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Mohikanerin

// Erlkönig [1]

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// Erlkönig [1]
Mohikanerin, 8 Sep. 2021
Friese, Bracelet, Snoopy und 7 anderen gefällt das.
    • Mohikanerin
      Zurück in der Heimat | 09. September 2021

      Erlkönig

      Seit Stunden saß ich am Flughafen fest. Ein plötzlicher Frost hatte die deutschen Flughäfen seit Stunden lahmgelegt. Für Erle und mich war es nur ein Zwischenhalt, der nun schon mehr als zwölf Stunden andauerte. Nach Hause zurückzukehren, hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Um mich herum sah ich nur aufgebrachte Leute, Kinder schrieben und das Flughafenpersonal versuchte ihr Bestes, die Fluggäste zu beruhigen. Aus einigen Gesprächen schnappte ich auf, dass sie Termine hatten, wie Beerdigungen oder Hochzeiten. Seltsame Termine für Anfang Januar bei solch eisigen Temperaturen. Müde klammerte ich mich an dem Becher Kaffee, mittlerweile wusste ich nicht einmal mehr, den wievielten ich trank. Ich durfte nicht einschlafen, obwohl ich schon seit neunzehn Stunden auf den Beinen war.
      Die Abreise aus Portugal fiel mir mehr als schwer, aber dort hielt mich nichts mehr. Mein Freund hatte sich von mir getrennt, den ich bei meinem Work and Travel kennenlernte. In den Süden zu ziehen, erfüllte mir einen langjährigen Wunsch, nicht mehr im eingeschlafenen Schweden leben zu müssen. Neben der unerträglichen Kälte, den kurzen Sonnenstunden im Winter und den langen im Sommer, fehlte es an der Geselligkeit. Ja, die Kneipenkultur und Offenheit in der Gesellschaft gab es auch dort, aber es war nicht vergleichbar mit dem, was ich in Portugal kennenlernte. Travaris besaß einen eigenen Pferdehof und bildete mit seinen Eltern Lusitanos aus für den Stierkampf. Anfangs fiel es mir schwer diese Tatsache hinzunehmen, doch je mehr ich die Kultur kennenlernte, umso leichter wurde es. Die Pferde waren hektisch und ungeduldig, aber in der Ausbildung genügsam und lernwillig. Besonders einer der Hengste, Oxidado, hatte im Sturm mein Herz erobert mit einer feurigen Art. Er galt das der Topvererber im Land und ich hatte die Ehre ihn auf verschiedenen Veranstaltungen vorzustellen.
      “Flug LH806 nach Stockholm, Abflugzeit neun Uhr zwanzig. Bitte zum Gate fünf, der Flug wurde freigegeben und startet in dreißig Minuten”, ertönte es aus den Lautsprechern. Erschrocken erhob ich mich aus dem unbequemen Sitz aus der Lobby, schnappte meine Tasche und holte die Unterlagen heraus. Meine Knie waren steif vom stundenlangen Sitzen, aber nun ging es endlich weiter.

      Erle musste für achtundvierzig Stunden in Stockholm-Bromma warten, bis er mit mir zusammen weiterkonnte. Ein kleines drei Sterne Zimmer sehnte mich nach mir, weswegen ich nach der Abholung meines Gepäcks direkt zum Hotel fuhr mit dem Bus. In zwei Tagen würden wir von meiner Mutter abgeholt werden, die sich bereits erkundigt hatte, ob alles gut sei. Schweden war kalt, wirklich kalt. Als ich den Flughafen verließ, schwang ein Gefühl von Heimat durch meinen Körper, etwas, das ich zwar auch Portugal empfand, jedoch weniger intensiv.
      Innerhalb kürzester Zeit schlief ich im Zimmer ein und wachte erst durch das Klopfen der Reinigungskraft auf. Sie war äußerst höflich, entschuldigte sich für Umstände und kam nach der Reinigung eines anderen Raumes erneut. In der Zeit zog mich um, nach dem ich eine warme Dusche genoss. Den Tag über verbrachte ich in der Stadt, traf alte Bekannte, aß gut und besuchte unterschiedliche öffentliche Plätze in der Hauptstadt. Dinge, die man sonst viel zu selten tat.
      Am nächsten Tag nahm ich mir den Rat der älteren Dame zu Herzen und hängte ein Schild an die Türklinke. Als ich ging, nahm ich es wieder ab und setzte die Pläne fort. Für den Abend plante ich in eine Bar zu gehen, kam sogar recht schnell in ein Gespräch, doch als wir zu Thema kamen, dass ich ein Pferd besaß, wurde er komisch. Er schottete sich ab, die Aufmerksamkeit wurde geringer und ich musste allein die Nacht verbringen.
      „Eske —“
      „Eskil. Jag heter Eskil, Mamma “, sagte ich augenrollend zu meiner Mutter, als sie mich freundlich umarmte und gar nicht mehr losließ. Wir standen am Flughafen, wartend darauf Erlkönig empfangen zu können. Mein Fuchshengst hatte seine letzte Einreisekontrolle.
      „Jag är ledsen. Jag glömmer alltid bort det (Es tut mir leid. Ich vergesse das immer)“, entschuldigte sie sich und starrte mich an. Ihr Blick wanderte von oben nach und unten, dann wieder zurück, bis endlich einer der Mitarbeiter mich abholte. Ich ließ meine Mutter allein am Auto stehen, folgte in einen der Hangar. Erle stand gelassen in einer Box neben anderen Pferden, die sich nervös drehten.
      „Det är inget fel på honom. Du kan ta honom med dig (Es ist alles gut mit ihm. Sie können ihn mitnehmen)“, reichte er mir ein Halfter.
      Sanft strich dem Fuchs über den Nasenrücken. Er stupste mich an, drückte mich zur Seite und wollte schnellen Weges aus dem Gefängnis heraus. Kleine Strähnen seiner verwachsenen Mähne wirbelten durch den kalten Wind und auch meine Haare hatten Mühe, sich in Position zu halten. Wir nährten uns immer weiter dem Hänger, seine Schritte wurden größer und hektischer.
      „Men han har bråttom (Er hat es aber eilig)“, lachte meine Mutter, als ich mit dem Wirbelwind ankam. Nervös schnaubte Erle, trat auf der Stelle und stemmte den Kopf nach oben. Freundlich sprach ich auf ihn ein. Meine Worte waren sanft gewählt und mit Bedacht ihn zu beruhigen. Es verging einige Zeit und der feurige Hengst kam zur Ruhe. Mutter hielt ihn fest, damit ich ihm die Decke umlegen konnte und Transportgamaschen. Wir hatten mehrere Hundert Kilometer vor uns, die wir in einer Fahrt schaffen wollte. Bis ich selbst eine Bleibe fand, lebte ich im elterlichen Hause und Erle kam mit zu dem Wallach auf den Paddock.

      © Mohikanerin // Eskil Mattsson // 5482 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Januar 2020}
      Wolfszeit gefällt das.
    • Mohikanerin
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      Springen E zu A | 19. September 2021

      Erlkönig // Streets Of London

      Ich wusste mir kam Brookes neues Pferd bekannt vor. Ich musste mich nur daran erinnern. Ich bereitete gerade das Heu für die Pferde vor als es mir einfiel.

      - Rückblick -

      Es war Anfang September gewesen als ich eine Reitstunde für die beiden mir unbekannten Reitschüler geben sollte. Eskil Mattson hatte mich um eine Beherbergung mit seinem Pferd mit Weiterbildung gebeten und dazu hatte ich noch ein junges Mädchen mit ihrem Springpferd Streets of London, die an der Kontrolle und Distanzabschätzung feilen musste. Eskil hatte mir erzählt, dass er sich im Springen weiterbilden wollte, also hatten wir in den ersten Tagen mit ein Paar Übungen zum Einspringen begonnen. An diesem Tag wollte ich mit ihm dann an den Distanzen üben. In der Halle hatte ich einen Steilsprung und einen Oxer aufgebaut, den man in einer Acht gleich zusammen reiten konnte. Ziel dieser Übung war es die beiden Hindernisse von allen Seiten anreiten zu können und auch in enger werdenden Wendungen anreiten zu können. Während die beiden sich so langsam an den Hindernissen versuchten erklärte ich ihnen was wichtig war. “Das Innere Bein muss mit dem äußeren Zügel immer verbunden sein. So könnt ihr das Pferd besser an den Sprung reiten und es begrenzen. Dabei fragt ihr auch ein wenig die Innenstellung ab, damit ihr in der Lage seid, immer eine schöne Acht zu reiten und beide Hindernisse mitzunehmen.” Lea hatte ihr Pferd dabei deutlich in schönerer Haltung und Kontrolle als Eskil. Erlkönig hingegen war sehr hitzig und zog selbst bei den E-Sprüngen stark an. An dem Tag hatte ich eigentlich nur vor 3 Übungen zu zeigen, die sie auch gut für die Wendungen und Distanzen gebrauchen konnten. Jedoch war es riskant Erlkönig weiterhin so zu Springen ohne, dass er immer so hitzig bleiben könnte. Das Problem hatten wir mit ein paar unserer Pferde auch schon gehabt. Ich baute also auf dem oberen Zirkel vier Cavalettis auf: Auf 12 Uhr, drei Uhr, sechs Uhr und neun Uhr. Zwischen den Cavalettis wollte ich genau sieben Galoppsprünge sehen. Als Eskil sich mit Erlkönig am Anfang an die Aufgabe begab, waren acht Galoppsprünge dazwischen. doch je mehr er meine Hilfen annahm, desto leichter fiel ihm das zügeln von Erl und er konnte ihn mit dem inneren Schenkel und äußeren Zügel mehr biegen. Dann haben wir angefangen von 7 auf 6 Galoppsprüngen und von da an bis 4 runter. Dasselbe musste auch Lea machen, die sich mit Streets of London sogar ein bisschen besser machte. Es war eine Schwierige Übung für die Pferde, da sowohl Rhythmus, Balance und Tempo stimmen mussten, dennoch war sie wichtig. Danach gingen wir wieder zurück auf die sechs Galoppsprünge. Als ich auf die Uhr sah, war die Stunde auch schon um. “Ihr reitet eure Pferde gerade noch trocken und dann habt ihr Feierabend. Ihr beiden habt das gut gemacht. Wenn ihr die beiden Übungen wiederholt, werdet ihr sehen, wie gut eure Pferde sich im Parcours machen werden.”

      © Sosox3 // Nathan Scott // 2903 Zeichen
      zeitliche Einordnung {August/September 2019}
    • Mohikanerin
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      kapitel fyra | 21. Oktober 2021

      St. Pauli’s Amnesia / Forbidden Fruit LDS / Glymur / Erlkönig / HMJ Divine

      Vriska
      Drei Uhr. Morgens. Wildes Gepolter ließ mich aus dem Bett hochschrecken. Das konnte nicht wahr sein! Harlen räumte seine Sachen aus dem großen Koffer, mit dem er anreiste.
      “Oh gut, du bist wach. Sag mal, was zieht man zu so einem Pferdedingsi an. Das oder das?”, vollkommen euphorisch hielt er zwei Kleidungsstücke in meine Richtung.
      “Eher das links”, murmelte ich und zeigte auf den dunkelblauen Blazer. Zustimmend nickte Harlen und legte das Oberteil über die Lehne des Stuhls. Dann griff er nach zwei Hosen, bei denen auch er wieder meine wenig professionelle Hilfe benötigte.
      “Warum fragst du mich das jetzt ausgerechnet? Wolltest du nicht noch die Haare gemacht haben?”, stöhnte ich und packte meine Haare in einen Zopf. Überall hingen die Strähnen heraus. Den Morgen vor einem Turnier stellte ich mir immer romantischer vor. Natürlich war es nicht mein Erstes, aber heute fühlte es sich anderes an. Linas netten Worte hallten noch leise in einem Teil meines Kopfes und auch die Bilder von der Show auf dem Whitehorse Creek hatten sich eingebrannt. Wir hatten tatsächlich Bilder davon bekommen, auch wenn ich auf jedem ein ziemlich unpassendes Gesicht machte, war ich dankbar für diese Möglichkeit. Glymur sah toll aus.
      “Kommst du jetzt, oder willst du dir das Dingsi nur auf dem Handy anschauen?”, neckte mich mein Bruder und zog die Decke herunter. Wo hatte er diese Euphorie her? Erst heult er wie ein Schlosshund, um jetzt wie auf Kokain durch das kleine aber feine Eigenheim zu rennen.
      “Harlen, das nennt man Turnier. Du könntest deiner ausgelaugten Schwester einen schwarzen Kaffee zubereiten”, schlug ich stattdessen vor. Die Decke versuchte zurückzuerobern, was missglückte. Lachend zog er die letzten Millimeter weg. Ein kalter Luftzug strich mir um die Zehen. Das Zeichen nun das warme kuschlige Bett zu verlassen und mich anzuziehen. Fürs Erste reichte eine der Jogginghosen, dem dunklen Kapuzenpullover und irgendein Shirt.
      “Und was Ordentliches hast du nicht parat?”, musterte Harlen meine Outfitwahl und drückte mir meinen Kaffee in die Hand. Ein leicht verbrannter Geruch stieg mir in die Nase, auch eine Nuance von Holz kitzelte meine Duftstoffrezeptoren. Genussvoll schlürfte ich einen Schluck des Heißgetränks. Vor dem Spiegel bewunderte ich mein gewagtes Outfit. Lächelnd entschied ich mich dagegen, etwas anderes überzuziehen.
      “Haben ja, wollen nein. Also komm, wir haben nicht ewig Zeit”, triezte ich ihn und verschwand im Badezimmer, um das Wasserstoffperoxid mit dem violetten Blondier Pulver zu vermischen. Darauf entstand eine elastische blaue Masse, die glücklich auf seinem Haar verteilt werden wollte.
      “Und das wird wirklich nicht gelb?”, erkundigte sich Harlen noch mal.
      “Hatte ich je gelbe Haare?”, verdrehte ich die Augen und trug das Zeug weiter auf. Als sich alles gut verteilte, legte ich eine Folie auf und trank den Kaffee aus.
      “Du machst dir das selbst?”, wunderte sich mein Bruder und musterte er die dicken weißen Haare, die teilweise aus dem Zopf quirlten.
      “Selbst ist die Frau, weißt du”, erklärte ich. Das konnte nun zweideutig betrachtet werden, was Harlen nicht raffte. Sein Hirn war sehr kindlich, beinah naiv. In den Menschen sah er immer das Positive, fühlte, was sie wollten und bot sich dem an.
      “Also in 10 Minuten musst du es ordentlich auswaschen und dann Shampoo. Mich ruft nun ein Pferd im Stall. Wir sehen uns am Auto?”, betonte ich die Wichtigkeit pünktlich vom Hof zu kommen. Mit weichen Knien setzte ich den ersten Schritt vor die Tür. Auf dem menschenleeren Hof herrschte eine unheimliche Stille. An Linas großen Fenstern schimmerte gedämpftes Licht nach draußen und auf dem Vorhängen zeichneten sich verschwommene Silhouetten ab. Sie huschten von links nach rechts. Offensichtlich hatten nicht nur Harlen und ich am frühen Morgen einiges zu tun. Aus dem Stall drang schmetternder Hufschlag auf dem Stein in die Stille. Schnellen Schrittes folgte ich den Geräuschen und entdeckte Tyrell, der verzweifelt versuchte, Fruity Transportgamaschen anzulegen.
      “Je hektischer du an sie herantrittst, umso weniger wird das zum gewünschten Erfolg führen”, schlug ich verwundert vor und griff nach eine der Gamaschen. Schon bei dem bloßen Anblick schlug sie hektisch den Kopf nach oben und der Schweif peitschte gegen die Holzwände der Putzbox.
      “Ach, gehst du jetzt unter die Pferdeflüsterer oder was ist los mit dir?”, fauchte Tyrell.
      “Willst du nicht lieber ins Bett gehen und wir fahren allein?”, deutete ich vorsichtig an. Kleine Blitze flogen in meine Richtung und für einen Moment gewann die Stille wieder ihre Oberhand.
      “Tatsächlich wollte ich darüber noch mit dir sprechen. Ich habe mehrere Termine reinbekommen und Ralle soll Beritt bekommen”, änderte sich sogleich seine Stimmung, unterstützt von einem Gähnen. Zustimmend nickte ich, bekam die Schlüssel in die Hand und dann verschwand er geradewegs aus dem Stall.
      “Jetzt müssen wir wohl allein klarkommen. Was hältst du davon, dass ich dir die hohen Gamaschen befestige anstelle dieser Dinger?”, unterhielt ich mich mit Fruity und zeigte auf die Transportgamaschen. Als verstände sie mich, wippte sie mit dem Kopf. Kurzerhand huschte ich in die Sattelkammer mit einem schnellen Blick auf die Uhr, noch blieb etwas Zeit übrig. Bereits in der zweiten Metallkiste fand ich alle vier Teile des Beinschutzes. Deutlich zufriedener betrachtete sie die hohen Gamaschen und stand geduldig, bis ich fertig war.
      “Ich schaue dann mal noch, ob die anderen so weit sind und ob das Gepäck vollständig ist. Warte hier”, beruhigte ich Fruity noch einmal und trat schnellen Schritts zum Hänger. Auf dem Weg schaltete ich die Außenbeleuchtung an und öffnete erst die Klappe und dann die Seitentür. Der Sattel hing auf seiner Stange, zusammen mit der Trense und auch der Putzkasten fand seinen Platz. Darin befanden sich ebenfalls Gamaschen zum Warmreiten, also waren wir fertig. Im Augenwinkel vernahm ich, dass das Licht erlosch in Linas Fenstern und dumpfe Schritte auf dem Holz lauter wurden. Juliett schleppte sich viel mehr zur Treppe, so früh aufstehen, war sie offenbar nicht gewohnt. Aus dem Stall hörte ich wieder Getrappel. Fruity wurde ungeduldiger und auch mir wurde unwohl im Bauch. Es drückte unangenehm auf Magenhöhe und beim Schlucken brannte es. Vier Stunden Autofahren bei maximal fünf Stunden Schlaf befürwortete keine angenehme Reise.
      „Fruity, ich muss noch schnell was machen, dann gehen wir los, Okay?“, erklärte ich dem Pferd, dass ohnehin kein Wort verstand. Die Stille kam wieder und ich lausche den gedämpften Geräuschen, die in den Stall schwebten. Schweden schlief noch, aber ich fuhr mit vier Leute nach Stockholm, auf ein Turnier, das ich gar nicht reiten wollte. Eine Turnierteilnahme, die Tyrell in die Wege geleitet hatte, um eins seiner besten Pferde zu präsentieren, ohne dabei zu sein. Das bedeutete, dass Lina mir auf dem Abreiteplatz letzte Ratschläge geben müsste. Vor Kummer atmete ich aus und zog mein Handy aus der tiefen Hosentasche. Eilig tippte ich eine sinnlose Nachricht an Erik, die er ohnehin nicht beantworten würde. Mittlerweile wurde unser Chatverlauf so etwas wie mein persönliches Tagebuch, auf das niemand ein Blick warf.
      “Abfahrbereit?”, fragte ich aufmunternd. Ein leises Raunen ging durch die Menge und jeder nahm Platz im Fahrzeug.

      Unbeschadet kamen wir auf dem riesigen Gelände in Stockholm an. Viele bunte Hänger, Autos und Transporter standen geordnet auf der feuchten Wiese. Diverse Reifenspuren übersäten das saftige Grün mit dunkeln Einkerbungen im Mutterboden. Langsam suchten wir einen Platz und Harlen wies mich an einer geeigneten Stelle ein.
      „Stooooooop“, rief es von draußen. Schnell drückte ich in die Eisen und abrupt kam das Gespann zum Stehen. Seltene Töne erhellten meine Ohren – Harlen fluchte. Irgendjemand drängelte sich unhöflich zwischen ihm und dem Fahrzeug auf dem Rücken eines dazwischen. Um Haaresbreite verfehlte ich das Paar, dass mich auf Schwedisch beleidigte. Welch eine Gastfreundlichkeit. Als der Hänger schließlich richtig stand, bauten wir den Paddock auf, entfernen die Zwischenwand aus dem Hänger und Harlen errichtete das Zelt einige Meter entfernt. Juliett schlief derweil auf der Rückbank und bekam von dem ganzen Stress nichts mit. Zu guter Letzt koppelte ich noch das Zugfahrzeug ab und stellte es schützend auf die andere Seite des Zeltes. Wir richteten uns ein. Es gab zwei separate Kabinen, in denen jeweils Platz für fünf Personen war. Das Zelt wirkte beinah wie ein Luxushotel, wenn man die Augen schloss. Nun holten wir auch Juliett aus dem Auto, die vollkommen zerknittern sich aufrichtete und auf eine der Luftmatratzen weiterschlief. Ich für meinen Teil machte mich auf den Weg zum Getränkewagen, um mir einen Kaffee zu holen, der wohl auf einem Turnier wie diesem nicht viel besser schmecken würden, als bei unseren Isländern.
      “Hej, hade du en kort natt också? (Na, hattest du auch eine kurze Nacht?)”, lachte der ältere pummelige Mann mit Bart im Getränkewagen, als er mir eine dünne dunkle Flüssigkeit reichte, die ich ihm mit 30 Kronen entlohnte – Stolzer Preis, für Filterkaffee! Nach dem ersten Schluck wurde mir klar, dass er nicht so schlecht wie erwartet schmeckte, aber dennoch nicht ein Vergleich zu meiner Kaffeemaschine war. Ich lächelte ihm freundlich zu und drehte um. Fruity graste friedlich. In zwei Stunden mussten wir anfangen.
      Für einen Augenblick schloss ich die Augen und wachte im nächsten Moment durch warme Hände auf, die schützend auf meinen Knien lagen. Harlen hockte breit grinsend vor mir. Die Sonne blendete mich und hastig hielt ich meine Hände vor meine Augen.
      “Schätzchen, ich würde dich nicht wecken, wenn du langsam mal dein Pferd fertig machen solltest”, verteidigte er seinen Überfall und half mir aus dem wirklich unbequemen Campingstuhl nach oben.
      “Mh, okay. Wenn das so ist, ziehe ich mich mal um”, gab ich nach verkroch mich ins Zelt. Dort wechselte ich zur weißen Hose und dem dunkelgrünen Jackett, auf dem unser Logo am Rücken aufgestickt wurde. Auf Herzhöhe stand mein Name. Jeder hatte eine Ausstattung bekommen und Tyrell gab ein Haufen an Geld dafür aus, um jedem Mitarbeiter eine ordentliche Bekleidung zu übergeben. Es machte etwas her, doch welche Notwendigkeit es gab, konnte ich mir bis heute nicht ganz erklären.
      Angespannt sah ich mich um. Verschiedene Reiterpaare tummelten sich auf dem Platz. Es lockte auch viele Zuschauer an, denn heute standen diverse Disziplinen auf der Liste, jedoch sah ich bis auf mich niemand, der gar einen barocken Eindruck machte. Zumindest bekam ich diese Informationen. Miss billig betrachteten
      “Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Tyrell mich eine normale Dressur reiten lässt und nichts Akademisches”, sagte ich zu Lina, die ich im Schritt umkreiste.
      “Da hast du leider recht. Ich habe auf der Starterliste gesehen, dass du eine A* Kür vorstellst mit Fruity”, gab die zu. Unglaublich. Er hatte mich angelogen, um mich hier herzubekommen, aber mit welchem Ziel? Wohl kaum, dass das Pferd sich präsentierte, denn sie beherrschte höhere Lektionen.
      „Anstatt dir weiter darüber den Kopf zu verbrechen, solltest du mit Fruity mehr Warmreiten und sie mehr nach vorn bekommen”, half mir Lina, wieder in die Realität zurückzukehren. Am lockeren Zügel trabte ich die Stute an und bleib zunächst auf Zirkel. Etwas mehr versammelt begann ich mit Seitengängen auf der ganzen Bahn und Diagonalen. Nach einer Schrittpause nahm ich die Zügel wieder mehr auf. Fruity hatte einen guten Tag, wie immer eigentlich, sofern keine Transportgamaschen in der Nähe waren. Als ich zum Galopp ansetzte mit einem geplanten einfachen Wechsel, stellte sich ein Reiter auf dem Rücken eines Schecken in unseren Weg. Noch rechtzeitig bremste ich ab und galoppierte auf einer gebogenen Linie um ihn. Hatte ich das gerade richtig gesehen? Prüfend ritt ich einen Übergang in den Schritt, als sich dieser Reiter direkt zu mir gesellte und sich auf meiner Rechten anreihte. Das Pferd kaute zufrieden und streckte sich. Freundlich stupste Fruity sie an, aber wurde mit Nichtachtung gestraft.
      „Weißt du, was mich gewundert hat?“, fragte er und sah mich dabei mit einem verschmitzten Lächeln an.
      “Das ich keine Zöpfe bei einer Stehmähne binden kann?”, blickte ich verwundert zu ihm. Wenn ich ihm in die Augen sehen würde, könnte ich mich darin verlieren und das wollte ich auf jeden Fall verhindern!
      „Warte was? Nein! Eigentlich meinte ich, dass ich dich noch immer um den Verstand bringe“, flüsterte Niklas verspritzt. Woher wusste er das? Hatte Erik ihm das gesagt, oder wie sollte ich das verstehen? Ich sah mich um und bemerkte die Blicke der anderen auf dem Platz. Auch am Zaun tuschelten sie über uns. Lina hatte sich bereits aus dem Sand entfernt, denn es wurden immer mehr Reiter, die teilweise sehr grob ihre Pferde vorantrieben.
      „Warum zur Hölle weißt du das?“, zischte ich leise. Niklas lachte.
      „Wenn du mir sagst, was du meinst, dann beantworte ich dir die Frage“, provozierte er munter weiter, ungeachtet der anderen. Misstrauisch beäugte uns Lina, aber schwieg. Sie wirkte nicht verwundert, dass wir ihn hier trafen. Allerdings hoffte ich bis zum Warmreiten, dass es kein klischeebehaftetes Dressurturnier sein wurde, sondern ein schön kleines mit akademischer Ausrichtung.
      „Boah, wenn du dann Ruhe gibst! Ich stehe irgendwie noch auf dich. Okay? Immer wenn ich dich sehe, wird mir anderes. Irgendwie warm ums Herz und ich vermisse, was wir hatten. Also das körperliche meine ich, denn Rest nicht“, antwortete ich genervt. Was redete ich? Erstaunlich gut fühlte ich mich, wo er es nun auch wusste. Das, was mir bei Lina noch verletzte und schwer im Magen lag, erleichterte sich. Allerdings wünschte ich mir, nicht zwischen tausend Menschen ihm davon zu erzählen, sondern irgendwann bei einem wärmenden Feuer, mit viel Glögg in Eriks Armen und lachend, als eine Art ‘weißt du noch damals’. Stattdessen kochte ich in meinem lockeren zweifarbigen Hemd auf dem Pferd. Die Sonne meinte es gut mit dem Wetter, bei wolkenlosem Himmel und Temperaturen über zwanzig Grad.
      „Ich fühle mich geschmeichelt und wenn es nach mir ginge, könnte man es auch wiederholen“, schmunzelte Niklas. Das seltsame Kribbeln kam wieder. Fiel es ihm jetzt schon schwer, niemandem schöne Augen zu machen oder lag das Problem viel mehr bei mir?
      „Aha“, versuchte ich gelangweilt und desinteressiert zu wirken, obwohl ich am liebsten vom Pferd springen wollte, ihm das wunderschöne Jackett vom Leib reißen und was weiß nur Gott zu tun. Angeekelt von dem Gedanken knurrte mein Magen.
      „Jetzt bist du mir eine Antwort schuldig“, fügte ich hinzu und trieb die Stute energischer, um bei Amy Schritt halten zu können.
      „Da reden wir später drüber, schließlich sollst du für die Prüfung gut gelaunt sein. Denk einfach weiter an mich.“ Wie selbstverliebt wollte er eigentlich noch sein? Als müsse ich nur an ihn denken und plötzlich wurde alles rosarot. Dafür schmerzte es zu sehr, dass Niklas mit Lina zusammen war. Ich brauchte jemanden, der normal war.
      “Wo ist Chris?”, fragte ich schlagartig Niklas, der noch immer im Schritt seine Runden drehte.
      “Der müsste noch am Transporter sein, solltest du nicht übersehen”, antwortete er nach einer kleinen Denkpause. Ich bedankte mich noch und trabte zum Ausgang. Harlen stellte sich mir in den Weg.
      “Wo willst du hin? Du bist gleich an der Reihe”, sagte er verärgert und stellte seine Arme übermotiviert in die Hüfte. Durch glückliche Fügung musste ich mein Anliegen nicht formulieren, denn er lief geradewegs auf mich zu. Hektisch winkte ich und er kaum zu mir. Harlen machte den Weg frei, sah aber noch immer nicht begeistert aus.
      „Was machst du denn hier?“, fragte Chris überrascht und strich Fruity über den kräftigen Hals.
      „Reiten, obviously. Ich muss dich etwas fragen, aber nicht hier“, sagte ich. Er stimmte zu und wir ging zum Platz, auf dem ich gleich einreiten würde. Hier saßen noch mehr Leute, die gespannt auf die aktuelle Teilnehmerin blickten. Unter sich hatte sie einen übermotivierten Hengst, der seinen Teil gut machte, sie jedoch sehr unbeholfen wirken ließ.
      „Aber bevor du was sagst, zieh dich bitte ordentlich an“, musterte Chris mich und reichte mir sein viel zu großes Frack. Ich beäugte es kritisch, aber tauschte es schließlich gegen das Dunkelgrüne. Nun trug ich ein Kleid. War ich damit nicht etwas overdressed in einer A Dressur?
      “Ich reite doch gerade nicht im Team, warum soll ich das tragen?”, informierte ich mich.
      “Es ist auch unser Vereinsoberteil, wenn du genauer hinschaust und schließlich bist du auch in Kalmar. Also musst du das tragen. Aber jetzt sag schon, was ist los?“, grinste er.
      „Wenn ich das wüsste“, murmelte ich verschlossen und konnte nicht so richtig in Worte fassen, was mir gerade durch den Kopf ging.
      „Geht es darum, was du über unserem Prinzesschen geschrieben hast?“, lachte Chris. Natürlich wusste er es. Wenn hatte Erik das wohl noch alles gezeigt? Ju vielleicht? Wo war der eigentlich? Nach einigen hektischen Bewegungen auf dem Pferd, entdeckte ich ihn nicht, nur seine Stute, auf der Niklas noch immer Ritt. Wieder lief es mir kalt den Rücken herunter. Das Publikum klatschte verstohlen, gefallen fanden sie an dem Ritt nicht. Hoffentlich würde ich ihnen sympathisch sein.
      „Junger Mann, sie müssen jetzt leider Vriska verlassen“, kam Harlen freundlich dazu und nahm ihm mein Jackett hat. Ich würde als Nächstes vor dem Publikum reiten. Die Anspannung wurde immer größer, schließlich saß ich vor sechs Tagen das erste Mal auf diesem Pferd und bestritt nun eine Kür, wenn auch nur eine Anfängerkür aus dem barocken Bereich. Von Lina bekam ich noch einige nette Worte auf den Weg und ritt im Trab ein.
      „Ett okänt ansikte träder nu in på arenan. Vriska Isaac på Forbidden Fruit LDS, ett sexårigt barockridningssto, för Ridklubben Kalmar. Lycka till! (Ein unbekanntes Gesicht betritt nun Platz. Vriska Isaac auf Forbidden Fruit LDS, eine sechsjährige Barockhäst Stute, für den Ridklubben Kalmar. Viel Erfolg)“, ertönte es aus den Lautsprecherboxen.

      Niklas
      Mit einem mulmigen Bauchgefühl betrachtete ich wie Vriska mit der hübschen Stute einritt, während die vorherige Reiterin hastig vom Pferd sprang eine Standpauke der Familie kassierte. Eine andere junge Dame riss ihr förmlich die Zügel aus der Hand und führte das nervöse Tier von der Menschenmasse weg. Die Sitze der Arena waren gut gefühlt und selbst ich verspürte eine kleine Aufregung. Es war die erste L-Dressur für Amy. Ju meldete sich seit Kanada nur noch spärlich und auf dem Hof bekam niemand ihn zu Gesicht. Umso erstaunlicher war ich, als die Nachricht kam, ob ich Zeit hätte, Amy vorzustellen. Als sein eigentlich bester Freund unterstütze ich ihn dabei, obwohl ich mir unsicher war, was seine Abwesenheit hervorrief. Die gewählte Musik von Vriska passte zu ihrem Auftritt. Südliche Klänge schallten über den Platz und alle Blicke waren auf das Pferd-Reiter-Paar gerichtet. Dabei bemerkte ich auch Lina.
      „Mamma! Du har klarat det (Mama, du hast es geschafft)“, freute ich als meine Mutter auf ihren hohen Schuhen durch den Sand stampfte und ihre Hand auf meinem Oberschenkel ablegte. Erst nach einem herzlichen Kuss erzählte sie von der schrecklichen Fahrt zum Gelände und wie sehr Vater die Idee hasste, dass sie herkam. Widerlicher Kerl!
      „Jag är ledsen att du inte kan delta med din nya ponny (Es tut mir leid, dass du nicht mit deinem neuen Pony teilnehmen kannst)“, sagte sie sanft und strich Amy über den Hals. Zusammen gesellten wir uns zu den anderen, wenn auch mit Abstand. Der heutige Tag war eine einzige Belastung. In meinem Kopf klang vor gut zwei Wochen unsere Abmachung noch nach einer vielversprechenden Idee, aber nach dem ich alles las, was Vriska belastete und sie für den Bastard empfand, konnte ich das nicht mehr. Mein Rücken schmerzte. Der Kopf fühlte sich an, als hätte ein Schwarm Wespen in ihm ein neues Zuhause gefunden und alle drei Sekunden flog eine Drohne gegen meine innere Schädelwand. Ich wich den Blicken aller aus. Ich hätte das nicht tun sollen. Denn Stress programmierte sich bei einem solchen Vertrauensbruch vor. Und dann war doch noch Lina, der ich auch nicht vor den Augen treten vermag. Wir sahen einander kaum, was verschiedene Gründe hatte.
      „Vad är det som händer med dig, Niki? (Was ist los mit dir, Niki?)“, bemerkte Mama meine Abwesenheit.
      „Äh … Jag är ett rövhål (Ähm … ich bin ein Arschloch)”, murmelte ich ihr zu.
      “Åh, älskling. Det får du från din far (Ach Liebling, das hast du von deinem Vater)”, lachte sie aufmunternd.
      “Men pappa älskar dig, eller hur? (Aber Papa liebt dich doch?)”, fragte ich irritiert. Ihr Lachen verstummte.
      “Niki, du är inte fyra år. Vid det här laget borde du veta att det är svårt med din pappa, men vi står alltid bakom varandra när något är fel (Niki, du bist keine vier Jahre mehr alt und solltest selbst wissen, dass mit deinem Vater schwierig ist. Aber wenn was ist, sind wir füreinander da)”, sprach sie ruhig weiter und legte die Hand wieder auf mein Bein. Mama war eine liebevolle Frau, wenn auch mit alten Idealen. Sie lernten sich damals in der Schule kennen mit sechzehn oder siebzehn Jahren. Keinen Tag getrennt, auch wenn Mama kurz davor war Vater zu verlassen, als sie von Eriks Existenz erfuhr. So ergab es im Nachhinein Sinn, durch seine seltsame Masche hielt er sie zu Hause, obwohl ich mir nichts anderes wünschte, als mit ihr ein schönes Haus zu suchen und aus den Familiengeschäften fernzubleiben.
      “Älskling? Var är din flickvän? (Schätzchen? Wo ist deine Freundin?)”, wechselte Mama schnell das Thema, nach dem durch meinen naiven Gedanken keine Antwort folgte. Mit meinem Kopf nickte in Linas Richtung, die immer wieder ein Blick zu uns warf, aber Vriskas Kür folgte. Wie viel sie von unserem Gespräch auf dem Abreiteplatz mitbekam, wusste ich auch nicht, aber wollte ich auch nicht. Ich hatte meine Triebe nicht im Griff in Vriskas Anwesenheit. Ihre Aura zog mich an, wie Motten vom Licht. Eine Motte, die genau wusste, dass sie sich verbrennen würde und elendige Schmerzen an dem heißen Leuchtstoffmittel erleidet. Sie vergaß es, nur um sich dem Verlangen hinzugeben. So verbrannte auch ich mich jedes Mal aufs Neue, um den Kick zu spüren und am Ende das Häufchen Elend zu sein, dass Mama aufmunterte.
      Ich schwang mich vom Rücken der Stute und lockerte den Sperrriemen des Gebisses um weitere Löcher. Mama nahm mir die Zügel aus der Hand und führte Amy. Sie lächelte. Zu Hause lächelte sie selten, versteckte sich hinter eine Maske aus Gleichgültigkeit und Achtung vor Vater. Beim Essen wird geschwiegen. Der Idiot geisterte immer in meinem Kopf herum, sobald ich Mama sah, vor allem wenn sie mit mir Zeit verbrachte und so viel anderes war, als er. Wenn sie einander nicht mehr liebten, wieso verließ sie ihn nicht? Jeder würde eine tolle Frau sie haben wollen, da war ich mir sicher!
      “Lina, det här är min mamma (Lina, das ist meine Mama)”, tippte ich meinen Zwerg mit einem Grinsen auf dem Gesicht auf der Schulter an.
      “Trevligt att träffa dig. Jag heter Onta (Schön dich kennenzulernen. Ich heiße Onta)”, stellte sich Mama höflich vor und sah herunter zu ihr.
      “Die Freude ist ganz meinerseits. Ich bin Lina”, erwiderte sie aufrichtig und reichte meiner Mutter höflich die Hand. Gerade als ein äußerst offenes Gespräch, zwischen den beiden entstand, übertönte die tobende Masse jedes sonst verständliche Wort. Unsere Augen richteten sich zu Vriska, die im Schritt am langen Zügel vom Platz ritt. Von einem zum anderen Ohr strahlte sie, wenn auch hochrot und vollends außer Atem. Sie warf das Jackett sich, lobte das Pferd und fasste kein klares Wort. Seit unseren gemeinsamen Abenteuern hatte ich sie nicht mehr so glücklich gesehen. Auch auf meinen Lippen bildete sich ein freundliches Lächeln.
      “Vem är den lilla? (Wer ist die Kleine?)”, flüsterte Mama, jedoch so laut, dass Chris es hörte, der sich mittlerweile dazu gestellt hatte. Etwas fernab vom geschehen standen wir und die Stute graste.
      “Sie ist jetzt eindeutig eine Targaryen! Schließlich verwandelte sich ihr Bruder nun endlich in Viserys. Hoffentlich trägt sie nicht auch noch das Drogo Kind in sich”, lachte Chris und sah mich dabei an.
      “Ich schlafe nicht mit meinem Bruder!”, echauffierte sich Vriska verständlicherweise.
      “Wovon sprecht ihr bitte?”, wunderte sich Mama, aber lachte ebenfalls.
      “Unwichtig”, murmelte ich und drehte mit den Augen.
      “Chris, kann es sein, dass du ein wenig zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht hast? Siehst du gleich auch noch ein paar Drachen herumflattern?”, scherzte Lina.
      “Erst mal brauchen wir drei hübsche Eier, zwei hätte ich schon”, bot er an mit nach oben gezogenen Brauen.
      “Chrisantos, ich verbitte mir solch unsittliche Witze”, ermahnte ihn Mama direkt. Jegliche Kommentare unter der Gürtellinie widerte sie an.

