittlerweile passiert es häufig und deswegen haben wir den Grillplatz verlegt”, erzählte ich lachend. Er fraß den Inhalt nicht, aber schraubte mit seiner Oberlippe den Schraubverschluss auf.
      “Wow, das ist mal eine außergewöhnliche Geschichte”, lächelte sie amüsiert.
      “Du hast vermutlich das einzig normale Pferd am Halfter. Alle anderen hier sind gestört, wirklich gestört”, nickte ich und musterte die Criollo Stute, die sich so weit wie möglich ihren Kopf streckte. So gern hätte sie sich an dem gelben Trog bedient, doch Lina verhinderte es.
      “Na du musst es ja wissen, aber so ein richtig verrücktes Pferd ist mir bisher nicht aufgefallen. Nur der alltägliche Wahnsinn”, lachte sie,” Ich würde ja jetzt sagen, wie gut, dass Ivy das bald ändert, aber zugeben, so ganz normal ist er auch nicht.” Ihre Augen begannen zu leuchten und die Freunde über die baldige Ankunft ihres Hengstes war ihr deutlich anzumerken.
      „Holst du ihn ab oder wird er gebracht?“, fragte ich freundlich.
      „Er wird gebracht“, sagte sie fröhlich, „allerdings vermutlich erst am Sonntag wegen der Quarantäne und so.“ Lina zog eine Schnute, die die Missgunst, über die ihrer Meinung nach unnötigen Wartezeiten deutlich zum Ausdruck brachte.
      “Verstehe”, dachte ich laut und wirbelte meine Finger durch die kurz geschnittene Mähne von Heinz, der noch immer nicht fertig gefressen hatte. Prüfend sah ich auf mein Handy, nur noch dreißig Minuten, bis es zum Pony losging. Wieder wurden meine Knie zittrig. Ich atmete tief durch und steckte es zurück, ohne ihm zu schreiben.
      „Aufgeregt wegen des Ponys?“, fragte Lina, der es wohl nicht entgangen war, “Was für ein Pferde möchtest du dir eigentlich ansehen? Einen Isländer oder doch eher etwas mit weniger Gängen?“
      “Eine Gurke”, schmunzelte ich und holte dann doch wieder mein Handy heraus. Die Finger huschten über dem Display, landeten schließlich in der Anzeige, bei der groß réservé, vermutlich reserviert in der Baguette-Sprache. Ich reichte ihr mein Gerät, wenn auch nur zögerlich, denn meine Angst, dass mein Unbekannter schrieb, war stets präsent. Interessiert las sie sich die Anzeige durch.
      “Ein Lusitano Reitpony Mix also, das klingt nach einer gewagten Mischung”, kommentierte Lina grinsend, “Aber niedlich sieht sie aus mit diesen lustigen kleinen Zöpfchen, da bin, ich mal gespannt wie sie sich in Natura zeigt.” Nachdem sie die Anzeige in aller Ausführlichkeit studiert hatte, reichte sie mein Handy zurück.
      “Für mich klingt es alles sehr seltsam bei dem niedrigen Preis, aber ich hätte sagen können, was ich will, denn Erik will sie unbedingt angucken und wenn wir mal ehrlich sind. Die wird bestimmt auch gekauft, ob ich will und nicht”, atmete ich unentschlossen aus. Auch ich wischte noch einmal die Bilder durch, steckte es schlussendlich wieder weg.
      “Erik hat das angeleiert? Ich dachte, er mag Pferde nicht besonders. Aber warte erst mal ab, nur weil ihre Geschichte ein wenig seltsam ist, muss das nichts heißen. In Kanada hatten wir einige Pferde, die seltsame Geschichten mit sich brachten, aber sich letztlich zu wunderbaren Tieren mauserten”, versuchte Lina mir die Bedenken ein wenig zunehmen.
      “Es ist auch kein Pferd, sondern ein Pony”, korrigierte ich lachend, “Aber ja, ich weiß auch nicht so recht. Der Typ wird immer seltsamer.” Zum Ende des Satzes wurde ich langsamer und vor allem leiser, denn ich hörte Schritte hinter mir. Behutsam drehte ich meinen Kopf nach hinten, aber zu meiner Freude kam Harlen dazu.
      “Nimmst du dann das Auto oder den Transport?”, fragte er und streckte mir zwei Bünde Schlüssel entgegen. Fragend sah ich Lina an: “Auto oder Transporter?”
      “Wenn du dir so sicher bist, dass das Pony eh gekauft wird, vielleicht besser gleich den Transporter”, riet sie mir halb scherzend, halb im Ernst.
      “Du sagst es”, murmelte ich und griff wenig überzeugt nach den Schlüsseln vom kleinen Transporter. Harlen grinste verschmitzt. Dann trat er einen Schritt näher an mich heran, um seine Arme herzlich um mich zu legen. Er flüsterte: “Überlege es dir aber gut, sonst musst du mehr arbeiten.” Auffällig rollte ich mit den Augen, stieß ihn sanft von mir weg.
      “Ja, ja. Aber am besten nimmst du dir diesen Rat selbst zu herzen, du hast bestimmt noch eine Menge zu tun”, zischte ich.
      “Viel Spaß mit der”, lachte er und sah dabei zu Lina, die noch immer grinste. Meine Stimmungsschwankungen waren furchtbar, besonders wenn von einer Sache nicht wirklich überzeugt war. Dazu zählte insbesondere Maxou, die mich überhaupt nicht ansprach, zwar interessant war, aber ich wollte eigentlich irgendwas … Ich wusste nicht einmal was.
      “Ach, die findet ihre Laune schon noch wieder”, winkte sie nur lachend ab, ihre Laune schien heute mal wieder wirklich unerschütterlich zu sein. Da der gepunkteten Stute die gelbe Futterschüssel verwehrt blieb, begann sie nun in Linas Jackentaschen nach etwas Essbarem zu suchen, doch statt ein Leckerli zu bekommen, strich Lina ihr nur durch die lange Mähne und tätschelte sanft ihren Hals.
      “Danke Heinz”, stöhnte ich erleichtert und führte ihn umgehend von der Schüssel weg, die nahezu leer war, aber nicht mehr für ihn interessant. Sogleich ergriff die Stute das Teil. In der Gasse zu dem Paddock leuchteten nacheinander die kleinen LED-Lampen auf, die neben der Wegbeleuchtung mir die Sicht ermöglichten. Es wurde immer schneller Dunkel und so dämmerte es bereits um kurz nach drei Uhr am Nachmittag. Ich nahm dem Hengst zunächst die Decke ab und dann das Halfter. Heinz schüttelte sich. Einen letzten Atemzug und dann gab es kein Zurück mehr.
      In der Sattelkammer hängte ich alles an seinen Platz zurück, holte meinen anderen Helm aus dem Regal und schloss hinter mir die Tür. Bellend rollte mir das Ungetüm entgegen, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, bis es schließlich auf dem Boden lag und am Bauch gekrault wurde. Freundlich beugte ich mich über das Tier, strich ihm vergnügt durch das weiche Fell am Bauch. Dämonenartig unterhielten wir uns, abwechselnd von meinen hohen quietschenden Tönen und seinem tiefen brünstigen Grummeln.
      “Aber sonst stimmt alles bei euch?”, lachte Erik. Langsam kam er einige Schritte zu mir, die Hände in den Taschen seines Mantels und die Haare nach hinten gegelt. Mitleidig schob ich die Unterlippe vor die Obere.
      “Ja, aber bei dir offensichtlich nicht”, täuschte ich eine nicht vorhandene Enttäuschung vor, die er jedoch genauso auffasste, wie ich plante. Sein Lächeln verschwand und er kniete sich zu mir, legte eine seiner Hände auf meine Schulter.
      “Es tut mir leid. Was habe ich gemacht?”, fragte er. Flüchtig bekam ich einen Kuss auf die Wange.
      „Deine Haare“, wimmerte ich.
      Erik lachte und fuhr durch meine.
      „Aber, so kennst du mich doch“, half er mir hoch und zog mich im selben Atemzug fest an sich heran. Meine Hände verschwanden sofort im Mantel, wärmend an seinem Rücken. Verträumt sah ich hoch zu ihm, konnte das Lächeln nicht mehr ablegen.
      „Schon“, sprach ich leise, schluckte. Sollte ich den Gedanken aussprechen? Erwartungsvoll hob er die Braue. Seine Wangenknochen kamen markant nach vorn. Die Worte steckten in meiner Kehle fest. Innerlich begann wieder Kampf um meine Gefühle. Es war unangenehm darüber zu sprechen. Rein die Tatsache, dass es sich wie wieder aufgewärmtes Essen mit ihm anfühlte, lag mir flau im Magen. Natürlich gab es einige Gerichte, die man problemlos für einige Sekunden in die Mikrowelle stellte und noch genießbar waren, doch häufig scheiterte es am Geschmack.
      “Kommt da noch was?”, funkelten seine Augen. Langsam nickte ich und er schwieg wieder. Geduld stand ihm nicht. Nervös tippten seine Finger an meinem unteren Rücken, drückten mich ungleichmäßig zu sich heran und wieder weg. Allein, dass wir still vor dem Eingang des Stalls standen, machte es von einer Sekunde zur anderen schwieriger.
      „Ich kann das nicht“, murmelte ich und senkte meine Stirn an seine Brust. Er strich mir über den Rücken.
      „Du musst es mir auch nicht sagen, es ist okay“, flüsterte Erik, „Aber du zeigst es mir, das reicht.“