      Vriska
      Stolz strich ich Fruity immer wieder über den Hals und versuchte besten Gewissens mich daran zu erinnern, was in der Prüfung passierte. Wir schwebten über den Sand und nach dem Gruß zum Start der Prüfung schalteten sich alle Gedanken. Mein Blick nach vorn gerichtet und es verstummte um mich herum. Alles, was ich noch vernahm, waren die sanften Klänge der lebhaften und sehr feurigen Musik. Bei jeder Transition von tiefen Tönen zu hellen wechselte auch die Gangart oder auch die gezeigte Bahnfigur. Ihre Hufe, die sicher vom Boden emporhoben und sich legte, bestimmten den Takt meines Herzschlages. Wir wuchsen zusammen, nur uns beide gab es noch. Die Umwelt komplett ausgeblendet, folgte ich dem Ablauf der Kür, die wir mit einem Schulhalt beendeten. Es stand nicht im Kürbogen, aber vollendete für mich das, was wir bisher geleistet hatten. Tatsächlich erklärte der Sprecher beim Ausreiten, was ein Schulhalt sei und die Menge tobte. Ich sog die Aufmerksamkeit, wie ein Schwamm das Wasser, in mich hinein und ein Gefühlsausbruch aus Endorphinen übermannte mich, als ich im Schritt auf meinen persönlichen Fanclub zu Ritt. Dass Niklas ebenfalls dabei war, ließ mich kalt und traf mich erst, nachdem Chris unangebrachte Witze machte und es nicht für nötig hielt, meine positive Verstimmung zu akzeptieren.
      „Vivi? Wo ist denn die Schüssel?“, rief mir Harlen beim Wühlen in der Seitentür zu. Ich hatte ihn damit beauftragt das Futter für die Stute zubereiten. Augenscheinlich packte ich den Hänger nicht so gut, wie erhofft, denn auch meine Suchaktion scheiterte. Aus den Grashalmen sammelte Fruity die Müsli-Mischung und Obst auf. Ich beobachtete jeden Bissen und saß mit meiner weißen Reithose im Dreck. Harlen kam dazu.
      „Was bist du denn wieder so betrübt? Dein Ritt war klasse, alle waren begeistert!“, versuchte er mich aufzumuntern.
      „Stimmt schon“, murmelte ich abwesend. Das sanfte Knirschen bei den Kaubewegungen des Kiefers beruhigten mich ungemein. Dabei zupfte ich ebenfalls am Gras, wickelte die Halme um einen Finger, um sie dann voller Wut herauszuziehen.
      „Ist es der Tyri verschnitt, der dir Sorgen bereitet?“, erkannte Harlen meine Schwäche.
      „Kann man so sagen“, entschied ich die Wahrheit zu sagen.
      „Geht es um den Vorfall, der am Feuer angedeutet wurde und unserem Gespräch, dass du dich wegen etwas nicht schlecht fühlst, obwohl es die Gesellschaft so vorschreibt?“ hinterfragte mein Bruder kritische und musterte mich. Ich fühlte mich wie auf einem Präsentierteller, was mir vorhin noch gefiel aber nun eine zusätzliche Last auf meinen Schultern wurde.
      „Wir haben mehrfach miteinander geschlafen, einfach, weil es gepasst hat. Aber wir kommen sonst nicht gut klar, er nervt mich durch seine Art. Das kann ich nicht. Sobald er mit den Geldscheinen wedelt, sind alle direkt bei ihm und bewundern ihn“, schnaubte ich.
      „Vater hat genug dafür gesorgt, dass dir so was egal ist. Aber sag mal, wenn du ihn nicht magst, dann ist er auch nicht dein nicht Freund, der keine Antwort dalässt?“ Harlen legte dabei seine Hand auf meine linke Schulter und seinen Kopf auf die andere. Sanft strich ich ihm durchs trockene Haar. Als hätte Niklas Fledermausohren, stand er neben dem Hänger. Allein. Von unten nach oben sah ich auf. Mein Bruder hatte gar nicht so unrecht mit dem Tyri verschnitt. Rein von den äußerlichen Aspekten sahen sie sich ziemlich ähnlich. Weiße Turnschuhe, enge Hose, lockeres Shirt, Tattoos, kräftig gebaut und dazu ein markantes Gesicht mit einem gepflegten Bart. Nicht zu vergessen, die Wortgewandtheit. Es fehlte nur das Snap Back. Tatsächlich trug Niklas ausnahmsweise etwas auf dem Kopf – Das Cap vom Nationalteam. Als würde sein reines Auftreten nicht für genug Aufmerksamkeit sorgen, schrie nun auch noch das Logo nach ‘Sieh her, wie toll ich bin. Ich reite für das Nationalteam und sehe traumhaft aus.‘ Ekelhaft.
      „Ich bin dir noch eine Antwort schuldig“, sagte er freundlich und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Doch, ich stand ohne seine Hilfe aus dem Gras auf und folgte ihm einige Meter auf dem Weg, bis er stehenblieb und sich bedenklich umsah.
      „Vorher muss ich noch etwas wissen“, formulierte Niklas sein nächstes Anliegen, als sei das alles eine Quizshow.
      „Wie viel denn noch, bis du mir die Frage beantwortest?“, fragte ich genervt und wollte wieder zurück zu Harlen. Ich fiel vom Regen in Traufe. Augenscheinlich ritt ich eine fabelhafte Kür mit allen Elementen, die man für eine gute Geschichte brauchte mit einem fesselnden Spannungsbogen. Die Anerkennung dafür schenkte mir jedoch niemand, stattdessen fühlte sich meine Euphorie wie Selbstüberschätzung, nicht entsprechend meiner Leistung. Als hätte ich die Erwartung der anderen enttäuscht, aber mich im Glauben gelassen, ein verstecktes Talent zu besitzen, dass meinen eigenen Rahmen sprengt. Mich aus der Festung der Einsamkeit entließe und neue Welten eröffnete, um weiter leben zu können. Der Schein trog.
      „Warum sagtest du es mir nicht früher? Es gab so viele Möglichkeiten“, entriss mich Niklas aus meinem Labyrinth der ewigen Trauer. Sein Blick wandte sich von mir und er fummelte an einem losen Ende seines Shirts herum, wischte damit ständig an seiner Hose herum. Kurz schloss ich meine Augen, um der schwingenden Bewegung nicht mehr zu folgen und eine Antwort zu verfassen.
      “Weil mein Hirn es als unvernünftig hält, mit dir weiter Zeit zu verschwenden. Aber dein gnädiger Bruder scheint auch ziemlich viel von eurem Vater zu haben”, schnaubte ich unerwartet. Das wollte ich gar nicht sagen! In meinem Kopf suchte ich noch immer einen Ausweg, um auf den rechten Pfad zurückzukommen. Neben dem ungestillten Verlangen, dass ich in seiner Nähe verspürte, gesellte sich die Angst dazu, ihn zu verlieren. Zu verlieren, was Niklas in mir auslöste und den letzten Funken an Freude endgültig zu verbannen. Mein Pfeil aus unbarmherzigen Worten traf ihn ins Herz. Er biss sich verlegen auf der Unterlippe herum und ballte die Faust, die zuvor noch am Shirt sich festhielt.
      „Ach, wenn das so ist. Erik und ich haben einen Deal. Ich sollte die Nachrichten abfangen, die du ihm schreibst und entscheiden, ob du ihm überhaupt würdig bist. Aber offenbar bist du auch nichts weiter als irgendjemand, der mir eins auswischen will und dafür meinen Bruder benutzen möchte. Er hat es auch nicht leicht, okay? Die Welt dreht sich nicht nur um dich. Diverse Leute fühlen sich belästigt von dir und allem woran du denkst, bist du. Nur du, du und du. Such dir wen anderes, der das erträgt. Wir sind zu gut dafür“, brüllte Niklas mich erkaltet an. Seine glasigen Augen reflektierten das Sonnenlicht wie die Wasseroberfläche eines tiefen Sees. Stumm sah ich zu ihm und hoffte die passenden Worte zu finden, die es nicht gab. Nichts konnte entschuldigen, was ich sagte. Die Leere breitete sich aus und schubste die letzte Hoffnung hinaus nicht nur Niklas als einen Freund in meinem Leben zu haben, sondern auch Erik jemals wiederzusehen. Schnaufend und kopfschüttelnd stieß er mich zur Seite, um wieder zu den anderen zu laufen. Vom Frust zerfressen rief ich ihm noch nach: “Immerhin habe ich Hintergrund im Gegensatz zu Lina.“ Es stoppte ihn. Er überlegte und kam wieder auf mich zu. Drohend fuchtelte Niklas mit seinem Finger vor meinem Gesicht.
      „Hintergrund also? Du meinst eine Firma, die gerade einen großen Skandal in den Medien ausgelöst hat, durch die falsche Beladung eines Schiffes wobei mehrere Tonnen Chemikalien in den Fluss gelangten? Die Firma, die gerade im wahrsten Sinne des Wortes den Bach heruntergeht? Die Firma zu der mein Vater alle Geschäftsbeziehungen gekündigt hat? Lustig. Ich schätze, dein ach so toller Hintergrund bringt dir nun auch nichts mehr“, fluchte er. Das Bedrohliche an ihm ließ mich schwach werden und vollkommen unüberlegt, umklammerte ich mich mit meinen Armen seinen Hals. Niklas stoppte in seinem Ingrimm. Für einen Wimpernschlag überlegte er, aber legte schließlich entschlossen seine Hände fest an meine Hüfte und drückte mich an sich heran, bereit dafür, überrascht zu werden. Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf deinen Lippen aus. Die Welt stand für mehrere Sekunden still, als ich mich in seinen Augen verlor. Sie strahlten in allen Farben des Himmels und die rasende Wut verflog in der Winde.
      „Genau der Hintergrund und jetzt, tu, was du nicht lassen kannst“, flüsterte ich sanft in sein Ohr und küsste dabei langsam den Hals. Ich spürte einen leichten Druck im Bauchbereich und in meine Nase stieg ein Duft von Aftershave, Pferd und Schweiß. Noch bevor es mir gelang, seine Nähe mit allen Sinnen wahrzunehmen, packte mich etwas am Kragen meines Shirts.
      „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber ich brauche die hier“, sagte Harlen übertrieben freundlich und schliff mich zum Hänger. Ich wehrte mich stark gegen den Überfall, aber er ließ mich nicht los. Sichtlich enttäuscht sah Niklas uns nach. Auf meinen Lippen formte sich ‚Hilf mir‘, was er mit einem Kopfschütteln verneinte. Stattdessen grinste er breit und richtete sich unten herum neu ein, bevor er noch einmal provokant winkte und sich umdrehte. Meine Sehnsucht mich ihm hinzugeben wuchs wie ein Geschwür in Windeseile und löste dabei unerträgliche Schmerzen aus. Während das Hirn noch einen klaren Gedanken fassen wollte, legten sich die Arme schützend um meinen Unterleib. Harlen drückte mich unliebsam auf den Campingstuhl vor dem Zelt und verschränkte die Arme. Unsere Blicke trafen sich und ich hoffte ihm ein nachsichtiges Lächeln zu entlocken, was jedoch dafür sorgte mit Missachtung gestraft zu werden.
      „Was stimmt mit dir nicht?“, schaltete ich den Verteidigungsmodus ein.
      „Die Frage sollte ich dir stellen. Ich lass dich nicht mehr aus den Augen, ernsthaft. Du bist doch irre“, schimpfte Harlen ziemlich aufgebracht. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was hatte er damit zu, was Niklas und ich trieben, oder auch nicht. Nichts mehr wünschte ich mir, als die Unterstützung seinerseits.
      „Nachname?“, fragte er im nächsten Augenblick.
      „Was?“, wunderte ich mich.
      „Wie heißt Hulk mit Nachnamen?“, wiederholte er sein Anliegen.
      „Ähm … Olofsson, wieso ist das wichtig?“, versuchte ich dem auf den Grund zu gehen.
      „Wenn du schon so sehr nötig hast, dein Verlangen nach ihm zu stillen, nutze es für etwas Sinnvolles“, lächelte er nun. Ich irre also … dass ich nicht lachte.
      “Also beabsichtigst du mich für etwas auszunutzen, um was genau zu wollen?”, zupfte ich nervös an dem Stuhl herum. Er schien das auch noch nicht so genau geplant zu haben. Wenn Harlen nachdachte und wirklich eine Lösung suchte, folgte er einer speziellen Abfolge von Schritten. Zunächst im Kreis, dann einige Tritte zurück, Richtungswechsel und auf der anderen Erneut. Zwischendurch kniete er sich hin und kratzte sich dabei immer wieder an der rechten Schläfe. Für andere wirkte es willkürlich, was er tat, dich dafür kannte ich meinen Bruder zu Gut.
      “Wie auch immer du es anstellst, sorge dafür das Vidar die geschäftliche Beziehung fortsetzt. Keiner unserer Kunden nimmt solch hohe Mengen ab”, sagte Harlen schließlich und nahm endlich Platz auf dem Stuhl mir gegenüber.
      “Aus welchem Grund sollte ich das tun?”, runzelte ich die Stirn. Mir fiel kein triftiger Grund diese Umweltverschmutzung zu unterstützen. Es widerte mich an und entsprach nicht dem, was ich mir wünschte der Welt zu hinterlassen.
      “Entweder, weil ich dein Bruder bin und eventuell im Gefängnis lande oder weil du nicht möchtest, dass ich Lina von euch beiden erzähle”, grinste Harlen. In seinen Augen funkelte das Böse, dass er keinesfalls von unserer Mutter hatte. Je tiefer ich hineinsah, umso beängstigender wurde die Vorstellung, dass er sich gegen mich auflehnte und mir den Gnadenschuss gab.
      “Und wenn ich es nicht schaffe?”, stimmte ich indirekt zu ihm dieses einzige Mal behilflich zu sein.
      “Dann hast du es versucht, aber bitte. Versuche es”, mahnte er bedrohlich. Ich nickte nur und wendete ich mich von seiner Finsternis ab. Es sollte ein entspanntes Turnier werden mit einer normalen Prüfung und eine daraus folgende Heimfahrt.
      „Warum machst du das mit mir?“, fragte ich weinerlich. Der Schmerz noch einen Teil meiner Familie zu verlieren, jagte mir eine infernalische Angst ein. Den Teil der Familie, der immer bei mir war in schweren Zeiten und nur sich an meiner Seite befand, weil ich danach fragte, auch diesen Abschnitt zu überstehen. Das imaginäre Geschwür in meinem Magen fühlte sich nunmehr nach einem Medizinball an, der mich zu Boden drückte und mich engte. Panisch schnappte ich nach Luft wie ein Fisch am Land.
      “Vivi, höre mir nun ganz genau zu. Bis vier atmest du ein, für sieben hältst du die Luft an und zusammen atmen wir wieder aus. Also eins … zwei … drei … vier”, kam Harlen zu mir und hielt mich an den Händen fest. Mit geschlossenen Augen folgte ich seinen ruhigen Worten, hörte genau hin und konzentrierte mich nur auf ihn. Einatmen durch die Nase, ausatmen durch den Mund mit der Zunge an den Schneidezähnen. Bereits nach der vierten Wiederholung verspürte ich eine Besserung, körperlich und geistig. Der brennende Schmerz in meiner Lunge kühlte ab und die Übelkeit verschwand.
      “Also Vivi, ich tue das wirklich ungern, aber ich muss jetzt auch mal meinen Arsch retten. Hilf mir, bitte”, ersuchte er mich. Den Gefallen meinem Bruder ausschlagen zu wollen, kam mir unangebracht vor. Was würde das schon groß werden? Ich muss ein scheußliches Gespräch mit jemanden führen, den ich vom Hörensagen ziemlich unsympathisch fand und eventuell etwas essen, was überhaupt nicht meiner Vorstellung entsprach. Dieses eine Mal musste ich mich überwinden, um das Richtige zu tun. Um Harlens Willen, nicht wegen der Firma.
      “Okay, ich mache es. Aber du lässt mich jetzt einige Stunden im Zelt allein”, wuschelte ich ihm etwas positiver gestimmt durchs Haar.

      Lina
      Das Gesehen um mich herum nahm ich kaum wahr, lauschte nur mit halbem Ohr den Gesprächen. Je länger ich hier war, umso unwohler fühlte ich mich. Orte mit vielen Leuten mied ich ohnehin schon. Ganz besonders die, an denen ich mich nicht auskannte. Ich hasste es, nicht die nötige Distanz zu den Menschen wahren zu können, fühlte mich eingeengt und befangen. Wenn ich dann doch einmal an einen solchen Ort musste, weil Turniere und Zuchtschauen nun mal unvermeidbar sind, wenn man mit Pferden arbeitet, dachte ich an Zuhause. Nach den paar Stunden oder Tagen würde ich zurück sein, dort wo alles wieder seinen gewohnten Weg laufen würde. Dieser Gedanke hatte mich das alles immer irgendwie durchstehen lassen. Zwar gab es auch hier einen Ort, an den wir morgen zurückkehren würden, aber als Zuhause würde ich das LDS noch nicht bezeichnen. Es war schön, keine Frage, aber wie ein Zuhause fühlte es sich bisher nicht an. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die sich grundsätzlich überall zugehörig fühlte, verspürte ich meist das Gegenteil. Überall hier in Schweden fühlte ich mich fremd. Ich brauchte nicht einmal den Kopf zu drehen, um einen Reminder dafür zu finden, wo ich war. Menschen, die eine andere Sprache sprachen, blau gelbe Flaggen, die träge im Wind flatterten, ein Hinweisschild, ja sogar die verfluchten Wälder. Das, was in den Bergen Kanadas überwiegend Tannenwälder waren, waren hier wie für die skandinavischen Küsten üblich Kiefernwälder, durchsetzt mit Fichten und Birken, die hell zwischen den anderen Bäumen hervortraten.
      Die Geräusche um mich herum verschwammen miteinander, schwollen an zu einem immer lauter werdenden Rauschen. Ich brauchte jetzt dringend einen Moment für mich, ohne tausend Menschen um mich herum.
      "Tulen pian takaisin (Bin gleich wieder da)", murmelte ich meiner Schwester zu, bevor ich mich von den anderen entfernte. Mit einem nicken nahm sie es zur Kenntnis, löste sich aber nicht aus der fachlichen Debatte über den Stil des Reiters, der gerade mit seinem Palomino über den Reitplatz pflügte. Mühsam schlängelte ich mich durch die Massen. Achtete nicht auf die Leute um mich herum, hoffte nur eine ruhige Ecke zu finden. Doch die Leute schienen einfach überall zu sein. Allerorts wuselten Leute hin und her, führten Pferde zurück zu dem Hänger, ritten zum Abreiteplatz. Die Frequenz meiner Schritte nährte sich immer mehr der meines Herzschlages an, bis ich endlich ganz am Rande des Geländes ein einsames Plätzchen fand. Am Füße einer schlanken Birke ließ ich mich in, dass trockene Grad sinken. Der raue Stamm in meinem Rücken bot mir einen gewissen Schutz vor Blicken, falls sich doch jemand hier her verirren sollte.
      Ich schloss die Augen in der Hoffnung die Welt, um mich herum für eine Sekunde zu vergessen. Was hätte ich mir hier nur zugemutet? Mit der Entscheidung nach Schweden zu gehen hatte sich mein gesamtes Leben von einem Tag auf den anderen komplett geändert. Ein neues Land, eine neue Arbeit, neue Leute um mich herum und meine Freunde tausende Kilometer weit weg. Ich war ohnehin schon niemand, der sich schnell an neue Situationen gewöhnte, aber hier fühlte es sich schwerer an, denn je. Der Ort an dem ich die letzten 3 Jahre verbracht hatte, mein Pferd, meine Freunde … All das war nun meilenweit weg. Hier fehlte mir etwas, was mir Orientierung bot, jemand, der mir half mir in dieser Neuen Welt zurechtzufinden. Für Vriska schien ich nur lästiges Beiwerk zu sein, schon in Kanada hatte sie begonnen mich zu meiden und hier in Schweden hatte sich nicht viel daran geändert. Jedes Mal, wenn ich ein Gespräch mit ihr anzufangen versuchte war es nur oberflächlich und endete meist in einem unangenehmen Schweigen. Und Niklas … Nik bekam ich kaum zu Gesicht. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. Nein, nicht jetzt, nicht hier in der Öffentlichkeit. Krampfhaft versuchte ich den trüben Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln, versuchte durchzuatmen, vergeblich. Immer mehr von der salzigen Flüssigkeit staute sich an meinen Augenrändern an, bis sich ein Tropfen von den anderen löste. Auf seinem Weg über meine Wange hinterließ er eine kühle, feuchte Spur.
      Man könnte jetzt sagen: Aber Lina, du hast doch deine Schwester? Ja, hatte ich, aber Juli ist hier genauso fremd wie ich, auch wenn es nicht den Anschien hatte. Ich bewunderte sie für diese Eigenschaft. Wie ein Chamäleon passte sie sich innerhalb von Sekunden an, passte perfekt ins Bild, verlor dabei niemals ihr positives Wesen. Oft wünschte ich mir, ich könne nur ein wenig mehr wie sie sein, adaptiver, beständiger, unbeschwerter. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, kullerten weitere Tränen über meine Wangen und tränkten den Stoff meines Shirts.
      Auf einmal spürte ich etwas Pelziges an meinem Nacken. Eine feuchte Schnauze schnüffelte mir besorgt durch das Gesicht, bevor sie ein riesiger Hundeschädel anschmiegte. Weich spürte ich sein drahtiges Fell an meiner Wange, aus dem ein sanfter Duft nach Kiwi strömte. Normalerweise hätte ich mich wohl drüber gewundert, doch ich war zu überrascht vom Erscheinen des Tieres. Sanft strich ich dem Ungetüm über die Ohren, woraufhin es sich freundlich brummend noch ein wenig fester an mich drückte. Mit der Gegenwart des Hundes wurde mein Herzschlag ruhiger, mein Körper entspannte sich zunehmend und der Tränenfluss versiegte.
      “Wer bist du denn?”, fragte ich den Hund, der mittlerweile neben mir saß, schniefend strich im weiterhin über das graue Fell. Anstatt mir eine Antwort zu geben, sah der Graue mich weiterhin mit seinen freundlich braunen Augen an, als wolle er sagen: “Du brauchst nicht länger traurig sein, ich bin ja jetzt da.” Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das Herz dieses Hundes war wohl mindestens genauso riesig wie seine äußere Erscheinung. Ich nahm das Tier näher in Augenschein. Auch jetzt, wo er neben mir saß, würde er ein kleines Pony mit seiner Größe noch knapp überragen. Zottelig lag das graue Fell am Körper des schlanken Hundes. Irgendwie kam mir der Deerhound bekannt vor … Das letzte Mal begegnete ich einem solchen Hund in Kanada, doch eigentlich war es unmöglich, dass das hier derselbe Hund war, es sei denn … irritiert blinzele ich ein paar Mal und sah erneut hin. Doch, ich war mir sicher, dieser Hund da war Trymr, der Hund von dem Kerl, der bei Vriska Verhaltensweisen hervorrief, die man von ihr nicht kannte. Gleichzeitig war das Herrchen dieses Hundes, aber auch einer der Gründe, die Vriska einiges an Kummer zu bescheren schienen, seit wir wieder in Schweden angekommen waren. Ob sie die scheinbare Anwesenheit ihres langersehnten Herzblattes schon mitbekommen hatte? Na ja, egal, es ging mich nichts an, was zwischen den beiden lief oder vielleicht auch nicht lief. Auffordernd legte der Hund mir eine seiner schlanken Pfoten auf das Bein und beharrte darauf weiter gekrault zu werden.
      “Ich soll also weitermachen?”, lächelte ich und setzte es fort den Hund zu streichen. Es dauerte keine 30 Sekunden, da legte er sich neben mir ab und rollte auf die Seite, damit ich ihm auch den Bauch kraulte. So niedlich wie das riesige Tier dabei aussah, konnte man ihm diese Forderung unmöglich ausschlagen.
      “Genug jetzt Großer, du wirst doch sicherlich schon vermisst. Wo hast du denn dein Herrchen gelassen?”, beendete ich die Schmuseeinheiten und wand den Kopf, um zu sehen, ob Erik irgendwo in der Umgebung zu sehen war. Mürrisch brummte das Ungetüm, erhob sich ziemlich ungeschickt, schüttelte den losen Dreck aus dem rauen Fell. In einer gleichmäßigen pendelnden Bewegung begann sein Schwanz sich zu rühren und zielgerichtete Schritte kam auf mich zu. Ohne den Blick nach oben richten zu müssen, erkannt ich sofort, dass meine Erinnerung an den Hund mich nicht trübte. Langsam kniete er sich hinunter, setzte ein kleines Kind zu Boden, lächelte freundlich. Sie tapste unwillkürlich in meine Richtung, stolperte, stand wieder auf und klammerte sich fest an meine Schulter. Unverständlich stammelte sie etwas auf Schwedisch und plumpste zu Boden. Herzlich lachte sie.
      “Wie ich sehe hat alle funktioniert, willkommen in Schweden. Was sitzt du denn hier so allein?”, wendete Erik sich nun mir zu und reichte höflich seine Hand zur Begrüßung.
      “Ja danke, es hat alles einwandfrei funktioniert. Ich wollte mich auch noch einmal bei dir bedanken, dass du das so schnell in die Wege leiten konntest”, begrüßte ich ihn freundlich, bevor ich auf seine Frage einging. “ Sagen wir mal so: Große Menschenansammlungen sind nicht so mein Ding und dann noch die ganzen neuen Eindrücke hier. Da brauchte ich einfach mal eine kurze Pause von dem ganzen Trubel. Wer ist denn die junge Dame hier, die du mitgebracht hast?” Interessiert erforschte das kleine Mädchen meine Haare, die in einem geflochtenen Zopf über die Schulter fielen.
      “Vad heter du? (Wie heißt du?)”, lehnte er sich zu seiner Tochter, die mich nun mit ihren großen blauen Augen anstarrte und verlegen lachte. “Fredna”, stammelte sie und begann den Gummi aus den Haaren zu fummeln.
      “Hej Fredna, jag heter Lina”, stellte ich mich der kleinen vor, die mich für einen Moment anblickte und sich dann weiter mit dem Haargummi beschäftigte. “Echt niedlich, deine Kleine”, wand ich mich lächelnd wieder an Erik.
      “Danke, aber das war auch nicht viel Aufwand”, scherzte er. Dann übernahm Fredna wieder das Gespräch. Unverständlich stammelte sie einzelne Worte vor sich hin, taumelte zu Trymr, der sich ruhig vor meine gelegt hatte, mit meinem Haargummi in der kleinen Hand. Der Hund erhob seinen Kopf, als sie näherkam, sein Halsband griff und auf seinen Rücken krabbelte. Einzelne Strähnen des Hundes im Gesicht formte sie zu einer Palme und befestigte den Haargummi daran. Wehleidig sah er zu mir hoch, aber regte sich nicht. Fredna lachte wieder und klammerte sich fest an ihm.
      “Är det din tjej? (Ist das deine Freundin?)”, verstand ich nun die Frage, die sie immer wieder stellte, klarer.
      “Lina är en vän, inte min tjej (Lina ist eine Freundin, nicht meine Freundin)”, korrigierte Erik sie und half seinem Hund aus der Klemme. Fredna gefiel das gar nicht, begann zu zetern und Prost einzulegen. Anstelle sich durchzusetzen, ließ er seine Hände von ihr und strich seinem Gefährten über den Kopf. Glücklich über den Erfolg lachte sie wieder.
      “Hon ser ut som en prinsessa (Sie sieht aus wie eine Prinzessin)”, funkelten ihre Augen. Unbeholfen sah ich mich um, schwer mit ihren Worten umzugehen, ihre Intention zu verstehen. Erik erkannte es und machte einen Vorschlag.
      “Fredna, ska vi gå till ponnyerna? (Fredna, wollen wir zu den Ponys gehen?)”, wild sprang sie vom Hund, hüpfte in die Luft und landete auf den Knien. Grasflecken bildeten sich auf der hellen Strumpfhose und sie taumelte wieder zu mir, als wolle sie getragen werden – aber nicht von Papa. Er wollte sie von mir nehmen, als der Protest wieder begann.
      “Weißt du, wo Vriska ist?”, sah Erik sich um.
      “Also meiner letzten Information nach müsste sie noch bei Fruity sein, wenn sie sich dort nicht wegbewegt hat. Ich kann dich gerne hinbringen”, antworte ich ihm nach kurzem Überlegen.
      “Das wäre super, danke”, Erleichterung breitete sich in seinem Gesicht aus, das tiefe Augenringe verzeichnete. Fredna schien schon einige Nächte an seiner Seite zu sein, was nicht viel Schlaf mit sich brachte, jedes Mal, wenn er etwas von ihr verlangte, begann sie sich zu widersetzen, ohne, dass er etwas machen konnte. Es war spürbar, dass Erik sich noch schwertat in seiner neuen Rolle. Wenn ich mir dann noch vorstellte, dass er weiterhin arbeitete, eine echte Herausforderung. Überzeugt heftete Fredna sich an meine Seite, während Trymr vorwärts trabte, um ihr zu entkommen.
      Niklas
      Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, wissend entgegen meiner Prinzipien gehandelt zu haben, spazierte ich zur VIP-Lounge, in der Mama und Chris auf mich warteten, entlang der kargen Buchsbäume, zerfressen von den Raupen des Buchsbaumzünslers, der in den warmen Monaten nun auch seinen Weg von Mitteleuropa zu uns fand. Aus allen Richtungen strömten Menschenmassen entlang der schmalen, sandigen Trampelpfade, drängten sich wild über das Gelände, ungeachtet der Natur. Es war eine Qual mich zwischen all der Buntheit und Diversität zurechtzufinden, von neugierigen, lüsternen Blicken verfolgt, Gottes gleich bewundert zu werden und schließlich die riesige Eingangstür zu betreten, die nicht nur durch spezielle Lesegeräte gesichert war, sondern noch bewacht von mehreren Sicherheitsleuten. In leuchtenden Lettern schimmerte “VIP” über der Milch-glasigen Doppeltür, das hellblaue Licht der Neonröhren spiegelte sich auf den Kacheln am Boden. Aus dem Inneren ertönte Jubel in allen Formen, Klatschen, Trommeln und fröhliches Pfeifen ermutigte mich wieder in meine Welt einzutauchen.
      „Mitt barn! (Mein Kind)“, sichtlich erleichtert, schloss Mama mich in ihre Arme und drückte sich liebevoll an mich, ließ von mir und ihr Blick schweifte von oben nach unten, mehrmals.
      „Det är något fel på honom, tycker du inte det? (Etwas stimmt mit ihm nicht, denkst du nicht auch?)“, richtete sie sich an Chris, von dessen Gesicht das breite, herzliche Lächeln schwand, als wüsste er, dass ich sein Versprechen nicht einhalten konnte. Er bat mich endlich mit Vriska abzuschließen, sie in den tiefen Abgrund der Verdammten zu stoßen, und Erik den Weg freizugeben, aus berechtigten Gründen. Ich versagte auf ganzer Linie. Wie umhüllt von einer lodernden Flamme der Leidenschaft, gab ich mich meinem Verlangen nach, für wenige Sekunden. Die beißenden, vorgeworfenen Blicke der beiden versetzten mich in eine Schockstarre, der Schmerz sie, meine Freundin, die Person der ich nahestand und nur das Beste wollte, vergaß und außer Acht ließ, versetzte mir einen Messerhieb in die Magenregion. Es war mir Ernst mit ihr, wirklich ernst, denn nie zuvor spürte ich derartiges Gefühl. Konnte es möglich sein, dass ich etwas fühlte, das fernab von Befriedigung lag? Etwas, das ich sonst nur aus Erzählungen kannte oder aus Liedern, die im Radio fröhlich trällerten, bevor mein Handy die musikalische Untermalung einer Autofahrt übernahm.
      “Jag har lite smink med mig, så du borde kunna täcka fläckarna (Ich habe Schminke dabei, damit solltest du die Flecken überdecken können)”, eröffnete meine Mama die Realität, in der ich kenntlich Spuren trug von dem kurzen Verlust meiner Geisteskraft.
      „Tack“, bedankte ich mich beiläufig, schnappte mir das kleine Hautfarbene Töpfchen und lief zum Badezimmer. Die besagten Flecken an meinem Hals waren trivial, kaum sichtbar, aber vorhanden, zwei, drei Handgriffe und sie verschwanden wie von Zauberhand. Zumindest so lang, dass niemand mich noch einmal am Hals überfallen würde.
      „Du kommer inte att gilla det jag ska berätta för dig (Was ich dir jetzt sagen werde, wird dir nicht gefallen)“, kam Chris in den Toilettenraum dazu, um sicherzugehen, dass wir allein waren, lief er an allen Kabinen vorbei und stellte sich schließlich neben mich.
      „Jag ringde Erik eftersom det stod klart för mig att du inte skulle kunna förklara för Vriska vad du hade gjort (Ich habe Erik angerufen, denn es war mir klar, dass du es nicht schaffst Vriska zu erklären, was du getan hast)“, sprach Chris halb genervt, halb gelangweilt. Es war ihm Ernst, dass ich sie vergaß und auch nicht weiter in meinem Kopf herumspucken ließ. Das wollte ich auch, wirklich. Aber mit anzusehen, wie jemand, wie er, sie nur mit einem Fingerschnipseln an sich heftete, verschlug mir den Atem. Ich konnte nicht, nein, ich wollte es nicht akzeptieren, dass dieser Bastard immer bekam, was er wollte, vor allem, wenn ich es zuerst hatte. Verärgert schlug ich auf den Rand des Waschbeckens, so sehr, dass es klirrte und ein kleiner Riss in der Keramik sich bildete. Schockiert blickten wir einander an, bis Chris unwillkürlich mich in den Arm nahm.
      “Nu ska du bete dig som en vuxen och släppa taget. Vi kan göra detta tillsammans (Jetzt benimm dich wie ein Erwachsener und lass los. Wir schaffen das zusammen)”, ermutigte er mich mit einem Klopfen auf dem Rücken auf. Ich sah in den Spiegel, ich erkannte, dass es so nicht weitergehen konnte, erkannte, dass ich wenig schlief, mich quälte, obwohl ich die tollste junge Dame an meiner Seite hatte, die man sich nur vorstellen vermag. Dieses ständige ringen mit meinen Gefühlen musste aufhören. Gefühle, die ich den letzten zwei Jahren verstärkt aus meinem Leben verband und versteckte, als müsse ich irgendjemanden beweisen, dass ich die Trennung noch immer nicht verarbeitete hatte. So stürzte ich mich von einer misslichen Lage in die nächste, dachte, Gefallen daran zu haben, obwohl ich nichts anderes wollte, als jemanden an meiner Seite. Jemanden, der mich akzeptierte, wie ich war, ohne auf die äußerlichen Faktoren zu schauen, oder mein Geld wollen. Schluss damit.
      “Tack för att du har funnits där för mig (Danke, dass du für mich da bist)”, umarmte ich ihn erneut und öffnete die Tür zur Lounge, ohne das Waschbecken weitere Beachtung zu schenken. Meine Hand schmerzte, aber ich spürte etwas.
      “Du ser ut som ny, min son (du siehst aus wie neu, mein Sohn)”, freute sich auch Mama mich wiederzusehen. Herzlich lächelte ich sie an, setzte mich mit auf die Couch, um die aktuelle hohe Dressur zu beobachten. Mein Ritt würde erst am späten Abend sein.

      Lina
      “Ponny”, quietschte es begeistert neben meinem Ohr, als wir nur in Sichtweite der Hänger kamen, zwischen denen überall Pferde auf den provisorischen Ausläufen standen. Fredna begann auf meinem Arm herumzappeln wie ein Fisch auf dem trockenen. Am liebsten wäre sie sofort auf das erste Pferd zu gerannt, doch dem Fuchs, der ohnehin schon nervös in seinem Auslauf herumrannte, traute man lieber kein kleines, Pferde-verrücktes Kind zu.
      “Om du väntar ytterligare en minut, Fredna, kan du till och med åka ponny, okej (Wenn du noch eine Minute wartest kannst, Fredna, dann ”, versprach ich der Kleinen und tatsächlich hörte sie auf mit dem Gezappel, stattdessen begann sie fröhlich zu grinsen. Im gleichen Moment hoffe ich, das ich nicht zu viel versprach und Fruity mitspielen würde. Hätte ich Divine hier wäre das kein Problem gewesen, der Hengst liebte Kinder abgöttisch und war in ihrer Nähe auf einmal so vorsichtig als seien sie aus Glas. Die Falbstute hingegen konnte ich nicht wirklich einschätzen, ich hatte sie bisher nur zusammen mit Vriska erlebt, wo sie allerdings einen gelassenen Eindruck machte. Erik lief neben mir her und schien erleichtert sich ein paar Minuten lang nicht um das aufgeweckte Mädchen kümmern zu müssen, die Ruhe sei ihm gegönnt. Am Hänger fand ich eine friedliche Szene vor. Harlen saß vor dem Zelt auf einem der Stühle in ein Buch vertieft, während die barocke Stute entspannt auf ihrem Paddock graste. Von Vriska weit und breit keine Spur. Trymr stand nun schwanzwedelnd vor Vriskas Bruder und erwartete begrüßt zu werden, doch er bekam keine Reaktion.
      “Harlen, hast du eine Ahnung, wo deine Schwester steckt? Ich habe da jemanden gefunden, über den sie sich sehr freuen würde”, tippte ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. In Seelenruhe legte er ein Lesezeichen in sein Buch, klappte es zusammen und drehte sich zu mir um. Musternd schweifte sein Blick an Erik hoch und wieder runter. Langsam nickte er, skeptischen Blickes zum Zelt gedreht.
      “Sie schläft und ich denke nicht, dass sie irgendwen sehen möchte, erst recht nicht irgendeinen Typen”, weißte er uns darauf hin, seine Stimme klang ängstlich, beinah besorgniserregend.
      “Ich bin nicht irgendwer”, beschwerte sich Erik, die Stimme zitternd und das letzte Wort ungewöhnlich lange betont. An seinen Hals pulsierte die Aorta, als fühle er sich durchs Harlens Aussage gedemütigt, vor den Pranger gestellt. Die Hände zur Faust geballt. Von meiner löste sich Fredna, die direkt zu ihrem Vater rannte und ihn an seinem Bein umklammert, sie murmelte etwas Aufmunterndes, dem er keine Beachtung schenkte.
      “Dann bist du, der Nicht-Freund schätze?”, stellte Harlen sich demonstrativ vor ihn, als würden zwei Hähne im nächsten Moment in den Ring steigen. Verwirrt betrachtete ich die beiden und holte Fredna aus der Mitte, die wehleidig hochsah, als wäre sie nicht mehr seine Tochter. Sie löste sich von ihm und ich nahm sie hoch in den Arm. Um sie aus der Situation herauszuhalten, liefen wir einige Schritte weiter zum Paddock, auf Fredna neugierig Fruity betrachtete, die zum Zaun kam und interessiert die Nüstern in ihre Richtung streckte. Freudestrahlend tippelte sie auf das Pferd zu, strich ihr vorsichtig über den Kopf. Mit einem Auge und Ohr folgte ich den beiden Männern, die sich noch immer einen Krieg der Blicke lieferten. Was war denn los mit denen? Keinen der beiden kannte ich so, wenn man die wenigen gemeinsamen Stunden überhaupt ‘kennen’ nennen kann.
      “Vem är det? (Wer ist das?)”, tippte mit Fredna an und zeigte auf die Stute.
      “Äh, det här är Fruity (Das ist Fruity)”, erklärte ich geistesabwesend, aber darauf bedacht, dass der kleinen nichts passierte. Genau wie die Stute, die gelassen auf der Stelle stand. Der Falbe war brav, aber um einiges zurückhaltender als ich es von meinem Hengst kannte. Ivy interagierte richtig mit den Kindern, beschnupperte und beknabberte sie, stupste sie vorsichtig an und gab zur Begrüßung stets ein leises Wiehern von sich. Nachdem die erste Neugierde gestillt war, schien Fruitys Interesse viel mehr darin zu liegen, ob das kleine komische Menschlein etwas Essbares dabeihatte. Natürlich hatte ich ein Leckerli dabei, welches ich Fredna in die Hand gab, damit sie es der Stute hinhalten konnte. Vorsichtig nahm die Stute es von ihrer kleinen Hand. Divine liebte jede Sekunde der Aufmerksamkeit der kleinen Menschen und ließ sich stundenlang putzen und frisieren. Sogar mit nach Himbeeren duftendem Glitzer Fellspray ließ sich der Freiberger liebend gern einschmieren. Allerdings sehr zu meinem Bedauern, denn er und alles was mit ihm in Berührung kam glitzerte noch 3 Wochen danach, wie ein Weihnachtsbaum. Was Fruity von Zöpfchen hielt, würde ich wohl so schnell nicht herausfinden, denn das gab es nicht viel, was man hätte flechten können.
      Die Streithähne, die zuvor noch diskutierten, verstummten. Stattdessen gab Trymr weinerliche, quälende Geräusche von sich, die viel mehr Freude als Trauer bedeuteten. In geduckter Haltung trat nun Vriska hervor, bekleidet mit einem riesigen schwarzen Kapuzen-Pullover, der auf der Vorderseite mit einem Logo bedruckt war, eines Rugbyteams aus London. Verwundert betrachtete ich sie und vor allem das Oberteil näher. Auf der rechten Seite der Brust stand ein Name, den sie bereits in Erzählung erwähnte – Tyri. Auf der anderen Seite das Logo eines Sponsors. Es war so lang, dass ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie eine Hose anhatte oder nicht. Die Kapuze trug sie wie immer auf dem Kopf, die Haare offen aber den Rest des Gesichtes versteckt hinter einer Sonnenbrille. Trymr, der ihr um die Beine tanzte noch immer, bekam nicht mal eine Streicheleinheit, dennoch kämpfte er weiter um ihre Aufmerksamkeit.
      “Shut up”, fluchte Vriska, obwohl keiner etwas seit Sekunden sagte. Sie war müde, wirklich müde. Sie schien nicht einmal den Hund wahrzunehmen oder das dazugehörige Herrchen. Wir sahen sprachlos weiter zu ihr, wie sie leicht taumelnd weiterlief und schließlich neben ihrem Bruder stand.
      “Wieso hast du das Ding noch?”, unterbrach er die quälende Stille.
      “Damit ich weiß, woher ich komme”, murmelte Vriska abwesend und erstaunlich ruhig. Klar, sie sprach nicht immer so viel, wie betrunken, aber sie wirkte erstaunlich zurückweisend. Jeder von uns hatte mehr Freude ihrerseits erwartet, den Angebeteten wiederzusehen, vor allem so überraschend und er war guten Willens hier, dass konnte ich spüren.
      “Vriska?”, stammelte Erik schließlich, legte seine Hänge auf ihre Schultern, die sie direkt wegschlug und einige Schritte zurückwich. Gestern noch wollte sie alles dafür tun, ihn treffen zu können, bei sich zu haben und jetzt tat sie so, als wäre er ein Fremder. Verstehe einer dieses Kind. Langsam nahm Vriska die Sonnenbrille ab. Der schwarze Eyeliner vollkommen verwischt, einen Anblick, den man von ihr traurigerweise schon gewohnt war. Eine Sache fiel mir erst auf den zweiten Blick auf, sie trug ihre Piercings nicht in der Lippe und die Augenbrauen beinah unsichtbar.
      „Was willst du hier?“, fragte sie genervt, mit einem sonst leblosen Gesichtsausdruck. Was auch immer vorgefallen war, es musste schlimm gewesen sein. An dem Ritt mit Fruity setzte niemand etwas aus, ganz im Gegenteil. Sie bewiesen sich zwischen all den Talenten, die auf dem Sand tanzten.
      „Ich … ich wollte dich sehen“, antwortete er irritiert über die Nichtachtung seiner Anwesenheit, auch Trymr hatte mittlerweile akzeptiert, dass sie ihm keine Streicheleinheit schenkte und stand mittlerweile neben mir. Ich tätschelte den Rüden aufmunternd und Fredna war glücklicherweise zu sehr damit beschäftigt, um die Beine der Stute zu tapsen, sie beim Fressen zu beobachten. Und ich? Ich stand wie angewurzelt neben dem Paddock, wusste nicht so recht die Situation zu deuten, aber spürte den Schmerz der Beteiligten. Mehrfach schluckte ich unwillkürlich, spielte an den losen Haaren herum, die nicht mehr in dem mühevoll geflochtenen Zopf waren.
      “Ah okay, hast du ja jetzt. Den Weg zurück solltest du kennen, einfach so, wie du hergekommen bist”, maulte Vriska, setzte die Sonnenbrille auf die Nase zurück und drehte sich um. Doch erstaunlicherweise stoppte ihr Bruder sie, der zuvor genauso wenig begeistert von Eriks Anwesenheit war, wie sie. Irgendetwas flüsterte er ihr ins Ohr, worauf hin sie zwar stoppte, aber weiterhin keinerlei Emotionen zeigte. Erst jetzt merkte sie auch mich, worauf hin zumindest ein kleines Lächeln über die Lippen huschte.
      “Also bin ich jetzt plötzlich würdig? Verstehe. Ich habe keine Lust auf euren komischen Spielchen, also suche dir jemanden anderes, der das alles erträgt”, fauchte sie Erik an.
      “Es ist nicht wie du denkst”, kam seine Verteidigung.
      “Und jetzt erklärst du mir noch, dass dein großer Bruder sonst immer weiß, was er tut und du ihm vertraut hast. Plötzlich einsiehst, dass es nicht richtig war und du um Verzeihung bittest? Denk dir was Besseres aus und dann können wir meinetwegen noch einmal sprechen, aber jetzt geh mir aus den Augen”, packte Vriska aus, was sie auf dem Herzen hatte. Tief in mir vermutete ich schon, dass Niklas wieder einmal seine Finger mit im Spiel hatte. Dass Erik jedoch so unbedacht darauf hörte, konnte man als Enttäuschung betrachten. Es tat mir wirklich leid für sie, dass mein Freund sich wie der letzte Dreck verhielt. Während Vriska wieder den Weg zum Zelt antrat, verharrte er an der Stelle, vollkommen unbeholfen und weiß im Gesicht. Schnell reagierte Harlen und reichte ihm eine Wasserflasche aus dem Kofferraum, die er dankend annahm und austrank.
      “Die bekommt sich wieder ein, keine Sorge”, sagte ihr Bruder aufmunternd und schlug ihm auf die Schulter.
      “Vielleicht wäre es besser gewesen, direkt mitzufahren. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, aber nein. Erst musste ich …“, begann Erik sein Herz auszuschütten, aber Harlen stoppte ihn.
      “Am besten hebst du dir das für später auf, denn mich interessiert es nicht. Alles, was ich sehe, ist meine zu tiefst verletzte Schwester, die dir nachläuft und die letzten Tage andauernd schrieb. Elendig lange Nachrichten darüber, wie sehr sie dich vermisst. Aber von dir nicht einmal ein Lebenszeichen. Also komm mal klar”, schimpfte Harlen. Erik sagte dazu nichts mehr, kam stattdessen zu mir und Fredna. Seine Tochter lief freudig auf ihn zu, lachte fröhlich und wollte hoch auf seinen Arm. In seinen Augen zeichnetet sich der Schmerz ab, aber im Gesicht quälte er sich ein Lächeln auf die Lippen. Er hob seine Tochter auf seine Schultern, bedankte sich bei mir und lief weiter. Richtung der Tribünen bei denen wohl gerade das L-Springen aufgebaut wurde.
      „Es tut mir leid, dass du das mitbekommen musstest. Alles, was sie wollte, war Ruhe, vielleicht solltest du zu deiner Schwester, sie macht sich sicher schon Sorgen um dich“, sprach Harlen mich an und drückte mir eine Plastikkarte in die Hand, auf der ‚VIP Access‘ geschrieben stand. Da würde ich wohl den Rest Truppe finden.
      “Schon gut, ich gehe dann mal die anderen suchen”, antworte ich und entfernte mich noch ein wenig sprachlos von den Hängern. Was auch immer da gerade stattgefunden hatte, es war verdammt unerwartet und in meinen Ohren hatte auch kaum etwas davon nachvollziehbar geklungen, warum auch, es ging mich sowieso nichts an. Ich sollte dringend aufhören alles verstehen zu wollen, denn mit jedem weiteren Tag wurde mir Vriska unbegreiflicher. Die voyeuristischen Blicke einer Gruppe Teenager, die sich in der Nähe der VIP-Lounge herumdrückten, ignorierend schlüpfte ich durch die Milchglastür in die schillernde Welt der High Society. Die Stimmung hier drin war ziemlich gelöst, die meisten schienen schön ziemlich tief ins Glas geschaut zu haben.
      “Tauchst du auch mal wieder auf”, trällerte meine Schwester gut gelaunt. “Aber sag mal, in welchen Wirbelsturm bist du denn geraten?”, fragte sie und macht sich im gleichen an dem zu schaffen, was sich mal mein Zopf nannte. Mit routinierten Handgriffen brachte sie das ganze wieder in Ordnung.
      “Kein Wirbelsturm, eher die Finger eines Kleinkindes”, erläuterte ich den Zustand meiner Haare. Etwas irritiert blickte Juli mich an: “Wo hast du denn bitte ein Kleinkind her?”
      “Ähhh, du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir von Erik erzählt habe? Ihm bin ich eben draußen begegnet mit seiner Tochter, niedliches kleines Ding”, beantworte ich ihre Frage. Von der Seite kam großen Schrittes noch Chris dazu, als hätte er unser Gespräch verfolgt. Als er begann zu sprechen, bestätigte sich meine Annahme.
      “Also ist Erik wirklich da? Ich hoffe, er war schon bei Vriska, sonst wird es heute Abend ekelhaft”, klang er erleichtert.
      “Ja und Ja. Ich glaube aber nicht, dass das den Abend positiv beeinflusst”, gab ich stirnrunzelnd zu bedenken.
      “Bitte sag mir nicht, dass sie schon wieder das allseits bekannte Ekelpaket vorschickte”, fluchte er, wusste natürlich selbst, dass genau das passierte. Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen, bevor ich mich wieder meine Schwester zuwandte.