      Kurz fühlte es sich an, als wäre mein Herz stehen geblieben und ich war froh, dass er es nicht falsch verstand. Wie Stein fiel der Kummer von mir. Frohen Mutes und trotzend vor neuer Energie griff ich nach seiner Hand und lief mit ihm zum Transporter. Trymr folgte uns, erblickte Lina an dem Fahrzeug und sprang los wie vom Teufel getrieben. Wieder setzten die brummenden Geräusche ein.
      “Da seid ihr ja, dann können wir ja jetzt los”, lächelte sie gut gelaunt und kraulte den großen Hund an seiner Lieblingsstelle, woraufhin das Brummeln sich noch verstärkte und er sich liebenswürdig an sie anschmiegte. Aus der Hosentasche kramte ich den Autoschlüssel, wollte die Fahrertür öffnen, als Erik die Tür festhielt und mir das Band abnahm. Auf seinen Lippen formte sich ein freches Grinsen und er stieg vor mir ein. Verwundert sah ich zum Steuer, aber stieg auf der anderen Seite ein, setze mich jedoch auf einen der hinteren Sitze in dem wirklich kleinen Schlafbereich des Transporters. Trymr nahm Platz neben mir und ich schnallte ihn an. Auch Lina kam zu mir nach hinten.
      “So abfahrbereit?”, sah Erik nach hinten. Synchron wippten Lina und ich mit dem Kopf. Der Schlüssel klackte im Schloss. Das gleichmäßige Dröhnen des Vierzylinders stotterte los. Interessiert beobachtete ich Lina mir gegenüber, die fasziniert das Innere des Fahrzeuges musterte. An einigen Stellen strich sie über die Oberfläche und drückte auf verschiedenen Knöpfen herum, die teilweise Licht auslösten oder die eine oder andere Klappe öffnete.
      „Wow, ziemlich cool“, sagte sie fasziniert und drückte auf einen weiteren Knopf, „Nicht, dass ich noch nie einen Transporter gesehen hatte, aber der hier ist so … luxuriös im Vergleich.“
      „Ach ja, den vom Team hast du ja noch nicht sehen dürfen von innen“, lachte ich freundlich. Das riesige Fahrzeug stellte alles in den Schatten, ich würde sogar sagen, unser ganzes Gestüt, aber was erwartete man auch anderes von dem elitären Standard, den, wohlgemerkt, Niklas dort setzte. Aber das spielte auch gar nicht zur Sache, wichtig war es, dass wir nicht froren und sicher bei dem Pony ankamen. Wo genau wir hinfuhren, hatte ich mir nicht gemerkt, konnte nur abschätzen, dass wir eine Weile fuhren. Entschieden nahm ich mein Handy zur Hand, verfasste erste eine Nachricht und wenig später eine weitere an meinen Unbekannten. Kurz beschrieb ich meine emotionale Beklemmnis aus der Situation am Stall, hoffte darauf, einen nützlichen Rat von ihm zu bekommen, aber Stille. Seine sonst so schnellen Antworten fehlten. Seufzend legte ich das Gerät zur Seite, versuchte mich darauf einzustellen, dass ich mir nun ein Pferd zulegte, eins, dass nur für mich bestimmt war. Na gut, vielleicht auch für Fredna, aber sonst musste ich es mit niemandem teilen oder mir sagen lassen, was ich zu tun hatte. Wärme erfüllte mich, wenn auch die Ungewissheit blieb.
      Lina tippte mich sanft an der Schulter an: „Vriska, wir sind gleich da.“ Ich drückte die Augenlider weit nach oben und blinzelte langsam. Draußen war es stockdüster und schlagartig kam das mulmige und flaue Gefühl in meinem Magen wieder auf. Sofort warf ich einen Blick auf mein Handy. Er hatte weder die Nachrichten gelesen noch geantwortet. Erst da bemerkte ich, dass sie nicht einmal zugestellt wurden. Hatte ich was falsch gemacht? Hätte ich ihn vorhin nicht sagen sollen, dass keine Zeit hatte? Stärker wurde das Drücken im Magen. Es drehte sich alles, auch in meinem Kopf wollte es nicht ruhiger werden.
      „Erik? Mir ist schlecht“, murmelte ich noch verschlafen. Das Fahrzeug bremste ab und umgehend stürzte ich hinaus ins Freie. Wir hielten mit im Wald, die einzige Straße lag leer vor uns und sonst standen die Bäume rings um uns herum.
      „Was ist los?“, er näherte sich langsam von der Seite und strich mir liebevoll über den Rücken, während die andere Hand meine Haare einsammelte und nach oben hielt. Ich hing gebeugt über dem kleinen Straßengraben. In meinen Augen liefen die Tränen und der Magen hatte wohl einen der schlechtesten Momente aller Zeiten.
      „Es ist gerade alles zu viel“, stammelte ich, ehe mein Magen sich erneut wölbte, um den Rest an Flüssigkeit wieder nach draußen zu bekommen.
      „Verstehe“, murmelte Erik, „oder auch nicht. Ich möchte nicht lügen, also ich verstehe nicht, wovon du redest. Was ist dir zu viel?“
      Konnte er nicht für einen Augenblick ruhig sein? Wieder übergab ich mich, bekam von Lina eine Flasche Wasser gereicht und setzte mich auf die Stufen im Eingang zur Wohnkabine. Mit verschränkten Armen, was wohl an der Kälte lag, stand der junge Mann vor mir und musterte mich. Meinen Kopf hielt ich fest, stützte ihn mit meinen Armen auf den Knien. Noch immer drehte sich alles, aber das flaue Gefühl legte sich zunehmend.
      „Muss das jetzt sein?“, stöhnte ich und wischte mit einem Taschentuch durch mein Gesicht.
      Erik nickte.
      Ich seufzte.
      „Dass du wieder da bist, als wäre nichts gesehen. Wir nicht einmal darüber reden. Die komische Aktion bei deinem Vater. Du mir den Kontakt verbietest zu Niklas. Wir jetzt ein Pony ansehen und“, es sprudelte alles aus mir heraus, bis ich stoppte, aber auch über den Unbekannten schwieg. Erik dachte nach, so viel erkannt ich in seinem Gesicht trotz der fehlenden Lichtquelle, die mir Aufschluss darüber geben würde, ob es richtig war, das unausgesprochene wieder hochzuholen.
      „Engelchen“, er strich mir noch eine Strähne aus dem Gesicht, „Ich bin wieder da, weil du mich brauchtest und ich dich vermisst habe. Wir reden nicht darüber, weil es nichts zu reden gibt. Letzten Monat war es einfach stiller, aber na und? Was sollte das ändern? Und bei meinem Vater? Ich hatte mich vermutlich nicht klar genug ausgedrückt, aber alles was folgte, hast du mehr oder weniger selbst entschieden“, er druckste weiter herum. Dann überlegte er für einen Augenblick: „Es ist nur Niklas, mehr nicht. Müssen wir darüber wirklich diskutieren? Du siehst doch wie glücklich Lina jetzt ist und das wird seinen Teil mit dazu beitragen“, wieder schüttelte Erik den Kopf, aber schlug zusätzlich die Hände dahinter zusammen, „und natürlich fahren wir uns Maxou anschauen. Du hast selbst gesagt, dass sie ein unschlagbares Angebot ist, wenn alles passt. Also komm. Du schaffst das und deswegen ist Lina doch da, falls du nicht weiterweißt.“ Zumindest sein letzter Satz klang logisch für mich und stieg wieder hinein, ohne ihm eine weitere Antwort zu geben. Immer wieder zettelte ich unangenehme Situationen an, aber er hatte leider recht, dachte ich. Mein Handy schwieg ebenfalls, Nachrichten noch immer nicht angekommen. Wie konnte das nur so unglaublich wichtig für mich sein? Lina kam ebenso wieder in das Fahrzeug geklettert, wobei sie mich besorgt musterte.
      „Geht es dir auch wirklich so weit gut? Wir müssen das hier nicht unbedingt heute tun?“, erkundigte sie sich fürsorglich.
      „Wir sind jetzt zwei Stunden gefahren, da drehen wir doch nicht wieder um, ohne dagewesen zu sein“, kam letzten Reste an Motivation aus mir heraus. Mit einer meditativen Atemübung versuchte ich den erhöhten Puls wieder zu beruhigen und auch Trymr half mir mit seiner Anwesenheit. Seinen Kopf hatte er auf meinen Beinen abgelegt, während seine Augen langsam zu mir hochsahen, sich öffneten und wieder schlossen. Ich strich ihm durchs Fell.
      “Das müsste es sein”, prüfend sah Erik auf den großen Monitor im Fahrerbereich und dann wieder aus dem Fenster. Vor uns lag ein matschiger, wenig beleuchteter Stall, der keinen Vergleich zu Höfen darstellte, die ich bisher kannte. Langsam fuhr er die Buckelpiste entlang, parkte das Fahrzeug zwischen einem Hänger und dem Zaun ab. Ich wechselte meine Schuhe, denn zum Glück hatte ich mir meine Wintermatschstiefel eingepackt. Auf den Bildern ließ sich bereits erahnen, dass wir nicht das königliche Gestüt besichtigten. Erik sprang aus dem Fahrzeug, stieß laut Luft aus der Nase, ehe er die Tür für uns öffnete. Ich schmunzelte. Nicht nur seine Schuhe hatten eine ungesunde Menge an Matsch abbekommen, sondern auch die Anzughose. Selbst schuld, strömte als erster Gedanke durch meinen Kopf und ich stieg aus. Lina zog sich derweil noch andere Kleidung an.
      “Ich zwinge dich zu nichts, wenn es nicht passt, dann passt es nicht, okay?”, vergewisserte sich Erik und strich mir mit seinem Handrücken durchs Gesicht. Willkürlich wurde mein Lächeln breiter.