      Vriska
      Frohen Mutes drückte ich mich hoch aus der Isomatte, halb erschöpft, halb Tatendrang, wühlte ich mich vor zum Reißverschluss. Die Bullenhitze, die im Zelt stand, machte es mir schwer zu atmen, kleine Schweißperlen rannen an meiner hellen Haut herunter, die vom Sommer in Kanada sogar etwas braun war an einigen Stellen. Rasch zog ich mir das Shirt drüber, dass über unserer Tasche lag und der Größe zur Folge von meinem Bruder stammte. Verwundert darüber eine kurze Hose anzuhaben, kämpfte ich mich aus der Hölle heraus ins Freie. Der Himmel getaucht in einen wunderschönen Farbverlauf. An einigen Stellen bereits zugezogen in dunklen Farben, zur anderen Seite strahlten noch die letzten Atemzüge der Sonne.
      “Vivi, du bist wieder unter den Lebenden”, freute sich mein Bruder sichtlich über mein Zugegen sein. Mein Kopf brummte, die Hitze im Zelt stieg mir zu hoch, aber ich hatte noch Aufgaben zu erledigen und in weniger als einer Stunde stand die Siegerehrung an, die darüber entschied, ob ich morgen im Finale reiten würde oder nicht. Natürlich waren die Listen dafür bereits ausgehangen, aber ich wollte mich überraschen lassen, überraschen, ob ich es wirklich geschafft hatte, mich zwischen all den anderen Talenten durchzusetzen, auf einem Pferd, dass ich sonst nur auf dem Paddock betrachtete oder longierte. Fruity, die große Ehre, konnte wirklich was reißen und das tat ich zusammen mit ihr.
      “Ich habe richtigen Müll geträumt”, begann ich Harlen aus der Erinnerung heraus, den Schrecken darzulegen, jedoch unterbrach er mich. Mit einer Bewegung meines Fußes unter dem Auto am Kofferraum öffnete sich die Klappe. Das Wasser befand ich sich noch immer in der Kühltruhe und wartete nur darauf, geöffnet zu werden.
      “Lass mich raten, dein Nicht-Freund war da und du hast ihn zur Schnecke gemacht?”, lachte er verunsichert an dem Stuhl fummelnd. Ich hingegen setzte immer wieder die Flasche ran, sammelte das Wasser in meinem Mund, bevor es kühlend meine Kehle hinunterlief.
      “Woher weißt du das. Nein, sage bitte nicht, dass es kein Traum war, sondern wieder einer meiner Schlaf-Wach-Aktionen, die ich nur peripher wahrnahm.” Ich hoffte, dass ich falsch lag. Aber seine wehleidigen Blicke verrieten alles, die Lippen fest aneinandergedrückt und an den Wangen formten sich niedliche Grübchen, die Stirn gerunzelt. Die leere Flasche warf ich unsanft zurück in den Kofferraum und schloss ihn wieder. Da hatte ich ziemlich viele Sorgen bei allen verbreitet, wenn ich so darüber nachdachte, wer alles davon mitbekommen hat. Aus der Hoffnung heraus, dass unsere Nachbarn kein Deutsch verstanden, lächelte ich einem jungen Mann zu, der verlegen dich wegdrehte.
      “Wir müssen uns jetzt fertig machen”, sagte ich zu Fruity, die müde im Rasen lag und die Augen nur mit Mühe offenhielt. Als ich das Halfter holte, spitzte sie die Ohren, ihre Unterlippe zuckte vergnügt. Ich verspürte den Drang, mich nur zu ihr zu legen, nicht mehr aufzustehen und alles zu vergessen. Vergessen, was ich zu Erik sagte. Vergessen, dass ich mir noch die Hoffnung machte mit Niklas ein Abenteuer zu erleben. Aber so schnell würde es nicht mehr meinen Verstand verlassen.
      “Ich ziehe mir etwas anderes an und solange kannst du noch liegen bleiben, okay?”, versprach ich der Stute und krabbelte in das Saunazelt, um mir zumindest eine Reithose anzuziehen und ein ordentliches Shirt. Harlen saß noch immer vertieft in einem fesselnden Buch im Campingstuhl, ungeachtet des Trubels, der zunehmend die Oberhand gewann im Kampf um die herrschenden Töne. Auch der junge Mann neben uns, sattelte mit einem Dressursattel seinen Fuchs, zog sich etwas eleganter an und stieg neben dem Paddock auf. Interessiert warf ich immer wieder einen Blick nach drüben, musterte ihn. Er trug ein graues Poloshirt, dazu eine weiße weite Reithose, braune Stiefel und dazu passend einem braunen Helm. Vielleicht war eine Möglichkeit zu vergessen.
      “Sehen wir uns gleich?”, fragte er höflich. Überrascht, dass er wohl doch die Aktion vorhin mitbekam, verharrte ich, bis ein zaghaftes Nicken von mir kam. Noch einmal lächelte er breit und ritt im Schritt los. Von der Seite stupste mich Fruity an, als wollte sie mich wieder wachrütteln. Das sanfte Beben ihrer Nüstern beruhigte mich ungemein, ich brauchte keinen Kerl bei mir, nur die Pferde. Sie machten mir keine Vorwürfe, sondern waren stillschweigend an der Seite, treu und genügsam.
      Mit einem kräftigen Schwung legte ich den schweren Sattel auf ihren Rücken und zog den Gurt nur so fest wie nötig, dass er nicht hinunterfiel. Im Anschluss würde ich noch die morgige Kür üben wollen, weswegen ich das Baucher mit aus der Kammer holte und als Gebiss an das Zaum hängte. Geduldig, wie sie war, wartete Fruity, dass ich fertig wurde und aufstieg.
      “Kommst du mit?”, fragte ich auf dem Rücken der Stute hinunter zu Harlen, der das Buch zur Seite legte.
      “Natürlich, als könnte ich das verpassen”, lächelte er.
      Der Himmel verdunkelte sich von jeder Minute zur Nächsten. Im Flutlicht der Hauptarena stellten sich langsam die Sponsoren auf und Helfer, bewaffnet mit Körben und Fahnen, die im schwachen Wind flatterten. Bewusst sah ich nur nach vorn, vermag es mir, die anderen Reiter zu betrachten, die wie in Schwalle der Hoffnung um uns herumritten, in hektischen Tönen auf eine Platzierung bangten. Doch, ich? Ich hoffte auf nichts, wusste das meine Leistungen jedem Training übertrafen und einer der fünf wertvollen Plätze für das morgige Finale mir gehörte. Dann traute ich mich, einen Blick auf die anderen zu werfen. Sie scheuchten ihre Tiere, wie ein aufgebrachter Bienenschwarm, über den Platz, als würde es etwas an der Entscheidung der Richter ändern. Was stand schon auf dem Spiel? Es war eine lächerliche Anfänger-Dressur, die keine Qualifikation benötigte, um weitere Turniere zu reiten, doch jeder tat so, als wären wir auf einen der großen Veranstaltungen.
      “Vivi, es geht los”, holte Harlen mich in die Wirklichkeit, lächelnd und voller Fürsorge. Es lag so viel Vertrauen in seiner Stimmte, dass es beinah beängstigend war ihn, als meinen Bruder zu bezeichnen. Innerlich hoffte ich schon öfter, dass es nur ein Traum war, er adoptierte wurde und wir nicht blutsverwandt. So hätte ich die Liebe zu ihm, als Bruder, auf eine neue Ebene heben können, wahrhaftiger wahrnehmen können.
      Alle Teilnehmer warteten, aufstellt auf dem Hufschlag in Reih und Glied, nur, um gesagt zu bekommen, ob es ein Morgen geben würde oder nicht. Fruity kaute genüsslich auf dem Gebiss, zupfte an den Zügeln und streckte immer wieder den Hals nach unten. Nur wenige der anderen Pferde waren so ruhig, wie sie es war. Sie tänzelten herum, widersetzten sich dem Reiter und traten rückwärts gegen den Zaun. Ihre Menschen, stark verunsicherten, zogen willkürlich an den Zügeln, drückten die Fersen unliebsam in den Bauch oder meckerten mit den Tieren. Mit Gewalt kommt man dabei jedoch nicht so viel weiter.
      Zu den ersten drei gehörte ich nicht, wodurch sich das Gefühl einschlich, mich überschätzt zu haben. Die Truppe verlor auch kein einziges Wort über meinen Ritten, taten so, als wäre das hier ein Spiel oder irgendein lustiger Wochenendkurs, bei dem es nur um Spaß ging, Spaß miteinander zu haben, untereinander. Ich hatte keinen. Alles, was ich sah, waren hilflose Wesen, die danach strebten, ein Teil der Gesellschaft zu sein, Aufmerksamkeit zu bekommen und in irgendeinem Bericht in den Printmedien positiv erwähnt zu werden.
      “ … Vriska Isaac med Forbidden Fruits LDS på fjärde plats …”, hörte ich plötzlich meinen Namen und den meines Pferdes. Freudestrahlend holte ich Fruity unter die Wachenden mit einem kleinen Stoß in die Seite. Im Schritt setzte sie an, blieben bei den anderen drei stehen. Eine kleine Urkunde überreichte man mir, bevor noch der fünftplatzierte dazu ritt. Kurz dachte ich, es sei der junge Mann mit dem Fuchs, aber ich irrte mich.
      “Ich bin stolz auf dich”, die fünf Worte strahlten so viel aus, dass eine Flut aus Freude durch meinen Körper spülte, mich positiv in den morgigen Tag blicken ließ. Es waren nicht nur die Worte, sondern die Person, die sie sagte. Niklas stand neben mir und lächelte, wie den Tag beim Probereiten. Seine Augen funkelten, aber fernab vom Verlangen, viel mehr freundschaftlich und demütig. Wie er da stand, wirkte er so perfekt und unberührt, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich sollte mich mit dem Gefühl arrangieren mit ihm eine Freundschaft zu führen, oder ihn für immer zu hassen.
      “Danke dir”, sagte ich glücklich.
      “Herzlichen Glückwunsch. Ich wusste doch, dass ihr zwei das Meistern werdet”, beglückwünschte mich nun auch Lina und strich der Stute über den braunen Hals. Etwas in mir sagte, dass es richtig war, sie hier zu haben. Nicht nur als Grund von Niklas fernzubleiben, was mir bisher weniger gut gelang, sondern auch als Stütze. Ich bemühte mich am Hof freundlich zu sein, mein Leid für mich zu behalten, aber strafte sie mit Nichtachtung und Schweigen. Das tat mir auch weh.
      “Lina, die Hellseherin, wer hätte das gedacht”, lachte ich und ritt wieder zum Platz. Die Reiter wurden weniger.
      “Ich würde dir gern helfen, aber Amy und ich sind gleich zur L-Dressur auf dem großen Platz. Aber keine Sorge, du schaffst das und ich werde auch ohne deine Anwesenheit den ersten Platz belegen”, schien Niklas mich aufzumuntern. Seine stechenden, heißen Blicke in die Augen lenkten mich ab, so sehr, dass ich in einen der Reiter hineinritt.
      “Titta här! (Achtung)”, beschwerte er sich laut stark, bevor die Entrüstung durch ein freundliches Lächeln abgelöst wurde. Es war der Herr von nebenan, auf seinem Fuchs.
      “Oh tut mir leid, ich hatte meine Gedanken woanders”, sagte ich zurückhaltend, getaucht im Schamrot mit leuchtenden Augen.
      “Ich bin übrigens Eskil, wie soll man dich nennen?”, freute er sich mich wiederzusehen. Die anderen drei Männer neben mir, beäugten das Gespräch kritisch, unsicher, was das hier werden würde. Besonders Harlens Begeisterung hielt sich in Grenzen, obwohl ich nicht viel mehr als höflich war. Hätte ich ihn anmaulen sollen, wie ich es sonst tat? Dafür gab es gar keinen Grund, hingegen aller Erwartungen freute sich mein junges Herz, darüber, endlich mal einen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch nur einen kleinen. Ich stand im Finale und das sollte gefeiert werden, doch zu vor, musste ich noch mal die neue Kür üben, die bereits Elemente der L Dressur beinhaltete. Aufgabe war es, über sich hinauszuwachsen und nicht unbedingt wie viele andere in weißer Bekleidung und Lack-schwarzen Leder durch den Sand zu tanzen, mit nach vorn geworfenen Vorderbeinen. Eine Darbietung, die jeder abliefern konnte mit dem passenden Pferd. Es lockerte die Sache auf, nur gewisse Elemente mit einzubauen, in einer kreativen Zusammensetzung im Zusammenspiel mit dem Pferd.
      “Schön dich kennenzulernen, Eskil. Ich bin Vriska, sag einfach Vivi”, bot ihm an, freundlich lächelte er und ritt voraus. Von der Seite hörte ich Niklas murmeln: “Uns hat sie nie ihren Spitznamen verraten.”
      “Eifersüchtig?”, grinste mein Bruder und folgte mir schnellen Schrittes zum Platz. Wir ließen die anderen hinter uns, als wären sie nicht gut genug für uns, eine Blamage durch und durch. Dem war nicht so, aber es fühlte sich richtig an, sich nicht vor der eigenen Leistung wegzudrücken und den Erfolg zu genießen.
      Auf meinem Handy las ich mir die Abfolge der Aufgaben durch, die Tyrell entwickelte hatte, extra für das Finale. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass kein einfacher Galoppwechsel geplant war, sondern ein fliegender. So etwas bin ich zuvor nie geritten, kannte die Hilfen nicht, wusste nur, dass die Stute bereits soweit geschult wurde.
      “Eskil?”, fragte ich den kräftigen Herrn, der im Schritt nur einige Meter entfernt ritt. Sogleich drehte er sich und lenkte das Schiff eines Pferds in unsere Richtung.
      “Wie kann ich dir behilflich sein?”, erkundigte er sich freudestrahlend, als wäre er der Retter in der Not, aber in meinen Augen einfach der Einzige, der mehr hatte als ich und Harlen zusammen. Sonst gab es niemanden auf dem Reitplatz und ich kannte zumindest seinen Namen.
      “Das mag seltsam klingen, aber ich bin noch nie einen fliegenden Wechsel geritten. Wie mache ich das am besten?”, legte ich mein Anliegen nah. Seine rechte Wange zog sich nach oben, und die markante Kieferpartie strahlte noch stärker in seinem hübschen Gesicht. Ohne etwas zu sagen, galoppierte er den Fuchshengst an, dessen Rasse mir nicht offensichtlich genug war, eher ein gewöhnliches Warmblut, nichts Besonderes, aus dem Stand. Als gäbe es nichts Leichteres, sprang sein Pferd wie von Zauberhand um, die Beine des Reiters gleichmäßig am Bauch und nur durch minimale Einwirkungen in den Bewegungen. Nach dem ersten Sprung galoppierte er auf dem Zirkel weiter und setzte von dort aus erneut in den Wechsel um, dieses Mal eine Serie von Wechseln, die einer nach dem anderen extrem sauber gesprungen waren. Wie es im optimalen Fall aussehen sollte, wusste ich vorher schon, aber das Paar zog mich dennoch in den Bann. Es war nicht wie bei Niklas und Smoothie, die eine Einheit bildeten und zusammenflossen, sondern jeder für sich hatte etwas Besonderes, obwohl ich Füchse nicht mochte. Sie sahen alle gleich aus und auf der Weide in Deutschland damals griff ich grundsätzlich das falsche Pferd.
      “Und jetzt du”, sagte Eskil aufmunternd, was mich viel mehr besorgte, als beruhigte.
      “Ich würde gern, aber ich weiß immer noch nicht, wie der Ablauf der Hilfen ist”, wiederholte ich mein Anliegen, als hätte er mir gar nicht richtig zugehört. Er stellte sich mit seinem Pferd vor mich, damit ich die Hilfen sehen konnte. Dazu erklärte er noch, wann welche folgte und ich jedes auffußen der Hinterhufe mit meinem Gesäßknochen genau verspüren sollte. Seine Worte schalten noch Minuten später in meinem Kopf, denn die Erklärung war grandios, so gut, dass ich bereits beim ersten Versuch eine große Sicherheit verspürte und Fruity von rechts nach links wechselte, ohne dabei nachzuspringen oder an Tempo zuzulegen. Zufrieden lobte ich die Stute mit einem sanften Streicheln über den Hals.
      “Das war wirklich hilfreich, danke”, zollte ich ihm mein Respekt, was er herzlich annahm.
      Es wurde später und später, auch die Temperaturen nahmen ab. Harlen stand fröstelnd am Zaun, wollte mich aber keinen Augenblick allein lassen. Seiner Meinung nach wollte Eskil mich nur ins Bett bekommen, wogegen ich grundsätzlich nichts einzuwenden hatte, meinen Bruder jedoch nicht mitteilte. Ich beruhigte ihn mit irgendwelchen Phrasen, die jeder von uns schon tausend Mal gehört hatte.
      „Vriska?“, sagte lautstark eine mir wohlgesinnte Stimme vom Zaun. Am langen Zügel ritt ich zu dem bärtigen Mann, der niemand anderes als Herr Holm war. Freundlich legte er seine Arme auf dem Zaun ab, direkt neben meinem Freund.
      „Hej“, antwortete ich und bremste Fruity in den Halt.
      „You've already met our newest member of the club, I'm glad you get along“, lachte er freundlich. Verwundert sah Eskil zu mir und auch war überrascht darüber, ihn wohl nun öfter zu sehen. Damit ging mein Plan, irgendwen diesen Abend zu benutzen und dann nie wiederzusehen, wohl nicht mit ihm auf, schade. Dass unser Trainer nichts gegen die Wahl meines Pferdes sagte, verwunderte mich, aber offensichtlich überzeugte ich auch auf den Rücken eines Dressurpferdes.
      “Du bist in auch in Kalmar?”, fragte er lachend.
      “Zufälligerweise ja, aber damit –”, ich stoppte willkürlich. Harlen sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wüsste er, was folgen sollte. Für mehrere Sekunden lieferten wir uns ein Krieg der Blicke, was mir zu verstehen gab, nichts mit dem Typen anzufangen.
      “Eskil, ta inte så lång tid på dig med Erlkönig, festen börjar om en timme, du borde lära känna de andra då (Eskil, mache nicht mehr so lange mit Erlkönig, in einer Stunde beginnt die Party, da sollst du die anderen kennenlernen)”, mahnte Herr Holm und lief weiter zu dem Hauptreitplatz, auf dem mittlerweile Niklas geritten sein sollte.
      “Bist du dann auch da?”, vergewisserte Eskil sich bei mir, als wir im Schritt zusammen die Pferde abritten. Die beiden Tiere verstanden sich gut, keine Zickereien und auch keiner der sich sein Geschlecht entsprechend benahm – im Gegensatz zu uns.
      “Mal sehen, aber vermutlich schon. Schließlich muss die jemand im Griff haben”, lachte ich fröhlich, obwohl ich wusste, dass ich diejenige war, die stets einen Betreuer benötigte, um einen klaren Kopf zu behalten.

      Fruity sammelte wieder ihr Futter zwischen den Grashalmen auf, während Harlen mir einen Vortrag darüber hielt, dass ich mich weniger anzüglich bekleiden sollte und damit nur lüsterne Männer auf mich zog. Er mochte es nicht, wenn ich sehr aufreizend gekleidet war. Ein Abend, die alte Vriska sein, wenn auch nur dieses eine Mal, mehr verlangte ich nicht. Schon tief in den Gedanken eingetaucht, mich volllaufen zu lassen und mir den nächsten Kerl zu schnappen, einen, den ich morgen nie wieder sehen werde. Schließlich ging es nun nicht mehr darum, wer der Auserwählte sein durfte, denn ich hatte mich selbst nicht unter Kontrolle und es wohl dem Kerl geschenkt, der es am wenigsten verdient hatte. Aber im Nachhinein erscheint es nicht schlecht gewesen zu sein, ganz im Gegenteil. Niklas war zärtlich, einfühlsam und überhaupt nicht grob, gar nicht, wie ich es erwartet hatte. Er gab auf mich Acht, überließ mir die Kontrolle, die er sonst nicht abgeben wollte. Die gemeinsame Erinnerung schenkte mir Kraft, wenn auch nur den Willen, ihn mit Lina glücklich zu sehen. Sie hatte es verdient, viel mehr als ich, niemand mehr als sie.
      „Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass du feierst unter so vielen Leuten, die wir nicht kennen“, versuchte Harlen erneut an mein Gewissen zu appellieren. Er wusste nur zu gut, wie die meisten Partys bei mir endeten, dennoch lagen seitdem mehr als drei Jahre dazwischen. Ich hatte dazugelernt, fest entschlossen, mich wohlzufühlen, einfach alles, um mich herum zu vergessen und in Welt der lauten Töne und flackernden Lichter einzutauchen. Genau das brauchte ich, um Erik und Niklas aus meinem Kopf zu jagen.
      „Es ist nicht meine erste Party und ein Kind bin auch nicht mehr“, schnaubte ich euphorisch und bürstete noch einmal die langen Haare durch. Viele blieben in den Borsten hängen, wo kamen die alle her? Je öfter ich über meinen Kopf fuhr, umso mehr wurden es. Das musste der Stress der letzten Tage sein, vor allem, wo noch immer Prüfungen vor mir standen und ich vergnügt auf einem Turnier war.
      „Genau deswegen, außerdem … Erik will dich wirklich an seiner Seite haben.“
      „Es ist mir egal, was der will, okay? Wir kennen uns kaum und nur, weil ich bereit war ihn ranlassen, kommt er jetzt wieder an. Scheint wohl sonst nicht gut bei ihm zu laufen. Nein danke, ich möchte nicht wieder der Knochen von irgendwen sein”, erklärte ich Harlen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich Erik bei mir haben wollte. In der Nacht die Augen zu schließen und zu wissen, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich wollte, jemanden, der wusste, wie es war, allein zu sein, sonst niemanden zu haben. Wir waren uns so ähnlich, dass es bedrohlich war, die Chance nicht zu nutzen, mehr von der Welt kennenzulernen. Diese Chance wollte ich nutzen, auch wenn es bedeutete ihm und mir schmerzen dabei zuzufügen.
      “Warte, was? Du hast schon mit ihm geschlafen? Was stimmt –” Ich unterbrach ihn. “Nein! Nur mit Niklas.”
      “Ach Vivi, du machst es dir wirklich schwer. Entscheide Weise, ich denke, dass du mit Erik einen guten Kerl an deiner Seite hättest”, trichterte er erneut ein. Langsam reichte es von meinem Umfeld jeden Tag hören zu müssen, wie ich etwas entscheiden sollte. Offensichtlich wusste es jeder besser als ich, was es bedeutete, in meinem Körper zu stecken, die Gedanken und Gefühle zu haben, Schmerz zu spüren, jeden verdammten Tag zum nächsten sich zu schleppen.
      “Harlen, sei ruhig. Es ist meine Entscheidung und ich will ihn – nicht mehr sehen. Akzeptiere es”, wiederholte ich mich, ohne mir das Leid in den Worten anmerken zu lassen. Nur für heute, ausblenden, dass es Erik oder Niklas gab. Wieso spuckten überhaupt zwei Typen in meinem Kopf? Es hätte schon gereicht, wenn es einer wäre, den ich nicht vergessen kann. Aber genug! Irgendwen würde ich schon finden, der für eine schnelle Nummer zur Verfügung stand, den Hulk sollte bei Lina an der Seite bleiben.
      “Ich glaube dir nicht, aber okay. Du weißt schon, was du tust”, unterstützte mich mein Bruder endlich und nahm mich in den Arm. Kleine Bartstoppel drückten sich rau auf meine Haut und ein Hauch seines sonst sehr intensiven Geruchs stieg mir in die Nase, es roch nach Zuhause, vertraut.
      “Danke, dass du für mich da bist”, drückte ich mich fester an ihn.
      “Du bist meine kleine Schwester, wie sollte ich dir etwas ausschlagen können”, lachte Harlen vergnügt und zusammen liefen wir zum Tanzsaal in das größte der Hallen auf dem Gelände, dort, wo oben die VIP-Lounge war. In den Himmel flackerten die großen Strahler vom Dach, fröhlich dröhnte elektronische Musik nach draußen, nichts, das mir gefiel, aber Hauptsache laut. Harlen griff nach meiner Hand, hielt sie fest in seiner, blickte mich tief an und zog mich in das Gebäude. Viele Menschen tummelten sich bereits im Eingangsbereich, sprachen vernehmlich über diverse Teilnehmer und als ich mit meinem Bruder an ihnen vorbeilief, begannen sie orphisch über uns zu tuscheln. Ich verstand nicht alle Worte, aber, dass sie uns seltsame Gerüchte abhängten und auch, dass ich diejenige war, die Niklas in Kanada verführte, nur Ju eifersüchtig zu machen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen, ja, sogar ich hatte ihn seit der Ankunft in Schweden nicht mehr gesehen. Am Flughafen stieg er in einen Uber und verschwand. Nachrichten las er, aber eine Antwort bekam man nur, wenn es benötigt wurde. Die Schuld daran zu geben, sah ich nicht ein. Ju war alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tut. Außerdem schien er schon in Kanada nicht mehr so motiviert für die ganze Sache mit den Pferden zu sein, keine Lust mehr auf die Gespräche, Stress und ständiges Unterwegs zu sein. Ich konnte es nachvollziehen, im Gegensatz zu allen anderen.
      Nach der Kontrolle unserer farbigen Bändchen befanden wir uns einen separaten Bereich, einige bekannte Gesichter erblickte bei dem Augenschweif. Chris hatte eine junge Blondine auf seinem Schoß, die ihm sehr wohlgesonnen wirkte. Niklas stand eng umschlossen mit Lina an der Wand, während ihre Schwester sich an einem Trinkspiel beteiligte. Ich fühlte mich nun nicht mehr so wohl bei der Sache, doch als Eskil uns zu sich rief, wurde es in mir wieder ruhiger. Fröhlich trabte ich zu ihm, drehte mich auf der Stelle und warf meine Arme freundschaftlich um seinen Hals. Er legte eine Hand auf meinen Rücken, klopfte diesen.
      “Es ist schön, dass du noch gekommen bist mit deinem reizenden Bruder”, sagte er höflich und lächelte ihn an. Verschmitzt zuckten auch Harlens Lippen. Sie musterten einander, spürte nur ich das? Die beiden hatte eine seltsame Verbindung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Tatsächlich lernte ich bisher nie einen Partner kennen, den er hatte, oder Partnerin. Bisher war ich mir nie sicher, was er wollte, doch jetzt schien es fassbar zu sein.
      “Gefällt er dir?”, flüsterte ich Harlen in seinem Ohr, was er strickt verneinte und mich für verrückt erklärte. Vielleicht spielten meine Gefühle wirklich verrückt, alles drehte sich, eine innerliche Achterbahn durchfuhr mich.
      Herr Holm stellte die Musik leichter und begann uns alle einander vorzustellen. Wenn Eskil sich gut anstellte, könnte er sogar im Nationalteam mitreiten, zumindest, bis er für uns zu alt wurde, was in weniger als drei Jahren so weit sein würde. Erstaunlich, dass er trotz so einer guten Verbindung zu seinem Pferd, erst jetzt die Möglichkeit bekam, das Land zu vertreten. Dann standen noch zwei jüngere Damen mit dabei, die nur schüchtern winkten und kurz sich vorstellten, Zwillinge, Eineiige Zwillinge. Obwohl sie noch vor einer Sekunde ihre Namen nannten, hatte ich sie schon wieder vergessen.
      Kaum endete die Vorstellungsrunde, wurde die Musik wieder lauter und heiter setzten sich alle in Bewegung. Mein Bruder verschwand nach unten, in den öffentlichen Bereich, während ich mich auf einer der Sitzmöglichkeiten hinsetzte und alles zunächst in Augenschein nahm. Hatte ich wirklich gedacht, dass ich für einen Abend eine Reise zurück in mein ein altes Leben konnte, ohne Gefühle, einfach zu Leben? Falsch gedacht. Das funktionierte nicht. Zwischen all den glücklichen Menschen, die einander hatten, fühlte ich mich unwohl. Ich zupfte an meiner Shorts herum, an meinem Shirt, aber natürlich wurde es nicht plötzlich länger.
      “Willst du meine Jacke?”, drückte mir Eskil ein langes, dunkel Stück Stoff in die Hand. Langsam begutachtete ich die Jacke, bedankte mich und legte sie mit über, wie eine Decke. Obwohl mir nicht kalt war, schämte ich mich dafür, so auszusehen, Haut zu zeigen und es interessierte niemanden. Er setzte sich zu mir.
      “Gibt es hier keinen, der mit dir tanzt?”, fragte Eskil aufgeschlossen, als würde er mich fragen wollen. Alles in mir schrie ‘Ja, keiner möchte, doch mein Herz schrie ‘Nein, es wartet jemand’. Es schrie so laut, dass es in meinen Ohren pulsierte, die Musik übertönte und keinerlei Erbarmen zeigte, mir gerecht zu sein.
      “Doch, aber er ist nicht da”, stammelte ich willkürlich, nicht, so wie ich es wollte. Aber in mir blutete es, zerriss mich und der Schmerz verlangte, auf schnellsten Wegen mich in das Zelt zu verziehen.
      “Also hast du jemanden an der Seite?”, die Frage zu beantworten, fiel mir schwer. Die Antwort wäre natürlich nein, ganz offensichtlich, aber ja. Erik schwebte mir durch den Kopf, wie ein Parasit, der sich mein Hirn zum Mittagstisch vornahm. Verzweifelt wischte mir durchs Gesicht. Ich hielt es nicht aus, entschuldigte mich kurz bei Eskil und lief hinaus zur Terrasse. In der letzten Ecke stellte ich mich ans Geländer. Von hier konnte man weit sehen, zu den Lichtern der Stadt und den wunderschön erhellten Wegen des Geländes. Das indirekte Licht schmeichelten der Architektur und Flair. Ich wünschte mit dem Ort bessere Erinnerungen verknüpfen zu können wie meiner Prüfung und nicht dem emotionalen Blödsinn. Aus meinem BH holte ich das Zigarettenetui, dem ich abschwören wollte, aber es nicht konnte. Vermutlich auch gar nicht wollte. Aber mein Feuerzeug war nicht da, freundlich fragte ich eine Frau neben mir, der ich mehrfach mein Geburtsdatum nennen musste, bis sie mir glaubte, dass ich über achtzehn Jahre alt war. Lächerlich bei der Vorstellung, dass Kinder eigentlich rauchen durften, nur der Verkauf nicht zulässig war. Erleichtert nahm ich einen kräftigen Zug vom Glimmstängel, die Lunge brannte und in meinem Hals setzte sich eine kratzige Schicht aus Gift ab, nicht gesund, aber mir egal. Traurig blickte ich wieder zu den bunten Lichtern, als es in meinem BH vibrierte. In dem Ding war echt Platz für alles, der Vorteil darin, kaum Oberweite zu haben.
      „Vriska. Ich dachte, dass ich dir beweisen müsste, ein Mann zu sein. Jemand, wie mein Bruder es ist. Stattdessen habe ich damit alles kaputt gemacht. Die gemeinsame Zeit genoss ich in vollen Zügen und möchte für dich da sein, egal wie schwer es sein wird. Sag mir, was ich tun soll, und ich werde es tun. Egal, was. Bitte, gib mir diese Chance, dir zu zeigen, was du mir bedeutest. Ich habe alles Mögliche getan, um bei dir sein zu können. Auf unbestimmte Zeit wurde ich beurlaubt und könnte von jetzt auf gleich zu dir kommen, solang wie du mich ertragen kannst, sofern du kein Problem mit meiner Tochter hast. Und dem Höllenhund. Bitte. Wenn du dafür bereit bist, dann drehe dich um.
      Gruß, Erik”, las ich unter dem Sternenhimmel die Nachricht, die aufleuchtete, mehrfach. Was sollte ich jetzt tun? Ich stand mit zwei, drei Leuten auf der Dachterrasse des Gebäudes, weit und breit niemand, den um Rat fragen konnte, niemand, der mir diese Entscheidung nehmen konnte. Aus meinen glasigen Augen tropften eine Träne und ich drehte mich um.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 96.667 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel fyra | 21. Oktober 2021

      St. Pauli’s Amnesia / Forbidden Fruit LDS / Glymur / Erlkönig / HMJ Divine

      Vriska
      Da stand er, perfekt wie er war. Getaucht im blauen Licht der kleinen LED-Leisten am Rande des Geländers. Hinter ihm reflektierten die bodentiefen Fenster die Lichter der Stadt, während im Inneren die Leute vergnügt tanzten, lachten und tranken. Das alles, machte es zu einem wunderschönen Abend. Weitere Tränen flossen unaufhaltsamen in meinem Gesicht hinunter und ich schämte mich dafür, ihn abgewiesen zu haben, daran gedacht zu haben, irgendwen für meine Spielchen ausnutzen zu wollen. Es wurde still und wir sahen einander an, niemand von uns beiden sagte etwas. Meine Knie zitterten, vor allem, weil es draußen super kalt war und ich die kluge Idee hatte, eine Shorts anzuziehen, die nicht viel länger war, als eine Unterhose und darüber ein lockeres bauchfreies Shirt. Eskil Jacke hing über dem Geländer, aber ich trug sie nicht. Langsamen Schrittes kam er näher, so wie wir uns das erste Mal sahen. Der graue Anzug schmeichelte nicht nur seine Figur, sondern untermalte seine Autorität, die ihm ansonsten ziemlich fehlte. Die Haare locker nach hinten gegelt und über dem Hemd mit feste, ein blaues längliches Jackett, dass Erik auszog und mir über die Schultern legte. Mit meinen hohen Schuhen fehlte sogar gar nicht mehr viel, um ihn in die Augen zu schauen, ohne eine Genickstarre zu bekommen.
      “Erik, du musst nicht wie dein Bruder sein, sei du selbst, denn so will ich dich”, sagte ich verlegen, hoffend darauf, endlich wieder seine Nähe zu spüren. Ohne zu zögern, legte er seine Hände an meinen Hals, drückte sie sanft zusammen und ich schloss meine Augen. Seine Lippen berührten meine. Alle Zweifel in mir rückten in den Hintergrund, als hätte es nie welche gegeben, als gäbe es nur uns beide, für immer. Das sanfte Kribbeln durchströmte meinen Körper, als würden Ameisen mich besiedeln, denn anders konnte ich es nicht beschreiben. Nur bei ihm hatte ich die Gefühle, nur er brachte mich auf andere Gedanken, auf positive Gedanken. Als Erik von mir absetzte, vermisste ich das Gefühl, dass er auf meinem Mund hinterließ schon wieder. War das Real, oder träumte ich?
      “Aber sag, wo sind deine beiden Begleiter?”, unterbrach ich das Schweigen, noch immer ihm klar vor meinem Gesicht. Er lächelte, die Augen funkelten.
      “Reiche ich dir nicht?”, lachte er vergnügt und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn.
      “Doch – doch! Aber du meintest”, stammelte ich verloren, unsicher darüber, ob es ihm zu direkt war, oder einer seiner gutmütigen Scherze.
      “Sie sind in guten Händen, damit wir etwas Zeit für einander haben”, klärte Erik auf und reichte mir seine Hand. Sogleich griff ich nach ihr, süchtig ihn zu spüren, bei mir zu haben. Auf der Terrasse standen auch bequeme Polstermöbel, die ich mit ihm gerne teilen würde, doch Erik hatte andere Pläne.
      “Wo willst du mit mir hin?”, fragte ich irritiert.
      “Wirst du schon sehen”, schmunzelte er und zog mich in das Getümmel der Leute, die nicht mal unsere Anwesenheit wahrnahmen. Hier waren wir irgendwer, keinem interessiert, wer wir waren oder ob Erik der seltsame kleine Bruder vom großen Olofsson war. Wir waren x-beliebige Leute, die einfach nur durch die Menge taumelten. Im Vorbeigehen schnappte ich mir eine offene Bierflasche, die mich schon aus der Ferne anlächelte. Der erste Schluck vollkommen widerwärtig, doch bereits der zweite lief hinunter wie Wasser und noch bevor wir unser Ziel erreichten, stellte ich die leere Flasche auf einer Mauer ab. Vor dem Haupteingang stoppte er, aus der Puste klammerte ich mich um seinen Hals, spürte das Verlangen, dass auch ihn durchtrieb. Einseitig biss ich auf meiner Lippe, hoffte von ihm zu Boden gerungen zu werden. Dass er seine Prinzipien über den Haufen warf und sich mir hemmungslos hingab, innig und vertraut, nur wir beide, in einer stillen Ecke, oder auch genau hier. Ich konnte mit beides vorstellen, aber er sollte es sein und nicht irgendjemand. Statt mir zu geben, nachdem ich mich so sehr gesehnt hatte, raunte er mir ins Ohr: “Erfolg ist mit den Geduldigen.” Sanft küsste er mich am Hals.
      Wir kamen hinter den ganzen Reitplätzen heraus, auf einer Wiese. Keine Menschenseele in der Nähe, nur wir beide und der Sternenhimmel über Stockholm. Aus einer seiner Hosentasche kramte er eine Kerze, stellte sie in den Rasen und zündete sie an.
      “Es ist nicht viel –”, wollte er die kleine Geste schlechtreden, doch ich legte meinen Finger auf seinen Mund, um ihn zu stoppen. Ein Lächeln bildete sich und seltsam lutschte er ihn ab. Irritiert zog ich ihn weg und wischte die Spucke an seinem Jackett ab.
      “Es ist perfekt”, flüsterte ich und kletterte zu ihm hinüber, im Augenwinkel die Kerze, um sie nicht umzustoßen.
      “Ich würde sagen, dass ihr euch ein Zimmer nehmen solltet, aber hier ist sonst keiner”, hörte ich plötzlich meinen Bruder und sah über Erik zu ihm. Im Dunkeln trat er an uns heran und musterte das Gesehen. Noch immer saß ich auf seinem Schoß, sein Hemd geöffnet und die Krawatte hin locker um seinen Hals. Erik drückte mich an sich, nicht im Begriff von mir zu lassen.
      “Und was möchtest du genau hier?”, fragte ich meinen Bruder.
      “Eigentlich wollte ich nur gucken, ob es dir gut geht, aber das scheint offensichtlich zu sein. Vielleicht wäre es auch gut, wenn ihr ins Zelt geht. Hier ist es nicht nur kalt, sondern dein Pferd hungert. Ihr könnt euch die Zeltkammer teilen, ich schlafe woanders”, grinste er, drehte um und verschwand in der Dunkelheit. Dann wandte sich mich Blick wieder zu Erik.
      “Was denkst du, kommst du mit oder fährst du wo auch immer hin?”, die letzten Worte kamen verlegen aus dem Mund, in der Angst, ihn wieder zu verlieren, wenn auch nur für die Nacht. Es dauerte ungewöhnlich lang, bis er mir antwortete, als hätte darüber noch nicht nachgedacht, was ich mir bei ihm nur schwer vorstellen konnte. Er plante durch Dinge voraus, machte sich Gedanken darüber, was passieren würde und was man stattdessen machen könnte.
      “Natürlich komme ich mit, aber deine Finger lässt du bei dir”, schmunzelte Erik und half mir aus dem Rasen nach oben, als ich mich von ihm herunterrollte und blickte verloren in den Nachthimmel. In der Hauptstadt Schwedens war so unglaublich Still in der Nacht, dass mich immer wieder danach umhörte, ein Geräusch zu vernehmen oder mich an etwas zu klammern, worüber ich mich aufregte. Aber es gab nichts.
      “Das lässt du so”, raunte ich Erik zu, worauf ich einen skeptischen Blick erntete, aber meinen Willen bekam. Sanft strich ihm noch einmal über die Brust, voller Ehrfurcht und zittrigen Fingern. Kleine Stolpern wie an Harlens Hals spürte ich, es war alles so perfekt. Die Kerze erlosch und Hand in Hand liefen wir zum Zelt. Vor dem Hauptgebäude stoppte, wir noch einmal, da Erik dringend noch mal zur Toilette musste, hoffend, dass er nicht noch einmal selbe tat wie beim letzten Mal. Ich saß in der Zeit auf einen der großen Steine vor dem gläsernen Gebäude und betrachtete die kalt-leuchteten Lampen ringsum, musterte ich alle Farben, die aus dem obersten Stockwerk nach Außen traten. Ich erblickte meinen Bruder, gedrückt an eine der Scheiben, doch die sich öffnende Schiebetür der Gebäude lenkte mich ab. Gefühlte Stunden vergingen, bis Erik wieder kam. Als erneut nach oben sah, war mein Bruder weg. Was meinte er mit, er schliefe woanders? Wenn hatte Harlen sich angelacht? War sie hübsch, eine der Bedienungen oder so eine von den Hardcore Pferdemädchen, vergleichsweise jemand wie ich?
      „Was suchst du da oben?“, fragte Erik und sah ebenfalls du den Fenstern, entdeckte jedoch genauso wenig wie ich.
      „Mein Bruder war da oben, gedrückt an eine der Scheiben. Es interessiert mich, wo er für die Nacht verbringen möchte“, erzählte ich ihm.
      „Dann frag ihn später, außer es hindert dich mit mir zu sein“, lachte er vergnügt, was ich mit einem Kopfschütteln verneinte. Fröhlich sprang ich auf und nahm wieder seine Hand. Es fühlte sich gut, ihn bei mir zu haben, dass konnte ich nicht oft genug denken. Die Freude kribbelte noch immer in meinem ganzen Körper und das Bier konnte wohl kaum der Grund dafür sein. Mit den hohen Schuhen in der Hand hüpfte ich über den sandigen Weg, auf dem ich zwischen meinen Zehen immer wieder kleine Steine spürte, die wie Dolche in die Haut eindrangen. Aber es war mir egal, der Schmerz zeigte mir, dass es kein Traum war, sondern die Realität.
      „Du kannst schon ins Zelt, ich muss noch mal das Heu nachfüllen“, sagte ich Erik, warf mein Handy und das Zigarettenetui in den Eingang des Zeltes, um dann weiter zum Pferd zu hüpfen.
      Flüsternd erzählte ich ihr von Erik, wie gut ich mich fühlte und wie sehr ich mich darauf freute, mit ihr morgen im Finale mitzureiten und vielleicht sogar auf das Treppchen zu steigen. Die anderen vier waren eine starke Konkurrenz. Chris hatte mir erzählt, dass eine von ihnen wirklich nur teure Pferde unter den Sattel bekam, während der andere Tag und Nacht trainierte und später ebenfalls im Nationalteam zu reiten. Keiner von ihnen wollte das Förderprogramm, so wie ich es hatte, denn damit war etwas Minderwertiges. So fühlte ich mich aber gar nicht, sondern viel mehr erfreut, die Möglichkeit bekommen zu haben, ohne, dass Vati mit den Geldscheinen wedelte. Ich hatte mir das alles selbst erarbeitet. Aus dem Hänger nahm ich das Heunetz und lief noch immer barfuß zu dem Ballen, der einige Meter von unserem Standort entfernt stand. Von Weiten sah ich Eskil, jedoch nicht am Heu holen, sondern hielt sich an etwas fest.
      Auf der Ferse drehte ich schnellstmöglich um, den anderen Ballen an fokussiert. So sehr darauf konzentriert, dass eins der Seile eines Zeltes übersah und im Dreck landete, direkt auf mein linkes Fußgelenk, dass mir schon durch die hohen Schuhe genügend Kummer besorgte. Schmerzlich rieb drüber, bis Erik zwei Plätze weiter zu mir kam.
      „Was machst du immer!“, lachte er und half mir beim Aufstehen.
      „Wegrennen, vor gruseligen Geräuschen“, antwortete ich leise, damit Eskil nicht hörte, was ich zuvor vernahm.
      „Lass die jungen Leute doch ihren Spaß haben“, mahnte Erik, als wären wir Ende fünfzig und seit Jahrhunderten enthaltsam.
      „Natürlich, jeder wie er es braucht. Außerdem ist er älter als wir“, lachte ich, humpelnd begleitete er mich, hielt mich fest und half sogar dabei das Netz zu befüllen.
      „Ach, du kennst ihn?“, fragte Erik interessiert und schloss das Band.
      „Ja, aber rege dich jetzt nicht auf. Ich wollte alles Mögliche in den Rachen gießen, um dich zu vergessen und die Erwartungen zu erfüllen, die man von mir hat“, gab ich zu, senkte meinen Kopf, um seinen Blick nicht zu sehen. Doch er schob mein Kinn wieder nach oben, lächelte sehnsüchtig. Nun war ich endgültig verwirrt.
      Was war denn bei ihm falsch. Ich verharrte und konnte nicht fassen, so ein Angebot bekommen zu haben, obwohl ich gar kein Interesse mehr daran hatte.
      „Na, wenn du nicht willst, auch okay, aber beweg dich jetzt, mir ist kalt“, küsste er auf der Stirn und lief zurück zum Camp. Fruity brummte freundlich, als er ihr das Netz wieder an der Seite des Hängers befestigte und ich betrachtete diese traumhafte Kulisse. Erik, der sein Hemd komplett offen hatte, gab meinem Pferd ein Heunetz, obwohl er ziemlich viel Respekt vor den freiheitsliebenden Tieren hatte. Konnte das wahr sein? Ich glaube kaum. Nur Lina hatte es besser als ich, ihr Kerl war die Topnummer der jungen Elite in Schweden, bestens ausgebildet, stets in Uniform unterwegs und dann auch noch bedacht auf das Wohl der Tiere, keiner Leistung. Dagegen konnte Erik nichts ausrichten, aber das war okay. Immerhin hatte er andere Dinge zu bieten.
      „Schaffst du es allein ins Zelt, oder soll der große Starke wieder zur Hilfe kommen?“, lachte er.
      „Natürlich musst du mir helfen, schließlich bin ich verletzt“, antwortete ich übertrieben theatralisch und streckte die Arme nach oben. Er nehme meine Arme und Beine und trug mich wie eine Braut zum Zelt. Allerdings landete ich unsanft mit meinem Po auf der Isomatte, die nicht wirklich gut gepolstert war. Seine Hände neben mir aufgestellt, beugte er sich über mich. Innerlich rannte sie Zeit, in der wir einander nur noch ansahen.
      „Was hast du denn vor, junge Dame?“, flüsterte Erik.
      Die Schmerzen an meinem Fußgelenk schon wieder vollkommen vergessen, krabbelte ich wortlos heraus und lief wieder zu den Campingstühlen.
      Aus dem Etui griff ich nach einer der Glimmstängel und als Erik dazu kam, bot ich ihm auch eine an. Jetzt war der richtige Moment, zu gehen. Ich fühlte mich vorgeführt, unsicher was ich denken sollte und nicht in der Stimmung das Ganze als einen Scherz aufzufassen. Süchtig zog ich an der Zigarette und wartete darauf, dass er was sagte.
      „Vriska. Ich will, aber ich kann nicht“, sagte Erik später, als aus der Ferne Schritte zu hören waren.
      „Na, dann lassen wir es, so einfach“, maulte ich eingeschnappt und aschte demonstrativ ab, würdigte ihm keines Blickes.
      „Es liegt nicht an dir, ich — bin einfach nicht bereit dafür“, stammelte er verlegen.
      „Dein Körper sendet dafür aber zu klare Zeichen“, murmelte ich.
      „Können wir das wann anderes besprechen, bitte? Lass uns nicht so schlafen gehen“, bettelte Erik und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Aus dem Frust heraus, wollte ich sie wegschlagen, doch mein Körper war da ganz anderer Meinung, als er langsam weiter fasste.
      “Oh, hallo ihr beiden”, begrüßte Lina uns gut gelaunt. Ihre Augen strahlten geradezu und ein entspanntes Lächeln lag auf ihren Lippen. “Schön, dass ihr doch noch einmal zusammengefunden habt”, fügte sie hinzu und es schien dabei wirklich aufrichtig zu sein.
      „Mal sehen wie lange“, rollte ich mit den Augen, stand auf und humpelte in das Zelt. Dort verkroch ich mich direkt in die letzte Ecke meiner Kabine und kuschelte mich in mein großes Kissen. Bis Erik kam, dauerte es noch einen Augenblick.
      „Vriska, ich bitte dich. Sei nicht so, sonst kann ich auch —“, anstelle ihn ausreden zu lassen, drehte ich mich blitzschnell um und drückte meine Lippen auf seine. Das Kribbeln kam wieder, von der vorherigen Körperspannung, ließ Erik sich fallen. Statt ihn sich selbst entkleiden zu lassen, übernahm ich diese Aufgabe, auch wenn es nicht mehr haben konnte, genoss jeden Atemzug mit ihm, um mich am Ende an ihn heranzulegen.
      „Erik?“, flüsterte ich in sein Ohr, damit es die anderen nicht hörte, was bei der bisschen Plastik, das uns umgab, mehr als eine sinnlose Unternehmung war.
      „Anwesend“, lachte er und drückte seinen Arm, auf dem ich lag, näher zu sich.
      „Ich möchte, dass du mein für immer bist.“