      “Ja, okay. Aber du kannst mich ohnehin zu nichts zwingen”, provozierte ich ein wenig.
      “Das denkst auch nur du”, feixte er und drückte mich gegen die kalte Oberfläche des Transporters. Meine Hände fest in seinem Griff versuchte ich mich herauszuwinden, doch konnte mich nur schwer von seinem Antlitz lösen. Sanft küsste er meinen Hals. Ich schloss die Augen. Umschlungen von einem seltsamen Rausch, der wie Meeres Musik mein Blut und auch die Seele in Wallungen brachte, ließ ich kein weiteres klares Wort mehr verlauten, konnte mich nicht bewegen, nur fühlen. Einen Herzschlag später berührten seine weichen Lippen meine, ungleich intensiv spürte ich die Leidenschaft, die uns umgab und wie von einem Blitz durch uns beide ging, die Körper miteinander verschmolz. Fest packte er mich an der Hüfte und sich fester an mich heran. Etwas schockiert über seine plötzliche Zärtlichkeit erfüllte mich dennoch eine Hitze im ganzen Körper, die wohl auch mit dem sanften Druck gegen meinen Bauch zu tun hatte. Erik löste seine Lippen von mir, grinste noch immer verschmitzt und strich mir schließlich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem Dutt gelöst hatte.
      “Ich denke nicht, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist”, fand ich meine Stimme zurück.
      “Zugegebenermaßen, nein”, lachte er und ließ mich in die Freiheit zurück. Lina lugte heiter aus der Tür des Transporters heraus, ehe sie einen Fuß nach dem anderen über die schmalen Stufen hinaussetzte. Trymr folgte ihr, aber stoppte, als er das dreckige Nass mit den ersten Ballen seiner Zehen berührte.
      > Du kan bo här.
      “Du kannst hierbleiben”, scherzte Erik. Der Hund drehte umgehend wieder um und legte sich auf die breite Sitzbank ab. Ich schloss die Tür.
      “Bereit?”, fasste ich allen Mut zusammen und lief los.
      Eine rundliche Frau kam uns entgegen, begrüßte uns herzlich auf Französisch, also schwieg ich. Erik übernahm das Wort und auch Lina schien fröhlich dem Gespräch zu folgen. Wie von einem plötzlichen Regen erfasst, schwemmte aller Mut von mir und ich fühlte mich wie in meine Kindheit zurückversetzt, wenn ich mit meinen Eltern einen Laden betrat, um etwas für mich zu kaufen, aber ich nur still folgte. Wir kamen in einen kleinen Stall mit warmem Licht, das aber nur wenig Helligkeit spendete. Auf beiden Seiten standen Ponys in ihren Boxen, zumeist eingedeckt, und genüsslich das Heu knabberten. Neugierig musterte ich die Tiere, die nicht einmal den Kopf hoben, um die Besucher zu betrachten. Beinah am Ende des Ganges blieben wir stehen. Das kleine Pferd von den Bildern stand vor uns.
      > Detta är hennes.
      “Das ist sie”, sprach die Frau ich schlechter Betonung. Zusammen mit Lina verschwanden wir in einem Raum. Ein reines Durcheinander dominierte das Auftreten. Überall standen Putzkisten herum, die zum einen Teil kaputt waren oder furchtbar dreckig. Auf dem Boden lagen auch Sättel und Trensen in einem ebenso schlechten Zustand. Sie drückte uns einen riesigen Springsattel in die Hand und eine abgescheuerte Schabracke. Mir blieb die Luft weg, aber versuchte meine Wut mit einem aufgezwungenen Lächeln zu überspielen. Lina wirkte gleichermaßen verwirrt, aber half der Dame die richtigen Sachen zu finden. Dann ließ sie uns allein, erklärte nur, dass sie in der Halle auf uns warten würde.
      “Laufen Besichtigungen immer so ab?”, fragte ich verwirrt und sah zu meiner Kollegin.
      “Nein”, antwortete sie skeptisch dreinschauend, “für gewöhnlich läuft so etwas … ein wenig betreuter ab und weniger …” Lina machte eine Geste, die wohl das Chaos um uns herum umschreiben sollte. Zustimmend nickte ich. Mit dem Zeug in der Hand liefen wir aus der verstaubten Kammer heraus und schockiert blieb ich stehen. Unsanft rammte Lina in mich heran, unverständlich murmelte und sah dann ebenfalls nach oben.
      “Sehe ich das richtig?”, flüsterte ich zu ihr, die Augen fest an Erik, aber mein Kopf drehte sich ein Stück zu ihr. Er hatte die Box zur Stute geöffnet, die mit Hals herausragte. Freundlich schmiegte sie sich an ihm und Erik fuhr mit seiner Hand durch das kurze Fell. Hätte Lina mich nicht daran erinnert, dass Pferde eher weniger in seinem Interesse lagen, würde ich meinen letzten Cent dafür geben, sie nicht mehr voneinander zu reißen.
      “Jap. Ich glaube, dieses Pony muss etwas Besonderes an sich haben”, raunte sie eine Antwort, mit einem Ausdruck der Verwunderung auf dem Gesicht. Erneut drückte das Pony an ihn heran, schloss dabei entspannt die Augen. Ihr Kopf gesenkt und das Bein angewinkelt, schienen sie schon jetzt ein Herz und eine Seele zu sein. Ein furchtbarer Schmerz fegte durch mein Inneres und entfesselte ein heftiger Anfall von Eifersucht. Beides versuchte ich kläglich zu unterdrücken, als ich mich hörbar räusperte. Lina drängelte sich im selben Atemzug an mir vorbei, aber mein Arm schob ich ein Stück zur Seite, um sie aufzuhalten.
      “Ich muss dir was mitteilen”, flüsterte ich und ihre Augen funkelten, getrieben von Neugier hielt sie an, “Ist es lächerlich, wenn ich dir sage, dass ich nie wieder die Beiden trennen vermag und bei mir machen möchte. So, für immer?”
      “Awww, wie herzig”, äußerte sie sich entzückt, ”was du da sagst ist nicht lächerlich, sondern vollkommen legitim.”
      „Aber ich will so was nicht fühlen“, sprach ich bedeckt, jedoch er bekam sichtlich mehr davon mit, als ich wollte. Erik trat aus der Box heraus, dabei kippte das Pferd minimal nach vorn, fing sich noch rechtzeitig auf.
      „Wollt ihr da Wurzeln schlagen? Ich finde es hier nicht so schön, um verweilen zu wollen“, lachte er. Ich schüttelte mich kurz und lief los. Das schreckliche Sattelzeug legte ich auf dem Strohballen vor der Box ab und Lina stellte dazu den Putzkasten, oder vielmehr die Werkzeugkiste. Aus meiner Hosentasche griff ich nach einem Leckerli und reichte es Richtung Pony. Maxou roch behutsam an meiner Hand, zuckte zurück, bevor die Oberlippe nach dem Brick fummelte. Sehr lange schob sie ihren Kiefer von links nach rechts und noch länger, bis sie schluckte. Selbst Heinz konnte schneller fressen als sie. Ich seufzte. Meine Hand fuhr ihr an der Stirn nach unten. Ihre Augen sahen matt in Eriks Richtung, der von einer anderen Stute uns gegenüber gepiesackt wurde. Sie fummelte interessiert an seinem braunen Mantel herum und ließ sich durch nichts von ihrem Plan abbringen. Erst als er sich zu einem anderen Pferd an die Box stellte, gab sie nach.
      “Lina, ich denke nicht, dass sie reiten werde”, musterte ich das erschöpfte Pony. Kritisch nahm sie das Pony ein wenig genauer in Augenschein. “Ja, das halte ich auch nicht für eine gute Idee. So fit schaut sie nicht aus und ihre Fressgeschwindigkeit finde ich äußerst bedenklich.” Ich beobachtete, wie Lina der kleinen Stute behutsam über die Stirn fuhr, bevor sie sich langsam zur Kauleiste hervor tastete. Obwohl sie nur sanften Druck ausübte, legte Maxou die Ohren an und es war ersichtlich, dass ihr die Berührung unangenehm war.
      “Dachte ich mir schon”, murmelte sie leise und entfernte die Hände wieder vom Kopf der Stute.
      “Wie schlimm sind die Zähne?”, seufzte ich.
      “Ihrer Reaktion nach, und so fest wie das alles ist, ziemlich schlimm. Sie hat sicherlich schon längere Zeit keinen Zahnarzt mehr gesehen”, erläuterte sie ihr Urteil.
      „Also?“, trat Erik mit verschränkten Armen an und heran. Mein Puls raste hoch, was wohl weniger an seinem fehlerlosen Anblick lag als an der Tatsache, dass ich mich offenbar entscheiden musste. Mir tat das Pony leid, oder vielmehr, dass er so sehr mit ihr verbunden war vom ersten Anblick an, dass es mir gar nicht möglich war, eine reflektierte Entscheidung zu treffen. Fragend sah ich zu Lina, die hektisch mit dem Kopf schüttelte und dann mit den Schultern zuckte, als meine Unterlippe nach vorne schob. Sie sah sich schließlich noch den Rest des Tieres an, der auch nicht wirklich überzeugend wirkte. Ja, sie war gut im Futter, die Muskulatur in Ordnung und der Körper zeigte noch keine Zeichen einer Trageerschöpfung, dennoch war sie geistig nicht anwesend und sah genauso müde aus wie ich.