      Lina
      Müder aber glücklich krabbelte ich hinter meiner Schwester in das Zelt. Nach meinem persönlichen Tiefpunkt heute Nachmittag hatte der Tag noch ein schönes Ende gefunden. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen ließ ich mir den Abenden noch einmal durch den Kopf gehen. Natürlich hatte ich mir den Ritt meines Freundes nicht entgehen lassen. Nicht das ich ihn ohnehin schon den ganzen Tag einfach nur betrachten konnte, aber in Verbindung mit einem Pferd wirkte er noch strahlender. Die Pferde waren seine Leidenschaft, Teampartner, keine reinen Sportgeräte. Statt dem Tier nur stumpfe Befehle zu erteilen, trat Niklas in einen Dialog mit dem Tier. Wenn er ritt, wirkte es so mühelos, als würde er seinen Lebtag nichts anderes tun. Das war es, was ihn von vielen der Konkurrenten unterschied und die Zuschauer in den Bann zog. Bisher hatte ich Amnesia nur unter Ju laufen sehen und hatte kaum glauben können, dass das dort auf dem Platz dasselbe Pferd sein sollte. Das soll jetzt nicht heißen, dass Ju ein schlechter Reiter war, keinesfalls, aber ihm fehlte das Gewisse etwas. Heute Abend tanzte Niklas mit der Scheckstute durch das Viereck und die Stute lief zur Höchstform auf. Für das ungeschulte Augen waren seine Hilfe unsichtbar und auch für den erfahrenen Reiter nur erkennbar, weil er wusste wie sie funktionierten. Obwohl Amy und er von einer deutlich schwächeren Aura umgeben waren, als, wenn Nik auf seiner Schimmelstute saß, verzauberte er nahezu jeden Zuschauer. Niklas und Amnesia waren nicht nur Sieger der Prüfung, sondern auch Sieger der Herzen. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie viele der Mädchen im Publikum meinen Freund anhimmelten wie etwas Heiliges.
      Als ich im weiten Verlauf des Abends mit Juli zusammen auf den Weg zur Haupthalle war, in der noch eine Feier zum Ausklingen des Tages stattfinden sollte, war ich ein wenig nervös gewesen. Verschiedene Dinge spukten mir durch den Kopf. Einige hatten mit den vielen Leuten, um mich herumzutun, gerade mit den Leuten vom Verein. Der Verein und ganz besonders das Nationalteam war eine eingeschworene Gemeinschaft. Wie ein Bienenstaat folgte, sie alle den gleichen ungeschriebenen Gesetzten. Ein jeder schien jeden zu kennen, und vermeintlich über alles Bescheid zu wissen. Jeder, der nun in dieses Gefüge eindrang, schien erst einmal auf Abstand gehalten, beobachtet und beurteilt zu werden. Das war eindeutig mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb war.
      Das andere was mir nicht direkt Sorgen bereitete, aber große Verwirrung in mir auslöste war Vriska. Auf einmal stand sie vor meiner Tür, trug mir all ihr Leid vor, erzählte mir, dass ihr Traumprinz nicht mehr antwortete, sie aber auch noch irgendwie auf meinen Freund stand und dann… Dann war alles wieder wie vorher. Vriskas Worte über Niklas hallten in meinem Kopf wider, schien wie ein Flummi von den Wänden meines Schädels abzuprallen und durch meine Gehirnwindungen zu springen. Natürlich hatte ich die beiden auf dem Abreiteplatz entdeckt, ich war ja schließlich nicht blind. Auch wenn es nur ein kurzer Moment gewesen war, bis ein Pferde-Reiter-Paar mir die Sicht versperrt, reichte dieser aus, als dass ich unwillkürlich alles in mir zusammenzog. Schon in der Halle auf dem LDS hatten sie so seltsam vertraut gewirkt… Die Art und Weise wie Vriska Erik abwies, war nicht gerade zuträglich mein Gefühl zu beruhigen. Doch ich wollte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es nur eine Sinnestäuschung war, eine Überinterpretation meines Hirns, dessen Frühwarnsysteme sich noch zu genau an den Grund erinnerten, warum die Beziehung mit Flinn endete. Wegen dieser Gedanken war ich nun umso erleichterte darüber, dass Erik und Vriska doch zueinander gefunden hatten. Ich freute mich für die beiden. Erik hatte bereits in Kanada den Eindruck hinterlassen, als sei ihm das mit Vriska wirklich ernst und spätestens nach Vriska plötzlichen Anfall von offener Ehrlichkeit gestern, schien es auch ihr ziemlich wichtig zu sein. Eben hatte sie zwar wegen irgendetwas beleidigt gewirkt, aber mit jemandem den man eigentlich hasste würde man wohl kaum die Nacht verbringen. Wo ich gerade an die beiden dachte, kam mir die Frage, wo ihr Bruder eigentlich abgeblieben war. Nachdem Chris sich vorhin, noch bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, heftigst dagegen wehrte, dass ich die Nacht bei Niklas verbrachte, erwarte ich nicht gerade, das Harlen vorhatte das Zelt mit seiner Schwester und Erik zu teilen.
      “Juli, tiettä missä Vriskan veli? En Uskon, että hän nukkuu kummankaan klo (Juli, weißt du, wo Vriskas Bruder ist? Ich glaube nicht, dass er bei den beiden schläft.) ”, sprach ich leise meine Schwester an, die sich bereits auf ihrer Isomatte gemütlich gemacht hatte, während ich noch dabei gewesen war, mich umzuziehen.
      “Minulla on arvaus, missä hän yöpyy (Ich habe da so eine Vermutung)”, kicherte sie als wäre ihre Annahme unheimlich lustig. Allerdings musste das noch lange nichts heißen. Wenn Juliett betrunken war, fand sie grundsätzlich alles ziemlich lustig, sosehr, dass das ein oder andere männliche Wesen ziemlich beleidigt war, wenn es Gekicher als Antwort auf obszöne Annäherungsversuche bekam. Diese Szenen waren dann meistens für die Umstehenden ziemlich lustig, wodurch sich die Herren meist noch mehr in ihrer Würde verletzt fühlten.
      “Ja mikä tämä olettamus on? (Und was ist diese Annahme?)”, fragte ich in meinen Schlafsack schlüpfend. Kühl legte sich das Polyester an meine nackten Beine und ließ mich frösteln. So warm wie die letzten Sommertage auch sein möchten, in der Nacht kühlten die Temperaturen recht schnell herunter.
      “Näin hänet aikaisemmin kauniin nuoren miehen kanssa. Molemman näyttivät aika tutuilta. (Ich sah ihn vorhin mit einem hübschen jungen Mann. Die beiden wirkten ziemlich vertraut miteinander aus.)” So sehr wie sie das ziemlich vertraut betonte, brauchte ich nicht weiter fragen um zu wissen, was ihre Vermutung war. Ein junger Mann also… Unerwartet, als Homosexuell hätte ich Harlen nicht eingeschätzt. Er zeigte keine der typischen Verhaltensweisen, die ich von Alec und Magnus kannte, aber was wusste ich schon.
      “Riittää spekulointia tälle päivälle. Menen sänkyyn. Rakasta sinua pikkuinen Kauniita unia
      (Genug spekuliert für heute. Ich gehe jetzt schlafen. Hab dich lieb, Kleine. Träum süß)”, unterbrach Juliett meine Gedanken und schaltet die kleine Laterne aus, die mit ihrem schwachen Licht für die nötige Orientierung im Inneren des Zeltes gesorgt hatte.
      “Rakastan sinua myös, sis. Nuku hyvin. (Liebe dich auch, Schwesterherz. Träum schön)”, flüsterte ich in die völlige Dunkelheit, die uns nun umgab und kuschelte mich in mein Kissen. Für einen Moment lag ich völlig still, lauschte nur auf die Geräusche vor dem Zelt. Eine Maus, die auf der Suche nach Nahrung durch das trockene Gras raschelte, der Ruf eines Käuzchens, die Blätter, die sich leise säuselnd im Wind bewegten und die dumpfen Geräusche von Pferdehufen auf dem weichen Boden. Ein vollkommener Kontrast zu den satten Bässen, die mir vorhin noch in den Ohren dröhnten. Wie von selbst wanderten meine Gedanken zurück zum heutigen Abend, projizierten Bilder in meinem Kopf.
      Meine Schwester hatte meine anfängliche Anspannung wahrgenommen und war wie so häufig augenblicklich bereit gewesen, etwas dagegen zu unternehmen. Kaum hatten wir die Halle betreten, verschwand sie zielstrebig in der Menschenmenge, kehrte mit etwas undefinierbares, was sie einen Cocktail nannte, zurück und drückte mir das Glas begleitet von folgenden Worten in die Hand:” Riippumatta siitä, mitä päässäsi liikkuu, unohda se ja pidä hauskaa tänä iltana (Egal was in deinem Köpfchen mal wieder vorgeht, vergiss es und habe heute Abend ein wenig Spaß)”
      Die blutrote Flüssigkeit schmeckte überwiegend nach Cranberry Saft mit einem Hauch von Limette und brannte ein wenig im Abgang. Ich konnte nicht ausmachen, was in dem Gebräu drin war, aber es erzielte den von Juli vorhergesehen Effekt. Ich entspannte mich mit jedem Schluck etwas mehr und schob die ganzen Gedanken, die in meinem Kopf herumgeisterten, beiseite. Zufrieden betrachte Juliett mich als, das Glas leer war, nahm mich bei der Hand, leitet mich durch die Menschen. Ich hatte Mühe ihr zu folgen, da sie manchmal unvorhergesehen abbog oder sich irgendwo hindurchquetschte. Als sie endlich wieder stehen blieb, hatte ich die Orientierung hoffnungslos verloren. Die Bässe dröhnten in meinen Ohren, vermischten sich mit dem Stimmengewirr. Bunte Lichter, die über fremde Gesichter zuckten. Ein Gemisch aus den unterschiedlichsten Parfüms, Aftershaves und Alkohol lag in der stickigen Luft. Vollkommene Reizüberflutung.
      “Ja nyt pikku prinsessani, prinssi odottaa sinua (Und jetzt, meine kleine Prinzessin, wartet dein Prinz auf dich)”, raunte Juliett mir in mein Ohr und schob mich in eine Richtung. Für ein paar Sekunden verstand ich nicht was genau sie von mir wollte. Hektisch suchten meine Augen die Umgebung ab, bis ihn entdeckte. Niklas stand lässig an die Wand gelehnt, die Füße in den sündhaft teuren Sneaker überkreuzt. Die obersten Hemdknöpfe, seines weißen Hemdes, standen provokant offen und ermöglichten einen Blick auf die muskulöse Brust darunter, einfach atemberaubend. Ein offenherziges Lächeln trat auf sein Gesicht, als er mich erblickte. Augenblicklich durchfuhr mich eine Hitzewelle, erfüllte jede Faser meines Körpers und hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut, wie den kleinen Füßchen hunderter Schmetterlinge, die sich auf ihr niederließen. Ich vergaß die dröhnende Musik, das zuckende Licht, vergaß alles um mich herum. Ich nahm nur noch Niklas wahr.
      Von ganz allein trugen mich meine Füße zu ihm hinüber, bewusst der Blicke, die auf mir lagen. Sollten sie ruhig schauen, sollten sie sehen, dass ich zu diesem wundervollen Mann gehörte. Der Mann, der selbst meine kühnsten Träume übertraf, der so perfekt war.
      Im nächsten Moment fand ich mich in seinen Armen wieder, umgeben von seinem Duft, den ich in mich aufsaugte wie ein Schwamm. Ich spürte seine kräftigen Hände auf meinem Körper, die Wärme seiner Haut, das dynamische Zusammenspiel der Muskeln unter meinen Finger, verlor mich in seinen mit Begierde erfüllten Augen. Als sich unsere Lippen trafen, explodierte ein Feuerwerk aus Endorphinen in mir.
      Die Erinnerungen an den Abend verschwammen miteinander, wirbelten durch meinen Kopf, durchströmen mich erneut mit Leidenschaft und bildeten neue Bilder, die allmählich zu Träumen wurden.

      Vriska
      Ein rauer, unbarmherziger Windzug aus Schnee und Graupel vernebelte mir die Sicht, außer dem Pferd und mir war niemand in greifbarer Nähe, und wenn doch, dann hätte ich ihn nicht gesehen. Die dunklen Ohren des Tieres erschienen nur schemenhaft vor meinen Augen und mein Versuch mich zu orientieren, scheiterte. Im Schritt setzte ich an, noch immer im Willen daran, wo ich sei, wie ich hierherkam, als brodelnde, rote Blitze sich vor mir eröffneten. Das Pferd stieg, weigerte sich den Weg nach vorn zu nehmen, stattdessen drehte es im gestreckten Galopp. Ein Blick nach hinten, noch immer verfolgt von der heißen Flüssigkeit, umschlossen von Nebel und Kälte. Plötzlich fiel ich hinein in den Dreck, der Flug nach unten endete nicht, stattdessen fiel ich immer weiter, immer weiter. Wach. Was war das?
      Vorsichtig griff ich neben mich, Erik fehlte. In meinem Kopf eröffnete sich die Panik, dass es gestern Abend nur ein Traum, aber kein Traum wie dieser, sondern ein schöner, schön, wie er es war. Hoffend darauf, dass er noch da war, schob ich die Folie der Zelttür zur Seite, bekleidet mit Tyris Rugby Pullover und einer kurzen Hose, und trat an die frische Luft. Ein kalter Windzug fegte um meine Beine, aber da saß er zusammen mit Harlen, Eskil. Herzlich lachte sie, doch jeder für sich irritierte mich. Fern ab davon, dass keiner von ihnen ein Shirt trug. Erik, der sich in Kanada noch dafür schämte seinen Oberkörper zu präsentieren, saß vollkommen selbstverständlich mit dabei, trank einen Kaffee und in der anderen Hand eine Zigarette. Die drei wirkten ungewöhnlich vertraut, besonders mein Bruder, den ich zwar als sehr gesellig kannte, bot mir einen ganz anderen Teil seiner Persönlichkeit. Er saß still daneben, halb anwesend, halb verträumt. Immer wieder musterte er die beiden von oben bis unten, in den Augen funkelte etwas, etwas Unbekanntes. Konnte es möglich sein? – Nein! Das wäre unvorstellbar und nur ein Hirngespinst, dass sich in mir ausbreitete durch Mangel des Liebeslebens. Aber nein, ich wollte mir meinen Bruder beim Geschlechtsverkehr gar nicht vorstellen, das hätte zu viele Elemente meines Vaters. Nein!
      “Vivi, willst du weiter so gaffen oder kommst du auch dazu?”, fragte mich Erik belustigt und hielt mir demonstrativ die Schachtel entgegen. Eigentlich war der Wille von dem Gift abzulassen, noch immer präsent, aber ich konnte ihm kein Angebot ausschlagen und lief die wenigen fehlenden Schritte zu ihnen. Erst jetzt sah ich Eskil in seinem Ausmaß an Körper dabeisitzen, überseht von kleinem Liebkosen der vermeintlichen vergangenen Nacht.
      “Wer von euch hatte eigentlich die Idee, wie die drei Engel von Charly in eurer vollen Männlichkeit morgens um sieben Uhr hier herumzusitzen?”, fragte ich interessiert, gab Erik einen zaghaften Kuss und setzte mich auf den verbliebenen Campingstuhl dazu. Wie abgesprochen sahen sie einander an, lachten aber verwehrten mir die Antwort.
      “Vielleicht wenn du etwas älter bist”, grinste Eskil, was ich mit einem eingeschnappten Schmollmund beantwortete. Wenn ich hier nicht willkommen war, konnte ich mich auch um mein Pferd kümmern. Doch auch Fruity schlief noch, der Heusack aufgefüllt und der Wassertrog ebenfalls bis obenhin voll, obwohl ich vor nicht einmal zehn Minuten aus der Sauna hinauskletterte.
      “Eskil? Hast du Fruity mitversorgt?”, fragte ich überrascht, als ich noch mal prüfend um den Paddock herumlief.
      “Nein, dein Freund hat das gemacht”, antwortete er schulterzuckend. Erik und Pferde? Freiwillig? Viel mehr konnte er mir gar nicht zeigen, dass er bei mir sein wollte, zeigen, was er gestern im Zelt nicht mit Worten erwiderte. Stattdessen legte er seinen Arm fest um mich, innig und vertraut. Obwohl noch immer sein Bruder schemenhaft in meinem Kopf spuckte, versuchte ich ihn bestmöglich auszublenden, denn was ich brauchte, saß nur einige Meter entfernt.
      “Esy, dass ihr nicht-Freund, wichtiger Unterschied”, mischte sich auf einmal mein Bruder mit ins Gespräch ein. Wieder musste ich unter ihrem Getue leiden, als hätte ich sonst keine Sorgen. Ich wusste nicht einmal, wann der Start anstand, welche Musik laufen würde, wie ich abschneiden würde. So viele Fragen, die ich nicht zu beantworten wusste. Unwillkürlich begann ich auf der Stelle herumzutänzeln, ratlos von links nach rechts zu laufen und irgendwelche Gegenstände von der einen zur anderen Seite zu bringen.
      “Liebling, setzt dich noch mal, du machst du uns alle verrückt”, versuchte mich Erik zu bändigen, was die innerliche Stimmung nur noch verschlechterte.
      „Ihr macht mich verrückt!“, fauchte ich genervt und schließ die dreckige Schüssel in die Seitentür des Hängers. Alles lag herum, als lebten wir seit Jahren, aber nein, die Unordnung wurde innerhalb weniger Stunden verursacht und ich denke nicht, dass das nur mein Verschulden war. Wieso hatte ich so viele Menschen mit zum Turnier genommen? Schrecklich. Plötzlich spürte ich einen warmen Luftzug um meinen Nacken, drehte mich und Erik standen mit einem schelmischen Lächeln vor mir.
      „Muss ich mir etwa Sorgen machen, dass du deine geballte Lust nicht zügeln kannst?“, flüsterte er sanft ins Ohr, küsste meinen Hals und drückte mich gegen die Tür des Hängers.
      „Ach vor Publikum kannst du aufeinander“, es lag mehr Hoffnung in den Worten als ich wollte, zu gleichen Teilen versprühte sich das ein kribbelndes Gefühl im Körper, jede seiner Berührungen intensiver wurde. Wieso machte er es so schwer? Der Hänger wäre frei und deutlich bequemer als unser Zelt!
      „Vielleicht wenn du nachher den Sieg nach Hause holst, überlege ich es mir“, hauchte er. Ein Schwall von Alkohol zog an meiner Nase vorbei. Das erklärte tatsächlich mehr als mit lieb war. Ich stieß ihn vorsichtig zur Seite und schlüpfte unter seinen Armen in die Freiheit.
      „Jetzt erklärt mir sofort einer euch Idioten, wieso ihr um solch unchristlichen Zeiten schon am Trinken seid!“, verlangte ich nach mehr Antworten, denn wenn es so weiterging, wäre die Autofahrt die reinste Hölle. Mein Bruder wurde ab einem gewissen Punkt noch peinlicher als ich, auch wenn dieser deutlich später wurde. Kinderbetreuung, immerhin hatte Lina gestern schon üben dürfen, so sollte sie die auch in den Griff bekommen.
      „Schon? Du meinst noch immer“, lachte Eskil leicht lallend. Noch immer genervt, rollte ich die Augen, stieß Erik ein weiteres Mal zur Seite, da er wieder ankam, um mir falsche Hoffnungen zu machen.
      „Noch immer? Dann solltet ihr besser aufhören oder musst du heute nicht mehr reiten?“, versuchte ich das Ganze weniger ernstzunehmend, was jedoch in einem leicht hysterischen Grummeln endete.
      “Doch, aber erst am Nachmittag, bis dahin sollte ich ausgenüchtert sein”, wollte Eskil mich überzeugt weiß machen.
      “Na, wenn das so ist, dich wird wohl der Elch wachgehalten haben, der in der Nacht heimlich vom Heuballen klaute”, lies ich endlich die Katze aus dem Sack. Sein Gesicht tauchte sich in einen blassen Ton, die Wagen erröteten langsam und seine Hände fassten krampfhaft in die Stuhllehne, als suche er etwas in ihnen. Unverständlich stammelte er vor sich hin, obwohl es doch nichts Schlimmes darangab, mit jemanden Spaß zu haben.
      “Wer war denn die Glückliche?”, versuchte ich mehr Informationen zu bekommen, auch im Gedanken daran, mir alles nur eingebildet zu haben.
      “Ich weiß nicht, wer sie war”, kam wie aus der Pistole geschossen, als wäre es eine Standardantwort, die er gab, um nicht das Gespräch weiterzuführen. Ich beschloss auch, keine weiteren Fragen zu stellen, obwohl ich gern mehr Details haben wollen würde, denn ich hatte noch immer Erik im Kopf, der kein Problem damit gehabt hätte, dass ich dazu gehe. Aber wie hätte das funktionieren soll? Fragen, ob ich auch mal darf? Das wäre äußerst seltsam, dann würde ich auch kein Gespräch darüber führen wollen.
      “War’s denn wenigstens gut?”, lachte Harlen und klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel. In seinen Augen fand ich kein Zeichen dafür, dass es ein Versuch war, das Alibi aufrechtzuerhalten, aber vollkommen überzeugt wurde ich nicht.
      “Und wie! Aber nach wie vor weiß ich nicht, wer sie war, um es zu wiederholen”, schien Eskil nun wieder offener zu sein. Ich musterte die beiden im Wechsel, aber konnte nicht noch einmal den Vibe vom Abend spüren im Saal.
      Im Wechsel schütteten die Männer sich immer mehr Alkohol in die Shotgläser, als hätten sie schon lange die Kontrolle. Besonders Erik schockierte mich, der sonst ziemlich Behutsam im Umgang dieser Getränke, doch nun musste ich der Spielverderber sein. Was sollten die anderen denken am Platz, wenn drei ziemlich gutaussehender Herren der Schöpfung mit einem kleinen blonden Mädchen an einem Tisch saßen, vollkommen albern, belustigt und jeden unpassenden Witz machten, der sich anbot.
      “Erik, was ist eigentlich mit deiner Tochter und deinem Hund? Vermissen die dich nicht schon?”, versuchte ich ein kreativeres Gespräch zu eröffnen, als die obszönen Witze von ihnen weiter zu hören.
      “Die kommen klar, sind bei meiner Schwester. Ich möchte gerade nur bei dir sein”, lallte er ziemlich, was für mich der Grund wurde, von hier zu verschwinden. Glücklich, wenn auch etwas genervt, krabbelte ich leise ins Zelt, um im nächsten Moment bereits festzustellen, dass Juliett und Lina durch das Gegröle der Herren schon wach wurden. Die Sonne hatte den Palast ziemlich aufheizt, obwohl ich vorsorglich das Vorzelt geöffnet hatte.
      “Tut mir leid, dass sie euch geweckt haben”, entschuldigte ich mich bei ihnen, im Bewusstsein darüber, dass sie von selbst, nicht auf die Idee kämen. Gleichzeitig suchte ich weiter nach meiner Reithose, die Verschwunden wirkte in dem Haufen aus Kleidung in unserer Kabine. Was ich sofort fand, war Eriks Hemd, dass ich ordentlich zusammenlegte und zur Seite packte, um es ihm gleich zu überreichen. Ich wollte nicht, dass andere ihn so ansahen, wie ich es tat. Er gehörte mir und das sollte auch jeder wissen! Schlussendlich fand ich die Reithose auch nicht, aber zumindest meine graue Jogginghose, die wohl zum Training auch einen Zweck erfüllen würde. Den Pullover, der zumindest eine positive Erinnerung an meine Heimat weckte, selbst mit Tyris Namen auf ihm, wechselte ich gegen die Hofjacke.
      “Alles gut. So langsam ähnelt das hier drinnen eh einer Sauna. Und gut geschlafen?”, erkundigte sich Lina munter. Trotz der noch frühen Uhrzeit wirkte sie ziemlich ausgeschlafen im Gegensatz zu ihrer Schwester, die nicht so aussah, als würde sie vor dem ersten Kaffee zu etwas zu gebrauchen zu sein. Kaffee … Ich hatte auch noch keinen, vielleicht sollte ich für uns beide einen besorgen.
      “Ich würde lügen, wenn ich nein sage. Aber es war ungewohnt … irgendwie, keine Ahnung. Egal”, machte ich mich noch kleiner. Das, was alles in mir schwebte, wie sehr ich Erik genoss, einfach nur dabei ihn anzusehen, verschlug mir die Worte. Worte, die ich nicht auszusprechen vermag und erst recht nicht gefragt zu jemanden, der noch vor weniger als zwei Tagen gesagt bekommen hat, dass ich am liebsten den Freund bei mir haben wollte. Der ganze Gefühlskram war mir zu viel und so willkürlich, als wäre ich in der Pubertät.
      “Freut mich zu hören, da gewöhnst du dich sicher noch dran”, antworte sie mit ungebremst guter Laune und begann leise vor sich hin summend ihren Sneaker zuzubinden. Es irritierte mich, dass sich alle heute ungewöhnlich fröhlich anzutreffen waren.
      “Das bleibt abzuwarten”, grummelte ich weiter, in Andacht meines Traumes, ihn vielleicht doch schneller zu verlieren, als mir lieb war.
      “Mensch Vriska, du bist mir ein Rätsel. Erst beschwerst du dich, dass dein Angebeteter nicht antwortet und wenn er dann endlich da ist siehst du schon das Ende? Erfreue dich doch erst einmal seiner Anwesenheit”, bekundete sie optimistisch.
      “Du verstehst das nicht”, rollte ich mit den Augen, bis mir auffiel, dass sie es nur gut meinte. Also fügte ich noch hinzu: “Na gut, ja. Es stimmt, was du sagst, ich habe viele Zweifel und aber ich mag ihn von ganzem Herzen.”
      “Ich verstehe dich, wegen Niklas und der Entscheidung herzukommen, hatte ich auch Zweifel, eine Menge Zweifel sogar. Und, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich immer noch den ein oder anderen Zweifel und trotzdem bin ich hier. Das könnte die klügste oder die dümmste Entscheidung in meinem ganzen Leben gewesen sein, wir werden sehen. Aber weißt du, mein Gefühl sagt mir, dass Erik auch ziemlich viel an dir liegt, also gibt ihm die Chance deine Zweifel zu beseitigen”, sagte sie ermutigend. Wow, war das da vor mir immer noch derselbe Mensch, der vorgestern behaupte, hatte er sei nicht optimistisch? Auch Juliett schien ein wenig verwundert über ihre Schwester zu sein, denn sie warf ihr stirnrunzelnd einen schrägen Blick zu. Eigentlich würde ich auch gut zu reden, aber wir kannten Niklas mehr oder weniger gleich gut, wenn auch verschiedenen Ebenen.
      “Ich habe meinen Namen gehört?”, kam nun auch der Zweifel persönlich dazu, mein Zweifel. Jeden Blick, den zu ihm richtete, schrie danach, Lina recht zu geben, es mir selbst zu gönnen, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben, aber etwas konnte das nicht akzeptieren.
      „Hier, zieh dir was“, sagte ich stumpf zu ihm, drückte ihm das Hemd in die Hand und lief zielgerichtet zum Hänger. Dabei entging mir nicht, dass Eskil sichtlich interessiert meinen Bruder ansah, der ihm auch sehr tief in die Augen schaute, aber daran konnte ich nicht mehr denken. Es quälte mich viel mehr, diese Achterbahn aus Gefühl zu spüren, obwohl ich doch einfach nur ein Turnier reiten wollte. Ein Turnier, um Tyrells Pferd vorzustellen, nichts Besonderes. Bruce Pferde ritt ich andauernd auf irgendwelchen Turnieren, wenn auch in einem deutlich geschlossenen Kreis aus Menschen. Es gab weder Partys, noch hatte ich jemals mehr als eine Person als Begleitung dabei. Hier hatte ich das Gefühl von jedem angestarrt zu werden, gemustert und kritisiert. Allein das äußere Erscheinungsbild von Fruity Unterschied sich deutlich. Ihre kräftigen Beine, die Stehmähne, der plüschige Schweif und die dazu großen treuen Augen, die freudig funkelten, wirkte auf andere bedrohlich oder lächerlich. Da war ich mir nicht ganz sicher. Weiter betrachtet unsere Ausrüstung. Weder trug ich einen besonders schönen Helm, auf den meine Initialen mit Glitzersteinen verziert waren, noch irgendwelche Designer Stiefel, und Fruity? Die hatte ein eher Sitzkissen ähnliches Erscheinungsbild auf dem Rücken, ohne ein klassisches Sattelblatt oder enorm-große Pauschen, in denen wirklich jeder sitzen konnte und dazu eine schwarze Trense, die kein Lack hatte, sondern noch mal geputzt werden sollte, oder zwanzigmal am besten. Es war nicht einmal mein Verdienst, wie Fruity sich präsentierte. Alles, was ich tat, war meine Beine im richtigen Moment zu bewegen und meinen Sitz anzupassen. Mit etwas Übung schaffte das jeder, also was hatte ich im Finale zu suchen? Nichts, wirklich gar nichts.
      Von der Seite begann etwas an meiner Hose herumzufummeln. Fruity stand am Zaun und inspizierte meine Hosentasche nach einem Leckerli aus, doch da konnte sie nichts finden als ein mit gewaschenem Taschentuche. Aber ich wusste, wo es welche gab und lief direkt zum Hänger, der noch immer aufstand, um ihr Gesuch nachzukommen.
      “Hier meine Hübsche”, flüsterte ich sanft, als sie vorsichtig aus meiner Hand das Leckerli sammelte. Dann begann ich sie zu putzen, obwohl viel Dreck nicht auf den wichtigen Stellen war, womit es mir gelang, das Pferd innerhalb von zehn Minuten zu satteln und noch einen schweifenden Blick zu den anderen zu werfen. Erik hatte noch einmal versucht, ein Gespräch zu führen, doch ich ignorierte ihn. Dafür gab es keinen Grund, aber ich schämte grundlegend für meine Gefühle, außerdem hatte er Spaß mit den anderen, da musste ich nicht mit meiner seltsamen Stimmung alles zerstören.
      “Ich gehe zum Platz”, sagte ich kurz Bescheid und lief los, ohne noch einmal zurück zu gucken. Vielleicht war die Einstellung nicht falsch, immer nach vorne zu sehen, aber in dem Fall hätte ich sicher warten können, ob jemand mitkommen wollte. Die Leere kam wieder, Unwissenheit, was kommen würde, Angst, alles verlieren zu können. Zu viele Fragezeichen in der Zukunft außerdem spürte ich jenes, dass etwas Schlimmes passieren würde in geraumer Zeit.
      “Hey, warte Vriska ich komme mit”, rief mir jemand nach und ich hörte schnelle Schritte, die sich Fruity und mir näherten. Zu meinem Erstaunen war es nicht Lina, die dort angelaufen kam, sondern ihre Schwester.
      “Na gut, gern. Aber erwarte nichts”, schmunzelte ich aufgesetzt, um mir nichts weiter anmerken zu lassen. Natürlich schien es sehr naiv von mir, denn sofern ich nicht glücklich strahlend mit Erik unterwegs war, fehlte mir immer irgendetwas. Kurz sah ich doch noch einmal zurück, aber er kam nicht mit, sondern lachte mit den anderen dreien am Tisch, ohne mich.
      “Keine Sorge, ich erwarte schon nichts. Ich bin beeindruckt, dass du mit einem solchen Pferd wie ihr auf einem klassischen Warmblüter Turnier auftauchst, da gehört einiges an Mut zu”, versuchte Juliett ein Gespräch zu beginnen und deutet mit einer Kopfbewegung auf die Stute neben mir.
      „Ganz einfach gesagt, ich hatte keine Wahl. Ich musste das tun“, murmelte ich verschlagen und strich Fruity über den Hals. Dem traf dabei überhaupt keine Schuld! Sie konnte sich schon bei der ersten Runde durchsetzen und einige Fans gewinnen, ich hingegen fühlte mich nicht mehr sowohl wie in dem Moment, als ich ausritt. Die Missachtung meiner vermeintlichen Freunde demütigte mich und sogar mein Bruder empfand, alles andere, als so viel interessanter, als die Leidenschaft seiner Schwester, stattdessen erpresste er mich. Wenn es nicht so dramatisch mit ihm ablaufen würde, hätte ich ihn nachher am Flughafen abgesetzt und dann wäre er verschwunden.
      “Aber dafür, dass du nicht freiwillig hier bist haben sich, dein Pferd und du gestern gut geschlagen, es ist sicher nicht einfacher als früher geworden sich gegen die klassischen Warmblüter durchzusetzen”, setzte sie das Gespräch anerkennend fort. Juliett meinte es auch nur gut, aber ich hatte nichts Besseres zu tun, als mir einer Zeit der Freude, wieder schlechte Laune einzureden, um sinnlose Ausreden zu erfinden, scheitern zu können.
      „Ach, dann bist du auch mal geritten?“, fragte ich aus der Höflichkeit heraus, ohne echtes Interesse zu haben. Es tat mir leid, aber mir fehlte zu so vielen Menschen die Bindung.
      “Ja, das bringt es so mit sich auf einem Pferdehof aufzuwachsen. Na ja, fast meinen Bruder hat niemand auf ein Pferd bekommen”, lachte sie mild und schien ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen.
      „Wenn du mal wieder auf ein Pferd sitzen möchtest, finden wir sicher etwas Passendes auf dem LDS, die sind nicht alle vollkommen gestört“, musste ich nun doch lachen. Freundlich öffnete sie das Gatter zum Platz, auf dem Betriebs Reiter unterwegs waren und die Tiere förmlich über den Sand schubsten. Es fehlte an Motivation, sie trampelten einfach nur vorwärts. Auf der kleinen Tafel lass ich, dass das M-Reiter sein werden, da in wenigen Minuten die Prüfung begann, schämt euch. Im nächsten Moment schwang ich mich in den Sattel und begann im Schritt, dabei immer mein Handy in der Hand, um die Kür zu lernen. Trab, Volten, Handwechsel mit Verstärkung, Versammlung, irgendwelche Bahnfiguren, stehen, Ecke kehrt im Galopp, fliegender Wechsel, Schlagenbögen, Versammlung, fertig. Das sollte ich doch wohl hinbekommen. Mir kam die eine Atemübung wieder in den Sinn, die Niklas mir gezeigt hatte, um mich besser auf etwas konzentrieren zu können. Also hielt ich an und setzte sie um, je öfter ich bewusst längere Atemzüge machte, umso besser wurde meine Gedankenwelt, aber auch die Müdigkeit holte mich ein. Kein Wunder, wenn man nur fünf Stunden schlief und aus einem Alptraum aufwachte.
      „Vriska?“, hörte ich plötzlich meinen Namen auf dem sonst lauten Reitplatz, als ich die Schlagenbögen im versammelten Galopp ritt. Die Stimme würde ich unter tausenden erkennen, der kindliche Singsang in den Silben und vertraute Bass in den Untertönen, schnellte mein Herzschlag oben. Am Zaun stand Erik, mittlerweile wieder bekleidet und hatte Juli bereits einen Kaffee gereicht, somit würde der andere für mich sein.
      „Soll ich denn so lange noch halten?“, fragte er freundlich, als ich neben ihm anhielt.
      „Nein, ich brauche den jetzt, sonst würdest du vermutlich schon morgen nach Neuseeland fliegen“, entfachte sich die Begier nach dem Schwarzen Heißgetränk, das er mir sogleich reichte.
      „Wer sagt denn, dass ich nicht schon ein Ticket gebucht habe?“, sagte Erik, betrachtete mich dabei von unten nach oben bis seinen Blick in meinen Augen hängen blieb.
      „Dann wünsche ich dir einen guten Flug. Ich denk an dich“, beendete ich kurzfristig das Gespräch und ritt wieder an. Es gab keinen Grund zur Sorge, er war hier. Vielleicht trug die Müdigkeit ihren Teil dazu bei, dass ich alles sehr extrem verspürte, doch schon ersten Schlucken der dunkelbraunen Flüssigkeit erquickten mein Herz zutiefst und ein Lächeln zauberte sich auf meine Lippen.
      „Komm, wir zeigen ganzen aufpolierten Stelzen, was du kannst!“, flüsterte ich Fruity in ihr Ohr, setzte mich in den Sattel und hielt weiterhin die Zügel in der linken Hand, denn in der rechten Dampfte mein Kaffee. Bei einem Punkt, den ich als Platz Mitte definieren würde, hielt ich an, um bestmöglich die Prüfung zu imitieren und trabte im Arbeitstempo an auf der linken Hand. Mit der Volte Links begann ich, die Zügel nur als Mittel der Haltung und alles gesteuert über den Sitz, konzentriert auf minimale Hilfen. Im Wechsel auf die rechte Volte wurde es für einen Wimpernschlag holprig, der Kaffee schwappte ein wenig über den Rand und tropfte auf meine Hose, toll. Egal, es war nur meine Jogginghose.
      Nach dem Viereck vergrößern, verkleinern kam die erste Herausforderung – versammelter Schritt, rechts Kurzkehrt und wieder weiter im Arbeitstrab. Als es zum Halt kam, spürte ich starrenden Blicke um mich herum, auch das Geflüster entging mir nicht. Unsicher sah ich zu Erik, der noch immer ein breites Lächeln auf den Lippen trug, als würde es zu ihm gehören, wie die perfekt geschnittene Anzughose. Entspannt nahm ich einen Sipp vom Rand des Kaffees und nach einigen Tritten rückwärts, galoppierte ich aus dem Stand an im versammelten Tempo. Fruity meisterte auch das wie ein junger Gott, was sie mit ihren sechs Jahren auch noch war. Eine blonde Dame, die uns schon eine Weile beobachtete, nickte mir anerkennend zu, als sich unsere Blicke trafen. An ihr Gesicht erinnerte ich mich noch, es war eine der Zwillinge. Sie saß auf einem wunderschönen Schecken, was auch einen außergewöhnlichen Anblick in der Dressur bildete, vor allem, weil der Hengst auch einen barocken Schnitt hatte. Seine weiße Mähne zu Zöpfen genäht und im Trab wallte der zweifarbige, imposante Schweif, schon rein optisch hatten die beiden vielen etwas voraus.
      Mutig galoppierte ich im Außengalopp im Mittelzirkel, gedanklich bei dem fliegenden Wechsel, den ich weder beherrschte, noch einhändig ritt. Aber ich wollte es allen beweisen, vor allem mir selbst. Doch ich erwischte mich dabei wieder Hilfen vergessen zu haben, galoppierte Runde um Runde auf dem Zirkel zum Entsetzen der anderen, die unsertwegen mehrfach Platz machten. Ich holte Fruity zurück in den Schritt, ließ die Zügel los und ritt ab. Damit war meine Motivation erloschen, gute Voraussetzung für die Prüfung später.
      “Behöver du hjälp? Jag tycker inte att det ska sluta så här (Brauchst du Hilfe? Ich denke nicht, dass das so enden sollte)”, kam die blonde junge Dame wieder zu mir. Mangelnd der Sprache schüttelte ich den Kopf und ritt schweigend weiter mit dem tiefen Blick in meinem Kaffeebecher, der schon halb leer war. Von der Seite bemerkte ich Gelächter, Lästereien und abfällige Blicke. Wäre Fruity nicht außer Atem, wäre ich direkt abgesprungen, zum Hänger, Pferd einladen und zurück zum Hof. Aber meine Teilnahme zurückziehen, stand auch noch zur Wahl.
      “Habt ihr alles ausgetrunken oder ist noch was da?”, fragte ich aus dem Nichts, was Verwunderung auslöste.
      “Gin meinst du? Oder Kräuter?”, begriff Erik dann doch noch, was ich mit einem Nicken bestätigte. Ehrlich gesagt, interessierte es mich nicht, was wir genau dahatten, Hauptsache genügend Umdrehung.
      “Wenn die beiden endlich aufgehört haben, dann sollte noch was da sein”, gab er zu bedenken. Ich wartete nur auf die Belehrung, die jedoch nicht kam. Stattdessen nahm er mir den Kaffee ab und strich Fruity freundlich über die Schulter.
      “Ihr schafft das schon nachher”, munterte Erik mich auf, legte seinen Arm um mich, nach dem ich vom Pferd stieg und den Gurt gelockert hatte. Was passierte hier eigentlich schon wieder? Ich wollte den Sieg, ich wollte ihn bei mir haben, aber redete mir in jedem Moment ein, dass alles nie zu schaffen, nie Erfolge zu erzielen, nur ein Nebendarsteller zu sein in einem Leben, dass eigentlich meins war.
      “Du bist auch erst am Nachmittag dran”, kam Juliett freundlich von hinten dazu gerannt.
      “Ach, hast du auf der Startliste geguckt? Das ist lieb, danke”, bedankte ich mich und drückte meine Lippe etwas nach oben, bevor wieder alles entspannte und der natürliche leere Gesichtsausdruck, die Vorherrschaft übernahm.
      Die Kegelgruppe wurde immer Gruppe, denn Chris und Niklas hatten auch ihren Weg zu uns geschafft, als hätten sie keine eigenen Pferde zu versorgen. Als ich sie bemerkte, griff ich hektisch nach Eriks Hand, um lüsternen Blicken Niklas’ ausweichen zu können, denn ob ich schon bereit dafür war, ihn zu vergessen, wusste ich nicht. Generell wusste ich nichts, außer dass ich in zwei Tagen die letzte praktische Prüfung vor mir hatte, die Prüfung, von der alles abhing. Ob ich auf dem LDS bleiben konnte, ob das Förderprogramm sein Ende fand und noch viel wichtiger – ob ich zurück, ohne Ausbildung, nach London musste.
      Lina saß auf Niklas Schoß, glücklich darüber ihn bei sich zu haben, freudestrahlend und begnügt. Sie wirkten so unbeschwert zusammen, als gäbe es die anderen um sie herum gar nicht, selbst die kichernden Weiber, die an unserem Camp vorbeiliefen, ignorierten sie. Besonders Lina, die sonst auch in aller Blicke eine Belastung empfand. Ich konnte mir nur eingestehen, ihn endlich zu vergessen. Vergessen, was wir hatten und im Laufe der Zeit uns im Weg stehen würde. Erschöpft atmete ich aus, hob den Sattel vom Rücken der Stute und hängte ihn zurück in den Hänger. Dort herrschte schon wieder das reinste Chaos, wer war das? Ich hatte vor weniger als zwei Stunden darin aufgeräumt und ein weiteres Pferd stand nicht im Paddock, wie konnte das sein.
      “Wer von euch, schmeißt das Zeug eigentlich nur rein?”, schnaubte ich verärgert und begann wieder zu sortieren, um den Sattel wegzuhängen.
      “Schätzchen, das machst du selbst. Vorhin hast du alles von der einen zur anderen Seite geräumt, ohne System. Dass du dann wenig später der Meinung bist, dass es unordentlich ist, kein Wunder”, erklärte mein Bruder, der bisher nicht viel gesagt hatte. Seltsam, dass ich es als ganz anders empfand, stellte es aber nicht infrage. Ich sollte noch mal schlafen gehen, bis ich an der Reihe war. Aber als ich zum Zelt lief, rief mich Erik zurück. Er wollte mich bei sich haben und dem kam ich natürlich nach. Fest umklammerte ich mich an seine Beine und legte den Kopf an seinen Knien ab. Während er seine Hand sanft über mein Gesicht strich, schlief ich glücklich ein.

      Die kalten Lampenmittel der Scheinwerfer auf dem Reitplatz blitzten mehrfach auf, bevor sie ihr Licht über den Sand verteilten. Am Horizont stand die Sonne, die durch die Wolken nur noch wenige Strahlen hindurchdrücken konnte, was für die Richter keine gute Voraussetzung war. Freudestrahlend trabte eine große braunhaarige auf ihrem Rappen vom Platz, während ich noch wie angewurzelt versuchte die Gesichtszüge des Publikums zu verinnerlichen. Mit einem kräftigen Krachen wurde es dunkel. Von da an schlug die Stimmung auf dem Gelände um. Große Gewitterwolken zogen sich zusammen und eröffneten sich wie auf ein Schnipsen über uns. Eine elektrische Spannung schwebte durch die Luft, Leute flüchteten von links nach rechts, wie kleine Ameisen, die panisch den Angreifer ihres Haufens vertreiben wollten. Und auf mein Pferd und mich prasselten die großen Regentropfen, nass flossen sie auf herunter, bildeten kleine Pfützen neben uns. Es wurde still und endlich bekam ich das Gefühl mich wohlzufühlen. Auf den Tribünen saß niemand mehr, am Zaun auch nicht. Somit war ich wie allein, nur ich und die vier Richter.
      “Vill du fortfarande rida? (Wollen Sie noch reiten?)”, fragte mich eine Frau von der Veranstaltung mit einem Schirm in der Hand. Zuversichtlich nickte ich und sie gab mir den Weg frei. Das Licht konnten sie wieder einschalten, auch wenn die eine Lampe noch immer flackerte. Obwohl ich nicht wusste, dass es mir fehlt, aber jetzt spürte ich es. Aus den Lautsprechern ertönte das wohl einzig passende Lied: ‘Forbidden Fruit’ von Hallway Swimmers. Der Auftritt erfüllte mich großer Freude schon vor dem Betreten des Platzes, dem Gefühl meine Bestimmung gefunden zu haben.
      Im Trab plätscherten wir durch den nassen Sand, der Matsch spritzte in alle Richtungen, auch meine Schuhe waren schon nach einigen Metern am Schaft besprengt. Die Tropfen funkelten im Licht der Strahler und amüsierte mich, obwohl viele von ihnen direkt in meinem Gesicht landeten, strahlte ich vom linken bis zum rechten Ohr. Auch Eriks Zuversicht schmeichelte mir. Beide Volten beherrschten wir wie im Schlaf und bei dem wechseln durch die ganze Bahn ab Kilo jubelte innerlich im verstärkten Tempo durch den Matsch zu fetzen. Ich kam mir vor wie ein Kind, dass glücklich durch Pfützen sprang, ungeachtet der Blicke von Erwachsenen. Die Ausstattung würde Ewigkeiten zum Trocknen brauchen, aber das interessierte mich in dem Moment nicht, alles, was ich wollte, war endlich zu galoppieren. Diese folgte dann auch nach dem Halten und Rückwärtsrichten. Im versammelten Galopp wippte ihr Kopf aktiv im Takt und meine Hüfte ließ ich locker mitgehen. Immer wieder schloss ich die Augen, um die Ruhe zu genießen und der Musik zu folgen. Bravo kam immer näher, somit der Mittelzirkel aus dem ich gleich einen fliegenden Wechsel. Eskil hatte mir beim Warmreiten noch einmal geholfen, umso sicherer fühlte ich mich das zu schaffen. Sprung, Sprung, Hilfe, Sprung – Gewechselt. Das Grinsen wurde noch breiter, aber den kleinen Erfolg konnte ich nicht feiern, denn ich musste direkt noch einmal wechseln. In der Ecke bei Hotel kehrt, ohne zu wechseln und erneut auf den Zirkel im Außengalopp. Rechts, links, Sprung, rechts, links. Der Rest war ein Klacks. Fruity versammelte sich ausgezeichnete und auch die Schlangenlinie mit drei Bögen und einfacheren Wechseln, machten mir keine Schwierigkeiten.
      Ein letzter Handwechsel durch die ganze Bahn im mittleren Galopp, Versammlung bei Erreichen von Mike und aufreiten im versammelten Trab zur Mitte. Geschafft. Der Regen hatte mich vollständig durchnässt, das Jackett von Chris klemmte unangenehm an meinen Oberschenkeln, Sattel, einfach überall. Aber: Ich war glücklich. Fruity hatte trotz der Widrigkeiten keine meiner Hilfen infrage gestellt und das als Stute. So gut es ging, lehnte ich mich noch vorn, um meine Arme um ihren Hals zu legen, auch wenn diese seltsamen Polster es mir nicht leicht machten. Ihre winzigen Haare klebten überall verteilt am Jackett.
      Erik erwartete uns schon in dem Übergangstunnel zum Platz mit einer Decke für das Pferd und mich. Hinter ihm, gefolgt von Lina und seiner Tochter. Sie griff erwartungsvoll nach vorn, konnte es gar nicht abwarten endlich zu dem Pferd zu kommen. Ich wurde vollkommen ignoriert, Fruity stand im Vordergrund. Lina setzte sie ab und sofort tapste seine Tochter ungeschickt an die Beine der Stute, klammerte sich fest daran. Neugierig beschnupperte sie das Kind am Kopf und knusperte aber der kleinen Regenjacke.
      „Fredna? Vill du inte säga hej?“, fragte Erik sie und zeigte auf mich.
      „Nej“, weigerte die Kleine sich, hielt sich an Fruitys Kopf und fummelte interessiert an dem Leder der Trense herum. Dass Kinder mich nicht mochten, wurde mir schon früh bewusst, aber dass Eriks Tochter mich ignorierte, vermittelte mir einen schlechten Eindruck, wie das auf langer Sicht funktionieren sollte. Er tippte sie noch mal an, dass Fredna auf mich Aufmerksam würde, doch alles, was sie wollte, war das Pferd.
      „Jag vill sitta på den!“, nörgelte sie plötzlich. Meinerseits gab es ein Problem damit, denn in diesem Sattel sollte jeder einen guten Halt haben, nicht nur ich mit dem großen Hintern. Ich würde ihr hoch helfen, aber ich konnte nicht mal ohne zu keuchen satteln. Also ließ ich Erik den Vortritt und zur Aufsicht stellte Lina sich auf die andere Seite. Unbeholfen stand ich daneben, ignoriert von allen. Hatte ich etwa einen Fehler in der Vorstellung? Durch den Regen waren die großen Monitore nicht an, was vermutlich auch an dem kurzen Stromausfall lag, und es war so laut wieder geworden, dass ich kaum etwas aus den Lautsprechern wahrnahm.
      Schon die Hoffnung verloren noch mal Aufmerksamkeit zu bekommen, kuschelte ich mich in die Abschwitzdecke und kauerte am Boden, wartend darauf, dass die Siegerehrung in der Halle in zwanzig Minuten begann. Lina führte in der Zeit Fruity auf und ab durch den Gang, Erik begleitete sie.
      “Was sitzt du denn hier im Dreck, Kleines?”, fragte mich Chris und kam runter auf seine Knie. Desinteressiert und traurig zuckte ich mit Schultern, als wüsste ich nicht, was wieder los war.
      “Du sagst mir jetzt, warum du schon wieder Depressionen schiebst”, stupste er mich freundlich an der Schulter an. Die Decke schob sich ein Stück herunter und hektisch zog ich sie wieder über mich. Einige andere Reiter ritten an uns vorbei, sahen abfällig zu mir, dann lachten sie. Genau, ich war wieder die Lachnummer, daran dachte ich auch nur. Ich machte mir auf diesem Turnier etwas vor, etwas, das ich nicht war. Die Euphorie in der Aufgabe schien unbegründet zu sein, unnötig und krankhaft.
      “Weil ich Krank bin, deswegen”, murmelte ich verlegen, nicht gewollt meine Gefühle zu offenbaren.
      “Erzähl mir was Neues. Also sag schon, was bedrückt dich, oder muss erst deinen Kryptonit holen?”, neckte er mich, dass Chris es nur gut meinte, wusste ich. Aber ich konnte ihm nicht sagen, dass es mich zerriss ihn nicht bei mir zu haben, niemanden, der mich wertschätzte hier zu sein oder mir zumindest sagte, dass ich es echt eine Horrorvorstellung vorführte.
      “Lieb von dir, aber mir ist nicht zu helfen und er kann daran auch nichts ändern”, hoffte ich meine Ruhe zu bekommen. So könnte ich sagen, im Regen sieht man meine Tränen nicht, aber zumindest mein Gesicht war schon wieder trocken.
      “Erik, kan du komma hit, snälla? (Erik, kommst du bitte herkommen?)”, rief er ihm doch dazu. Überrascht drehte er sich um, kam direkt auf uns zu.
      “Vad är det som händer? (Was ist denn hier los?)”, fragte Erik seinen Freund, in dem, noch immer, seltsamsten Dialekt, den ich je zu Ohren bekam. Sie begannen sich gegenseitig etwas zuzuflüstern, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich in der Abschwitzdecke zu vergraben, dass ich nicht mithörte. Dann reichte Erik mir mit funkelnden Augen die Hand. Mit meiner inneren Leere sah ich langsam auf und erwartete mehr, als eine Hand, denn ich hatte mich gerade auf den Steinen eingedeckt und die perfekte Position gefunden.
      “Wir müssen etwas besprechen, komm bitte mit”, sagte er zunehmend ernster. Ich hatte ihn bisher nur einmal so erlebt und das war, als er sich mir vorstellte. Aber was hatte ich jetzt verbrochen? Wie ein Gespenst in der dunkelblauen Decke umfüllt, schlich ihm nach, bis wir in einer ruhigen Ecke ankamen, in der wohl so schnell niemand vorbeikommen würde. Nur so viel wie nötig, atmete ich, spürte das es nicht gut lief, an meinem bereits nassen Rücken kullerten zusätzliche Schweißperlen hinunter und mein Gesicht fühlte sich kalt, blass an.
      “Vriska?”, begann er endlich die quälende Stille zu unterbrechen.
      “Erik?”, antwortete ich besorgt darüber, was gleichkommen würde.
      “Wenn irgendetwas nicht stimmt, dann möchte ich, dass du mir das auch sagst und nicht wie meine Tochter herumsitzest, wartest bis endlich alle um dich herumstehen. Meine Güte, die bist über zwanzig und solltest doch in der Lage sein, mit jemanden zu sprechen. Also sage mir um Gottes willen was schon wieder ein Problem ist”, wurde es offensichtlich eine Belehrung, was ich zu tun und zu lassen habe, aber ich konnte nicht umdrehen und einfach davor wegrennen, dafür stand er zu nah an mir, verdrehte mir den Kopf. Vielleicht sollte ich es wirklich sagen, auch wenn es mir Angst macht.
      “Ich habe in jeder Sekunde Angst, dass es die letzte mit dir ist. Angst, dich nie wiederzusehen und vollkommen allein zu sein, die Leere weiter zu ertragen. Dass Gefühl zu haben, nicht zu wissen, wie es weitergeht, was wir sind. Ich kann das nicht, okay? Und ich akzeptiere, dass du es langsam angehen willst, aber für mich ist das nichts, nicht zwischen all dem anderen Kram, den ich mit mir herumtrage”, schüttete ich ihm meine Gefühle aus. Er dachte nach, bis ein zaghaftes Lächeln auf die Lippen trat.
      “Und deswegen benimmst du dich, wie eine vierzehnjährige, die das erste Mal Kontakt zu jemanden hat und stetig ein Auf und Ab der Gefühle hat?”, kritisierte er mich eindringlich, machte mir ein schlechtes Gewissen und sorgte dafür, dass die Sorge ihn zu verlieren, in den Vordergrund trat.
      “Es – Es tut mir leid”, versuchte ich eine Antwort zu finden. Mit kräftigen Atemzügen bemühte ich mich, die Tränen zurückzuhalten, um seine Aussage nicht noch zu stärken.
      “Gibst du mir trotzdem die Chance, daran zu arbeiten?”, fragte ich im Moment der Stille, denn nach meinem Versuch einer Entschuldigung schwieg er. Nichts in seinem Gesicht zuckte. Als Erik wieder begann zu sprechen, pochte mein Herz wie wild und die Tränen flossen nun doch.
      “Vriska, ich freue mich, wenn du daran arbeiten möchtest, aber dafür gibt es keinen Grund. Ich möchte dich bei mir haben und nicht nur so provisorisch, wie es jetzt ist. Sondern als meine Vriska”, lachte er und nahm mich in den Arm. Der Schock saß mir tief im Mark, aber er meinte es ernst, wirklich ernst. Panisch schnappte ich nach Luft und drückte mich an ihn. Beruhigt strich er über meinen Kopf, versuchte mich zurückzuholen zur Vernunft.
      “Also sind wir jetzt –”, stammelte ich. Hatte ich ihn richtig verstanden? Wollte er mich wirklich, also so richtig? Freund und Freundin? Schon, wenn ich darüber nachdachte, kamen die nächsten Tränen.
      „Wenn du das auch möchtest, würde ich mich freuen“, drückte er mein Kinn nach oben, tiefblickend in meine Augen. Sein seliges Lächeln strahlte so viel mehr aus, als Freude. Er strahlte förmlich vor Glück, als wäre ich das, was ich immer gesucht hatte und endlich bei sich hatte. Genau das fühlte auch in dem Moment, in ihm sah ich meine Zukunft, eine bessere Version von mir selbst, alles was ich je wünschte.
      „Natürlich“, schluchzte ich glücklich, wischte immer wieder die Freudentränen aus dem Gesicht und drückte meine Lippen auf seine. So viel mehr Zärtlichkeit erfüllte mich, als hätten diese ridikülen Worte etwas zwischen uns geändert. Aber natürlich, es waren nun wir, und nicht mehr du und ich.
      „Aber wir müssen langsam zurück, schließlich musst du dir deine Schleife abholen“, schmunzelte MEIN Freund und zog mich an der Hand zu den anderen, die sehnlich auf die Antwort warteten. Ich war noch vollkommen perplex und überglücklich, weswegen nur er nickte und kleinen Applaus auslöste. Sogar Fredna klatschte so gut sie konnte mit. Lina zeigte auf mich, erklärte ihr etwas und sie lachte herzerwärmend. Aber ich musste nun vollkommen durchnässt aufs Pferd steigen, dass durch die Decke wieder mehr oder weniger trocken war. Ihr Schopf hing nur noch wie ein Lappen herunter und viele Härchen standen ab. Chris nahm mir das Jackett ab und gab mir ein anderes, von wem das war, keine Ahnung, aber es passte deutlich besser.
      „Bereit?“, flüsterte ich Fruity ins Ohr und bekam sogar ein kleines Nicken geschenkt.
      Vollen Mutes ritt ich zum Eingang der Halle, in der die anderen Vier bereits im Schritt ihre Runden drehten auf dem Hufschlag und die Sponsoren noch hektisch irgendwelche Dinge sortierten, Zettel von links nach rechts reichten, bis sie ihre Positionen fanden. Zunehmend kamen auch die Zuschauer zur Ruhe und es wurde Stiller. Noch immer flossen kleine Tränen aus meinen Augen, die ich nicht bremsen konnte. Zunächst kam eine kleine Ansprache darüber, was das für ein tolles Wochenende war, wie die sehr sich alle anstrengten, um ausgezeichnete Leistungen zu erreichen, aber es kann immer nur einen Sieger geben, so was eben. Deswegen hörte ich nur mit einem Ohr hin, gedanklich bei meinem Freund. Tatsächlich fühlte es sich seltsam an, diese Worte zu denken oder gar auszusprechen. Aber es war die Realität! Ich fand jemanden, durch wohl den größten Zufall, den man haben kann, und dann mochte er auch mich. Herausschreien wollte ich es, allen unter die Nase reiben und beweisen, dass ich nicht so schlimm war, wie viele von mir dachten. Aber ich schwieg, grinste wie ein Honigkuchenpferd und hoffte auf einen Platz auf dem Treppchen.
      “Nu kommer vi till dagens överraskning, de tog sig precis till finalen, men nu tog de sig till tredje plats. Mina damer och herrar, välkomna Vriska Isaac till Forbidden Fruit LDS. Grattis! (Nun kommen wir zur Überraschung des Tages, noch gerade so ins Finale geschafft, schafften die beiden es nun auf den dritten Platz. Meine Damen und Herren begrüßen sie mit uns Vriska Isaac auf Forbidden Fruit LDS. Herzlichen Glückwunsch!)”, ertönte es aus dem Lautsprecher. Das waren wir! Im Schritt ritt ich zu den Sponsoren, wurde von aller Richtung zum Händeschütteln genötigt, aber hielt mich brav an die gesellschaftlichen Verhaltensnormen, die man erwartete. Vermutlich musste ich sechs Leute berühren, mehr als zehnmal mich bedankten und bekam neben einem Bronze-farbigen kleinen Pokal auch eine Schleife an das Zaum der Stute, die alle neugierig anstupste und mit der Lippe in dem Präsentkorb der einen Person fummelte. Das Grinsen verschwand nicht von meinem Gesicht, wurde nur stärker, als brannte es sich in die Muskulatur. Dritter Platz! Atemberaubend, auf so einen Erfolg hatte ich gehofft.
      Die beiden über mir platzierten nahmen noch ihre Preise an und vor uns huschten verschiedene Fotografen vorbei, dass Stativ an der Kamera befestigt, obwohl es bei der Brennweite keinen Sinn ergab. Das erzeugte ein Ungleichgewicht und gefährdete die ganze Konstruktion. Aber sollten sie ihre Ausrüstung kaputt machen. Neugierig betrachtete Fruity noch immer alles, die vielen Geräusche und bunten Dinge irritierten sie nicht, stattdessen überlegte sie, wie es wohl schmecken würde oder ob es etwas zum Fressen dabeihatte. Leider musste ich sie enttäuschen, aber am Hänger gäbe es genug für das Krümelmonster. Zum Abschluss ritten wir noch eine Ehrenrunde, alle ließen ihre Pferde strampeln in einer Verstärkung, doch Fruity hatte genug für heute und ich trabte nur am langen einhändig-geführten Zügel hinterher.
      Juliett nahm mir die ganzen Sachen ab, die ich mit mir herumschleppte und ich konnte wieder vom Pferd, mir die Decke umhängen. Die nasse Kleidung unterkühlte mich deutlich, die Knie zittern und am ganzen Körper zuckte es. Erst jetzt, wo ich langsam wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkam, spürte ich, wie kalt mir wirklich war. Erik bemerkte es und gab mir noch seine Jacke, legte seinen Arm um mich.
      “Ich habe doch gesagt, dass du das schafft”, küsste er mich fröhlich am Kopf und zeigte sich zuversichtlich, dass es beim nächsten Mal genauso gut werden würde. Aber welches nächste Mal? Natürlich hatte es auch Spaß gemacht, dass alles zu erleben, aber ich fühlte mich von dem ganzen Rummel drum herum, erst mal geheilt und wollte nichts anderes, als in meinem warmen Bettchen liegen mit einem Kaffee und einer entspannten Serie. Stattdessen lief ich nass bei ziemlich stark brausendem Wind zum Camp, dass nur noch Teilweise aufgebaut war. Das Zelt stand schon nicht mehr und auch der Paddock war im Hänger verstaut. Sie hatten es wohl eilig nach Hause zu kommen, aber sie mussten auch nicht fahren, sondern ich hatte die viereinhalb Stunden Reise vor mir, müde und unterkühlt.
      “Ich habe noch eine Frage”, sagte ich zu Erik, während ich mir vor dem Auto die Kleidung wechselte. Chris hatte freundlicherweise Fruity versorgt und verschwand dann selbst, um mit Niklas zurückzufahren. Die Flucht vom Gelände hatte schon vor Stunden begonnen, einige hatten es vor dem Wolkenbruch geschafft und andere warteten noch darauf, ihre Prüfung zu reiten. Hoffentlich würde ihre Fahrt nicht so eine Weltreise werden, wie unsere.
      “Was möchtest du wissen?”, schmunzelte Erik und inspizierte mich genau, strich mir sanft über den Bauch und Oberschenkel. Seine Hände waren warm und ziemlich weich, jede Stelle, die er berührte, kribbelte wie wild. Ich hoffte, diese Gefühle ihn nie zu verlieren, aber irgendwann würde der Tag kommen, an dem es selbstverständlich wurde, leider.
      „Wie genau hast du dir das jetzt in der Umsetzung vorgestellt?“, stellte ich wohl die wichtigste Frage, schließlich wohnte er meines Wissens nach bei seiner Ex-Freundin, mehr als fünfhundert Kilometer entfernt vom Hof und Stockholm war auch nicht näher dran. Somit würden enorm lange Strecken zwischen uns liegen, die wohl auf Dauer keiner mehr bewältigen möchte.
      „Um ehrlich zu sein, dass weiß ich noch nicht. Aktuell bin beurlaubt und könnte dementsprechend mitkommen, ansonsten bin ich zu meiner Schwester gezogen, da meine Ex plötzlich der Meinung war, keine Lust mehr auf Fredna zu haben. Ich könnte im Homeoffice arbeiten und mir ein Haus bei dir in der Nähe suchen“, schlug er dann vor, strich mir immer wieder über meinen Bauch, ohne mir in die Augen zu sehen. Er wirkte wie hypnotisiert, geblendet von einer Welt, die es nicht gab, außer in seinem Kopf.
      “Findest du das nicht etwas überstürzt, ich mein – das ist doch alles furchtbar kompliziert”, sprach ich meine Gedanken aus, denn ich wollte ihn keinesfalls aus seinem gewohnten Umfeld herausreißen, allerdings wusste ich eigentlich nichts über ihn. Dennoch hatte ich mich auf dieses Abenteuer begeben, eine Reise ins Ungewisse.
      “Ich habe eine Idee. Wenn ich wieder zu Hause bin, spreche ich mit meiner Schwester. Sie wollte ohnehin raus aus Stockholm und vielleicht wäre es auch für sie ein gelungener Start.” Eriks Vorstellung war grenzenlos, hoffentlich nahm er sich nicht zu viel damit vor. Aber ich wollte Abwarten, schauen, ob seine Idee von einem Neuanfang wirklich Wurzeln fassen konnte, deswegen entschied ich, optimistisch zu bleiben. Aus der Ferne hörte ich nun auch Lina mit ihrer Schwester kommen, die noch immer die Kinderbetreuung von Fredna übernommen hatten, das Kind, welches mich bisher vollkommen ignoriert hatte und dessen Mutterrolle ich wohl auf kurz oder lang übernehmen musste. Eine Aufgabe, für die ich mich überhaupt nicht gewachsen fühlte, aber für meinen Auserwählten war ich bereit, es zu versuchen.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 71.708 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel nio | 9. Dezember 2021

      Vrindr // Lubumbashi // Form Follows Function LDS // Erlkönig // Alfred’s Nobelpreis // Satz des Pythagoras // Vintage // Forbidden Fruit LDS

      Vriska
      Lubi mümmelte genüsslich ihr Heu, wie alle anderen Pferde auch. Ansonsten war es still im Stall. Trymr lag neben mir auf dem Boden und beobachtete jeden meiner Schritte, während ich der Stute die Decke wechselte und die Transportgamaschen anlegte. Immer wieder sah ich auf mein Handy, hoffte, dass Niklas endlich da sein würde. Erik hatte sich noch immer nicht gemeldet, als hätte es uns nie gegeben, als würde sein haariger Freund nur ein lästiges Anhängsel sein, den er bei irgendjemanden abladen musste. Den ganzen Tag über lief der Hund mit den gespitzten Ohren vor die Tür, vermutlich in der Hoffnung, dass sein Herrchen wieder kommen würde, aber die Enttäuschung war groß, wenn nur einer der Einsteller kam oder Eltern ihre Kinder zum Unterricht vorbeibrachten. Bruce hatte heute bereits zwei seiner Pferde mit in den Reitunterricht eingebaut und alles wirkte so unglaublich vertraut, wie vor drei Jahren. Vor drei Jahren, als ich die Familie kennenlernte und auch mein Herz verlor auf dem Rücken der Tiere. Ich hatte mir Vrindr geschnappt, eine junge und äußerst sture Jungstute aus seiner Zucht. Auf der Ovalbahn drehten wir unsere Runden.
      „Da bist du“, unterbrach Niklas meine innerliche Tageszusammenfassung.
      „Wo dachtest du, sollte ich sein?“, fragte ich, „im Bett wartend auf dich, um von meinem Ritter mit geschwellter Brust gerettet zu werden?“
      Ich lachte.
      „Das wäre mal gewesen!“, grinste auch er, „aber nein, ich dachte schon draußen. Also beeil dich.“
      „Ja, ja. Ich komme schon“, sagte ich, griff nach dem Strick und öffnete die Tür der Box.
      Neugierig erhob sich der Kopf der großen Stute und ihre dunklen Augen funkelten mich erwartungsvoll an. Freundlich strich ich ihr über den Kopf. Dann hängte ich den Strick in den unteren Ring und führte sie hinaus. Hinter mir schaltete ich das Licht aus.
      „Muss der Hund wirklich mit?“, fragte mich Niklas, als Lubi selbstständig die Hängerklappe hinaufstieg und er auf der Fahrerseite einsteigen wollte. Auch mir war nicht ganz wohl bei der Sache, aber offensichtlich ging ich nun unter die Hundebesitzer.
      „Natürlich“, antwortete ich trocken. Dann öffnete ich eine der hinteren Türen, damit er es sich auf der Rückbank bequem machen konnte. Innerhalb von Sekunden verteilten sich kleine graue Haare auf die Rückbank. Ich verstand nun auch, warum Erik so einen Überzog hatte. Vielleicht sollte ich das auch noch kaufen gehen.
      „Warum hast du denn noch?“, kam Niklas auf das Thema über Trymr zurück, während ich noch immer verträumt in seine Richtung sah.
      „Weil“, überlegte ich laut, „ich denke, dass ich mich sonst ziemlich einsam fühlen würde.“
      Verblüfft sah Niklas zu mir, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und auf seiner Stirn bildeten sich exakt zwei Falten. Falten, die er von seinem Vater hatte. Falten, die Erik ebenfalls hatte. Ich vermisste ihn.
      „Warum fühlst du dich so?“, zögerte er zu fragen. Zwischen den Worten lagen Pausen. Aber ich wusste es nicht.
      „Es ist einfach so ein Gefühl“, blickte ich zum Fenster heraus, an dem die Lichter vorbeizogen. Wie so oft wurden meine Augen glasig, doch schaffte es, meine Tränen zu verbergen. Ich stellte auch mir selbst jeden Abend im Bett diese Frage, aber es gab keine logische Erklärung. Erst als ich Erik bei mir spürte, auch wenn Fredna stets zwischen uns lag, wusste ich, dass es richtig war. Doch es gab auch Zweifel, die vorrangig in dem Moment neben mir saßen und den Kopf verdrehten. Erik gegenüber fühlte es sich nicht fair an, so zu tun, als wäre da nichts. Ich hätte mit ihm darüber sprechen können, denn er bot von selbst öfter an, endlich die Katze aus dem Sack zu lassen. Aber ich drückte mich davor, denn sobald die Worte ausgesprochen waren, wurden sie real. So wusste ich aber auch, dass es ihm, aus unerklärlichen Gründen, egal war. Ob egal dafür das richtige Wort war? Keine Ahnung, auf jeden Fall würde es kein Problem für ihn darstellen. Für mich sollte es aber klar in meinem Kopf ablaufen, bevor ich mich jemanden vollends nähren konnte. Erik war der Richtige — nur zum falschen Zeitpunkt.
      „Vriska, hast du mir überhaupt zugehört?“, vernahm ich Niklas Worte. Der Motor war verstummt und vor mir leuchteten die Lampen vom Hof in Kalmar.
      „Nein“, gab ich zu, „ich war in Gedanken verloren.“
      „Dann hoffe ich, dass du gleich aufmerksamer bist“, rollte er mit den Augen und stieg aus dem großen Auto. Niklas wirkte plötzlich wieder so distanziert, verärgert. Zu gern würde ich mich erinnern können, was er sagte, aber in meinem Kopf herrschte stille. Ich entschied die Stute am Hänger fertig zu machen und holte sie heraus. Er stand noch einen Moment neben mir und tätschelte tatsächlich den strohigen Kopf des Hundes, den er zuvor von der Rückbank holte. Beide beobachteten jeden meiner Schritte, bis Niklas sich verabschiedete, um Form fertig zu machen.
      „Herr Olofsson?“, verließ es unwiederbringlich meine Lippen. Überzeugt drehte er sich um und blieb stehen. Seine Augen funkelte im Licht der Wegbeleuchtung und bis auf uns, war niemand zu sehen. Unüberlegt trabte ich zu ihm und legte meine Arme um seinen Hals. Alles, was dann passierte, kam aus den Tiefen meines Inneren. Erst rückte ich meine Lippen auf seine, bevor meine Hand langsam den Gürtel seiner Hose öffnete.
      „Vriska, das geht nicht“, flüsterte er mir betörend ins Ohr. Sein lautes Atmen verstummte, als ich die warme Hand sein Gemächt hielt.
      „Soll ich aufhören?“, sprach ich leise und begann seinen Hals zu küssen. Meine Augen hielt ich geschlossen, fühlte eine wohlige Wärme in mir. Es fühlte sich gut an einmal die Kontrolle zu haben. Kontrolle darüber, was ich wollte, was ich fühlte und was ich begehrte.
      „Nein, eigentlich nicht“, noch immer kam die Worte nur zaghaft aus seinem Mund und drückte seine Hände fest an meinen Po, während meine sich weiterhin von oben nach unten bewegte.
      „Aber man erwartet uns schon. Später?“, schlug Niklas dann vor und griff nach meinem Am.
      „Mal schauen, aber ich denke nicht. Hat mir schon gereicht“, schmunzelte ich und wischte meine Hände ab der Hose ab. Wie ein begossener Pudel blickte er an mir herunter, stand angewurzelt an der Stelle und begriff nicht so recht, dass ich Lubi satteln wollte. Ich warf ihm noch einen Luftkuss zu, dann drehte er sich um und lief kopfschüttelnd in den Stall. Gewonnen.
      Die Stute schloss langsam ihre Augen und schnaubte mehrfach ab, als ich die Bandagen an ihren Beinen befestigte. Den halben Tag lang übte ich das zusammen mit Bruce. Ich war natürlich noch nicht ansatzweise so schnell wie die anderen, aber immerhin stimmte nun das Ergebnis.
      „Kandare heute“, kam Chris zu mir gelaufen, der vermutlich von Nik erfuhr, dass ich auf dem Parkplatz stand. Zum Glück hatte ich sie eingepackt. Ich öffnete die knarrende Tür des Hängers, nahm das Zaum und hängte das andere zurück. Am Halfter führte ich Lubi zur Halle, gefolgt von Chris mit seinem Wallach.
      „Du machst Erik krank vor Sorge, weißt du das?“, sagte er aus dem Dunst heraus. Trymr spitze seine Ohren und drehte sich um, als suche er nach ihm. Aber natürlich war er nicht da und der Hund folgte mir weiter. Ich zuckte mit den Schultern und blieb stumm.
      „Vriska, was ist dein Problem?“, wurde er ernster.
      „Ich bin das Problem“, antwortete ich wenig überrascht und trieb die Stute etwas aktiver.
      „Na immerhin hast du das erkannt“, lachte er, „dann muss das mit Niklas auch enden.“
      „Aha“, versuchte ich meine Abneigung dem gegenüber zu überspielen.
      „Ich habe euch gesehen, deswegen sage ich das. Wenn er dir so wichtig ist, dann stell dich nicht zwischen seine Beziehung“, mahnte er.
      „Er will es auch“, zuckte ich mit den Schultern.
      „Ja, aber er kann nicht nein sagen. Deswegen musst du stark sein“, setzte er unbehelligt fort, „deine Probleme sind klein im Vergleich zu seinen.“
      Ach so ist das also, regte ich mich innerlich auf. Ich wusste nicht, dass man Probleme miteinander vergleichen konnte, um zu beurteilen, welche größer waren.
      „Und das schließt du woraus?“, erkundigte ich mich.
      Chris seufzte.
      „Ich weiß es einfach. Aber: wenn du ihm eine gute Freundin sein willst, dann stelle dich zurück und konzentriere dich auf das, was du haben kannst“, bar er mich erneut. Abstreiten, dass er recht hatte, konnte ich nicht. Seine Einwände waren berechtigt und vermutlich war es auch das, was ich hören musste.
      „Warum sagst du mir so was überhaupt?“, fragte ich im Moment der Stille, bevor wir den Flur zur Halle betrachteten. Chris blieb stehen und sah mir tief in Augen.
      „Ganz einfach“, begann er und atmete noch einmal tief durch, „es nervt unheimlich zwischen den Fronten zu stehen. Du hetzt die beiden immer mehr aufeinander auf und siehst es nicht einmal.“
      Das traf mich nachhaltig. Direkt entfloh ich dem Blickkontakt und setzte die Stute wieder in Bewegung, doch Chris stellte sich uns in den Weg.
      „Bitte Vriska, wenn dir beide so wichtig sind, wie du augenscheinlich zeigst, dann entscheide dich für Erik. Du kennst ihn nicht. Deswegen kann ich dir nur sagen, dass er sich noch nie so ins Zeug gelegt hat, auch wenn er Fehler macht“, plötzlich verstummte er, als wüsste er deutlich mehr als ich. Verwundert zog ich Brauen zusammen und musterte ihn.
      „Ach ja? Fehler also? Was denn?“, hakte ich skeptisch nach.
      „Also hat er nicht?“, seine Worte kamen zögerlich und äußert verhalten.
      „Nein, jetzt sag mir, was du weißt“, drängte ich. Die Neugier in mir verstärkte sich, auch wenn mein Herz es gar nicht wissen wollte. Erik war für mich die Unschuld in Person. Alles, was er bisher für mich tat, erstreckte sich mit mehr Leidenschaft, als ich mir vorstellen konnte. Er war rücksichtsvoll, vielleicht etwas forsch, aber immer darauf bedacht, das Richtige zu tun. Auch wenn es mich in den wenigen Tagen zusammen auf dem Gestüt etwas nervte, dass Erik sich nicht mehr so sehr ins Zeug legte, wie Kanada. Viel mehr war er nur da, beschäftigte sich jedoch nicht mit mir.
      „Du sprichst am besten mit ihm, oder du lässt es. Ich denke, dass das besser für euch beide wäre“, Chris seufzte und sah ins Innere. Auf dem Sand schwebte Niklas bereits auf seiner Rappstute und auch Eskil war zu sehen. Mein kleines Herz freute sich tatsächlich das Riesenbaby wiederzusehen.
      „Wenn du das sagst“, antwortete ich nur und durfte endlich weiter. Trymr legte sich vor dem Tor auf dem Teppich und sah mir geduldig nach. In der Halle holte ich die Kandare aus meiner Jacke und trenste Lubi auf. Entspannt begann sie zu kauen und über die Aufstiegshilfe erklomm ich das Pferd.
      Im Schritt am langen Zügel begann ich auf dem dritten Hufschlag meine Runden mit der Stute zu drehen. Sie schnaubte häufig ab. Hier in der Halle war sie, im Vergleich zur heimischen, entspannter. Ich bekam das Gefühl, dass sich alle Blicke zu mir richteten. Die Anspannung stieg ins Unermessliche und durch meinen Kopf flogen die Gedanken, alles Schlechte erschlug mich. Was machte ich hier eigentlich? Panisch sprang ich vom Rücken der Stute, ließ sie unbedacht stehen und rannte hinaus. Nun sahen wirklich alle zu mir, doch nur Trymr folgte mir. Ich lief einfach, wusste nicht, wohin und wieso, aber ich lief. Meine Schritte fühlten sich gigantisch an, und, obwohl alles um mich herum nur noch schwarz war, zog es an mir vorbei. Plötzlich hörte ich ein Auto, wusste nicht wo, aber ich hörte es. Aus einem wurden immer mehr. Dann öffnete ich die Augen.
      Ich stand auf der Brücke über der Fernstraße. Meine Knie sackten zusammen und ich knallte auf den Boden. An meiner Hand spürte ich etwas Warmes und Weiches. Dann bewegte es sich aufgeregt, berührte mich sanft an der Seite. Entgegen meiner Erwartung war es nicht eins meiner Körperteile. Trymr stand neben mir und versuchte, dass ich aufstand. Aber mir fehlte die Kraft, mich vom kalten Nass zu erheben. Seine Haare kitzelten im Gesicht. Langsam strich durchs Fell, versuchte mir klar darüber zu werden, was gerade schon wieder passierte. Ich machte aus einer Mücke einen Elefanten, ertrug es nicht mehr, ständig der Idiot sein zu müssen und unbewusst eine Freude dabei zu empfinden. Mich nervte es nur noch in meinem Körper zu stecken.
      Wieder berührte mich die Schnauze, jedoch intensiver und mit mehr Elan. Er steckte seinen Kopf zwischen Körper und Arm, lehnte sich vorsichtig an mich heran. Seine Wärme übertrug sich auf mich. Auf Stelle wollte ich einschlafe, wusste aber, dass es mitten im Nirgendwo auf einer Brücke nicht wirklich die klügste Entscheidung war. Es wurde kälter. Der Wind kam auf, durch Lkw und weitere große Fahrzeuge, die alles beben ließen. Ich sah hoch zu den Sternen, den wenigen, die am Himmel standen und nicht durch graue vorbeiziehende Wolken bedeckt wurden. Trymr zitterte.
      > „Ska vi gå hem?
      „Wollen wir nach Hause fahren?“, fragte ich den Hund. Wie vom Blitz getroffen, sprang er auf und der Schwanz wedelte eilig. Meine kalten Beine sträubten sich eine Bewegung, doch aus meiner Kraftlosigkeit drückte ich mich nach oben, schließlich konnte ich nicht ewig hier herumliegen. Ich taumelte beim Laufen, aber Trymr Ponygröße half dabei nicht umzukippen. Innerlichen zählte ich jeden Schritt, wischte mir immer wieder durchs Gesicht, denn die Tränen liefen noch immer, obwohl es mittlerweile viel mehr Schluchzen wurde, als wirkliche Flüssigkeit. Ich konnte sie nicht aufhalten. In mir schrie es, ich zitterte und wollte nicht mehr.
      „Vriska“, kam mir Eskil erleichtert entgegengerannt. In den Händen hielt er eine Decke, als wusste er schon, dass ich ziemlich unterkühlt sein würde.
      „Wir haben uns alle Sorgen gemacht“, sagte er dann. Aus mir kam kein einziges Wort, auch das Wimmern hatte aufgehört. Alles, was mir blieb, war die quälende Leere. Er legte seine warmen Hände auf meine vom Regen durchnässten Schultern und führte mich zur Reithalle, die plötzlich unglaublich heiß erschien. Am ganzen Körper glühte es.
      „Ich denke, du brauchst eine Pause“, kam Herr Holm zu mir. Noch immer starrte ich nach vorn, nichts an mir rührte sich bis auf das Zittern, dass mich begleitete. Immer mehr Leute kamen auf mich zu, redeten auf mich ein, bis Niklas aus der Ferne brüllte:
      > Om ni alla pratar med henne kommer det inte att hjälpa henne. Dra åt helvete.
      „Wenn ihr sie alle vollquatscht, ist ihr auch nicht geholfen. Verpisst euch.“
      Danke Niklas. Bis auf Eskil verabschiedeten sich alle mit gesenktem Kopf und plötzlich waren wir nur noch zu dritt. Herr Holm nickte mir noch zu, wirkte aber ziemlich erleichtert. Seine Worte klangen zuvor enttäuschend, aber ich schätze, dass sie es nicht waren. Zumindest erhoffte ich mir das. Zeit verstrich, wie viel? Keine Ahnung. Ich nahm nur wahr, dass Eskil irgendwann verschwand und Niklas Lubi bewegte. Sie beide flogen über den hellen Sand der Halle, glänzten im warmen Licht der Lampen. Chris' Worte hallten noch immer durch meinen Kopf. Wenn ich etwas für ihn tun will, soll ich mich zurückhalten, stark bleiben. Aber ich war nicht stark, ich schätzte mich schon immer als schwach ein.
      Irgendwann stand ich auf und lief zum Auto. Trymr blieb vor der Tür sitzen. Nur eine Sekunde gab ich ihm, mir zu folgen, bis es mir egal wurde. Es nieselte und der raue Wind zog unter der Decke an meiner nassen Hose entlang. Wieder begann ich zu zittern. In meinen Taschen suchte vergeblich nach meinem Handy und auch den Schüsseln.
      „Du willst doch so nicht nach Hause?“, musterte mich Niklas und folgte mir mit Lubi aus der Halle. Denn Hufschlag hinter mir, hatte weder bemerkt, noch für voll genommen. Alles, was hörte, waren die lüsternen und auch bedrohlichen Stimmen in meinen Kopf, der Wind, der an einem Dach rüttelte und lautes, blechendes Heulen auslöste.
      „Was denn sonst?“, murmelte ich mit heiserer Stimme. Ich konnte offenbar noch sprechen, wenn auch nur sehr unverständlich. Mit meiner Aktion sorgte ich wohl dafür, dass die Erkältung Rückkehrern würde, vielleicht sogar als Lungenentzündung. Im Krankenhaus könnte man mir besser helfen, hoffte ich.
      „Ich kann und will dich so nicht allein lassen“, gab er zu und legte seine Hand auf meine Schulter, „wir bleiben hier im Vereinshaus. Dort gibt es eine Einliegerwohnung, die aktuell leer sein müsste.“
      Mir fehlten die Worte, also schwieg ich. Trymr kam mittlerweile dazu, wedelte sanft mit seinem Schwanz und blickte zitternd an mir hoch.
      „Wenn du es nicht für mich tun willst, dann für einen haarigen Freund. Dem ist auch kalt“, scherzte er und strich dem Hund über den Kopf. Ich sah zu ersten Mal, dass er sich ihm überhaupt nährte. Also nickte ich und begleitete Niklas in den Stall. Die Abschwitzdecke der Stute war mittlerweile auch komplett durchnässt. Er hänge den Stofffetzen über eine Schnur vor der Box und holte aus der Sattelkammer eine andere, während ich langsam den Gurt des Sattels öffnete. Um den Sattel von Rücken zu nehmen, fehlte mir die Kraft. Also schlug ich nur die Bügel über die Sitzfläche und entfernte die Kandare. Lubi hielt ruhig ihren Kopf und begann sich erst zu kratzen, als das Halfter drum war. Die Box quietschte und knarrte. Niklas kam wieder, nahm den Sattel und reichte mir vorher die Decke. Lieblos warf ich sie über das Pferd und befestigte die Gurte.
      „Royal Equest, sehr nobel“, neckte ich Niklas beim Betrachten der gesteppten, dunkelblauen Decke. An der Seite war sein Name geschickt und der seiner Stute in einer geschwungenen Schrift in Gelb. Etwas stolz las ich beides. Dass Form jetzt schon so tief in sein Herz schaffte, bestärkte meine Annahme, dass er mit ihrem guten Karten haben würde.
      Niklas nickte.
      Ich brachte Lubi in eine der freien Boxen, holte noch Heu und dann schalteten wir das Hauptlicht aus. Nur noch einzelne gedimmte Lichter erhellten den Stall, sodass die Tiere nicht im komplett Dunklem standen. Niklas drückte noch auf diversen Knöpfen, deren Bedeutung mir nicht nur unbekannt war, sondern auch vollkommen egal, herum, bis er zufrieden lächelte und die Tür hinter uns schloss. Draußen war Ruhe eingekehrt. Der Wind beschloss nur noch seicht zu wehen und der Nieselregen hatte sich verabschiedet. Trymr zitterte noch neben mir.
      „Kommst du jetzt?“, drehte sich Niklas zu mir um. Ich bemerkte gar nicht, dass er losgelaufen war.
      „Ja“, antwortete ich heiser. Am Wegesrand erhellten uns kleine Lampen den Weg, die in Baumstämmen und anderen Hölzern eingearbeitet waren, bis wir an dem riesigen Haus ankamen, vor dem wir vor einigen Wochen gegrillt hatten. Alles war mit durchsichtigen Folien abgedeckt und wirkte wie bei einem Verkauf, wie man es aus Serien kannte. Dann öffnete er die große schwarze Tür. Im Inneren schaltete sich automatisch das Licht an. Der Flur war lang. Zur Rechten befand sich eine breite Treppe und zwei Türen, auf der anderen Seite waren noch mehr Türen und der Flur endete ich einem weitreichenden Zimmer. Wir nahmen die Treppe, bis Niklas abbog und eine weitere Tür aufschloss. Auch hier erhellte sich alles automatisch. Mitten im Raum stand ein Kingsize-Bett, dass wie frisch bezogen wirkte, dem gegenüber stand ein TV Board und darüber hing ein Fernseher an der Wand. Links stand eine Schiebetür offen zu einem geräumigen Badezimmer und um die Ecke rechts eine kleinere Küche, in der Niklas verschwand. Ich stand wie angewurzelt noch an der Eingangpforte und wusste nichts mit mir anzufangen.
      „Willst du was trinken?“, fragte er.
      Ich nickte.
      „Auch ein Glas Rotwein?“
      „Es ist“, sprach ich, sah zu der Uhr, die in dem kleinen Durchgang hing, „kurz vor drei, warum sollte ich da Alkohol trinken?“
      „Damit du locker wirst“, zuckte Niklas mit den Schultern und nahm beherzt die Flasche. Sie ploppte laut beim Öffnen und er setzte sie an seinen Mund. Wenigstens ein Glas hätte er sich nehmen können.
      „Ich gehe duschen“, murmelte ich und hänge die Decke über einen Stuhl. Dann lief ich zum Badezimmer und holte mir ein Handtuch aus einem kleinen Regal. Alle rochen wie neu und fühlten sich unglaublich weich an.
      „Du wirst wohl noch Kleidung brauchen, oder?“, kam er ungefragt rein und ich bedeckte mich schlagartig.
      „Nächstes Mal klopfst du“, rollte ich mit meinen Augen.
      „Nichts, was ich noch nie sah“, zuckte er wieder mit seinen Schultern und legte mir ein weißes Shirt an die Seite und eine kurze Hose, sowie blaue Socken mit dem Vereinslogo darauf. Besser als nichts, dachte ich und verschwand unter dem warmen Wasser. In meinem Kopf kehrte Ruhe ein, die Stimmen verstummten und ich fühlte mich endlich befreit von allem. Nichts konnte mir diesen Moment vermiesen.
      Ich spürte noch die Wärme an meinen Füßen, die über den Boden in mir aufstieg. Nach der Dusche ging es mir bedeutend besser. Sogar ein Lächeln huschte über meine Lippen.
      „Okay, und wo schlafe ich?“, fragte ich. Niklas klopfte neben sich und hielt die Decke nach oben. Der Fernseher lief, eine Serie schätze ich. Erst als ich einen genaueren Blick darauf warf, stellte ich fest, dass er Wallender schaute, Krimi also. Wer hätte das nur ahnen können? Wirklich wohlfühlte ich mich nicht bei dem Gedanken, mich zu ihm zu legen, erst recht nicht, weil er bis auf einer Unterhose nichts trug, aber ohne zu protestieren oder meine Bedenken zu äußern, kroch ich unter die Decke. Trymr hatte ein provisorisches Abendessen von Niklas bekommen und lag müde auf einem Teppich zwischen Bett und Fernseher. Kurz sah er auf, als ich mich ins Bett legte, aber senkte sich direkt wieder. Niklas richtete sich auf, legte seinen Arm gekonnt um mich und kam mir deutlich näher, als ich wollte. Im nächsten Moment spürte ich seine Hitze an mir, die auch umgehend unter meiner Haut zuckte und ein Ziehen im Unterleib auslöste. Mein Kopf lag an seiner Schulter und meine Hand auf seiner Brust. Leichte Stoppeln fühlte ich beim sanften Streichen darüber und seine Muskeln zuckten.
      „Vriska?“, flüsterte Niklas, ich murmelte, „schläfst du schon?“
      Jetzt nicht mehr. Ich öffnete meine Augen wieder, nur leicht, aber sie waren offen.
      „Was ist denn noch?“, fragte ich verschlafen.
      „Du reitest morgen früh noch mal, bevor wir abfahren. Da sind wir allein in der Halle“, strich er mir liebevoll einige Strähnen aus dem Gesicht. Ich nickte bloß, bevor mich das Land der Träume wieder einholte.