      Entschlossen griff ich nach Eriks an und zerrte ihn zu der rundlichen Frau, die rauchend auf einer Bank vor der Reithalle saß. Verwundert sah sie uns, aber schüttelte nur den Kopf. Gerade im Begriff aufzustehen, stellte ich mich näher an sie heran, verwandelte düster meinen Blick.
      “Sag’ ihr, dass wir sie für fünftausend weniger direkt mitnehmen und sie nie wieder etwas von uns hört”, sagte ich ernst zu Erik. Nun sah auch er mich mit zusammen gekniffenen Augen an, zog mich stumm zu Seite. Offenbar war das gegenseitige Herumschubsen Pflichtprogramm. In mir raste es vor Wut, aber auch Enttäuschung, dass ich mir natürlich einen Tierschutzfall annahm. Nichts konnte normal laufen, aber warum auch. Für das Kleingeld meinerseits konnte es nur eine Gurke eines matschigen Pferdehofs werden, der inmitten des Waldes stand.
      “Was ist dein Plan?”, fauchte er mich leise an.
      “Ich weiß es nicht”, gab ich zu, “aber wir nehmen sie mit, ansonsten finden wir mit etwas Training und pflege jemanden anderes. Bei uns am Hof ist so viel Publikumsverkehr, das wird. Und die fünftausend fehlen mir für den Kaufpreis.”
      “Was habe ich dir gesagt, dass Geld die geringste Sorge ist”, ermahnte er, legte mir mal wieder eine Strähne hinter das Ohr. Die kleine Berührung beruhigte mich ungemein, zügelte meine Wut. Erik war stets so zärtlich und leidenschaftlich, so beschützend und großzügig. Womit verdiente ich das?
      “Also möchtest du sie haben?”, vergewisserte er sich. Langsam nickte ich, behielt seine Hand fest in meiner. Mit einer Bewegung schickte er mich jedoch weg und begann eine hitzig klingende Diskussion zu entbrennen. Kurz blickte ich zurück, ehe ich die Schritte vergrößerte und bei Lina ankam. Die Stute spitze die Ohren.
      “Die kleine kommt also mit?”, formulierte Lina es eher als Aussage als, als Frage.
      “Ja, wenn er sie runterhandelt, aber ich schätze, dass er jeden überzeugen kann”, dann lachte ich warm. In dem Augenblick kam Erik sogar schon wieder, hielt triumphierend einige Blätter in die Luft.
      “Guck mal”, reichte er mir das Papier, “Wir haben jetzt ein Pony.” Klamm stand ich neben Lina, starrte mit tränennassen Augen in seine Richtung. Nichts regte sich mehr, selbst mein Herzschlag fühlte sich an, als hätte es aufgehört. Ich schnappte nach Luft und sprang los, direkt in seine Arme. Maxou schreckte nach oben. Ihre Hufen klimperten auf dem steinigen Boden, dann beruhigte sie sich, doch in mir brannte es. Fest zog ich mich an ihn heran und richtete den Blick hoch zu seinem Gesicht, das genauso glücklich strahlte wie meins, nur weniger verweint.
      “Hätte mir einer gesagt, dass es so leicht ist dich glücklich zu machen mit einem Pferd, hätte ich mir überhaupt keine Mühe geben müssen”, lachte Erik und drückte überzeugt seine Lippen auf meine. Unwillkürlich wichen jegliche Anspannungen aus meinen Gliedern, aber seine kräftigen Arme hielten mich problemlos fest. In meinen feuchten Augen glitzerte das Licht der Stallbeleuchtung und alles verschwamm in einer gematteten Oberfläche.
      “Was für eine Mühe? Deine Anwesenheit reicht, um mir den Verstand zu verdrehen”, feixte ich und gab ihm erneut einen Kuss, musste mich dann unserem neuen Familienmitglied zuwenden.
      “Willkommen in der Welt der Pferdebesitzer”, beglückwünschte sie uns knapp.
      ”Ich will euch in eurer Freude nicht hindern, aber ich wäre dankbar, wenn ihr das vielleicht auf zu Hause verschieben könntet, dieser Ort behagt mir nicht besonders”, fügte sie ein wenig drängend hinzu, während ihre Augen immer wieder argwöhnisch umherwanderten.
      “So viel Leid in der Luft”, murmelte ich zustimmend.
      “Ich gehe zum Transporter, mir ist kalt”, fügte dann auch Erik hinzu. Ich nickte, folgte ihm jedoch, um alles Notwendige zu holen.
      Rau fegte der Wind über den offenen Vorplatz des sogenannten Pferdehofes, wirbelte mein Haar vor die, schon durch Dunkelheit beschränkte, Sicht. Langsam kroch der Nebel zwischen den Bäumen hervor und verschluckte bereits die ersten Zäune in sich. Für einige Schritte tänzelte ich durch den Matsch, bis ich mich schützend an Eriks Arm festhielt. Sanft lächelte er. Merkwürdig fühlte es sich an, einen solch fundamentalen Schritt mit ihm einzugehen, dass es beinah beängstigend war, wie nah wir einander kam. In seiner Umlaufbahn verspürte ich Zuversicht, Vertrauen und vollständige Hingabe, Dinge, die ich zu vor nur in wenigen Sekunden meines Lebens wahrnahm. Ich war zuversichtlich, als ich entschied bei den Earles auf dem Gestüt blieb, meine alte Heimat den Rückenkehrte und einen neuen Abschnitt begann. Vertrauen schenkte ich meinem Bruder, der nicht nur mit kleinen Überraschungen lockte, sondern auch ein offenes Ohr für meine Probleme hatte. Hingabe? Natürlich kam mir Niklas als Erstes in den Sinn, aber mit einem kräftigen Atemzug verschwand er wieder. Nichts sollte diesen Moment zerstören.
      “Ich würde dann gern einsteigen”, legte Erik seine Hand an mein Kinn und drückte es ein Stück nach oben, damit ich ihm in die Augen sah.
      “Sicher?”, lüstern verdrehte ich leicht den Blick, erkundete, für wie viel er sich heute noch bereit fühlen würde. Doch auch er hatte sein Talent darin, mir die Sicht zu vernebeln. So verhinderte er, dass ich meine Lippen erneut auf sein Drücken konnte, indem er den Zeigefinger auf meinen Mund ablegte.
      “Erst unser Pferd einladen”, grinste Erik vergnügt und begrüßte das Ungetüm. Trymr wedelte wild mit dem Schwanz, wagte es nicht in den Dreck zu hüpfen. Kurz beobachtete ich beiden noch, ehe ich aus der Sattelkammer hinten eine Abschwitzdecke holte sowie Gamaschen und eine andere Halfter. Beim Wühlen fand ich noch zwei Bürsten, die um einiges besser waren als der Dreck in der Werkzeugkiste.
      “Hast du die Papiere und den Equidenpass?”, lugte ich noch einmal vollbepackt in den hinten Abteil des Fahrzeugs. Auf dem Tisch legte er alles aus, was er bekommen hatte. Prüfend fuhren meine Augen die Buchstaben entlang und fanden alles Wichtige.
      “Ach und”, drehte ich mich noch mal um, Erik wollte gerade die Tür wieder schließen, “Danke. Danke für alles.” Dann setzte ich den Weg mit gesenktem Kopf fort, verängstigt, zu viel zu sagen, oder das falsche. Oder seine Reaktion zu sehen, dass ich mich nicht traute meine Gefühle auszudrücken. Im Stall tätschelte Lina weiterhin die angeschlagene Stute am Kopf und Hals. Ihre Ohren hingen locker zur Seite und auch die Unterlippe war vollständig erschlafft.
      “Hier, ich habe noch Bürsten gefunden”, reichte ich Lina eine und nährte mich langsam meinem Pferd. Unglaublich, dieses Pony gehörte nun mir. Ich hatte sie weder intensiv gestreichelt noch geführt, stattdessen nur beobachtet, aber war mir sicher, dass jemand wie Erik, der überhaupt keine Ahnung hatte, nur Sicherheit bei dem richtigen Tier verspürte. Maxou stellte die Ohren auf und stupste mich an der Jacke an, aus der sie vorhin bereits ein Leckerli bekam.
      “Möchtest du noch eins?”, fragte ich ins Blaue und kramte nach einem weiteren. Noch immer vorsichtig nahm sie es mit der Lippe von meiner flachen Hand und kaute langsam vor sich hin. Denn Moment nutze ich, ihr das eklig verdreckte Halfter abzunehmen, dass ich an den Haken vor der Box hängte. Erstaunlich, dass die Frau noch immer nicht im Stall auftauchte, wenn es danach hing: Im Hänger wäre noch ein weiterer Platz frei. Auffällig unauffällig schweifte Blick durch die Gasse, hielt Ausschau nach einem weiteren Kandidaten. Doch nichts Interessantes erblickte ich.
      “Ihre Hufe sehen genauso schlimm aus, wer hätte das nur gedacht”, sprach ich leise zu Lina, als ich die Hufe auskratze. Die Hufwand wuchs bereits merklich über die Eisen hinweg, Ringe waren zur Erleichterung meinerseits nicht zu sehen. Ein Rehe Pony hätte mir noch gefehlt.
      “Ja, armes Tierchen. Aber es hätte sie noch deutlich schlimmer treffen können, zumindest äußerlich lässt sich nichts erkennen, was sich nicht mit ein bisschen Pflege wieder geradebiegen ließe”, entgegnete sie und strich mit sanften Bürstenstrichen über das helle Fell.
      “Da wird sicher noch vieles mehr in ihr stecken”, verstummte ich schließlich. Von der Seite nahm ich die Gamaschen und legte sie vorsichtig an ihre Beine. Mehrmals zuckte sie nervös am ganzen Körper, schlug mit dem Schweif und legte sogar die Ohren an.
      “Alles gut, kleine Maus”, versuchte ich sie sanft zu beruhigen. Behutsam ging ich voran, bis sich mich schließlich an ihren Beinen gewähren ließ. Neugierig knusperte sie an meinem Dutt herum. Schief schielte ich zu ihr, aber konnte den Spaß nicht ablehnen, den sie mit dem großen Haargummi hatte. Lina legte genauso vorsichtig die Decke über das Pferd. Zu guter Letzt fehlte noch das ordentliche grüne Halfter für die Fahrt. Dann schnappte sich meine Kollegin noch die beiden Bürsten, somit waren wir fertig.
      Nur kläglich folgte Maxou aus der Box, aber mit einem weiteren Leckerli konnte ich sie genügend davon überzeugen. Ihre Hinterbeine hob sie ungewöhnlich hoch und stolzierte wie ein Storch durch den Matsch. Den Rest ließen wir sorglos liegen in der Stallgasse, würde ehrlich gesagt auch gar nicht weiter auffallen. Auffällig leuchtete der ganze Transporter und Lina öffnete die Rampe an der Seite. Langsam fuhr sie nach unten. Skeptisch tänzelte Maxou, baute sich am Hals hoch auf und stieg einige Zentimeter in Luft. Ich ließ ihr den Raum, den sie wollte, aber zupfte vorsichtig am Strick. Ihre kurze und ungerade geschnittene Mähne wehte im Wind, wie auch die Decke. Neugierig musterte sie dann doch die Gummiklappe und stürmte von selbst hinauf, drehte sich sogar in Fahrtrichtung hinein. Meine Brauen zogen sich überrascht noch oben zusammen.
      “Das ging schnell”, überlegte ich laut und drückte mit Lina die Rampe nach oben, nachdem ich Maxou ausreichend im Inneren befestigte und die Zwischenwand schloss. Ich überprüfte noch alle anderen Türen, ob sie ausreichend gesichert waren, ehe ich ebenfalls einstieg.
      Fröhlich begrüßte mich Trymr, jaulte, als wäre ich seit Wochen nicht mehr bei ihm gewesen, aber erwiderte die Reaktion aus vollem Herzen. Das Tier genoss die unverdrossene Einheit von Liebe. Im Schlusslicht sprang er zu Lina, holte sich eine weitere Streichelei ab.
      “Liebling”, quietschte ich viel zu laut und er nahm die Hand vors Ohr, an dem ich mich hinüberbeugte.
      “Wie ist dir zu helfen, Liebes?”, funkelten seine hellen und verträumten Augen.
      “Denkst du, Fredna würde sich darüber freuen, noch heute in mein trautes Heim zu kommen?”, schmunzelte ich. Überrascht drehte Erik sich stärker zu mir, schien vor Glück kein weiteres Wort mehr aus dem wohlgeformten Mund pressen zu können, stattdessen schloss er seine Augen und zog mich an sich heran. Er wusste genau, dass ein einfacher Kuss reichte, um mich zu überwältigen und die Lust zu entflammen. Aber ich zügelte mich und alles an wilden Gefühlen, die fürs Erste in den Hintergrund rücken sollten.
      “Meine Schwester erzählte bereits, dass sie mich vermisst, aber wohl auch dich. Na gut, es waren mehr die Pferde, die sie damit versuchte wiederzusehen”, feixte er. Ich nickte, drehte mich um und blickte prüfend durch das Fenster zum Pony. Maxou stand entspannt im Transporter. Kurz dachte ich nach, aber entschied mich ein Bild zu machen und nach Jahren wieder etwas auf Instagram zu posten. Sie war es wert der Welt präsentiert zu werden. Auch Lina scrollte gerade durch ihre Timeline, als ich mich dazu setzte, da Trymr sich auf der anderen Bank belagerte. Unbewusst huschte mein Blick auf ihr Gerät, beobachtete genau, was sie likte und in den Kommentaren nachlas. Natürlich versuchte ich mit aller Kraft ihr den nötigen Freiraum zu geben, aber meine Neugier ließ sich nur selten bändigen.
      Ich entschied mich dazu mich etwas mehr über das Pferd zu informieren, griff also nach dem Equidenpass und durchblickte den nichts aussagenden Stammbaum. Keins der Pferde kam mir auf Anhieb bekannt vor, wie auch? Ihre Mutter war ein französisches Pony und ihr Vater ein Hengst aus Spanien, laut dem Internet als Jährling aus Portugal gekauft. Heute steht er an der Grenze zu Frankreich am Mittelmeer. Ein warmes Gefühl breitete sich aus und versetzte mich in angenehmere Gebiete der Welt. An meinen Füßen spürte ich den Sand eines Strandes und zwischen den Zehen die Wellen des Meeres, während in der Nase der Duft von Fisch und Salz dominierte. Winter macht traurig und die wenigen Sonnenstunden im schwedischen förderten es noch mehr. Ich seufzte. Den Browser schloss ich und bemerkte die kleine zwei am Nachrichtendienst. Verwundert darüber drückte ich auf das grüne Symbol und bemerkte, dass der Unbekannte geschrieben hat. Langsam schielte ich durch den Transporter. War es der richtige Augenblick? Eigentlich hatte ich mit Lina bereits festgestellt, dass nichts an dem Kontakt falsch war. Der Chat war noch offen, so leuchteten die beiden Nachrichten auf: “Verkopf dich nicht so in den Kleinigkeiten, geh offen in die Situation. Du schaffst das”, ich schluckte und sah zur nächsten, “Es fällt mir schwer dich aufzubauen, aber so viel wie ich von dir bisher gelernt habe ist, dass du eine starke Frau bist mit festen Vorstellungen. Also mach’ etwas daraus. Behalte im Hinterkopf, dass ich dich will, so sehr wie nichts anderes. Jede Nachricht von dir bringt mein Blut in Wallungen und auch bei der Arbeit schwebst du in meinem Kopf, du machst mich verrückt. Mir wird warm, wenn ich meiner Fantasie freien Lauf lasse und mir nicht auszumalen weiß, wie die Zweisamkeit wäre. Ich entschuldige, wenn ich das Chaos in dir befeure.”
      Das Handy entglitt mir aus den Fingern und am ganzen Körper begann ein Zittern vor Erregung. Wie konnte er nur? Lina schien sichtlich amüsiert, aber auch verwundert. Ihr Gesicht strahlte noch immer heiter und ich konnte an ihren Augen erkennen, dass sie mitgelesen hatte. Frech!
      “Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?”, versuchte ich ernst zu bleiben, aber kicherte beim letzten Wort doch noch.
      “Nein. Schuldig im Sinne der Anklage”, grinste sie keck, ”Tut mir leid, es war zu verlockend.”
      „Alles gut“, klopfte ich ihr auf die Schulter. Noch bevor ich weitersprechen konnte, vibrierte mein Handy und lenkte kurz meinen Blick in den Schoß, aber beschloss, die menschliche Unterhaltung zunächst fortzusetzen: „Jetzt hast du eine Vorstellung davon, was täglich zu lesen war.“ Ich drückte mich mit Bedacht sehr gediegen aus, um Eriks Aufmerksamkeit nicht noch weiter zu entfachen. Irgendwann würde er es erfahren, sofern es notwendig war, aber so blieb es bei einer netten Bekanntschaft. Doch mein Handy kam nun nicht mehr zur Ruhe. Immer mehr häufte sich das kurze Brummen, hörte gar nicht mehr auf, sodass ich nur rasch den Bildschirm musterte. Instagram nervte, aber wieso? Meine Brauen zogen sich irritiert zusammen und die erste Tätigkeit war es, aus rechten Bildschirmecken die Leiste herunterzuziehen und den ‚Bitte nicht stören‘ Modus zu aktivieren.
      “Wow, das Geräte möchte aber dringend deine Aufmerksamkeit. Was will es denn?”, fragte Lina diesmal interessiert, bevor sie auf den Bildschirm schielte.
      „Gute Frage, lass uns mal sehen“, schlug amüsiert vor. Ich entsperrte den Bildschirm und zog dieses Mal aus der rechten Ecke die Leiste herunter. Mittlerweile stapelten sich die Benachrichtigungen, davon waren über hundertzwanzig von Instagram, was mich schon ziemlich überforderte und zwanzig weitere aus der engen Vereinsgruppe. Wie konnte denn so viel auf einem Mal geschrieben werden? Überrascht drückte ich den Instagram Stapel an, scrollte nach unten, um den Ursprung des Sturms zu erforschen. Mir stockte der Atem als ich las. Auch Lina zog eilig die Luft nach oben. ‚(vriskahisc): niklas.olofsson mentioned you in their story‘ leuchtete groß an letzter Position. Wie ein Fisch am Trocknen schnappte ich noch einmal nach Luft.
      „Sorry“, murmelte ich leise zu ihr und öffnete die Benachrichtigung. Er hatte die Story von Maxou ebenfalls bei sich geteilt und dazu geschrieben:
      > Grattis! Äntligen hästägare!
      „Herzlichen Glückwunsch! Endlich Pferdebesitzer!“
      Ihr Gesicht sah noch immer betrübt aus, aber ehrlich gesagt wünschte man niemanden diesen Sturm an Nachrichten. Neben der übermäßigen Reaktion in Form von Glückwunsch auf meine Story, bekam ich auch Nachrichten, die größtenteils freundlich gesinnt waren, aber auch, was ich denn mit ihm zu tun hätte. Diese löschte ich umgehend, aber eine zog meinen Finger besonders magisch an. Die Nachricht beschäftigte mich gar nicht weiter, vielmehr war es ihr Profil. Natürlich war der Feed gefüllt von professionellen Bildern, die mein Kopf aber eher als mittelmäßig abstempelte, denn meine Würden deutlich besser aussehen. Ich klickte mich durch und entdeckte, worauf mein scharfsinniges Auge von Anfang an schielte. Ihr Rappe trug eine pinke Schabracke und darauf gedruckt kleine Otter. Umgehend wischte ich Instagram weg, öffnete Safari und fand mehr darüber heraus. Es gab eine umfassende Kollektion, sogar in vier Farben.