      Lina
      Niklas Auto stand noch immer im Hof, obwohl es schon halb elf war. Die beiden hätten schon längst zurück sein sollen vom Training und so allmählich begann ich mir Sorgen zu machen, ob vielleicht etwas passiert sei. Immer wieder tigerte ich ruhelos durch die Wohnung, blickte auf mein Handy oder starrte aus dem Fenster in der Hoffnung Scheinwerfer oder so etwas zu erkennen. An Schlaf konnte ich nicht einmal denken, nicht so lang ich im Ungewissen schwebte. Im Fernsehen lief irgendein seltsamer Film, keine Ahnung worum es ging, denn ich schaffte es keine zwei Sekunden der Handlung zu folgen. Eigentlich hatte ich ihn nur eingeschaltet, in der Hoffnung ein wenig Ablenkung zu finden, doch das Gebrabbel, nervte mich ziemlich bald, sodass ich ihn ausschaltete. Die plötzliche Stille zwischen den Wänden wirkte unheimlich, sorgte nur dafür, dass ich noch nervöser wurde. Ich wünschte, meine Schwester wäre noch hier, sie wusste immer was zu tun war oder zumindest wie sie mich beruhigen konnte.
      Zusammengekauert saß ich auf der Couch, starrte abwechselnd auf die Uhr an der Wand und mein Handy. Die Zeiger näherten sich allmählich immer mehr Mitternacht und mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs meine Anspannung nur noch mehr.
      Bereits vor einer Stunde hatte ich Niklas eine Nachricht geschrieben, warum sein Auto noch immer dastand, ob alles okay bei ihnen sei, doch bisher kam nichts zurück. Es war nicht ungewöhnlich nicht sofort eine Antwort von ihm zu erhalten, aber das war in diesem Fall nicht gerade beruhigend.
      Endlich verkündete mein Handy mit ein Ping, den Eingang einer Nachricht. Als ich vom Sofa aufsprang, stieß ich beinahe die Tasse von dem kleinen Tischen herunter, so eilig griff ich nach dem Gerät. Was ich dort las, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und ich musste es mehrfach lesen, bevor ich glauben konnte, dass ich mir das nicht nur einbildete. Nein, die Worte standen ganz eindeutig da, Vriska hatte versucht, Selbstmord zu begehen.
      Wie fremdgesteuert tippten meine zitternden Finger eine Nachricht, hoffte, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging und dass ich froh war, dass er sich um sie kümmerte. Keine Ahnung, ob das die richtigen Worte in einer solchen Situation waren oder ob es überhaupt richtige Worte geben konnte.
      Eine Ewigkeit starrte ich nur auf den dunklen Bildschirm vor mir, unfähig mich zu regen oder einen Gedanken zu fassen. Um mich herum schien es noch stiller geworden zu sein, einzig mein rasender Puls drang in meine Ohren.
      Scheiße, war der erste Gedanke, der durch meinen Kopf schoss. So schlecht ging es ihr also, so schlecht, dass sie offenbar keinen Ausweg mehr sah. Wie hatte ich das nur übersehen können? Vriska lebte direkt vor meiner Nase und ich hatte es nicht mitbekommen! Wie konnte das passieren? War ich so mit mir selbst gewesen, dass ich gar nicht richtig merkte, was um mich herum geschah? War ich jetzt ein schlechter Mensch, weil ich mich erst um mein eigenes Seelenheil gekümmert hatte? Tausende solche Fragen schossen mir durch den Kopf, darunter auch immer wieder die Frage, ob ich etwas hätte ändern können, wenn ich mich anders verhalten hätte oder mehr auf Vriska geachtet hätte.
      Zufällig richtete sich mein Blick auf die Uhr. Erst jetzt nahm ich wahr, dass es schon weit nach einer Uhr war, auch wenn meine Gedanken immer noch Karussell fuhren sollte ich zumindest versuchen zu schlafen, ich würde meine Energie noch benötigen. Mein Leben war zwar ein Ponyhof, aber Ponys bewegten sich nicht von allein. Mechanisch, wie ein Roboter machte ich mich bettfertig, versuchte meine kreisenden Gedanken zu ignorieren, doch sobald ich im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, kam diese in voller Intensität zurück. Erst in den frühen Morgenstunden verstummten sie endlich und ließen mich in einen traumlosen Schlaf sinken.

      Vriska
      Die Nacht war kurz, aber äußerst erholsam. In meine Nase kroch ein würziger und schmackhafter Geruch, der mir Wasser in den Mund laufen ließ. Langsam öffnete ich meine Augen und drehte mich wie üblich durchs Bett, streckte mich, bevor meine Füße auf den warmen Boden trafen. Dass Niklas nicht mehr im Bett lag, fiel mir zwar auf, aber kümmerte mich nicht. Denn dem Geruch zufolge stand er in der Küche und machte sich Frühstück. Trymr stand vor mir, freute sich und begann mit seinem täglichen Ritual. Seine düstere Stimme bebte bei jedem Jaulen. Aufgeregt trat er herum und legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln ab.
      „Ach schön, du bist pünktlich wach“, trat Niklas aus dem Zwischengang zur Küche hervor. Immerhin hatte er es geschafft, eine Hose anzuziehen. Sein Oberteil fehlte noch, damit ich mich nicht noch schlechter fühlte hier zu sein, als ich es tat. Ich wendete meinen Blick von seinem Körper ab und widmete mich wieder dem Hund.
      „Er war schon unten und hat auch gegessen. Also kannst du dich einzig allein auf dich konzentriert“, strahlte er und drehte sich wieder weg. Verdutzt sah ich ihm nach, fest verankert an dem Punkt, wo er zuvor stand. So viel Aufopferung hatte ich nicht von Niklas erwartet, aber freute mich tatsächlich darüber.
      „Jetzt beeile dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ich habe gleich noch Dienst in Kalmar“, rief er aus der Küche. Na gut, also stand ich endlich auf von der Bettkante und lief ins Badezimmer. Dort machte ich mich rasch frisch und zog meine Sachen von gestern wieder an, die Niklas offensichtlich in den Trockner geschmissen hatte und aufgehängt. Am Tisch erwartete er mich bereits.
      „Ich möchte nichts essen“, murmelte ich heiser. Meine Stimme verschwand langsam wieder, aber dann bemerkte ich die weiße Tasse mit einer dampfenden dunklen Flüssigkeit. Ausnahmslos musste, dass Kaffee sein und ich nahm einen Schluck. In meiner Kehle floss die warme und bittere Substanz hinunter. Direkt fühlte ich mich besser.
      „Doch, du isst was. Hast du dich mal angeschaut?“, fragte er ernst.
      „Ja, aber was geht dich das an?“, verteidigte ich mich.
      „Ich fühle mich für dich verantwortlich, solang niemand auf dich aufpasst. Also, iss“, lächelte Niklas. Wer sollte denn auf mich aufpassen? Meinem Handy zufolge hatte sich niemand Gedanken gemacht, dass ich nicht nach Hause gekommen war. Allerdings würde Tyrell spätestens am Abend dich darüber aufregen, dass sein Auto nicht an seinem Platz stand. Also nickte ich nur und pulte mit der Gabel auf dem Teller herum. Der Konsistenz deutete auf Tofu hin, aber mein Auge sagte Ei. Niklas wusste jedoch, dass ich niemals ungeborene Kinder von Hühnern essen würde, also musste es Tofu sein. Nach der ersten Gabel davon im Mund bestätigte sich meine Annahme und es schmeckte unbeschreiblich gut. Mein Hirn weigerte sich dennoch zu akzeptieren, dass ich aufaß und die Hälfte verblieb auf dem Teller.
      „Ich denke nicht, dass Lina das hier gefällt“, seufzte ich.
      „Dass wir zusammen frühstücken?“, fragte er ungläubig beim Abräumen des Tisches. Trymr bekam meine Reste und verschlang sie so gleich.
      „Nein“, begann ich, atmete tief durch, „das alles hier. Es tut mir leid.“
      „Jetzt höre auf, tausendmal darüber nachzudenken. Vielleicht ging das auf dem Parkplatz zu weit, aber sonst habe ich einer Freundin in einer schweren Situation geholfen. Mehr nicht“, lächelte er. Erleichtert war ich nicht, aber akzeptierte seine Ansicht. Was war das nur, dass ihn und seine nur schemenhaft vorhandenen Gefühle jeden Tag auf den nächsten als Verteidigungsstrategie nutzte, um meine eigenen zurückzustellen? Ich fühlte mich schlecht zu jemanden wie ihn aufzusehen und immer den Gedanken zu haben, dass ihn mir warmhalten müsste, obwohl es jemanden in seinem Leben gab. Jemanden, der nicht ich war. Dabei vergaß ich mich selbst, vergaß das auch jemanden hatte, der mir so viel gab. Doch Erik hatte innerhalb kürzester Zeit dafür gesorgt, nicht mehr interessant zu sein. Er bemühte sich nicht, um etwas wie eine Beziehung zu führen, sondern hatte in Schweden direkt das Gefühl vermittelt, schon seit Jahrhunderten an meiner Seite zu sein.
      „Komm, Kleines. Dein Schiff wartet“, legte Niklas schützend auf meine Schulter und ich legte meinen Kopf nach hinten, um zu ihm aufzusehen. Sein Aftershave lag prägnant in Luft und kitzelte in der Nase, auch wenn es ziemlich ätzend wirkte.
      „Fahren wir zusammen zur See?“, fragte ich übertrieben melodramatisch. Er lachte, dann nickte er und lief zur Tür. Ich folgte ihm. Nicht mehr von meiner Seite weichend trabte Trymr, denn ich mittlerweile nicht mal mehr an eine Leine befestigte.
      Auf dem Gestüt herrschte nahezu eine friedhofähnliche Stille. Aus der Ferne vernahm man einen Traktor und ein paar Pferde wieherte. Hinter einer dicken und grauen Wolkenfront versteckte sich die Sonne. An einem Samstagmorgen hätte ich mehr Bevölkerung erwartet, aber so akzeptierte ich es auch. Im Stall brannte bereits das Hauptlicht und die Türen zum Paddock waren offen. Einige Halfter hängen im Gang, ganz allein waren wir also nicht.
      „Ich würde gerne auf den Fleeceplatz“, sagte ich entschlossen und sah zu Niklas, der vor Lubis Box stand. Die Stute sah interessiert über die Front und kaute genüsslich.
      „Können wir machen“, zuckt er mit den Schultern. Niklas setzte sich in Bewegung und verschwand in der Sattelkammer. In der Zeit nahm ich das Halfter von der Front, holte das riesige Pferd heraus. Als Erstes entfernte ich ihre Decke.
      „Kannst du mir geben“, kam Niklas zurück und nahm seine Decke entgegen, während er die Putztasche an die Seite gegenüberstellte. Wann hatte er das Ding eigentlich aus dem Hänger geholt? Die rosa Tasche, die sonst sehr abgestimmt zu ihrem sonstigen Equipment war, musste Zeitnah ersetzt werden. Am liebsten würde ich auch jeglichen Zaum der Stute ersetzen und die roségoldenen Gebisse, aber dafür fehlte das nötige Kleingeld. Also ich konnte vom auszubildenden Lohn fabelhaft Leben, aber für solche Ausgaben war ich nicht vorbereitet. Rücklagen für mögliche Reparatur am Auto hatte ich, aber würde nicht für ein eigentlich fremdes Pferd investieren, also musste ich noch eine Weile damit klarkommen, dass Anna sie in einem typischen Mädchenlook einkleidete. Tatsächlich hätte sich mein altes ich darüber ziemlich gefreut, aber ich hatte mich weiterentwickelt und vordergründig sehr verändert.
      „Muss ich dir jetzt noch erklären, wie man ein Pferd putzt?“, lachte Niklas. Er stand urplötzlich hinter mir und legte seine Hand auf meine. Mit einer streichenden Bewegung bürsteten wir zusammen über das kurze Fell der Stute. Verwirrt drehte ich mich zu ihm um und blickte mit zusammen gekniffenen Augen zu ihm hoch.
      „Ich schaffe das allein“, drückte ich ihn weg und durfte selbst weiter machen. Er lachte noch immer. Idiot. Zum Glück verschwand er dann wieder, holte wieder das Sattelzeug und begann sie fertig zu machen. Das Fell war so gut wie sauber, was sollte auch dreckig werden, wenn sie eine Decke trug. Die Hufe hatte ich auch gereinigt, wobei ich merkte, dass der Hufschmied langsam mal kommen sollte. An der Seite wuchs bereits die Hufwand über das Eisen und der allgemeine Zustand wirkte auch sehr besorgniserregend. Hufe sollten eine gewisse Länge haben, aber ihre Waren viel zu steil und lang, um, dass sie die nötige Griffigkeit haben konnte und vernünftig abrollte.
      „Sind Sie so weit, der Herr?“, fragte ich Hulk an der Wand, der seine Augen auf dem Handy verloren hatte.
      „Oh“, sagte er. Wie bei etwas erwischt, steckte Niklas sein Handy weg und folgte mir.
      „Aber an eine formale Ansprache könnte ich mich gewöhnen“, lachte er dann.
      „Selbstverständlich, wenn Sie das gernhätten, Herr Olofsson“, kicherte ich, als wir am dunklen Reitplatz ankamen, der unschuldig neben den Ponypaddocks ruhte. Weitere Menschenseelen waren nicht in Sicht, was Niklas wohl nutzte, mit beinah bedrohlich nah zu kommen. Seine warmen Hände lagen an meinem Hals, drückten sanft meinen Kopf nach oben, dass ich gezwungen war, den innigen Blickkontakt zu halten. In seinen mehrfarbigen Augen funkelte die Lust. Der Griff wurde fester und eine Atmung tiefer.
      „Willst etwa nicht“, flüsterte Niklas verführerisch.
      Ich schluckte, konnte aber meinen Blick nicht abwenden.
      „Doch“, atmete ich schwer, „aber es geht nicht.“
      Genervt rollte er die Augen nach oben und ließen von mir. Zum Glück, denn noch länger hätte ich die Fassade nicht mehr halten können. Da nichts mehr von ihm kam, außer einem Kopfschütteln, führte ich Lubi in die Mitte des Platzes und gurtete noch einmal nach. Mit einem großen Schritt stieg ich in den Bügel und drückte mich in den Sattel hinauf. Ihre Widerristhöhe war nicht gerade niedrig bei einem Maß von hundertachtzig Zentimetern.
      “Du bist ziemlich langweilig geworden über Nacht, weißt du das?”, rief mir Niklas, beinah eingeschnappt, zu und stand mit verschränkten Armen am Zaun.
      “Wenn Sie das meinen”, lachte ich, “aber mit dem Trainer rumzumachen ist wohl nicht die feine englische Art.”
      “Ach, ich bin jetzt also dein Trainer?”
      Ich zuckte mit den Schultern.
      “Scheint so”, fügte ich hinzu und hielt Lubi vor ihm an.
      “Na dann, Ferse weiter runter, Schultern zusammen und Knie mehr an den Sattel. Weiter”, wurde sein Ton ernster und klopfte der braunen Stute auf den Po. Sie richtete ihre Ohren nach hinten, bis meine Hilfe kam zum Anreiten. Sie schnaubte ab.
      Besten Gewissens versuchte ich seinen Befehlen folgezuleisten, auch wenn es mir an einigen Stellen wirklich schwerfiel. Niklas verlangte dem Pferd und mir nicht nur physisch etwas ab. Nach einer intensiven Trabphase mit Versammlungen und Seitengängen, folgten Verstärkungen. Zwischendrin hielten wir an, wendeten auf der Hinterhand und aus der Bewegung heraus wieder in den Trab. Mir blieb dabei nicht viel Zeit, um über irgendetwas nachzudenken oder eine seiner Übungen anzuzweifeln. Kurz Verschnaufpausen durften wir machen aber mussten dann umgehend an derselben Stelle fortfahren. Im Galopp schaltete mein Kopf sich nahezu vollständig ab. Ich konzentrierte mich einzig allein auf seine Worte und bewegte meine Arme sowie Beine nur noch nach Gefühl, wusste nicht, worauf das hinauslief.
      “Wir werden jetzt noch seinen Zweiwechsel machen auf der Diagonalen”, sprach er und zeigte auf H. Dort bog ich ab und galoppierte drei Sprünge auf der geraden Linie. Dann folgte der erste Wechsel. Im Genick stellte ich sie minimal und legte im selben Atemzug meinen bisher inneren Schenkel vom Gurt zum Verwahren höher. Niklas zählte im Takt, wann ich wieder wechselte und das Pferden springen ließ. Erschöpft kaute Lubi mir die Zügel aus der Hand, schnaubte mehrfach ab und streckte den Hals unter das Buggelenk. Immer wieder lobte ich sie durch Streichen über den Hals. Ich war nicht nur vom Pferd begeistert, sondern auch von meiner Leistung.
      “Danke für Ihre Hilfe”, lachte ich Niklas an, der mit einem zufriedenen Lächeln noch am Zaun stand und von seinem Handy aufsah.
      “Kein Problem”, kam es als Antwort, doch er schien noch zu überlegen, “bekomme ich jetzt eine Gegenleistung?”
      Seine Augen begannen zu funkeln, als gäbe es einen Grund dafür. Ich drückte ein Auge langsam zu und zog dabei meine Lippe mit nach oben. Der Sache traute ich nicht ganz.
      “Was wollen Sie für eine Gegenleistung? Geld?”, fragte ich nach, ohne meinen skeptischen Blick von ihm zu wenden. Wieder überlegte er, zumindest tat er so. Niklas spitzte seinen Mund und beobachtete die Wildgänse am Himmel.
      “Schau mal”, sagte er auf einmal sehr überrascht und zeigte hinter die Zugvögel. Zwischen Wolken tauchte ein besonderer Vogel auf. Ich hatte ihn mittlerweile Tobias getauft, denn er verfolgte mich. Natürlich könnte es auch weiblich sein, doch mir fiel dieser Name als Erstes ein. Tobias war ein Gerfalke, der eigentlich nicht in Gefilden wie diese zu finden war. Wir hatten Winter und von Nähe erkannt ich, dass er kein Jungtier war. Nur Jungtiere zogen im Herbst für einige Wochen Richtung Dänemark und legten mehr als dreitausend Kilometer vom Brutnest zurück. Alttiere verblieben meistens im Norden Finnlands oder Islands. Auch oben in Schweden wurden Tiere dokumentiert, aber eigentlich nicht an der Ostküste ziemlich südlich.
      “Das ist Tobias”, lachte ich und sah wieder zu Lubi, die dem Vogel hoch oben am Himmel keinerlei Beachtung schenkte.
      “Was? Du kannst doch einem Gerfalken nicht den Namen Tobias geben. Was stimmt in deinem Kopf nicht?”
      “Alles”, scherzte ich weiter.
      “Gehört der dir?”, fragte Niklas verwundert nach. Ja, klar. Ich hielt mir Raubvögel, wie andere, Katzen.
      “Nein, Herr Olofsson”, klärte ich auf, “Tobias kommt immer, wenn ich Entscheidungshilfen brauche, als wäre er ein Zeichen des Universums.”
      Niklas musterte mich.
      “Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht. Aber was offenbart Tobias dir denn?”, fragte er dann doch überzeugt.
      “Was weiß ich? Sonst kann ich genau sagen, was Tobias mir mitteilt, doch heute bin ich sprachlos und erfreue mich seiner Präsenz”, zuckte ich mit den Schultern. Mir schwante Böses, was Niklas als Nächstes sagen würde. Ich konnte mir skizzenhaft vorstellen, was er als Gegenleistung erwartete und würde nun auch noch Tobias, meiner Entscheidungshilfe in der Not, als Grund aufführen. Was würde passieren, wenn ich meinem Vogel nicht nachkommen würde und einfach auf meine Vernunft hörte? Eigentlich wollte ich das Schicksal nicht herausfordern. Also trieb ich Lubi aktiver nach vorn, um mehr Raum zwischen ihm und mir zu gewinnen. Auf der gegenüberliegenden Seite drehte ich einige Volten und auch eine Acht, bis er wirklich noch eine Antwort fand. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als Niklas den Mund öffnete.
      “Also”, quälte er mich absichtlich und pausierte, bis er weitersprach, “du solltest dir schon eine kreativere Gegenleistung ausdenken als Geld.”
      “Wenn Sie es so wollen, überlege ich mir etwas Schönes, aber das sollten Sie im Voraus mit Ihrer Partnerin klären. Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen in Erklärungsnot geraten”, blieb ich standhaft. Wieso, ich ihm etwas schuldig war, erschloss sich mir aber auch nicht. Im Zimmer zeigte er sich noch distanziert, als wäre es das normalste der Welt jemandem zu helfen und nun verlangte er eine Gegenleistung dafür. Diese Gegenleistung sollte aber offenbar tiefer eindringen, als es mir lieb war. Ich schüttelte den Kopf, nein. Nichts mehr würde unter der Gürtellinie ablaufen.
      “Übertreibst du nicht ein wenig, dass du immer nur an Lina denkst?”, kam er langsam auf mich zu. Meine Augen zogen sich schlagartig weit auf.
      “Offensichtlich tun Sie das nicht, also gehört das nun in mein Aufgabenfeld”, rollte ich mit den Augen. Kaum zu fassen, dass er so mit der Tatsache umging, eine Beziehung zu führen, für die er mehr oder weniger selbst in die Wege leitete. Undankbar, wirklich. Lina tat wirklich Vieles für ihn, folgt sogar extra in ein sehr weit entferntes Land. Natürlich war es mit Samu eine glückliche Fügung und Tobias schlug zu, dennoch hätte sie sicher ein besseres Leben auf dem WHC mit ihrem magischen Einhorn und Menschen, die sie kannte und vertraute. Mir zu vertrauen wäre auch keine gute Idee, nicht mal ich selbst konnte das.
      “Ich merke schon, plötzlich interessiert dich, was andere denken”, kam seine hochnäsige Art wieder, als hätte ich ihm gerade vor allen Menschen bloßgestellt. Prüfend sah ich mich um, aber niemand schien zu uns zu sehen oder dem Gespräch zu folgen. Dann stieg ich ab. Niklas ballte seine Fäuste und trat wie ein wütendes Kind durch die Fleece Fetzen.
      “Niemand kann etwas dafür, dass Sie eine Beziehung führen”; zuckte ich mit den Schultern. Schlagartig drehte er sich um zu mir, kam einige Schritte auf mich zu und legte wieder seine Hände an meinen Hals. Meine Atmung wurde erneut tiefer, aber ich versuchte mir vorzustellen, was für schlimme Dinge Lina passieren würden oder könnten. Ich wollte nicht, dass sich in Situationen wiederfand, die ich beinah tagtäglich durchlebte.
      “Niklas, lass mich los”, sagte ich ernst.
      “Beantworte mir eine Frage”, stellte er schon wieder Forderungen.
      Ich nickte.
      “Wenn du urplötzlich deinen sonst so vergötterten Kerl abgeschossen hast, weil du Angst hast vor den Gefühlen, die du mir gegenüber empfindest und ich zugegebener Maße auch – Was stört dich an ihm?”
      Was redete er da? Hatte er getrunken? War die Flasche Wein vielleicht nicht nur das nächtliche Getränk der Wahl, sondern auch zum Frühstück? Den Teil mit den Gefühlen versuchte ich bestmöglich zu ignorieren, denn das lief so nicht, selbst, wenn es Lina nicht geben würde. Es stand für uns fest, dass es nur eine nette Zeit zusammen sein sollte mit viel Spaß, aber ohne eine tiefgründige Bedeutung. Daran hielt ich gedanklich fest.
      “Erik”, ich seufzte, ihm von seinem Bruder zu erzählen, fühlte sich falsch an, aber jemanden musste ich mich öffnen. Trymr, der am Tor saß und alles haargenau beobachtete, spitzte die Ohren.
      “Erik war sich seiner Sache zu sicher und damit wirkte er plötzlich so langweilig. Ich will jemanden, der was erleben möchte, nicht nur mit seiner Tochter irgendwo hinfährt, wodurch ich dann allein zu Hause sitze. Er soll sich anstrengen und mehr Elan zeigen. Keine Ahnung, klingt bescheuert”, zuckte ich mit den Schultern.
      “So?”, kam er wieder sehr nah und konnte seine Finger nicht von meinem Hals lassen.
      Aber ich nickte.
      “Dann sag es ihm”, schlug Niklas vor.
      “Nein, soll er sich selbst etwas einfallen lassen”, antworte ich trocken und durfte endlich mein Pferd zurückbringen. Müde trottete die Stute mir nach in den Stall. Mittlerweile fühlte sich die Gasse. Eine gutaussehende, deutlich größere, jüngere Dame kam auf uns zu, musterte uns von oben bis unten.
      „Seid ihr endlich fertig mit herummachen“, pikierte sie eingeschnappt. Niklas und ich sahen einander ziemlich schockiert an.
      „Was auch immer du gesehen haben willst“, begann er entschlossen zu sagen, „entspricht nicht der Wirklichkeit. Wir haben über ihren Freund gesprochen.“
      Ahja, gut. Dann spiele ich mal mit, dachte ich und nickte.
      “Ihr werdet schon noch sehen, wo das endet”, betrachtete sie uns weiter, griff nach den Zügeln ihres Pferdes und verließ die Gasse.
      “Du bist doch nur neidisch”, rief ich noch nach. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen, derartige Behauptungen an den Kopf geworfen zu bekommen, auch wenn sie stückweise recht hatte.
      “Auf dich? Hast du mal in den Spiegel geschaut? Außerdem habe ich es gar nicht nötig, mir jeden Tag neue Dinge einfallen zu lassen, damit auch wirklich jeder hier am Hof auf dich schaut und mit mir in Kiste hüpfen will”, schnaubte sie.
      Mir war neu, dass, bis auf Niklas, jemand dringend ein Bedürfnis hatte, das nur mit mir befriedigt werden konnte. Er sah ihr noch nach und bekam meinen Ellenbogen in die Seite.
      “Aua”, störte er sich und sah böse zu mir herunter.
      “Hör auf ihr auf den Arsch zu glotzen”; flüsterte ich.
      “Wieso? Ich darf doch wohl noch gucken, wenn du mich nicht machen lässt”, schmollte Niklas theatralisch. Man, hör auf so zu sein, das macht mich verrückt!
      “Aus guten Gründen und jetzt hilf mir lieber, du musst gleich arbeiten”, erinnerte ich ihn. Dann sammelte er die Sachen ein von Lubi, während ich mich mit Hund und Pferd auf die kleine Reise zum Hänger machte. Dort nahm Niklas mir netterweise den Sattel vom Rücken des Tieres und lud alles ein. Lubi lief zufrieden die Rampe hinauf, mit einer Decke bekleidet und den Transportgamaschen an den Beinen.
      Im Auto fielen mir immer wieder die Augen zu, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es eine gute Entscheidung war, ihn ans Steuer zu lassen. Erst wenige Meter vor dem Hof wurde mir klar, dass ich gegenüber Lina in Erklärungsnot geraten würde, sollte sie mich fragen anstelle ihres tollen Freundes, warum sein Auto noch dastand und ich erst vierzehn Stunden später nach dem eigentlichen Training wieder am Hof war. Aber natürlich hatte Tobias dafür gesorgt, dass mit einem langen beigen Mantel auf der Terrasse stand, mit der Hand am Ohr und dem Blick unseres Autos folgte.
      “Na toll, darauf habe ich jetzt Lust”, murmelte ich und lehnte mich tief in den Sitz.
      Niklas lachte.
      “Jetzt stell dich nicht so an, was soll schon passieren?”, kommentierte er und provozierte mich mit seiner Hand auf meinem Oberschenkel.
      “Finger weg!”, beschwerte ich mich, “Vielleicht frisst sie mich, dann wäre ich wenigstens weg und sie satt.”
      Er lachte wieder.
      “Was ist denn bitte so lustig? Soll ich dich mal in das Gefühl hineinzuversetzen?”, versuchte ich an seine Vernunft zu appellieren.
      “Viel Erfolg”, grinste er und fuhr weiter langsam entlang. Beherzt griff ich ihm in den Schritt, nicht unbedingt sanft, sondern herausfordernd, mit Intention, als wäre es eine Vorbereitung für eine schnelle Nummer im Auto. Seine Augen wurden größer und als ich langsam die Knöpfe der Jeans öffnete, hielt er mich am Handgelenk fest.
      “Ist okay, ich verstehe es”, stammelte Niklas und schloss wieder alles.
      Gewonnen. Zwei zu null für mich, genau genommen, hatte ich schon drei Punkte und er zumindest einen. Unwichtig. Ich lag in Führung.
      Niklas parkte das Auto auf dem Parkplatz und stieg aus. Er fummelte sich erneut an der Hose herum und sah dabei unter seinen abgestützten Arm hindurch, den er am Dach lehnte. Dann öffnete er plötzlich mit seiner rechten Hand die Knöpfe wieder und den Stoff ein Stück nach unten, gerade so, dass ich alles sehen konnte, aber von hinten alles normal wirkte. Peinlich berührt sah ich weg, nach dem ich zu intensiv hinsah und stieg aus dem Auto. Niklas richtete sich gerade und schloss alles im Handumdrehen.
      “Mit dem rasieren üben wir noch mal”, lachte ich und lief zum Hänger. Es ging ums Pferd, na klar. Zumindest, wenn jemand fragten sollte.
      “Das ist dann wohl trotzdem ein Punkt für mich”, scherzte er und warf den Schlüssel über das Dach zu mir. Nur mit einem Schritt nach hinten konnte ich das Ding fangen und rempelte geradewegs gegen mein Auto, dass mich als Bedrohung ansah und laut begann zu piepen. Ich trat noch mal gegen und es wurde wieder leise.
      “Zwei”, triumphierte Niklas.
      “Genaugenommen habe ich drei und du jetzt zwei, okay?”, offenbarte ich meine Zählung.
      Er nickte. Langsam kam Lina angelaufen, sprach noch so etwas wie eine Verabschiedung in ihr Handy, glaube ich zumindest, denn eigentlich verstand ich kein Wort davon. Doch, die Tatsache, dass sie kurz darauf das Gerät wegpackte, unterstützte diese Hypothese.
      “Schön, dass ihr auch wieder auftaucht. Ihr habt ja erstaunlich gute Laune”, sagte sie kurz angebunden, blickte zwischen uns her. Wo hatte sie denn ihre sonst so gute Laune verloren.
      „Ich freue mich auch dich zu sehen“, lächelte aufgesetzt falsch, „aber okay. Soll ich lieber einem Typen nach heulen, der seinen Hund einfach bei mir abgeladen hatte und plötzlich zu einem Waschlappen wurde? Wenn dir das lieber ist, schaffe ich das.“
      Dann zuckte ich mit den Schultern, beide sahen mich verwirrt an, aber das fühlte sich an, wie mein Moment und ich wetterte weiter.
      „Offensichtlich ist seine Tochter ansteckend, ich nicht mehr interessant genug, um Macht zu demonstrieren. Er traut sich ja nicht mal richtig zu kuscheln, weil er dann eine Beule in der Hose bekommt, wie tragisch“, rollte ich immer wieder mit den Augen und schmiss das Zeug der Stute aus dem Kofferraum. Vermutlich ging das nun doch inhaltlich etwas zu weit, aber ich musste gerade überspielen, dass ich ihn in Wahrheit wirklich vermisste, auch wenn’s soweit stimmte. Wichtig war auch, mir nicht einzugestehen, dass ich keine Entscheidung treffen konnte oder wollte. Ich hätte gerne die Wahl, wer bei mir war.
      „Das reicht“, stoppte Niklas mich, in dem er meinen Arm zur Seite zog. Eigentlich wollte ich gerade zum nächsten Manöver ansetzen, aber bekam einen kleinen Zettel in die Hand gedrückt, denn ich unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Das meinte ich, wenn ich sagte, dass es mit Erik langweilig sei. Ja, wir mussten uns nicht vor neugierigen Blicken schützen, aber trotzdem.
      Lina fehlten die Worte, aber ihr Freund wusste sie auf etwas anderes zu lenken. Gab es dafür auch Punkte? Wenn ja, war er mir einiges voraus, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Aber ich sei Gewissen- und Morallos, logisch. Ich hatte noch anderes zu auf meinem Plan, holte zunächst Trymr von der Rückbank, der erst mich begrüßte und dann Lina aus Niklas Armen riss. Innerlich lachte ich ziemlich darüber, aber dann fiel meine Aufmerksamkeit auf den dunklen Anhänger am Auto.
      „Ich komme doch schon“, sagte ich zu Lubi, die begann im Hänger zu trampeln und zu wiehern. Neugierig streckte den Kopf durch die Seitentür und schnüffelte interessiert. Sanft strich ihr mit meinen kalten Fingern über das weiche und warme Maul. Dann wühlte ich ein Leckerli heraus, dass sie gierig verschlang. Hinten öffnete ich die Klappe allein, den die beiden Verliebten hatten überhaupt kein Interesse daran, mir noch ansatzweise zu helfen. Aber selbst ist die Frau! Lubi wartete mit dem langsamen Rücktreten, bis ich die Stange entfernt hatte und an der Seite stand. Dann liefen wir zusammen in den Stall, in dem die Box auf sie wartete. Die Decke nahm ich ab und warf sie in die Ecke, um aus der Sattelkammer eine gefütterte zu holen. Kurz überlegte ich eine von uns zu nehmen, denn das altrosa konnte ich langsam nicht mehr sehen, aber ich fad auf Anhieb sonst keine, die ihr passen könnte und gefüttert war. Also musste das Ding herhalten. Ruhig wartete sie, bis ich fertig war und die beiden Türen zum Paddock öffnete. Immer wieder streckte Lubi ihre Oberlippe nach einem Heuhalm aus, um ihn mit chirurgischer Genauigkeit zu zerkauen.
      “So, viel Spaß”, sagte ich und klopfte auf ihren Po, als sie ins Freie stürmte. Interessiert streckte sie ihren Kopf über die hohen Gitter und flirtete mit Nobel. Der Fuchshengst stand auf dem ersten Paddock und trabte aufgeregt am Zaun entlang, machte jedoch keine Anstalten intensiv zu versuchen, zu der Stute zu gelangen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne dem Pferd gegenüber hielt auch nur kurz an, bevor der Heusack interessanter wurde. Neben Lubi blickte mich Smoothie interessiert an, danke! Die Schimmelstute erinnerte mich daran, dass ich noch den kleinen Zettel von Niklas bekommen hatte, der in meiner Hosentasche seinen Platz fand.
      In der Stallgasse setzte ich mich auf eine der Bänke und Trymr hatte sich auf meine Füße gesetzt, den Blick fest zum Rolltor gerichtet. Ich hielt den sehr klein zusammengefaltet Zettel in der Hand, wechselte immer vom Hund zu dem Stück Papier. Egal, was darauf stehen würde, war es das wert? Sollte ich mir überhaupt darüber Gedanken machen, es mir durchlesen und damit die Welt verändern? Es war ein typisches Problem, entweder ich blieb im Ungewissen, in dem ich das Ding verbrannte und nicht mehr daran dachte, oder ich öffnete es und. Und was? Ich wusste es nicht, aber meine Vermutung war groß, dass ich damit den Zeitstrang änderte in etwas, das nur kurzzeitig anstand, kurzzeitig Spaß machte und die Zukunft negativ beeinflusste. Meine Knie wippten aufgeregt.
      “Komm, wir gehen erst mal rüber. Bei einem Kaffee kann ich besser denken”, sagte ich zu Trymr, der ohnehin nichts verstand. Aber er folgte mir zum Haus. Von Lina und Niklas war nichts mehr zu sein, auch sein Auto stand nicht mehr. Aber der Hänger war geschlossen und auch die Seitentür zu.
      “Danke”, flüsterte ich ins Leere, als spreche ich mit einem ominösen Hofgespenst, dass heimlich aufräumte.
      Meine Hütte war kalt und still. Wenig Licht fiel durch die hohen Fenster und ich drückte zunächst auf den Lichtschalter, um einen Überblick zu bekommen. Verwundert sah ich zu dem schwarzen Koffer, der neben der Couch stand. War das nicht der von meinem Bruder? Er hatte diesen eigentlich im Schrank verstaut und nicht dort hingestellt. War er hier? Trymr schnüffelte interessiert alles ab, folgte vom Koffer ins Schlafzimmer. Schockiert hielt ich mich an der Wand fest.
      “Was machst du hier?”, rief ich aufgebracht. Harlen drückte sich verschlafen von der Matratze hoch.
      “Wie spät ist es?”, murmelte er.
      “Kurz vor Zwölf”, antwortete ich.
      “Dann lass mich noch ein paar Minuten.” Umgehend drehte er sich wieder ins Kissen. Was genau passierte hier? War ich die Einzige, die die Welt nicht mehr verstand? Ich glaube kaum. Rücksichtslos zog ich mich um, schlüpfte in eine viel zu große Jogginghose und wechselte meinen Hoodie gegen einen anderen. Dabei nahm ich fein säuberlich den Zettel aus der Reithose und steckte ihn an die Seite in meine lockere Hose. Die Tasche hatte einen Reißverschluss, denn ich überzeugt hochzog. In der Küche funkelte mich die Kaffeemaschine an, die mir innerhalb kürzester Zeit ein Heißgetränk zubereitete und dabei laute Geräusche verursachte.
      “Muss das sein?”, beschwerte sich Harlen genervt aus dem Schlafzimmer.
      “Ja, du bist hier eingebrochen und ich muss auch leben”, lachte ich nur und nahm die Tasse entgegen. Vom Haken griff ich mir eine dicke Jacke, in der eine Schachtel Zigaretten steckte. Bewaffnet, mit allem, was ich brauchte, lief ich hinaus auf die Terrasse und setzte mich auf einen der Holzstühle an meinem kleinen Tisch.
      Der Glimmstängel kratzte ekelhaft im Hals, aber nach zwei weiteren Zügen normalisierte sich der Geschmack wieder. In Kombination mit dem Kaffee fühlte ich mich ungewöhnlich frei. Trymr blieb im Haus, aber saß vor einem der Fenster und starrte genau in meine Richtung, um mich nicht aus den Augen zu verlieren. Ich musste diesen Zettel lesen, strömte es durch meinen Kopf und ich holte das geknickte Papier heraus. Langsam öffnete ich es, hielt die Augen geschlossen. An meinem Hals pulsierte die Hauptschlagader und meine Finger zitterten in der Kälte. Meine Knie wippten wieder aufgeregt und ich musste mehrfach tief durchatmen, um nicht die Fassung zu verlieren. Du schaffst das Vriska, flüsterte ich mir leise zu und öffnete die Augen.
      > Glöm inte Erik, ha honom i åtanke, men hitta en distraktion för att hålla huvudet kallt.
      “Vergiss Erik nicht, behalte ihn im Hinterkopf, aber suche dir eine Ablenkung, um einen klaren Kopf zu behalten”, las ich in Niklas ordentlicher Handschrift auf dem Kästchen Papier. Darunter standen noch Ablenkung und eine Telefonnummer. Nervös biss ich mir auf meinem Daumen herum, solange, bis ich Schmerzen empfand. Einerseits tat er alles dafür, dass ich nicht mit Erik Zeit verbrachte, aber andererseits, setzte Niklas sich dafür, dass ich mich an ihm festhielt. Er verhielt sich genauso inkonsequent mit seinen Aussagen wie ich, obwohl ich ihn immer als sehr ausdauernd und genau einschätzte. Aber was solls? Ich speicherte die Nummer als ‘Avledning’ ein. Direkt bot es mit iMessage an und ich verfasste an meine Ablenkung. Es konnte nur eine weitere Nummer von Niklas sein, denn mich an irgendwen weiterzuleiten, schien nicht sein Fachgebiet zu sein.
      “Hej Avledning”, tippte ich. ‘Gesendet’ wechselte direkt zu ‘Gelesen um 12:04 Uhr’. Mein Herz schlug Purzelbäume, als die drei Punkte gleichmäßig sich wellenartig bewegten, bis sie endeten und eine graue Nachricht erschien. Ich schloss meine Augen und sperrte das Handy aufgeregt. Was passierte hier?
      “Keine Namen, keine Bilder, nur der Moment”, leuchtete es auf dem Bildschirm, als ich doch nachsah. Niklas saß vermutlich im Auto, also wie würde er das schreiben sollen? Vielleicht war es doch nicht? Aber mir egal, ich brauchte Ablenkung, das stand fest. Ich stimmte der Nachricht zu, die umgehend gelesen wurde, aber eine Antwort kam nicht direkt. Mehrfach sah ich auf das leere Display des Handys, bis ich den Boden der Tasse betrachtete und entschied mein Chaos zu beseitigen.
      Obwohl ich ungewöhnlich motiviert den Hänger ausräumte und säuberte, ließ mich der Zettel in Gedanken nicht mehr los. Ich hatte alles getan, was er von mir wollte, aber es kam nichts. Was sollte das für eine Ablenkung sein? War es vielleicht noch Niklas, und wenn nicht, wer dann? Welchen Grund gab es, dass ich die Handynummer von jemanden wild Fremdes bekam? Auch, dass mein Bruder urplötzlich wieder da war und tat, als wäre nichts geschehen, brachte mich aus dem Konzept. So sehr, dass ich blind in Lina hineinlief, die gerade Vintage durch die Gasse führte. Seine Beine waren vollständig mit Matsch bedeckt, sowie sein Bauch und auch ihre Stiefel. Mürrisch knurrte sie mich an.
      “Tut mir leid”, murmelte ich beschämt.
      “Schon okay, aber mach das nächste Mal deine Augen auf”, brummelte sie und setzte das Pferd wieder in Bewegung. Ihr Ton irritierte mich, auch wenn ich nachvollziehen konnte, dass Lina nicht wirklich gut auf mich zu sprechen war.
      “Ich wünsche mir den Sommer zurück”, rief ich ihr nach, ohne mich einen Schritt bewegt zu haben. Die Schubkarre knallte auf den kalten Beton. Vinnies Ohren drehten sich kurz nach hinten, aber er blieb ruhig.
      “Welchen Teil davon? Das Chaos oder das Wetter?”, ging sie auf meine Aussage ein, ohne dabei anzuhalten. Mein Kopf senkte sich intuitiv, während meine rechte Hand energisch den linken Unterarm zerdrückte.
      “Das was wir hatten”, sagte entschlossen, aber es kam keine Reaktion. Also atmete ich noch mal tief durch, sah hoch an die Decke zu den freistehenden Balken und unterdrückte meine Tränen.
      “Meine beste Freundin ist zwei Tage vor meinem Geburtstag im April gestorben”, sprach ich unberührt aus, “ich bin mit ihr zum Kindergarten gegangen. Jetzt ist sie weg, für immer und alle anderen auch.” Lina verharrte für ein paar Sekunden in der Bewegung, bevor sie sich umwand. Der eben noch so misslaunige Ausdruck auf ihrem Gesicht war milderer geworden. Stumm kam sie zurückgelaufen, schloss einfach ihre Arme um mich.
      “Das tut mir wirklich leid für dich, das muss schrecklich für dich sein”, sprach sie leise und es klang wirklich aufrichtig.
      “Ihr Tod war nicht das Schlimmste daran, sondern das es niemanden interessierte. Jeder von uns machte weiter, wie zuvor, als wäre nichts passiert”, offenbarte ich das Tiefste in mir, “Keiner sprach darüber, sie wollte nicht einmal mich sehen und ich bekam auch keine Einladung zur Beerdigung. Alles war einfach zu Ende, weg. Es tut mir leid”, wechselte mein Hirn wieder das Thema. Gerade als ich dazu ansetzte, mich dafür entschuldigen zu wollen, dass ich in einem Bett mit ihrem Freund schlief, intensivierte sich die Umarmung und ich verstummte. Vielleicht gab es Dinge, die zu einem späteren Zeitpunkt geklärt werden sollten, denn ich wollte den Typ nicht und das musste sie wissen.
      “Es ist schrecklich, sich nicht verabschieden zu können”, sagte sie sanft und es schien mehr als nur bloßes Mitgefühl in ihren Worten zu liegen. Sie drückte mich noch einmal fest bevor sie die Umarmung löste und mich mild anlächelte. Ich lächelte zurück.
      Wieder wollte mein Hirn endlich das Thema beenden, als mich das Vibrieren in meiner Hosentasche schlagartig meine vollständige Aufmerksamkeit verlangte. Neugierig griff nach dem Gerät. Anstelle einer Nachricht waren es sogar drei von demselben Kontakt.
      “Ich hatte zu tun – Jetzt will ich dich – Woran denkst du gerade?”, perplex sah ich auf das Display, dann hoch zu Lina, die mich irritierte musterte. Der Ausgangspunkt dafür sollte mein viel zu strahlendes Gesicht sein, dass alle Muskeln anspannten, die man für Freude benötigte und das übertrieben kräftig. Je mehr ich mich anstrengte, das wieder loszuwerden, umso stärker wurde es. Unangenehm, wenn es gerade noch um die schmerzhafteste Erinnerung meines Lebens handelte.
      “Das müssen ja erfreuliche Nachrichten sein”, sprach sie das offensichtliche aus, “Ich werde dich dann mal damit allein lassen, Vinnie wartet.” Sie war schon im Begriff den Weg mit dem Hengst fortzusetzen, als sie sich noch einmal umwand: “Falls du mich noch mal brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.”
      Plötzlich vibrierte es erneut.
      “Antworte.”
      Schnell tippte ich auf dem Touchscreen: “Ich unterhalte mich gerade mit meiner Arbeitskollegin”, und antwortete ich nickend zu Lina, “Danke, du kannst auch jederzeit rüberkommen, aber klopfe vorher. Mein Bruder ist manchmal ziemlich knapp bekleidet.” Dann lachte ich und spürte in meinen Händen schon wieder die Vibration im Sekundentakt. Hatte es sonst keine Hobbys? Besonders die erste Nachricht lief mir kalt den Rücken herunter.
      “Wenn ich dir schreibe, dann hast du zu antworten, egal was deiner Meinung nach wichtig erscheint.” Ich schluckte. Meine Kehle fühlte sich unglaublich rau an und in meinem Bauch begann es zu kribbeln. Halt, stopp Körper, so funktioniert das nicht. Aber die Anzahl der Nachrichten ebbte erst ab, als ich begann langsam eine Antwort zu formulieren mit zittrigen Fingern. Anstelle einer bedeutungslosen Entschuldigung schrieb ich: „Okay, ich werde mich daran halten in Zukunft.“
      Schon nach dem nächsten Atemzug tauchten die drei Punkte in der linken Ecke wieder auf. Dann folgte eine Nachricht und eine weitere, wieder die Frage, woran ich gerade dachte. Interessierte es sich wirklich dafür? Durch meinen willkürlichen Versuch Lina zu vermitteln, dass ich ihren Freund nicht mehr belästigen werde und der kleine Zettel seltsame Schwingungen in meinem Kopf auslöste, schwebte noch Niklas noch verankert in der Gedankenwelt.
      „Darf ich vorher meine Aufgabe beenden und danach dir berichten, bitte?“, bat ich freundlich um etwas Zeit. Wenn ich die Schubkarre im Weg stehen ließe, nur um eine relativ lange Nachricht zu tippen, dann würde in fünf Minuten irgendwer darüber fallen. Das wollte ich vermeiden. Meine Bitte wurde bewilligt, aber ich hätte nur zehn Minuten. Auf meinem Handy stellte ich den Timer auf neuen Minuten, steckte es weg und rannte förmlich mit der eiernden Karre zum Misthaufen, der hinter dem Heulager sich befand, also mehrere Meter entfernt. Hektisch pochte mein Herz in der Brust und konnte sich nicht ganz vorstellen, worauf das alles hinauslaufen würde. Seine Nachrichten lösten ein unermessliches Interesse seinerseits aus, oder ihrerseits? Eher unwahrscheinlich, dass solche Worte von einer Frau stammten oder das Niklas nicht so weit dachte, dass es vielleicht mal passieren könnte. Hirn! Stopp! Über den Bildschirm flogen erst wenige Nachrichten und dennoch überlegte ich schon, wie sich seine Haut auf meiner fühlen würde, sein Geruch, der mich in der Nase kitzelte oder ob er eine maskuline Stimme hätte mit Feinheiten, die sie besonders machten.
      Mein Handy klingelte als Zeichen, dass der Timer abgelaufen war. Somit blieb mir noch eine Minute, um eine Nachricht zu schreiben. Im Laufen flogen meine Daumen über den matten Bildschirm und wussten nicht genau, ob ich von Niklas Technik erzählen sollte, oder wie sehr ich mir gerade nach ihm sehnte.
      „Ich dachte gerade darüber nach, wie sehr ich es vermisse in der Nacht, jemanden bei mir zu haben, der mich genauso sehr wollte wie ich ihn. Mich dazu bringt, Dinge zu tun, die sonst keiner verlangt und hemmungslos in mich eindringt“, entschied ich zu schreiben. Damit würden beide Gedanken gut zueinanderpassen.
      „Was würdest du dafür geben mich dazuhaben?“, kam es direkt als Nachricht.
      „Wir kennen uns nicht, dennoch“, mein Finger schwebte über dem w, aber konnte mir noch sicher sein, in welche Richtung das weitergehen würde, „würde ich mich darüber freuen.“
      „Freuen? Sicher, dass das deine richtige Wortwahl ist?“, erkundigte er sich. Aber nein, sie war es nicht. Wohl dabei mit ihm zu schreiben und zu sagen, dass ich ihn ins Bett drücken würde und mit allen meiner Mittel in eine andere Welt befördern wollte, fühlte ich mich nicht. Aber ich entschied genau das zu schreiben und jeder Augenblick, jedes Atmen und Pochen in meiner Brust wusste, dass es richtig war, mit einem Fremden meine tiefsten Wünsche teilen zu können. Gedanken und Träume, die mich tagtäglich quälten und durch Niklas so fassbar wurden. Wurde er dadurch weniger interessant? Nein, aber ich fühlte mich plötzlich kontrollierter, wieder Herr über meine Gefühle und Handlungen, auch wenn man zweiteres erst einmal sehen musste, wenn er in meiner Nähe war. Frohen Mutes schlürfte ich über die Terrasse in die Wohnung und fiel auf die Couch, ohne mich umzusehen. Trymr sprang direkt zu mir und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Seine Augen bewegten sich langsam zu mir nach oben, das Weiß kam zum Vorschein und leise jammerte der Rüde.
      > Trymr, tyvärr vet jag inte när din herre kommer tillbaka.
      “Trymr, ich weiß leider nicht, wann dein Herrchen wieder kommt”, strich ich dem Hund über den Kopf. Langsam kaute er und schluckte dann. Ich konnte auch nicht nachvollziehen, warum er ihn hierließ und nicht einmal sagte, wann er ihn abholte. Offenbar war es eine Selbstverständlichkeit, dass Erik, wenn er Zeit hatte für mich, einfach wieder mit Fredna kommt. Aber nein, nicht mit mir. Allerdings konnte ich nicht erwarten, dass ich Informationen bekam. Ich hatte ihn blockiert, um zu schauen, ob er mich auf anderen Wegen versuchen würde zu kontaktieren, aber nichts. Wichtig schienen wir also beide nicht zu sein. Frustriert sah ich hinunter auf mein Handy, ich hatte zwei neue Nachrichten von Avledning.
      “Ich denke nicht, dass du dem würdig bist, meine Anwesenheit spüren zu dürfen. Beweise dich erst mal”, folgte ich mit meinen Augen den Worten, nach meiner Frage, wann ich spüren dürfte, wovon er sprach. Würdig, damit begann wieder das Thema, dass ich mich irgendwem erst einmal beweisen musste. Einem Fremden etwas Gutes zu tun, wirkte in meinem Kopf so leicht, doch er wusste, was er tat, als gäbe es nichts Einfacheres. Obwohl mir klar war, dass es nur ein Traum sein konnte, hielt ich daran fest.
      “Sollte ich mir Gedanken machen?”, ertönte plötzlich eine ernste Männerstimme hinter mir. Für mehrere Sekunden stoppte mein Atem und panisch fiel mein Handy zu Boden. Immer, wenn ich dachte, dass es kaputt sein, klang es dumpf, aber ich spürte innerlich, dass das Ding auf irgendwas gefallen ist. Der Schock saß noch tief.
      “Hör auf mich so zu erschrecken”, fauchte ich meinen Bruder an, der liebevoll seine Arme von hinten um mich schlang und mir einen Kuss auf die Haare gab. Angeekelt wehrte ich mich aus seiner Befestigung und holte mein Handy vom Boden aus.
      “Ja, super”, antwortete ich mit scharfer Stimme und in meinen Augen funkelte der Hass. Der Bildschirm war vollständig in seine Einzelteile aufgelöst und seltsame Streifen formten sich hinter dem Glas. Damit hatte sich wohl die Bekanntschaft beendet, mir auszumalen, was er tat, wenn ich ihm nicht Folge leistete, beängstige mich.
      “Vriska, ich”, stammelte Harlen unschuldig, “das wollte ich nicht. Was machen wir jetzt?”
      “Wir? Du musst dir jetzt Gedanken machen, weil ich das so schnell wie möglich zurück brauche”, rollte ich mit den Augen und stand frustriert auf, um auf der Terrasse den Krebs zu füttern. Mehrfach setzte mein äußerst liebenswerter Bruder noch zu Entschuldigungsversuchen an, die ich allesamt ignorierte.
      Aufgrund fehlenden Zeitmessers starrte ich Ewigkeiten, die sich später als vier Minuten herausstellten, in die Leere und zog an dem Glimmstängel. Meine Lunge brannte und in meinem Rachen kratze alles. Je kräftiger ich atmete, umso stärker rückte der Schmerz in den Vordergrund. Ich hatte es geschafft über meinen Schatten zu springen, jemanden von meinem Schicksal zu erzählen und im selben Zuge meinen Traummann kennenzulernen. Das Wort beschrieb ihn ganz gut, denn es existierte nur diese eine Version von ihm in meinem Kopf, die weniger real erschien, als ein paar Buchstaben auf einem, kaputten, Bildschirm.
      “Vivi, warum bist du auf einmal so eingeschnappt? Letzte Woche hättest du mich nicht so angefallen, wenn dein Handy kaputtgegangen wäre”, versuchte Harlen ein klärendes Gespräch zu führen. Wieder funkelte ich ihn erbost an, aber versuchte mich ebenfalls daran, ruhig zu bleiben. Mein Traummann hatte sich bestimmt auf die Suche begeben zur nächsten Kandidatin.
      “Du hast mir gerade eine Chance versaut”, fluchte ich.
      “Chance? Du meinst, die seltsamen Nachrichten mit dem Kerl? Vivi, du bist mit Erik zusammen, vergessen?”, zog er seine Augenbrauen nach oben und fasste sich einige Male durch sein leicht nach oben gestyltem Haar.
      Ich zuckte mit den Schultern.
      “Wir sind nicht mehr zusammen”, erklärte ich kurz gebunden und starrte wieder in die Leere. Meine Zigarette hatte den Heldentod erlitten und lag bis zum Filter verbrannt im Aschenbecher neben den anderen Kameraden, die erfolgreich in die Schlacht zogen, aber nie ihre Familie wiedersehen werden. Ich seufzte und fühlte mich teilweise wie meine Stummel.
      “Was hast du schon wieder getan?”, rollte er mit seinen Augen und setzte sich dazu, bemerkte dann aber, dass Trymr jeden seiner Schritte genau beobachtete. Kurz öffnete den Mund, als würde er noch etwas fragen wollen, aber verstummte dann.
      “Es ist nicht in Ordnung, dass du direkt davon ausgehst, dass ich etwas getan habe”, knurrte ich, “aber ich habe es beendet, weil mir etwas fehlte bei uns.”
      “Sex?”, lachte Harlen. Ich schob meine Unterlippe über die obere und drückte das Kinn nach oben zu einem Schmollmund. Meine Augen bewegten sich nach oben, dann nickte ich. Noch immer lachte mein Bruder und legte grundlos seine Hand auf mein rechtes, wippendes Knie unter dem Tisch.
      “Kaum zu glauben, dass er ein Olofsson ist”, antwortete er.
      “Was hat das damit zu tun und woher weißt du das?”, wunderte ich mich.
      “Das hat bei uns in der Firma ziemlich die Runde gemacht, nach dem wir dank deiner Hilfe nun fein raus sind”, lächelte er stolz.
      “Warte”, unweigerlich kratzte ich an meiner rechten Hand, “das komische Gespräch hat dafür gereicht, das Familienunternehmen aus einem Skandal wie diesem zu verhelfen?”
      “Das ist also nicht der Grund?”, fragte mein Bruder später, als es wieder still geworden war.
      “Nein”, ich zog noch einmal kräftig Luft und Rauch ein, “ich erinnere mich an nichts mehr und Erik hatte es mir anderes erzählt. Spätestens jetzt müsste er mir aber einiges erklären.”
      Harlen nickte.
      “Aber warum machst du das schon wieder?”, tastete er sich langsam an die seltsame Firmenfeier heran.
      Ich zuckte mit den Schultern. Es gab keinen Grund dafür, eigentlich hatte nichts einen Grund. Vieles tat ich einfach, weil ich es wollte. Vielleicht bewies ich mir selbst etwas damit, aber eins stand fest – es bereitete mir einen mordsmäßigen Spaß, den Rausch der Gefühle mit älteren Männern, die mich als kleines Püppchen ansahen und genauso behandelten. Ein Psychologe würde das genauer erklären können, vermutlich war das der Grund, warum ich meine Sitzungen schwänzte. Ich brauchte niemanden, der mir mein Leben erklärte und vermutlich auch als ungesund erklärte.
      “Darum”, antwortete ich mit Versatz.
      “Aber was machst du jetzt wegen meines Handys?”, wechselte ich rasch das Thema. Vielleicht war er noch da und wartete auf mich, ich hoffte es.
      “Sieh hier”, sagte Harlen und zeigte ein Handy vom Festland auf einer Kleinanzeigen-Anwendung. Ich nickte. Wortlos stand er auf, verschwand in der Wohnung, kam viele Minuten später wieder angezogen heraus, mit meinem Autoschlüssel in der Hand. Er verabschiedete sich. Trymr spitze die Ohren, folgte seinen Schritten, bis er aus dem Sichtfeld verschwand. Innerlich erdrückte es mich schon, dass ich mich nur schemenhaft an den Akt erinnerte, denn ich wollte schon wissen, ob es gut war. Jedoch konnte soweit aus Erfahrung sagen, dass ich mir darum keine Sorgen machen musste. Nur ein entspanntes Wochenende sah anders aus, besonders, wenn ich in der nächsten Woche das erste komplett eigene Berittpferd vor Ort habe und auch Fruity noch reite.
      Ich lief hinein, holte aus dem Kasten ein Craftbier von den netten Leuten an der Ecke, bei denen Tyrell öfter für alle bestellte. Das Erste floss in Sekundenschnelle meine Kehle hinunter und das zweite folgte sogleich. Die Druckbetankung endete bei vier und zwei weiteren in der Hand, als Weggestaltung. Mit dem Hund im Schlepptau klopfte ich bei Lina an der Tür. Es fühlte sich an, als wartete ich Stunden auf sie, bis sie endlich öffnete.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 73.376 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte September 2020}
    • Mohikanerin
      [​IMG]
      en dag i september | 9. Dezember 2021

      Erlkönig // Form Follows Function LDS // Glanni frá glæsileika eyjarinnar

      Rau zog der Wind durch mein Gesicht und ich schloss den Reißverschluss der Jacke bis zum Kinn nach oben. Aus der Ferne ertönte ein unruhiges Klappern und Knarren eines Daches irgendwo auf dem Hof, doch Erlkönig lief gelassen neben mir her und folgte in den Stall. Seine Ohren folgten, drehten sich neugierig in alle Richtung aus denen Geräusche ertönten, die deutlich interessanter wirkten als die Selbstgespräche meines verwirrten Gehirns. Sinnlos brabbelte ich zusammenhanglose Worte in den Kragen der Jacke und griff ins Leere zu Strick, der über dem Hals des Fuchses lag. Auch in der Gasse und in der Sattelkammer sprach ich weiter mit mir, versuchte den Blicken der anderen auszuweichen und somit so wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen, wie es der Situation geschuldet war. Ich hatte großen Respekt vor den Leuten in Kalmar, sah fasziniert mir das Training an, wenn mir mein Zeitplan das erlaubte. Heute gehörte zu den entspannteren Tagen. Die erste Kundin hatte ihre Einheit verschoben und den Nachmittag hielt ich mir oft frei für meinen Hengst, oder sollte meine jüngere Schwester wieder einmal skurrile Ideen entwickeln zur Freizeitgestaltung.
      „Steh nicht so im Weg herum“, wurde ich von der Seite angeschnaubt, bevor ich umgehend einen Schritt von der Tür weg machte. Niklas rollte mit den Augen und verräumte seinen Sattel. Wir verstanden uns nicht, obwohl die Begrifflichkeit ‚sich nicht verstehen‘ deutlich humaner klang, als es an der Tagesordnung war. Er mochte mich nicht und es lag ihm viel daran, dass jeder davon Wind bekam. Neben dem täglichen herumschubsen, bekam ich ein Verbot die Umkleide zu betreten, wenn er im selben Raum war oder die Gemeinschaftsküche. Das brachte mit sich, dass die zunächst alle sehr freundlichen anderen Mitglieder des Vereins immer weiter entfernten. Zwei kurze Arme, die sich kräftig um meinen Oberkörper legten, holten mich zurück in die Realität.
      “Schön, dass wir uns mal wieder sehen”, trällerte Vriska vergnügt, die mit ihrer Stimme unter den meisten zu erkennen war. Ich drehte mich um und ihre großen Augen strahlen so viel heller als einige Tage zu vor. Sie gehörte womöglich zu den Einzigen, die sich offensiv mit mir zeigten und auch jegliche Diskussionen um das Thema, gewann. Hätte ich vorausgewusst, dass der Wechsel von Malmö nach Kalmar so viele Hürden in meinem Weg legen würde, hätte ich nicht die Energie dafür geopfert. In die Vergangenheit zu blicken, änderte auch nichts an der herrschenden Situation, so viel trauriger erschien es, welch Wucht an Hass für Fremde in der elitären Gruppe herrschte.
      „Und du? Geht es dir besser?“, fragte ich freundlich und trat noch ein Stück zu Seite. Niklas musterte uns beide, verkniff sich aber weitere Anfeindungen.
      „Etwas ja, aber wie sagt man so schön: The show must go on”, lachte Vriska ohne mir in die Augen zu sehen. Generell fiel mir auf, dass sie zwar den körperlichen Kontakt zu jedem im Gespräch suchte, so tätschelte sie seltsamerweise meinen Arm, aber konnte nur für Millisekunden den Blick nach oben zum Gesicht wenden. Ein Lächeln huschte auch mir über die Lippen. Natürlich überspielte sie das Gesehen vor einigen Tagen, von dem ihr Bruder bis zum heutigen Zeitpunkt nichts wusste. Doch stand es mir auch nicht zu, ihm diese Information zu überbringen, so schwieg ich, aber hatte stets einen prüfenden Blick auf sie und dem Kerl, der sie zu dominieren versuchte.
      „Du weißt, wenn was ist“, noch bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, unterbrach uns der Möchte-Gern neben seiner Rappstute.
      „Wir haben noch was vor, kommst du?“, sprach er hörbar genervt. Vriska nickte nur und lief wie ferngesteuert zu ihm, als wäre sie sein Schoßhund. Ich verstand nicht, wie er so mit jedem umgehen konnte und Vriska, die ich grundsätzlich als selbstbewusst kennenlernte, die kein Blatt vor den Mund nahm, auch so widerstandslos ihm Folge leistete. Genaugenommen war es auch seltsam, dass ihre Liebschaft vom Turnier weder namentlich erwähnt wurde, noch einen Fuß auf das Gelände setzte. Aber was zerbrach ich mir den Kopf über mir eher fremde Menschen? Schlussendlich trat ich in die Sattelkammer ein und holte den Putzkasten von meinem Hengst, der die ganze Zeit ruhig in der Gasse stand und zwischendurch versuchte einige Heuhalme zu erhaschen. Aus einer der Boxen schob ich ihm einen kleinen Haufen Heu zu, das Erlkönig genüsslich begann zu kauen, während ich den ganzen getrockneten Matsch aus seinem Fell entfernte. Mein großer Südländer trug weniger Fell als die Vielzahl an Sportpferden, brauchte jedoch keine Decke. Besser gesagt, mied ich es mein Pferd noch die letzten Haare zu nehmen und erst bei wirklich klirrender Kälte bekam er seine petrolfarbene Weidedecke um.
      Nach einem kurzen Blick durch den breiten Flur der Reithalle entschied ich mich nicht noch zwischen die sechs Reiter mich zu drängen und führte Erlkönig am Gebäude vorbei zum Reitplatz direkt daneben. Der Wind fegte noch immer unaufhörlich über das Gestüt, doch meine Winterjacke trug ich nicht grundlos. Gelassen schnaubte er ab und kaute auf den beiden Gebissen in seinem Maul herum, während ich den Gurt an seinem Bauch etwas fester zog. Dann stieg ich auf, setzte mich tief in meinen portugiesischen Sattel und überprüfte mit minimaler einhändiger Hilfegebung die Gehorsamkeit. Schon die kleinste Bewegung am Gebiss bewegte mein Hengst gewünscht zu reagieren und durch Einsatz des Schenkels zu treten. Ich strich ihm durch Fell und gab sofort nach. Er streckte sich. Dann setzten wir zur eigentlichen Einheit an, die nach einigen Runden Schritt auf der ganzen Bahn, wechselten wir zu engeren Biegungen und ersten Seitengängen. Auch folgte recht schnell der Trab, ohne dabei ein schnelleres Tempo als die Versammlung abzufragen. Mit einer Leichtigkeit schwebten wir durch den feuchten Sand, kleine Tropfen prallten von den Hufen zur Seite und kamen mit leisen plätschernden Tönen wieder auf. Die Hufeisen klapperten bei kleinen Berührungen.
      “Wie machst du das nur?”, tauchte eine junge Dame neben uns am Reitplatz auf. Aus dem Galopp sammelte ich den Hengst wieder ein und parierte ihn in den Schritt durch. Vriska stand mit einer großen dunkeln Kapuze auf dem Kopf im Wind und folgte mit dem Blick den Bewegungen des Pferdes.
      “Training, meine Liebe”, lachte ich.
      “Weiß ich, aber trotzdem. Dein Pferd sieht grandios aus und es wirkt, als würde er alles von allein zeigen”, schwärmte sie weiter und strich Erle über die Schnauze. Er kaute, senkte den Kopf und der Schweif pendelte entspannt von links nach rechts. Auch ich führte meine Hand über seinen Hals, ohne Vriska aus den Augen zu verlieren. Ehrlich gesagt war mein Gefühl so dringlich ihr etwas mitteilen zu müssen, dass es innerlich wie wild kribbelte. Schweiß lief unkontrolliert meinen Rücken herunter und mit jedem Atemzug durchströmte mehr Sauerstoff meine Lungenflügel. In meinem Mund wurde es trockener, die Worte lagen mir auf Zunge, aber wagten es nicht über meine Lippen an die Oberfläche zu kommen. Ich schluckte.
      “Danke dir”, stotterte ich, “wenn du weiter so machst, kannst du auch mit der Stute schaffen.”
      “Werden wir sehen, ich wollte eigentlich auf Wiedersehen sagen, weil ich jetzt mit Lubi wieder nach Hause fahre”, lächelte Vriska und winkte. Auch ich schenkte ihr ein Grinsen, ehe sie sich umdrehte und den Steinplatten entlang zum Parkplatz lief. Erleichtert atmete ich aus. Geheimnisse waren immer schwierig für mich zu behalten, da ich gern mit offenen Karten spielte, doch ich hatte Harlen versprochen, nicht damit zu hausieren, dass er seit einigen Tagen bei uns lebte. Außerdem schämte er sich auch dafür, sich selbst zu entfalten und neue Eigenschaften zu entdecken. Wir hatten die letzten Abende zusammen verbracht, obwohl es in mir prickelte, schien er keinen großen Gefallen daran zu haben.
      Meine Konzentration hatte schlagartig nach ihrem kurzen Aufenthalt nachgelassen, doch für einige letzte Galoppeinheiten mit Handwechseln reichte es noch. Dann beendete ich die Einheit mit einem kurzen Ausritt durch den Wald, um den Hengst abzureiten. Erlkönig genoss es durch die Natur einzuatmen und das leichte Knarren der Bäume in den Ohren zu haben, ohne dabei hektisch auf der Stelle zu treten oder auch nur bei einem ungewöhnlichen Geräusch zur Seite zu springen. Unaufhörlich strich ihm über den schwitzenden Hals und meine Handschuhe wurden immer nasser und schmutziger. Hinter uns ertönte Hufschlag, der zunehmend lauter wurden und nach weiteren Metern verspürte ich, dass es nur eine Person sein konnte.
      > Broder, vänta lite.
      “Bruder, warte doch”, rief mir Jonina hinterher, die mir mit ihrem Fuchshengste folgte. Eilig tippelte das Pony neben uns her, aber konnte das Tempo ohne Anstrengung halten.
      > Är du uttråkad, eller varför följer du mig?
      “Ist dir langweilig, oder warum verfolgst du mich?”, lachte ich ihr entgegen. Sie schüttelte nur den Kopf und fummelte die losen, welligen Strähnen hinter ihre Ohren, bevor der Wind in der nächsten Sekunde sie von dort wieder löste. Andere trugen Zöpfe oder sogar eine Reithose, während meine Schwestern trotz jahrelanger Erfahrung nur eine Jeans aus dem Schrank griffen, einen meiner Pullover klaute und damit im Sattel saß. Nur in seltenen Fällen trug sie überhaupt einen Helm, doch darüber konnte ich nicht urteilen, denn auch ich entzog mich häufig dem Schutz des wichtigsten Körperteils.
      > Tycker du om det?
      “Gefällt er dir?”, brach es vor offensichtlicher Neugier aus ihr heraus, als wusste sie, was mein derzeit Wunderpunkt war. Aber ja, sie wusste es natürlich. Schließlich bekam Jonina alles mit, lebte im selben Haus und begleitete uns in die Bar.
      > Jag tror det, men det passar inte.
      “Ich denke ja, aber es passt nicht”, gab ich umgehend zu. Man bedenke, dass ich Harlen kaum kannte und nur von den schlechten Seiten seiner Familie Geschichten hörte, bei denen Vriska keinen Platz hatte. Seine Schwester lobte er stets in den Himmel, fühlte sich stolz, dass sie etwas aus ihrem Leben machte, ohne sich auf dem Erfolg des Erbes zu beruhen.
      > Varför
      “Warum?”, wunderte sich Jonina und hakte bei jeder meiner Aussagen tiefer nach, bis ihr eindringlich erklärte, dass ich nicht das Gefühl bekam, dass ihm genauso viel daran lag diese Bekanntschaft zu haben, wie mir. Meine Schwester war hartnäckig, wollte wirklich jedes Detail wissen, damit ich keine negativen Gefühle in mich hineinfraß, was wohl von kaum Menschen sagen konnte. Ich sollte froh sein, sie bei mir zu haben. Dann begann auch sie von jemanden zu erzählen, den sie bei der gestrigen Kneipentour kennenlernte und womöglich das erste Mal daran Interesse zeigte, den Herrn erneut zu treffen. Mir lag viel an ihr, besonders wenn man den Fakt betrachtete, wie unterschiedlich wir heranwuchsen und dennoch zueinander fanden.
      Auf der kleinen Runde im Wald fand ich nicht die gewünschte Ruhe in meiner Gedankenwelt, stattdessen drückte ich mich vor der Konfrontation mit Jonina zurückzufahren und auf Harlen zu treffen. Unkontrolliert zupfte ich durchgängig am Ende meiner Jacke herum, während Erlkönig genüsslich sein Futter im Maul zerkleinerte. Mit meinem Rücken lehnte ich an der Boxenwand. Das Handy schenkte mir die nötigste Interaktion, denn ich beantwortete nebenbei Kundenanfragen per Mail, als Herr Holm dazu kam.
      > Eskil, kan vi prata med dig?
      “Eskil, können wir kurz sprechen?”, sagte er freundlich. Ich nickte und steckte das Gerät zurück in die Hosentasche. Gespannt sah ich zu ihm.
      > I slutet av november hålls International Horse Show, som du säkert känner till. För detta har vi också ställt upp på några av klubbens medlemmar, först och främst för att det svenska laget ska kunna uppträda. Vi vill att du ska vara med och visa något typiskt portugisiskt på grund av dina förkunskaper. Skulle det vara möjligt?
      “Ende November ist die Internationale Horse Show, die dir ein Begriff sein sollte. Dafür stellen wir auch einige aus dem Verein auf, allen voran für eine Darbietung vom schwedischen Team. Wir wünschen uns, dass du dabei bist und wegen deines Vorwissens etwas typisch Portugiesisches zeigst. Wäre das möglich?”, erläuterte mein Trainer in seiner höflichen, aber bestimmten Art.
      >Jag vill visa något.
      “Ich möchte etwas zeigen”, beschwichtigte ich die Idee. Unbewusst wanderte mein Blick zu meinem Hengst, der glücklich die Schüssel ausleckte. Bei jeder Bewegung des Kopfes klimperte das Metall.
      > Bra, då sätter jag upp dig på listan.
      “Großartig, dann schreibe ich dich auf die Liste”, nickte er.
      > Vem mer kommer?
      “Wer kommt denn noch mit?”, fragte ich, obwohl ich mir das fast hätte selbst beantworten können.
      > Alla ... utom Vriska och Tilda.
      “Alle … außer Vriska und Tilda”, zuckte er mit den Schultern. Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und verschwand aus dem Stall heraus. Niedergeschlagen sah ich zu Boden. Vielleicht sollte ich doch absagen. Die beiden Mädels waren die Einzigen, die es nicht für nötig hielten Niklas dumme Gerede zu folgen und mich zu ignorieren. Er hatte ein Problem mit mir, ob es darauf zurückzuführen war, wer ich bin oder ob es einfaches Alpha Getue war, konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht urteilen.
      Allen Widrigkeiten zu trotz schüttelte ich mich einmal und ging mit neuer Kraft aus dem Stall heraus, hatte zuvor den Hengst auf seinen Paddock gebracht. Jonina saß mit Handy in der Hand bereits im Auto und wartete auf mich.
      > Det är meningen att jag ska åka till Stockholm med dem i slutet av november.
      „Ende November soll ich mit ihnen nach Stockholm fahren“, berichtete ich ihr. Sie legte sofort das Handy weg und strich mir sanft über den Ärmel meiner Jacke.
      > Låt inte andra dra ner dig, du har alltid velat det här så du borde ta den här chansen.
      „Lass dich von den Anderen nicht herunterziehen, du wolltest das immer, also solltest du diese Chance nutzen“, sprach sie mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen.
      > Vill du följa med mig?
      „Würdest du mitkommen?“, fragte ich schließlich noch, was meine Schwester mir mit einem kräftigen Kopfschütteln vereinte und eine große Argumentation ausführte, warum eine Veranstaltung dieser Art auf keinen Fall ihrer Anwesenheit bedarf. Wie so häufig betonte sie den Tierschutz, dass Pferde unter diesen Umständen niemals geritten werden sollten. Die Diskussion war es mir jedoch nicht wert, denn wir unterschieden uns in dem Punkt deutlich, für mich musste es ein gesundes Gleichgewicht geben und mit Erlkönig hatte ich einen guten Partner gefunden.
      Leise brummte der Motor beim Starten auf und laut spielte Musik aus dem Radio, die ich mit wenigen Handgriffen auf Zimmerlautstärke regelte. Jonina warf mir einen bösen Blick zu, aber blieb schweigend an ihrem Handy. Was wohl so interessant war? Vielleicht wollte ich das lieber nicht wissen, denn ihr verträumter Blick mit dem verschmitzten Lächeln verriet mehr als tausend Worte. Im gemäßigten Tempo fuhren wir den sandigen Weg entlang, bis dieser sich auf der Straße verlor. Und auch verlor mich, wenn auch mit dem Blick nach vorne gerichtet. Mein Kopf gewöhnte sich schnell an neue Situationen, doch wonach ich mich im Augenblick sehnte, verwirrte mich. Seit meiner Rückkehr in die Heimat fand ich einige sehr nette Liebschaften, die nur von kurzer Dauer waren und auch für vielmehr gar nicht da sein sollten. Ich genoss die Nähe, aber niemanden konnte mir geben, wonach sich mein Herz sehnte. Zu beschreiben, was es wollte, fiel mir schwer. Die lange Beziehung mit Travaris hatte mir gezeigt, dass ich zu schnell von einer vermeintlichen Sicherheit leiten ließ und damit die Basis zerstörte. Alles, was dann daraus folgte, war geprägt von Verlustängsten und auch, dass ich meine Bedürfnisse hinter die der anderen stellte.
      > Har du redan berättat det för personerna på klubben?
      „Hast du es denen schon im Verein erzählt?“, kam es aus heiterem Himmel von der Seite.
      > Du menar... det där med mig?
      „Du meinst … die Sache mit mir?“, schluckte ich nervös und klammerte mich am Lenkrad fest.
      > Ja, den där saken. Kom ihåg att ju tidigare du säger det, desto mindre finns det att attackera. Eller finns det verkligen ingen som du kommer överens med?
      „Ja, die Sache. Denk dran, je früher du es sagst, umso weniger Angriffsfläche gibt es. Oder gibt es wirklich niemanden, mit dem du dich verstehst?“, hackte sie nach. Meine Schwester war immer sehr direkt. Eine der Eigenschaften, die ich an den meisten Tagen sehr schätze, aber wie heute, eher zur Hölle wünschte.
      > Ja, Vriska och Tilda är ganska trevliga och Chris också.
      „Doch, Vriska und Tilda sind ganz nett und Chris auch“, sprach ich die Worte langsam nacheinander, wohldurchdacht, mir nicht anmerken zu lassen, dass sonst alle anderen sehr distanziert waren. Jonina stand zwar mit ihrem Hengst ebenfalls auf dem Hof, hatte aber rein gar nichts mit dem Reitverein zu tun. Aktuell nahm sie Unterricht bei der einen von den Gangpferden ansonsten wahr sie auf der Suche nach Arbeit, vielleicht sogar einem Hof, auf dem ihr Pferd stehen konnte. Hilfe meinerseits wollte sie nicht annehmen, sondern versuchte jemandem etwas beweisen zu wollen, vermutlich Mama, die es von Anfang für eine schlechte Idee hielt, dass wir zusammenzogen.
      > Har mamma kontaktat dig?
      “Hat Mama sich bei dir gemeldet?”, sprach ich meinen unbewussten Wunsch nach Familienleben aus. Jonina haderte. Ihr Blick schweifte von mir, zu ihrem Handy und dann wieder zur vorbeiziehenden Landschaft hinter dem Glas. Nur noch wenige hundert Meter trennten uns vom gemeinsamen Haus in der Natur.
      > Nej, men jag är glad.
      “Nein, aber ich bin froh darüber”, antwortete sie bei der Ankunft.
      Harlen öffnete die Tür, fröhlich sprang uns Kobi entgegen, mein Hund. Ich hatte ihn erst nach einem sehr langen Gespräch mit Travaris endlich nach Schweden holen dürfen, da er sich plötzlich für das Tier verantwortliche fühlte, dass ich zuvor von der Straße holte und in das menschliche Leben integrierte. Er quietschte, wuselte zwischen den Beinen entlang und alles an ihm bewegte sich wie bei einem Gummiball, der in einem leeren Raum seine Energie entfesselte. Jonina kramte aus dem Pullover ein Leckerli, das er gierig verschlang. Mein Blick fiel währenddessen unbewusst zu Harlen, der meine Aufmerksamkeit nicht bemerkte. Er fuhr sich durchs Haar. Auf seinen runden und wohlgeformten Lippen bildete sich ein ungezwungenes Lächeln, voller Glück und Unschuld. Da war es wieder, das Gefühl von Sicherheit erschlich sich seinen Platz tief in mir und schlug Wurzeln. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Nein, ich darf das nicht, dachte ich. Dann lief um das Auto herum zum Kofferraum und holte meine Sporttasche heraus.
      “Hast du mit meiner Schwester gesprochen?”, fragte Harlen, als ich in der Küche stand und für uns drei das Mittagessen zubereitete. Nicht gefasst auf diese Frage, fiel mir der Holzlöffel auf den Boden und noch bevor ich ihn wieder aufheben konnte, kam Kobi angelaufen und nahm sich das Stück Holz mit dem Korb. Verloren blickte ich dem felligen Freund hinterher und seufzte.
      “Ja, kurz. Es geht ihr gut”, antwortete ich kurz gebunden, versuchte alle Anzeichen auf ihren Nervenzusammenbruch zu unterlassen. Er nickte und unterhielt sich weiter mit meiner Schwester, worüber? Ich hörte nicht zu, sondern versuchte meine letzte Konzentration einzig allein auf den Herd zu lenken.