      „Liiiiiiina“, quietschte ich laut und zeigte ihr die Bilder auf der Website, „das sind einfach Otter.“ Meine Augen funkelten fasziniert. Linas Gesicht leuchte volle Begeisterung auf, als sie ganzen Artikel erblickte.
      “Oh, wie niedlich die aussehen”, rief sie entzückt aus, “Ich glaube, das benötige ich ganz dringend für meine Ponys. Sie nur wie herzig das aussieht.” Sie tippte auf ein Bild, auf dem ein zierlicher kleiner Rappe ein pinkes Exemplar unter dem Sattel trug. Ergänzt wurde das Outfit durch farblich passende Fesselkopfgamaschen. Auf einem weiteren Bild trug ein stattlicher Fuchs Halfter, Abschwitzdecken und Bandagen in Gelb, selbstverständlich alles mit Ottern bedruckt, sogar die Bandagierunterlagen, die unter dem Fleece hervorlugten.
      „Na dann“, sagte ich und überlegte bereits welche Größe wohl Maxou benötigte. Aktuell hatte sie hundertfünfundzwanzig auf dem Rücken, dass sie zwar abdeckte aber eine Nummer größer würde ihr guttun. Also entschied ich mich für hundertfünfunddreißig. Für Lubi würde es ebenfalls nur eine Größe zu klein sein, also ein guter Deal.
      „Blau?“, fragte ich Lina trocken, die kurz überlegte, „also für deine Ponys meine ich.“
      “Ja, das sollte auf beiden schick aussehen, wobei die Farben ja alle so schön sind”, schwärmte sie euphorisch.
      „Du kannst dir dann meine Ausleihen“, murmelte ich abwesend und musste bei jedem einzelnen Artikel viermal auf ‚Lägg i varukorgen‘ klicken, um alle Farben von allen zu haben. Linas Augen wurden immer größer, als ich zu guter Letzt noch das Handy hinhielt, dass sie die Rückenlänge ihres Hengstes auswählen konnte. Mit aller Wahrscheinlichkeit würde es auch Redo passen. Damit lagen alle Sachen fünfmal im Einkaufswagen und schnell tippte ich alle wichtigen Daten ein wie Adresse und Name, bei der Kasse war ich nicht sonderlich beeindruckt von dem mittleren fünfstelligen Bereich, sondern wählte nur die Kreditkarte aus, die ich im Apple Pay registriert hatte. Kauf bestätigt. Deutlich ärmer, aber noch glücklicher wechselte ich zurück auf Instagram, wo die Abonnenten Anzahl stieg, aber auch alles andere. Genervt änderte ich die Benachrichtigungen auf enge Freunde und Leuten, denen ich folge.
      „Sollte Montag oder Dienstag da sein“, wendete ich mich Lina zu, nachdem die Bestätigungsmail ankam.
      “Super, ich freu mich schon”, grinste sie zufrieden, “Was bekommst du?” Irritiert drehte ich meinen Kopf, wusste nicht genau, was sie mit der Frage bezwecken wollte.
      „Nichts?“, strahlten die Fragezeichen in meinen Augen noch heller. Aber auch ihre regten sich wieder nervös, dann zuckte ich mit den Schultern, „genau genommen ist das nicht meins, sondern so Scheine, die ich regelmäßig bekomme, um zu schweigen. Also egal.“
      „Worüber sollst du schweigen?“, mischte sich plötzlich Erik ein.
      „Du weißt, dass das so nicht funktioniert. Ich darf darüber nicht reden“, blieb ich vollkommen unbegeistert.
      „Liebes, wir sind doch unter uns“, versuchte er weiter eine Antwort herauszukitzeln.
      „Was für unter uns? Jeder von hier hat ein Telefon, du bist irgendwas zwischen kriminell und Gesetzeshüter und Lina sogar mit einem zusammen. Ich sage hier gar nichts ohne einen Anwalt“, monoton, oder eher wie einstudiert, sprach ich weiter. Viel zu interessant war es zu beobachten wie aus den ursprünglich tausend, erst zweitausend wurden und in Hunderten Schritten weiterliefen. Wie konnte der Kerl so viel Aufmerksamkeit erregen und was erhofften die sich bei mir? Mein Feed bestand aus einem Pferdebild, das ich mit Glymur am Strand hatte, aus der ersten Woche in Schweden, sonst aus City Touren oder Partybilder. Interessant für Pferdeleute keinesfalls.
      „Du sagst das jetzt“, wurde Erik ernster, wollte es einfach nicht auf sich beruhen lassen, sogar das Fahrzeug wurde langsamer.
      „Man, muss das jetzt sein? Ich darf nicht darüber sprechen, sonst würde ich das Blutgeld nicht haben“, rollte ich mit den Augen. Der Transporter hielt auf dem Seitenstreifen der Fernstraße. Ich nutzte den Moment, um mich kurz vom Gurt zu lösen und einen prüfenden Blick zu Maxou zu werfen, die noch immer wie die Ruhe selbst dastand. Die Augen fielen immer wieder zu, ihr Hinterhuf aufgestellt. Dann setzte ich mich zurück.
      „Vivi, wärst du so freundlich uns mehr zu erzählen“, forderte er bestimmt. Ich seufzte.
      „Papa hat genauso viele Leichen im Keller wie deiner, wovon ich einige kenne und auch verursacht habe, um bessere Verträge auszuhandeln. Damit aber keiner erfährt, was ich getan habe oder musste, schweige ich und bekomme die“, ich überlegte, „ich glaube, dass es um die fünfzigtausend Kronen sein müssten, also das, was ich gerade bezahlt habe.“ Dann schwieg ich und überdachte, was ich da gerade herunter gerattert hatte. Zählte das schon in die Schweigepflicht? Eigentlich nicht, reflektierte ich.
      „Geht doch“, schmunzelte Erik und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Ich fühlte mich urplötzlich wieder seltsam bedrängt, unwohl in meiner eigenen Haut. Verspürte, dass etwas nicht so lief wie geplant und auch Lina vernahm diese schlechten Gefühle. Unsicher strich sie mir über das Bein mit einem Lächeln auf den Lippen.
      „Aber“, setzte er wieder an. Ich seufzte und schüttelte abwertend mit dem Kopf, was er natürlich nicht sehen konnte.
      „Was musstest du denn tun?“, hakte er nach.
      „Ich denke nicht, dass das ein Thema für so viele Ohren ist“, sprach ich pikant und formte ein Sorry in ihre Richtung auf meinen Lippen, „außerdem, was ist dein Ziel? Willst du ein Druckmittel?“
      „Liebling, das nennt man Unterhaltung und sowas tut man, wenn man sozial ist. Aber doch, Lina wird schon niemanden davon erzählen, ansonsten“, Erik verschluckte die Worte, aber in meinem Kopf endete der Satz umgehend mit Erpressung. Schwierig. Wie konnten wir hier eigentlich landen?
      „Der erste Abend bei Vidar beschreibt es ganz gut, nur, dass du nicht da warst“, murmelte ich und sprach es aus dem Dunst heraus. Plötzlich stoppte das Fahrzeug wieder. Langsam wurde der Faden aus Geduld kürzer und vor allem dünner.
      „Ernsthaft? Das hat er von dir verlangt?“, schockiert sah Erik zu uns nach hinten über die Lehne der vorderen Sitzreihe.
      „Du doch auch“, zuckte ich mit den Schultern, vollkommen kalt und distanziert von allem. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, deutlich be- und getroffener als zuvor. Sinnlos stammelte er, versuchte die richtigen Worte zu finden. Stumm stand ich auf, löste wieder den Gurt und legte meine warmen Hände an seinen Kopf.
      „Es ist okay“, flüsterte ich vertraut und drückte leidenschaftlich meine Lippen auf seine, wollte nicht, dass er sich weiter in den Worten verrennt und schlimmstenfalls am Ende für immer verschwand. Alle meine Sinne verschwanden im nächsten Moment, zumindest die, die noch da waren und nicht von der inneren Kälte eine heillose Gleichgültigkeit ausgelöst hatten, als er langsam mit seiner Zunge in meinem Mund eindrang. Es fühlte sich an, als entzünde sich die vollständige Lust in ihm und Lina wäre gar nicht mehr anwesend. So beendete ich frühzeitig die Liebelei und hoffte auf das Verständnis aller. Peinlich berührt erröteten meine Wangen und ich setzte mich zurück zu ihr, den Trymr schlief noch immer auf seinem königlichen Platz. Wann waren wir endlich bei Fredna?
      “Ja, also danke für deine Großzügigkeit”, kam Lina wieder auf das ursprüngliche Thema zurück, als hätte es die Konversation eben gar nicht gegeben. Ihr war anzumerken, dass sie nicht so Recht wusste, wie das Ganze einzuordnen war, also überging sie es einfach.
      „Oh, selbstverständlich!“, grinste ich nun wieder, vollkommen verändert in der Stimmung, „gern. Wenn noch was ist, dann jetzt.“ Freute ich mich und sah erneut auf meine Abonnentenzahl, die sich langsam bei knapp dreitausend einpendelte. Seltsames Gefühl, aber irgendwie auch ein gutes.

      Lina
      “Wirklich beeindrucken, wie du mit einem einzigen Post so viel Aufmerksamkeit auf dich ziehst”, sagte ich anerkennend zu Vriska, als ich einen Blick auf die Zahl erhaschte, die auf ihrem Bildschirm prangte, bevor meine Gedanken abwanderten. Zu viel ratterten mir durch den Kopf. Seltsamerweise war das prägnanteste davon nicht das, was Vriska gerade offenbart hatte oder der Fakt, dass sie gegen jeglichen gesunden Menschenverstand ein Pony für eine vermutlich immer noch zu hohen Preis erworben hatte. Was sie mit ihrem Geld, oder viel mehr Eriks Geld tat, ging mich nichts an und ganz ehrlich, ich hätte die kleine Stute vermutlich auch mitgenommen und wenn es nur dem Zweck gedient hätte ihr ein liebevolles Zuhause zu suchen.
      Nein, viel dominanter war etwas anderes. Das Hochgefühl, welches eigentlich den ganzen Tag vorgeherrscht hatte, hatte urplötzlich einen mächtigen Dämpfer bekommen, allein durch eine winzige Interaktion auf einer Social Media Plattform, so wie sie tausendfach am Tag passierten. Es ist nur ein Repost, da ist doch nichts dabei, versuchte ich mir einzureden, doch es half nichts.
      Wie eine schwere stählerne Manschette legte sich dieses quälende Gefühl um mein Herz und zwängte es ein, sodass es schmerzhaft dagegen pochte.
      Es ging mir nicht um die mediale Aufmerksamkeit, die Vriska damit zuteilwurde, die sollte sie ruhig haben. Der Grund lag viel mehr darin, dass mein Freund noch immer sofort zur Stelle zu sein schien, wenn Vriska irgendetwas tat. Hatte er sich vielleicht nur deshalb für mich entscheiden, weil Vriska sich von ihm abwandte? Was war es nur, was sie an sich musste, eine solche anziehende Wirkung zu haben? Oder lag das Problem viel mehr bei mir? Machte ich irgendetwas falsch? Fehlte etwas an mir? Verdiente ich seine Liebe und Wertschätzung überhaupt? War es das, wie sich Liebe anfühlen sollte? Oder waren meine Vorstellungen einfach von Hollywoodromantik geblendet und verzerrt?
      Allzu deutlich bekam ich immer wieder zu spüren, dass Niklas genervt war, sobald nur ansatzweise meine Bedenken einflossen, also schloss ich sie, fern von jeglichem Tageslicht, tief in mir ein, wollte ihn nicht aufgrund dessen verlieren. Ich war es selbst leid, dass dieser Gedanke sich in mir manifestieren und wie Gift mein Herz zerfraßen, vor allem, weil sie meist vollkommen ohne Indikation auftauchten. Das sollte aufhören, ich wollte so was nicht mehr fühlen, wollte mich einzig fokussieren können auf all die herrlichen Gefühle, die er in mir auslöste. Aber wie nur all dem Negativen entkommen?
      Tief in meine verworrenen Gedanken versunken, hatte ich nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verflog. Sanft leuchte der Schein von Straßenlaternen durch die Fenster, tauchte alles in ein fahles, gelbliches Licht. Wir befanden uns in einem kleinen Wohngebiet, fernab der großen Straße, die noch vor meinem inneren Auge zu sehen war. Es fehlte an Vorstellungskraft, wie wir aus diesem einspurigen Schotterweg wieder herauskommen sollten, aber glücklicherweise musste ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Zwischen einem Spielplatz und einem gelben Haus hielten wir. Niedlich sah das Häuschen aus mit seiner Sonnengelben Fassaden und den weiß gestrichen Fensterrahmen und Dachüberstand. Erik sprang aus dem Auto, um seiner, vermutlich Schwester, das Kind abzunehmen. Die Kleine war müde, aber freute sich sehr ihren Vater wiederzusehen und auch, dass ein Pferd auf dem Transporter klebte. Seine Schwester wies nur wenige Ähnlichkeiten mit ihm auf. Sie war klein, vermutlich noch kleiner als ich, aber stämmig und wirkte bestimmt. Ihre langen braunen Haare vielen offen über die Schultern und bewegten sich sacht im Wind. Kurz entfachte eine Diskussion, ehe Erik wieder einstieg und Fredna auf den Beifahrersitz verfrachtete. Trymr hob den Kopf, den er so eben noch auf seine Pfoten gebettet hatte, gab einige freudige Laute von sich und klopfte mit dem Schwanz, blieb aber auf seiner Bank sitzen. Vriska bekam von all dem nur wenig mit, denn sie war wieder eingeschlafen und ich sah auch keinen Grund sie zu wecken. Während Erik den Motor wieder anließ und das Fahrzeug in Bewegung setzte, sah sich seine Tochter mit großen Augen von ihrem Sitz aus um und brabbelte ein paar unverständliche Worte, als sie Vriska und mich entdeckte. Ein sanftes Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich den Stoffotter entdeckt, der von ihrem Arm hing. Das Plüschtier ließ mich unwillkürlich an die Pferdesachen denken, die wir vorhin bestellt hatten, Fredna würde sicherlich auch ihre Freude daran finden, ganz besonders, wenn diese auch noch an einem Pony waren.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 87.916 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
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    stall.
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    18 Juli 2021
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    Rufname: Fruity
    Alter: 8 Jahre / geboren: März 2014 [8]

    Aktueller Standort: Lindö Dalen Stuteri, Vadstenalund [SWE]
    Unterbringung: Paddock

    –––––––––––––– a b s t a m m u n g

    Aus: Saints Row

    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt


    Von: Wild Cherry
    VMM: Unbekannt ––––– VM: Unbekannt ––––– VMV: Unbekannt
    VVM: Unbekannt ––––– VV: Unbekannt ––––– VVV: Unbekannt


    –––––––––––––– b e s c h r e i b u n g

    Geschlecht: Stute
    Rasse: Barock-Reitpferd (F1) [BRP]
    Farbe: Braunfalbe Splash
    Abzeichen: Scheckungsbedingt (Kopf, 4x Beine)
    Stockmaß: 156 cm

    Charakter:
    gutmütig, geduldig, verfressen

    –––––––––––––– g e s u n d h e i t

    Gesamteindruck: gesund, im Training
    Krankheiten: keine
    Beschlag: Barhufer

    –––––––––––––– z u c h t

    Stand: 22.03.2022

    [​IMG]

    Gencode: Ee Aa Dnd1 nSpl
    DMRT3: CA
    Herkunft: Lindö Dalen Stuteri, Vadstenalund [SWE]
    Züchter: Tyrell Earle

    Zuchtzulassung: Nein
    Zugelassen für: -
    Leihmutterschaft: Nein [-]

    Gesamtnote: -
    Breeders Crown: -
    Gänge: 4

    Nachkommen:
    *17 - reserviert
    *18 - Alone At Night LDS (v. Huracan)
    *20 -
    *21 -


    SK 748


    –––––––––––––– l e i s t u n g

    [​IMG] [​IMG]

    Dressur S [S'] – Springen E [L] – Militay E [L] – Fahren E [E] – Rennen E [E] – Western E [E] – Distanz E [M] – Gangreiten E [M]

    Oktober 2022 Herbstnebel, Dressur S zu S*
    März 2023 Einführungen WE Trail, Western E zu A

    Niveau: National


    [​IMG][​IMG][​IMG][​IMG][​IMG][​IMG][​IMG][​IMG][​IMG]

    –––––––––––––– s o n s t i g e s

    Ersteller: Mohikanerin
    VKR: Mohikanerin
    Bezugsperson: Kimberly
    Besitzer: Kimberly Perssen

    Punkte: _gekört

    Abstammung [2] – Trainingsberichte [5] – Schleifen [9] – RS-Schleifen [0] – TA [2] – HS [2] – Zubehör [2]

    –––––

    Spind – PNG Puzzel Hintergrund