      © Mohikanerin // Eskil // 19.194 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte September 2020}
    • Mohikanerin
      Hoffnung in Genf | 04. Januar 2022
      Monet / Erlkönig / WHC‘ Poseidon / Dix Mille LDS / Jora / Crystal Sky
      Hatte ich schon erwähnt, dass mir dieser Abreiteplatz einen gehörigen Schrecken einjagte? Um mich herum tummelten sich namhafte Reiter aus der gesamten DACH Region, dass ich kaum ein Auge auf meinen Hengst werfen konnte, ohne weiche Knie zu bekommen. Alicia hingegen wirkte wie ein Profi. Ihre Rappstute schritt durch den Sand, verzog keine Miene und hielt die Ohren konsequent bei ihrer Reiterin, selbst der hektische Hengst einige Meter entfernt war vollkommen uninteressant. Ja, Mo fand diesen Ort genauso angsteinflößend wie ich.
      Wir kamen zusammen aus einem verschlafenen Grenzort zur Schweiz, Chez Favre. Mit ein paar weiteren jungen Menschen teilten wir uns ein Stallabteil auf einem Gemeinschaftshof. Wo man nur hinsah, standen Pferde jeder Größe, Farbe und Rasse, dazwischen kleine Wege entlang der Zäune, teils aus Sand und zum anderen befestigt aus alten roten Steinen, wie auch die Gebäude. An den Ställen hing Efeu, der im Frühjahr weiß blühte. Idyllisch war es, doch der Schein trübte. Ständig entstanden unnötige Diskussionen um Gott und Welt und versteht mich nicht falsch, ich wusste nicht einmal welches Problem die Mädels im Stall neben uns hatten. An einem Tag hieß es, dass wir die Reithalle nicht sauber gemacht hätten, obwohl keiner von uns einen Slot gebucht hatte, und an dem nächsten waren wir es, die eine Decke geklaut hatten, die nach einigen Stunden dann doch wieder auftauchte. Bekamen wir eine Entschuldigung? Nein, natürlich nicht. Ich war es leid mich mit dem Stress zu befassen, aber einen Stall zu finden, von dem aus ich nur wenige Minuten nach Hause fuhr, gab es nicht.
      „Neele Aucoin mit Monet bitte in die Halle“, ertönte es aus den blechernen Lautsprechern auf dem Abreiteplatz. Alicia streckte noch die Daumen nach oben und grinste breit, bevor ich sie aus den Augen verlor. Reiten macht Spaß, sprach die leise Stimme in meinem Kopf. In der großen Reithalle verstummten die Zuschauer, die zuvor noch den jungen Mann Beifall gaben. Wir begegneten uns im Tunnel und obwohl kein Wort über meine Lippen huschte, sah ich hoch zu ihm, musterte sein Gesicht. Markant legte sich ein Schatten an seinem Hals vom Kiefer und auf den Lippen strahlte ein solch herzliches Lächeln, das mich ansteckte. In meiner Brust beruhigte sich das pochende Herz. Merci, flüsterte ich und verwahrte das rechte Bahn an der Seite meines Hengstes, während sich das Gewicht leicht zur Linken verlagerte. Einmal sah ich ihm noch nach, so wie er mir auch. Verhalten lächelte ich, wandte den Blick von ihm zum Sand und im nächsten Augenblick betraten wir den abgezäunten Reitplatz inmitten der Reithalle, okay, es war keine richtige Reithalle, sondern eine Messehalle, in der Sand auf den Boden geschüttet wurde.
      Monet schwebte durch den Sand und von einer Phase zur nächsten bekam ich das Gefühl, dass mein Pony Hengst immer größer wurde. Sein Rumpf erhob sich, wodurch durch die Hinterbeine immer weiter unter seinen Schwerpunkt kamen. Durch eine ganze Parade verkürzte sich der letzte Sprung und wir standen, still. Gelassen kaute er auf dem Gebiss, während ich langsam meine rechte Hand zu meinem Helm bewegte, um zu grüßen. Eine Dame von den Richtern lächelte freundlich, nickte und aus dem Halt trabte ich wieder los. Kaum sichtbar vermehrte ich die treibende Hilfe auf beiden Seiten des Pferdebauchs, versuchte mit nur leichten Zügelkontakt das Genick des Pferdes als höchsten Punkt zu behalten, wobei seine Ohren lustig nach vorn und hinten wippten. Je tiefer ich mich in den Sattel setzte, umso mehr setzte auch Monet seine Hinterhand. Im Zusammenspiel mit halben Paraden, den treibenden Beinen verkürzte ich seine Tritte. Kurz vor dem Erreichen der kurzen Seite verlagerte ich das Gewicht auf meine linke Seite und zupfte einmal an dem Gebiss. Punktgenau bog er ab. Den Großen hatte Monet einiges voraus – in den Kurven bekam er die Möglichkeit einige Tritte mehr zu nutzen, um durch die Ecke zu kommen, umso mehr Einsatz benötigte ich, ihn in der Biegung zu halten. Dafür reichte das minimale Verwahren an der Außenseite aus, um ihn an meinem inneren Bein zu wenden und dabei die Schulter nicht zu verlieren. Im Wechsel durch die ganze Bahn verstärkte ich die Tritte. Monet geriet mir dabei zu sehr hinter den Zügel. Unruhig schnaubte er. Aber wie gewünschten bekam er mehr Schwung, vielleicht etwas zu viel, denn ich spürte, wie sich sein Rücken unter dem Sattel verfestigte. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht tiefer in den Sattel, gab ihm Maul eine halbe Parade, um Schub aus der Bewegung zu nehmen. Sofort fußte die Hinterhand aktiver ab und vor mir, baute sich Mo wieder auf. Natürlich würde es Abzüge geben, aber das war mir wirklich nicht wichtig. Ich wollte mir selbst, und den Anderen, beweisen, dass ein Pony genauso gute Chancen haben kann wie ein Warmblut in der Grand Prix. Dass heute nicht der richtige Tag dafür sei und ich uns beide besser hätte vorbereiten sollen, wurde mir erst vor dem Publikum klar. Die Prüfung deswegen abzubrechen, würde daran nichts ändern. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich die 49 % auf der Anzeige aufleuchte. Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt, aber ich konnte die Zügel nicht loslassen, also blieb mir nur der Gedanke daran.
      In der Traversale nach verschätzte ich mich, einige Tritte zu früh kamen wir an der langen Seite an, womit wir uns erneut einen gehörige Punktabzüge einhandelten. Bei der nächsten passte es jedoch und ich flüsterte meinen Hengst leise ein Lob zu. Den Übergang zur Versammlung beherrschten wir im Schlaf und auch in den Halt. Wieder kaute Monet ruhig auf seinem Olivengebiss, während ich den Moment der Ruhe nutzte, um meine Energie wieder zu sammeln. Schreitend trat er fünf Schritte zurück, die ich mit meinen Beinen genau koordinierte. Sanft drückte ich kräftiger in den Bauch, ließ am Zügel nach und er trabte versammelt an. Dabei schnaubte er gelassen haben. Monet war ein Streber, durch und durch, aber der Weg dorthin ähnelte einer Wanderung über die Alpen – barfuß, im Winter.
      „Neele, du hast es geschafft“, freute sich Lotye Quiron, meine Trainerin. Mir fehlten dir Worte, in meiner Brust schlug das Herz Purzelbäume und auch Mo prustete laut. Also nickte ich nur langsam, während meine Hand über den verschwitzten Hals meines Hengstes strich. Von der Seite kam auch mein Vater dazu, der breit grinste und uns beide lobte.
      Wie hypnotisiert drehte ich viele Runden auf dem Abreiteplatz, sah leer zwischen die Ohren meines Tieres hindurch und versuchte mit niemandem einen Unfall zu bauen. Gekonnt wich Monet wie von selbst den anderen Reiterpaaren aus, drehte kleine Volten um sie herum und zwischen trabte er sogar an. Doch für mich gab es nur die Gedanken an die Prüfung. Wir hatten zwar in der Gesamtwertung keine hohe Punktzahl erzielen können, doch hätte mir einer gesagt, dass er mit seiner Passage 89 % erzielen würde, hätte ich gelacht. Nicht, weil es für unwahrscheinlich empfand, sondern aus der Unsicherheit heraus. Doch Monet hatte es geschafft. Für diesen einen kleinen Moment hatte sich die ganze Arbeit gelohnt, als die Tränen, die geflossen sind und Schweiß, all die schlaflosen Nächte und Gedanken, ihn abzugeben, aber es dann doch nicht getan zu haben.
      „Du warst großartig“, flüsterte ich Monet zu und gab ihm ein Kuss zwischen die Nüstern. Im Zeichen seiner Zuneigung drückte er seinen Kopf an meine Schulter und versuchte sich zu scheuern, kurz lachte ich und schob ihn zur Seite. Dann kam auch Lotye wieder, im Schlepptau Alicia und meinen Vater. Die drei schienen es gar nicht abwarten zu können, wieder zurück in die Nachbarhalle zu gehen, um den Hengst abzusatteln. Nur müde schleppte er sich uns hinterher, beachtete gar nicht die Stuten, die ihm lüstern anblickten, zum Glück meinerseits.
      Monet stand mit seiner Decke, und seinem schwarzen Sleezy, in seiner Box, mümmelte schläfrig sein Heu. Erst jetzt, wo alles erledigt war, spürte ich meine eigene Müdigkeit. Schwer lag mein Kopf auf den Schultern und nur mit Mühe konnte ich ihn oben tragen. Auch meine Augen fielen unkontrolliert zu, bis eine tiefe Stimme mich begrüßte und mit dem Finger auf meine Schulter tippte. Am ganzen Körper zuckte ich zusammen, rutschte einige Zentimeter tiefer in den Stuhl, ehe ich mich wieder aufrappelte und den groß gewachsenen, jungen Mann neben mir bemerkte. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass es der Herr auf dem Fuchs war, den ich beim Einreiten getroffen hatte. Auf seinen schmalen, rosigen Lippen lag ein höfliches Lächeln, das mich erneut aufmunterte zu grinsen. Ich schüttelte mich, realisierte dabei auch, dass meine eigentlich weiße Hose vollkommen verdreckt war und der Zopf nur noch locker herunter hing mit vielen Strähnen, die sich daraus verabschiedet hatten. So saß ich vor ihm, kaum zu glauben, dass mich überhaupt jemand ansprach.
      „Soll ich noch mal umdrehen und wieder kommen?“, scherzte er.
      „Ach, alles gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass mich heute noch mal jemand ansprechen wird“, gluckste ich unsicher, schob unaufhörlich die lockeren Strähnen aus meinem Gesicht hinters Ohr, „Aber was machst du hier?“
      „Um ehrlich zu sein, wollte ich dich auf einen Snack einladen, weil du dich so tapfer gegen die ganzen Warmblüter durchsetzen konntest“, reichte er mir seine Hand, um mir aus dem Stuhl zu helfen. So, wie ich vor ihm stand, bemerkte ich, dass er riesig war. Gut einen Kopf ragte er über meinen hinauf, was aber bei meinen Knappen eins sechzig nicht schwer war.
      „Sehr gern“, antwortete ich. Hektisch sah ich mich um, denn einfach zu verschwinden war nicht meine Art, doch von keinen meiner drei Begleitern entdeckte ich jemanden.
      „Vorher muss ich aber meinen Vater finden, warte hier“, huschte ich an ihm vorbei, worauf er wie ein begossener Pudel neben der offenen Box meines Hengstes stand und mir mit zusammen gezogenen Brauen nachsah. Vorbeizog ich an den Menschen, die sich in einigen Gängen tummelten, teilweise mit einem Glas in der Hand, in dem wohl Sekt oder Weißwein drin war. Aus den Gesprächen konnte ich nicht viel verstehen, denn auf einem internalen Turnier, herrschte allem voran ein reges Treiben von Menschen aus anderen Ländern. Wenn ich hätte raten müssen, war die Gruppe aus Polen, oder Tschechien. Oder ein beliebiges anderen Land aus dem Ostblock, so genau kannte ich ihre Sprachen nicht. Für mich stellte es schon eine Herausforderung dar, vier an der Zahl zu beherrschen. Ganz am Ende, dem Eingang, wo die Transporter hineinfuhren und parkten, sah ich meinen Vater rauchend zusammen mit meiner Trainerin.
      „Da seid ihr ja“, krächzte ich außer Atem und legte meine Hand stützend auf die Schulter von ihm. Er grinste und atmete tief aus.
      „Was bist du denn so aus der Puste, hast du ein Gespenst gesehen?“, alle Beteiligten lachten, nur ich nicht.
      „Nein, ich wollte mit jemanden etwas essen gehen und nur Bescheid geben, dass ich nicht mehr bei Monet bin“, gab ich klar zu erkennen. Alica kam auch von der Seite dazu, das Gesicht mit einem frechen Grinsen belegt.
      „Ach ja? Mit jemanden also?“, sprach sie verschmitzt.
      Ich nickte.
      „Du kennst die Regeln“, zog mein Vater verdächtig eine Braue nach oben, zog dabei an seiner Zigarette.
      „Ja, ja. Keine Sorge. Wir essen nur etwas“, rollte ich mit den Augen, „außerdem bin ich volljährig.“
      Erneut lachten die Beteiligten nur, Grund genug, um mich wiederzuverziehen, doch meine beste Freundin folgte mir neugierig.
      „Was willst du?“, fauchte ich sie scharf an, aber sie schwieg. Nur das Grinsen auf ihren Lippen wurde schmutziger. Erneut zogen wir vorbei an der Ostblockgruppe, die aus Polen stammten, denn auf einem der Schabracken vor der Box war ihre Flagge zu sehen. Die Weingläser standen mittlerweile leer auf einem kleinen Tisch und eine andere Flasche mit blauem Etikett stand dabei, die Shotgläser daneben nicht zu verkennen. Glücklich jauchzten sie. Die silberne Schleife verriet mir, dass wohl einer von ihnen den zweiten Platz gemacht hatten in der Senior Klasse. Als wir an ihnen vorbei waren, erblickte ich ihn, wie er noch immer vor der Box stand, aber nun mein Pony ausgiebig streichelte. Der Hengst hatte seinen Kopf an seine Schulter abgelegt und genoss es am Unterhals gekrault zu werden. Von solch großen Händen würde ich auch gekrault werden wollen, nein Neele, halt. Ich schüttelte den Kopf, hör auf, sagte ich mir.
      „Na, diskutierst du wieder mit dir selbst“, erkannt Alicia sofort und drückte ihren Finger in meine Seite. Schmerzerfüllt zuckte ich zusammen, blieb dabeistehen. Sie grinste noch immer schelmisch, als ich ihr nickend beschwichtigte.
      „Aber was willst du eigentlich?“, fragte ich erneut.
      „Ich will sehen, was du dir da angelacht hast und was ich bisher sehe, ist eindeutig über deinem Niveau“, lachte sie und öffnete den Zopf ihrer schwarzen Haare, die weitgefächert über ihre Schultern fielen.
      „Bei Freunden wie dir, braucht man wirklich keine Feinde“, rollte ich mit den Augen und zupfte mir einige Sägespäne aus den Haaren, die ich jetzt erst bemerkte.
      „Außerdem, was heißt ihr über meinem Niveau? Wen soll ich deiner Meinung nach den kennenlernen?“, funkelten meine Augen böse in ihre Richtung. Abermals richtete sie sich das üppige Dekolleté und knöpfte sogar zwei Knöpfe ihres Poloshirts weiter auf. Nein, meine beste Freundin war keine Matratze, wusste sich nur vor dem anderen Geschlecht zu präsentieren, mit dem, was sie hatte, ganz im Gegenteil zu mir. Bis auf meine Haare und dem Eyeliner hatte ich nichts Weibliches an mir. Am liebsten trug ich zu weite, schwarze Shirts, die ich aus dem Schrank meines Vaters klaute, bedruckt mit Metalbands vor meiner Zeit. Die Musik hörte ich nicht einmal, aber mochte die Prints. Äußerlich wäre ich vermutlich das, was man noch vor einigen Jahren als Emo bezeichnete, aber sonst traf nichts auf diese Bezeichnung zu. Weder hatte ich meine Pubertät damit verbracht, alles und jeden zu hassen, noch eine ernsthafte Erkrankung zu haben oder die dazugehörige Musik zu hören. Ehrlich gesagt hörte ich am liebsten Taylor Swift und Katy Perry, außerdem interessierte mich die Meinung Anderer nicht, wirklich. Wirklich, wirklich. Na gut, vielleicht ein wenig.
      „Nun, er sieht gesellschaftstauglich aus, was man von den Herren zuvor nicht sagen kann“, zuckte Alicia ihre Schultern.
      „Gesellschaftstauglich also? Was war denn so schlimm an Noah oder Artus?“, hackte ich nach. Sie zog mich am Arm, aber standhaft blieb ich an der Stelle verwurzelt, wollte dieses Thema erst geklärt haben, bevor wir zu ihm gingen. Ja, ich wusste seinen Namen zu dem Zeitpunkt noch nicht.
      „Man, Neele, müssen wir jetzt darüber diskutieren? Noah war hässlich wie die Nacht, kaum zu glauben, dass du mit dem so lange, so glücklich warst und Artus wollte nicht mal mit auf den Pferdehof, weil ihm das eklig war“, ratterte sie wie ein Dieselmotor beim Start herunter, zog erneut an meinem Arm. Da mir wirklich die Worte fehlten, folgte ich. Je näher wir kamen, umso emsiger pochte das Herz wieder in meiner Brust, was nicht dem Tempo geschuldet war, das Alicia an den Tag brachte.
      „Hey“, rief sie ihm laut zu und winkte. Freundlich gab er es zurück, trat aus der Box hervor und schloss sie langsam. Monet trat einige Schritte vor, um seinen Kopf auf dem Metall abzulegen.
      „Ich sehe, wir gehen nicht allein etwas essen?“, grinste er. Noch bevor ich es verneinen konnte, mischte sich Alicia ein: „Sehr gern komme ich mit.“
      Hörbar atmete ich aus, aber blieb stumm. Die Beiden kamen umgehend ins Gespräch, dem ich nicht folgte. Stattdessen lief ich einige Schritte, die zwischen meinem Pferd und mir lagen, um ihm das letzte verbleibende Leckerlis aus meiner Hosentasche zu geben. Vorsichtig fummelte er mit seiner Oberlippe auf meiner Handfläche herum, bis er erfolgreich das Stück aufgesammelte hatte und langsam zwischen den Zähnen zerkaute. Dabei strich ihm über den in Stoff verhüllten Kopf.
      „Warte, das bist du?“, hörte ich plötzlich meine beste Freundin lauthals rufen. Erschreckt, drehte ich mich zu den Beiden um, denn auch Monet hatte sich mit einem kleinen Sprung zur Seite Distanz geschaffen. Weit öffneten sich meine Augen.
      „Ist das wichtig?“, zuckte er mit den Schultern.
      Sofort nickte Alicia.
      „Ach ja?“, sagte ich überrascht und trat näher an die Beiden heran, die für meinen Geschmack zu sehr beieinander standen, aber so grob gesagt, hatte sie wohl mehr Chancen bei ihm, „wer bist du denn, dass meine beste Freundin einen derartigen Schock bekommt?“
      Ja, ehrlich gesagt war mir egal, wie er hieß oder welches Ansehen er in der Pferdeszene hatte, schließlich konnte er sich mit der Schleife küren, das erste männliche Wesen zu sein, dass mich freiwillig angesprochen hatte.
      „Eskil. Eskil Mattsson aus Schweden“, grinste er und gab mir die Hand. Auch mir blieb der Atem weg. Er hatte in der Grand Prix den ersten Platz belegt mit einer Top-Leistung von 90,57 %, hatte damit für die Schweiz einen internen Rekord aufgestellt. Da wunderte es mich nicht, dass sein Fuchshengst vorhin so sehr geschwitzt hatte. Wow, formte sich stumm auf meinen Lippen.
      „Dein Pferd ist so toll“, schwärmte Alicia und fragte ihn direkt tausend Sachen, die Eskil gar nicht so schnell beantworten konnte, wie sie auf ihren Mund ratterten. Währenddessen stand ich nur daneben, verkniff mir jegliche unsinnige Kommentare. Dafür bekam ich die Möglichkeit, den durchtrainierten jungen Mann genau zu mustern, wobei ich auch sein Anubis Tattoo auf dem Unterarm bemerkte. Langsam wanderten meine Augen am Arm entlang. Sein Bizeps zuckte leicht, als wüsste er nicht wohin damit und auf seine Schulter und der Nacken waren angespannt. Dann trafen sich unsere Blicke. Eskil lächelte so sanft, dass ich nur schlucken konnte und den Kopf zu Boden senkte.
      „Wenn wir hier weiter so herumstehen, werde ich wohl ein Pferd essen müssen“, mischte ich mich ein und erntete kleine Blitze, die mir Alicia mit ihren Augen zusandte.
      „Lieber nicht, dann ist noch jemand traurig“, lachte Eskil wieder einmal. So viel Frohsinn wie er hätte ich gern einmal.
      Auf der Fressensmeile gehörten wir zu den letzten Leuten, die verzweifelt versuchten etwas Essbares auszuwählen. Vom Publikum war kaum noch einer da, na gut, die Messe schloss auch in weniger als zwanzig Minuten und für die Reiter, sowie das Personal waren die Stände noch eine Stunde länger geöffnet. So konnten besonders die bekannten Leute der Laufkundschaft entgehen und in Ruhe alles besichtigen. Das internationale Event war von der Vielfalt nicht mit einer typischen Messe vergleichbar, aber es reichte aus, um die neusten Trends zu beschauen oder sich ein Beratungstermin zu unterziehen. Tatsächlich wurden es von Minute zu Minute mehr Leute an den Ständen, aber ich konnte mich erneut für keine Speise entscheiden. Alica lief wie ein Tiger hin und her, beachtete mich nicht einmal. Doch ich war froh, als Eskil sich zu mir stellte.
      „Du wolltest gerade noch ein Pferd essen, kaum zu glauben, dass du dich nun nicht entscheiden kannst“, legte er seinen kräftigen Arm auf meinen Schultern ab. Für einen Augenblick stoppte meine Atmung, ehe ich hörbar ein- und ausatmete. Frech schielte er zu mir hinunter.
      „Schon, aber irgendwie klingt das alles nicht nach dem, was mir vorschwebt“, seufzte ich. Auch meine Augen wanderten hoch zu ihm. Zugegeben, für einen Moment fühlte es sich an, als würden wir uns ewig kennen und diese Nähe, die zwischen uns lag, brachte mich zum Schwitzen. Ein Gefühl durch schwemmte meinen Körper und willkürlich kam in mir das Verlangen, meine Lippen auf seine zu drücken, obwohl ich mir auch gut vorstellen konnte, dass ein Mann wie er, nur vergeben sein konnte. Neele, sei ruhig.
      „Worauf hast du denn Lust?“, erkundigte sich Eskil. Wäre es unangebracht mit ‘auf dich’ zu antworten? Vermutlich. Kurz dachte ich nach und mein grummelnder Magen gab mir zu verstehen, dass ich lieber schneller einen Entschluss fassen sollte.
      „Pizza“, gab ich zu verstehen, und grinste. Er nickte, dann nahm er den Arm wieder von meinen Schultern und lief zu dem Stand, der sich zwischen den Hallen befand. Es gab tatsächlich Pizza hier. Erleichtert fiel mir ein Stein vom Herzen und schnellen Schritten folgte ich ihm, beim Bestellen musste ich zum Verdruss feststellen, dass mein Geld noch bei Papa in der Jackentasche war.
      „Du?“, tippte ich ihm mit meinem Zeigefinger vorsichtig in den Bauch. Natürlich kam direkt ein fühlbarer Widerstand und ich spürte, dass er seine Muskulatur anspannte. Sein Ernst? Immer mehr kam das Verlangen in mir hoch, aber ich wusste mich zu beherrschen, schließlich war Eskil nicht der erste hübsche Mann in der meiner Gegenwart.
      „Ja? Was ist los?“, flüsterte er.
      „Mir ist das wirklich unangenehm, aber ich habe mein Geld vergessen“, säuselte ich. Eskil lachte auf, schüttelte nur den Kopf und fühlte sich dann dazu berufen mir die Frisur noch mehr zu versauen und meine halbe Pizza zu bezahlen. Dankbar funkelte ich hoch zu ihm, hielt mich dabei an einem Oberarm fest. Ungezwungen grinsten wir einander immer wieder an, bis schließlich Alicia dazu kam und ich panisch wieder von ihm abließ. Wieder funkelten ihre Augen böse in meine Richtung, was mir zunehmend mehr Sorgen bereitete. Ich wollte nicht, dass wir wegen eines Typen uns stritten. Das gab mir den Grund, ihn ihr zu überlassen, auch, wenn am Ende des Tages er die Entscheidung treffen musste.
      Mit der Pizza in der Hand liefen wir alle zusammen zu den Tischen, die über eine Treppe auf einer Art Terrasse standen, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Abreiteplatz hatte. Tatsächlich ritten dort einige. In der Mitte waren zwei Sprünge aufgebaut, die jemand im Wechsel abänderte und hörbar Tipps gab, zumindest war es das naheliegendste. Die Sprache kam keiner der mir bekannt nahe, selbst nicht dem Polnisch, das vorhin meine Ohren vordrang.
      „Ich flippe aus“, flüsterte mir Alicia laut ins Ohr. Was hatte ich vor einigen Stunden, noch auf dem Platz sagt? Dass sie wie ein Profi sei? Diese Aussage würde ich nun revidieren. Je mehr bekannte Personen sie bemerkte, umso höher wurde ihre Stimme, so auch offenbar der Herr auf einem glänzenden Rappen, der ein furchtbar niedliches Abzeichen auf dem Kopf trug.
      „Wer ist das?“, wunderte sich Eskil und drehte sich um. Ich zuckte nur mit den Schultern. Schon allein aus der Tatsache heraus, dass ich mir Namen nur schlecht merken konnte, befasste ich mich zwar mit der Szene, aber Größen aus dem internationalen Sektor mussten erst ihren Platz in meinem Kopf finden. Einen kannte ich, auch wenn mir der Name just ist diesem Moment wieder verfiel. Er ritt eine Schimmel Stute mit blauen Augen und seine Arme – voll tätowiert, ein Traum, auch wenn es mich an Menschen aus dem Gefängnis erinnerte. Schön anzusehen, aber ein Gespräch wollte ich lieber nicht mit ihm führen, dafür wirkte er mit seiner Größe zu einschüchternd, die Breite seines Kreuzes und das restliche Auftreten trugen auch ihren Teil dazu bei. Und Geld hatte er, das verschwieg er nicht. Ah, da kam es mir wie ein Geistesblitz, sein Nachname war Olofsson, so wie der Stahl-Hersteller aus Schweden.
      „Jetzt sagt mir nicht, dass ihr nicht wisst, wer der hübsche junge Mann ist“, gab Alicia zu bedenken, doch Eskil und ich zuckten nur synchron mit den Schultern, „das ist Raphael Craig mit seinem Elite-Hengst Poseidon. Die Beiden springen extrem erfolgreich auf CSI*1 und seit einigen Turnieren sogar schon auf CSI*2. Auf den letzten hatten sie sogar jeden den Sieg auf ihrer Seite.“
      Ausgiebig erklärte sie uns, was der Kerl mit dem Hengst schaffte. Für mich waren die Begriffe des Niveaus schon zu schwer verständlich, denn das höchste meiner Gefühle zum Springen war ein Einsteiger Turnier. Doch da hatten Monet und ich uns ziemlich gut geschlagen, bei fünfzig Teilnahmen belegten wir den zwölften Platz.
      „Dann muss ich wohl doch morgen das Springen ansehen“, lachte Eskil und biss von meiner Pizza ab, die wie versteinert in meiner Hand hing.
      „Das ist meine“, zog ich verärgern das Stück wieder zu mir. Er wischte sich mit der Hand die rote Soße von den Mundwinkeln weg. Frech zogen sich die Wangen nach oben, wodurch sein markantes Kinn Schatten warf. Verträumt biss ich mir auf der Unterlippe herum, auch, um mich zu zügeln. Kaum war ich ihm wieder so nah, gingen die jungen Pferde in meinem Kopf durch. War er perfekt? Zumindest sehr dicht daran.
      „Ich springe morgen CSI*1, wirst du dann auch im Publikum sitzen?“, funkelten Alicias Augen groß. Unter dem Tisch trat sie mir unlieb gegen das Schienbein, denn von mir gabs es ausnahmsweise auch einmal einen bösen Blick. Es stieß mir noch immer sauer auf, dass sie mit biegen und brechen versuchte seine Zunft zu gelangen, obwohl wir eigentlich gute Freunde waren. Ja, ihr Ex-Freund Vachel, der bis vor der Trennung, der beiden ebenfalls bei uns mit im Stall stand, gehörte mit zu meinen engen Freunden, doch danach war es auch vorbei. Hatte ich ihr jemals erzählt, dass ich starke Gefühle für ihn hegte und deswegen sogar die Beziehung zu Noah beendete? Nein, natürlich nicht. Auch, versuchte ich mich stets zurückzuhalten, was ihn betraf, nur, um sie nicht in eine solche Situation zu bringen.
      „Neele, du wirst sicher zu sehen, oder?“, vergewisserte ich Eskil, woraufhin ich direkt nickte, „dann ja.“ Alles an dieser Antwort brachte mein Blut in Wallungen. Wie er meinen Namen aussprach, dass er es von mir abhängig machte, rundum – perfekt. Alicia gab darauf nur eine kurze Antwort und lehnte sich zur Seite, um Raphael, oder wie er hieß, genauer beobachten zu können.
      „Hast du meine Tochter gesehen?“, hörte ich meinen Vater zu Alicia sagen, als ich noch mit Eskil hinter den Boxen stand, abseits der wenigen Leute, die uns hätten sehen können. Dicht standen wir beieinander, meine Arme eng um seinen Hals geschlungen. Was tat ich hier eigentlich? Ich kannte ich so gut wie gar nicht, aber kam meiner Versuchung nach, wissen zu wollen, wie er schmeckte. Doch Eskil machte es mir nicht leicht. Etwas unbeholfen hielt er mich an der Hüfte fest, grinste mich jedoch breit an. Seine Augen gaben mir jedoch andere Signale. Flüchtig wichen sie mir aus, versuchten einen Weg herauszufinden. Aber um mir zumindest einen Augenblick des Erfolgs zu geben, drückte ich meine Lippen auf seine Wange und ließ von ihm ab.
      „Danke“, flüsterte ich nur und verabschiedete mich kurz. Er hob die Hand, die leicht zittrig die Finger bewegte.
      „Da bist du“, gab mein Vater erleichtert zu verstehen und schob mich am Pony vorbei in Richtung des Ausgangs. Nur wenige Kilometer entfernt hatte er für uns ein Hotelzimmer gemietet, in dem Alicia und ich uns ein Bett teilten. Er schlief einen Raum weiter.
      Als wir im Bett lagen, huschten all die Gedanken durch meinen Kopf. Es war ein Rausch der Gefühle, vollbracht durch unreflektiertes Verhalten und dem Verlust aller sinnigen Gesellschaftsregeln, die mein Vater so viele Jahre versuchte mir beizubringen. Bisher hatte ich es auch geschafft, als dieses einzuhalten, doch heute war etwas anderes. Vermutlich trug auch Alicia ihren Teil dazu, dass ich ihr beweisen wollte, dass ich in der Lage war einen attraktiven Kerl kennenzulernen. Leise seufzte ich.
      „Bist du noch wach?“, flüsterte sie mir zu.
      „Ja“, stimmte ich zu.
      „Es tut mir leid, dass ich mich heute derartig schlecht dir gegenüber verhielt. Ich habe mich so darüber geärgert, dass dich jemand angesprochen hat und nicht mich“, entschuldigte sich Alicia. Ein stilles Schniefen ging durch den Raum.
      „Ach, ist doch alles gut. Passiert, aber morgen wird es besser. Vielleicht spricht Raphael mit dir“, hörte man auch das Grinsen in meiner Stimmte.
      In Herrgottsfrühe klingelte mein erster Wecker, bei dem ich unmittelbar hochschreckte und mit meinen Füßen den kühlen Holzboden berührte. Über Nacht war das Fenster offen und hatte die, sonst erträgliche, Temperatur im Raum, um einiges heruntergekühlt. Schnellen Schritte verschwand ich im Bad unter der Dusche und noch bevor der zweite Wecker schellte, hatte ich mich abgetrocknet und das Zimmer verlassen. Mürrisch drehte sich Alicia im Bett.
      „Ich möchte nicht aufstehen“, murmelte sie leise und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Nichts da“, nahm ich lachend die Bettdecke wieder weg, „aufstehen!“
      Erneut sprach sie ins Kopfkissen, aber entschloss sich dann doch ins Badezimmer zu gehen. Ich setzte mich in der Zeit auf den Stuhl neben dem Bett und durchforstete die neusten Nachrichten rundum die Pferdewelt, eine große Eilmeldung war, dass die Weltreiterspiele verschoben wurden, da es Probleme bei der Planung gab und sie nun ein Jahr früher stattfinden sollten. Aufgrund des bereits festgelegten Termins musste jedoch ein neuer Austragungsort gefunden werden, wovon schon einzige in der engeren Auswahl standen. Mehr Informationen konnten bisher nicht herausgegeben werden. Ganz am Ende stand noch einige wichtige Mitteilung für mich. Ich hatte bereits Tickets, die auch für die neue Austragung gültig sein würden oder kostenlos storniert werden können. Erleichtert atmete ich aus. Dann scrollte ich weiter, besonders eine Schlagzeile verankerte sich fest in meinem Kopf: “Schwedische U25 Teamaufstellung so schwach wie noch nie.“ War Eskil nicht aus Schweden? Zumindest meine ich mich an ihre Flagge zu erinnern, die verhalten auf seiner weißen Schabracke glänzte. Im kaum beleuchteten Tunnel konnte ich es jedoch nicht genau erkennen. Kurz überflog ich den Artikel, der davon berichtete, dass immer mehr aus dem Kader wegen schlechtem Benehmen und Leistungen diesen verlassen mussten, einige interessante Kandidaten standen für die nächste Aufstellung zur Wahl, doch es war noch zu früh, um darüber zu spekulieren, wer die nächsten sein würden. Auch bei den Senioren gab es Schwierigkeiten ein vollständiges Team zu bekommen. Traurig, gab es so wenig gute Reiter? Ich kannte das Land als ein ziemlich erfolgreiches.
      „Bist du bereit“, sprang Alicia voller Motivation aus dem Badezimmer, nur mit mehreren Handtüchern um den Leib gebunden.
      „Im Gegensatz zu dir bin ich mit dem Turnier durch, aber ich freue mich, dass du so voller Energie bist“, grinste ich freundlich und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Es vibrierte, aber meine Neugier hielt nur kurz an, sodass ich gar nicht nachsah.
      „Mädels, seid ihr angezogen?“, fragte mein Vater durch den Türspalt, was ich bejahte. Dann schob er noch das letzte Stück auf und in neuer Frische stand er grinsen vor uns. Mit einem herzlichen ‘Guten Morgen’ grüßten wir einander.
      „So, dann kann es losgehen?“, vergewisserte er sich nach einem kurzen Gespräch darüber, wie die Nacht war.
      „Ja, auf in die Schlacht“, lachte ich und erhob mich aus dem Stuhl. Wir folgten dem langen Flur, der mit einem seltsamen blauen Teppich geschmückt war, nicht etwa auf dem Fußboden, nein, an der Wand. Schön sah es nicht aus, dafür dass dieses Hotel ganze vier Sterne unter dem Namen trug.
      „Lotye hat dir einen Platz im freien Training besorgt“, erzählte mir Papa, als wir einige Meter hinter Alicia zum Auto liefen. Verhalten nickte ich.
      „Danke“, murmelte ich noch. Besorgt sah er mich von der Seite an.
      „Freust du dich nicht?“, wunderte er sich umgehend. Von seiner Kleidung stieg der eklige, stickende Geruch von Schweiß und Zigarettenqualm in meine Nase. Wie konnten das seine Arbeitskollegen im Büro nur aushalten? Für mich war es schon schwer in dem weitläufigen Flur.
      „Doch schon“, seufzte ich, „aber eigentlich wollte ich nicht noch eine Nacht hier schlafen.“
      „Hättest du sowieso, weil ich euch nur hinüberfahre und dann ins Büro muss. Einige Planungen warten noch auf mich und wir brauchen den Zuschlag“, erklärte Vater. Wieder nickte ich wissend, dass die Arbeit immer in seinem Leben Vorrang hatte. Gut, da ich heute ohnehin keine Vorstellung hatte, passte es mir ziemlich gut. So konnte ich mein Erspartes für eine oder zwei Schabracken ausgeben. Vielleicht wurde ich auch fündig bezüglich einer weiteren Jacke für noch winterlichere Temperaturen, die im Hochland zum guten Ton gehörten.
      „Okay?“, vergewisserte er sich.
      „Ja, alles gut. Passt“, grinste ich und stieg ins Auto, an dem Alicia bereits sehnsüchtig wartete. Während der kurzen Fahrt war es still. Meine Freundin fummelte wild auf ihrem Handy herum und zeigte mir einige Bilder von der Dressur. Leider fand sie keins von Monet und mir, doch in kleinen Vorschau erkannt ich sofort Eskil mit seinem Fuchs wieder. Erlkönig hieß er, wenn ich der Bildbeschreibung Glauben schenken konnte. Hitzig riss ich ihr das Handy aus Hand und betrachtete alle sehr genau. Wie konnte jemand wirklich so gut aussehen und dermaßen freundlich? Ich verstand es nicht, wollte es vermutlich auch nicht. Stattdessen begann dieses undefinierte Kribbeln in meinem Bauchraum wieder die Oberhand zu ergreifen.
      „Das reicht doch jetzt“, flüsterte sie mir zu, aber war so zuvorkommend mir den Link zu senden, damit ich selbst noch einmal in Ruhe sehen konnte. Augenblicklich funkelte schon der Eingang vom Gelände durch die Windschutzscheibe, überall hingen violette Fahnen mit dem allseits bekannten Logo der FEI, die nicht weit von hier entfernt ihren Sitz hatten. Vorbeizogen wir an den langen Schlangen des Besucherparkplatz, direkt zur Schranke.
      „Kann ich euch hier herauslasen?“, fragte Papa nach, woraufhin ich schon die Tür aufdrückte und aus dem Fahrzeug stieg. Alicia wirkte von dem schnellen Rauswurf überfordert, aber stieg ebenfalls einige Sekunden später ins Freie. Oberflächlich verabschiedeten wir uns und schon brauste der schwarze Geländewagen an uns vorbei. Ich lief vor, da meine beste Freundin ohnehin nur mit meiner Hilfe den Weg finden würde. Mehrfach wurden wir mit unseren Ausweisen kontrollieren und kamen schließlich in der Halle an, in der alles vollgestellt war mit den Boxen. Der vertraute Geruch von Schweiß, Heu und Pferdeäpfeln stieg mir in die Nase und versteht mich nicht falsch, ich würde sogar sagen einen Crêpe erduftet zu haben. Mürrisch meldete sich mein Magen. Seit der halben Pizza hatte ich nichts mehr gegessen und da Alicia demnächst an der Reihe war, sollte ich wohl für uns beide noch etwas besorgen. Kurz prüfte ich die Tasche meines Kapuzenpullovers, in der mein Portemonnaie friedlich ruhte.
      Eilig liefen wir durch die überfüllten Gänge, versuchten so schnell wie möglich unsere beiden Pferde zu erreichen, die im landeseigenen Abteil standen, darüber hing die große Drapeau Tricolorevon der Decke, die eine gute Orientierungsmöglichkeit boten. Neben uns waren die Ukrainer und Spanier. Auch Raphael entdeckte ich aus der Ferne, gab Alicia jedoch nicht Bescheid. Sie hatte genug damit zu tun bei meinen kleinen, aber flinken Schritten mitzuhalten und somit kam ich als Erstes bei den Boxen an. Monet wieherte mich neugierig an. Sofort schob ich die Tür zur Seite und umarmte meinen Hengst innig, der nichts besseres Zutun hatte, als an meiner Kapuze zu zupfen. Natürlich hatte ich in meiner Hosentasche bereits ein Leckerli für ihn vorbereitet.
      „Kannst du Croissants besorgen?“, funkelten mich die braunen Augen meiner besten Freundin von der Seite an, als ich gerade die Kraftfutterportionen der Pferde zubereitete. Kurz ließ ich die Eimer stehen.
      „Wie viel Klischee möchtest du noch sein?“, lachte ich und nahm die schwarzen Behälter wieder hoch, um sie in die jeweilige Box unserer Pferde zu stellen. Monet verschwand samt Ohren in seinem Frühstück. Überall klebte das Masch. Froh darüber, dass er den Sleezy trug, lächelte ich und warf noch einen Blick auf Dix. Die Rappstute fraß wie ein Schwein, überall verteilte sich das Kraftfutter im hellen Einstreu, wohingegen Monet es bevorzugte darin zu baden. Ja, ehrlich gesagt konnte keins unserer Pferde vernünftig Fressen.
      „Excuse-moi“, rollte Alicia mit den Augen und sortierte sinnlos die Sachen vor der Box, von einer Seite zur anderen, bevor ich sie am Arm griff und in den Stuhl drückte. Vollkommen außer Atem sah sie an mir hoch, die Augen glasig und ihr Eyeliner verwischte etwas. Sie hatte ein Talent dafür, nicht über die innerliche Anspannung zu sprechen, stattdessen suchte Alicia sich eine Beschäftigung. Vielleicht sollte ich ihr eine Freude machen, schließlich entdeckte ich Raphael bereits nur wenige Gänge weiter.
      „Ich gehe gleich“, sagte ich dann und lächelte freundlich. Hörbar nahm sie einige kräftige Atemzüge und auch ihre Augen wurden trockener. Für meine beste Freundin war es die erste CSI*1, aber sie verpasste keine einzige Veranstaltung, die von unserer Heimat erreichbar war. Also kannte Alicia die Atmosphäre besser, doch nun selbst zu den Teilnehmern zu gehören, wirkte nicht mehr so vertraut. Ihre Knie zitterten unaufhörlich.
      „Was ist, wenn was passiert?“, flüsterte sie mir leise zu.
      „Dann passiert es nun mal, kann man nicht ändern“, zuckte ich mit den Schultern, obwohl ich selbst bisher nicht verarbeiten konnte, dass ich Monet kaum vorbereitet hatte und damit die Wertung niedriger ansetzte, als es sein Niveau war. Ich wurde ihm nicht gerecht an diesem Wochenende, aber es standen noch viele Turniere an, wo ich unser Können Unterbeweis stellen würde. Lang und breit erklärte Alicia mir, was alles in dem Parcours passieren könnte, dass sie mit Dix für solche Fällte nicht trainiert hatte und nun den Start überlegte abzusagen. Wie war das noch mal? Profi? Ich lachte. Schockiert riss sie die Augen auf und blitzte finster in meine Richtung.
      „Du bist keine Hilfe“, maulte sie und schickte mich auf den Weg Essen zu besorgen. Wieder kämpfte ich mich durch die Mengen in den Gängen, vorbei an den Kanadiern, die nur drei Blöcke entfernt ihr Quartier hatten. Neugierig musterte ich die Jungs, wovon einer Raphael war. Angezogen von dem Charme der Männer blieb ich auf ganze Linie stehen. Einer ihrer erhob sich, lief zu seinem Brauner in der Box. Dann verstummte das Gespräch, als er meine starrenden Blicke bemerkte und mit einer fuchtelnden Handbewegung mich zu sich holte. Kalt lief mir ein Schauer über den Rücken. Alicias Worte hingen mir noch in den Ohren – Raphael war auf dem Weg nach ganz Oben, zu den Stars und Sternchen des Springreiterhimmels. Der Nächste reihte sich in meiner Liste an mit Männern, die mich bedeutungslos auf einem Turnieransprachen. Ich versuchte die Freundlichkeit in den Vordergrund zu stellen und nicht direkt an eine Hochzeit zu denken, schließlich war nicht jedes Gespräch eine Offenbarung der Liebe.
      Nacheinander stellte man uns einander vor, dabei tippte ich mit meiner Hand gleichmäßig am Oberschenkel, versuchte weder in Tränen auszubrechen, noch den Schleier aus Freundlichkeit zu verlieren. In meiner Brust wurde es lauter und lauter, aber den Blicken zur Folge hörte es niemand. Nur in meinen Ohren vibrierte und donnerte es laut, als befand ich inmitten eines Schlachtfeldes, zwischen den Schützengräben, die weit entfernt lagen und mir keinen Schutz mehr gewähren konnten. Zu lange hatte ich kein männliches Wesen, außer meinen Hengst, an meiner Seite, dass mir langsam oder sicher jedes Gespräch mit einem dieser wie ein Groschenroman vorkam. Etwas lag in dieser Halle in der Luft, dass mich wie ein unsichtbarer Mantel umzog und schließlich in mich hineinkroch, festgebissen an allem, was an Gefühlen vorherrschte. So stand ich hier, machtlos und überrumpelt. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie zu mir sagten und das scheiterte keinesfalls an der sprachlichen Barriere. Stattdessen fühlte ich mich erschlagen von all den Hormonen, die in diesen Gängen schwebten, mir die Sicht vernebelten und schlussendlich die letzten klaren Gedanken übernahmen.
      „Kann ich dir helfen?“, fragte Raphael zum wiederholten Mal, doch erst jetzt drangen die Worte wellenartig in meine Ohren. Ich schüttelte mich.
      „Es tut mir leid, mein Hirn musste neu gestartet werden“, lachte ich und schob eine Strähne aus meinem Gesicht. Auch die anderen setzten mit ein. Dann fiel mir meine Idee wieder ein. Kurz erläuterte ich meinen Plan, dem er höflich zustimmte. Anschließend verschwand ich, um die nötigen Sachen dafür zu besorgen. Den Ausschilderungen folgte ich, kam wieder an den Polen vorbei, die ihren Alkohol auf dem Tisch zu stehen haben. Versteht mich nicht falsch, es gab kein Problem mit der Nation, nur wunderte ich mich, dass ich die fünf nur beim Trinken von russischem Kochwasser sah. Meine Austauschschülerin vor sechs Jahren, oder waren es mehr, trank nicht so viel. Na gut, zu dem Zeitpunkt waren wieder minderjährig.
      Ungeduldig stand vor dem einzigen Bäcker, den ich in der Fressmeile fand, voll war es und auch auf den Tribünen wurden es zunehmend immer mehr. Aktuell fand das Pony Springen statt, dass nicht ansatzweise so viele Begeisterte fand. Schade eigentlich. Mehrfach erhaschte ich einen Blick auf die teils sehr jungen Reiter mit ihren Ponys. Die Zeiten klangen gut, auch wenn sich meine Erfahrung hierfür in Grenzen hielt. Besonders eins fiel mir sofort ins Auge. Der Palomino Hengst stolzierte wie ein König über den Abreiteplatz, während die kleine Dame im Sattel ihn nur schwer unter Kontrolle bekam. Im Galopp buckelte er einige Male, doch sie hielt sich tapfer.
      „Madame, ihre Bestellung“, wiederholte die Verkäuferin. Mist, ich sollte heute konzentrierter sein, wenn ich mir die geistige Abwesenheit nicht anmerken lassen wollte. Für meine beste Freundin wählte ich drei Croissants, mir hingegen reichte ein belegtes Baguette mit Käse und Salat, dazu einen Kaffee. In zwei verschiedene Tüten verpackte sie die wohlriechenden Backwaren und ich lief schnellen Schritte zu Raphael, der als freundlicher Überbringer der Nahrung agieren sollte. Aber noch bevor ich bei dem Kanadier ankam, lief ich unsanft in eine Person herein, dabei verkippte ich mein Heißgetränk über das weiße Hemd und die dazugehörige Hose.
      „Beauf“, fauchte er böse. Warte, die Stimme kam mir bekannt vor. Langsam hob ich den Kopf vom Boden nach oben.
      „Vachel?“, fragte ich vorsichtig, worauf hin er sich mir um den Hals warf. Ja, er war es. An meiner Haute spürte ich, wie die warme, braune Flüssigkeit sich nun auch auf mir verteilte. Etwas angeekelt zuckte ich zusammen. Bloß sein vertrauter Geruch sorgte dafür, dass ich mich wieder in meinem normalen Ich fand, der Neele, die zwar tollpatschig, aber fernab von dem ganzen Gefühlskram durch die Welt ging. Der Grund dafür stand vor mir, oder hing mir am Hals, als wäre nie etwas geschehen.
      „Was machst du denn hier?“, gluckste ich. Aus einer der Tüten nahm ich die Servietten, in der Hoffnung damit seine Kleidung wieder sauber zubekommen – ein unmögliches Befangen. In einer Millisekunde trafen sich unsere Finger. Ich schluckte. All die alten Gefühle sprudelten nach oben, als wäre monatelang Ebbe gewesen, doch jetzt, jetzt kam die Flut. Sie spülte das Alte wieder an die Oberfläche, Erinnerungen und Momente, die ich vergessen hatte oder wollte. Der Übergang war häufig fließend.
      „Eigentlich wollte ich mir einen Crêpe holen und dann mit Sky auf den Abreiteplatz, da wir morgen in der CDI*3 starten, aber offensichtlich“, zeigte er an sich herunter, „muss ich mich erst einmal umziehen.“
      „Dann hole ich dir deinen Crêpe und“, überlegte ich, aber Vachel wusste schon, was ich sagen wollte. Dafür kannten wir uns schon lang genug. Verstohlen lächelte ich, versuchte wie er, das Beste aus der Situation zu machen.
      „Und ich ziehe mich um. Kommst du dann zu unseren Boxen?“, auf seinen Lippen formte sich dieses Lächeln, dass mich vor vielen Jahren bereits verzauberte. Sanft zogen sich die Mundwinkel nach oben und die markanten Wangenknochen traten hervor. Aber meine Chancen waren schlecht. Ziemlich schnell wurde ich in seine Friendzone geschickt, dementsprechend erzählt ich ihm nie von meinen Gefühlen. Bis heute vermutlich eine sehr weise Entscheidung.
      „Da bist du endlich“, jauchzte Raphael, der ungeduldig mit dem Bein wippte. Hinter ihm zupfte Poseidon, der Hengst, der von Alicia so in den Himmel gelobt wurde, an seinem Heunetz. Zwischendurch erhob den Kopf, musterte mit seinen blauen Augen die Umgebung und spitzte interessiert die Ohren, als die Tüte mit den Croissants raschelte. Langsam trat er an uns heran, streckte soweit er konnte den Hals über die Tür. Raphael zeigte ihm die braune Papptüte und das Pferd hatte nur im Sinn einmal kräftig hineinzubeißen.
      „Viele würden das jetzt nicht mehr essen wollen, aber meine beste Freundin wird heulen vor Freude“, lachte ich. Auch er setzte mit ein, versuchte dabei die Tüte wieder aus dem Maul des Tieres zu bekommen. Die Ohren des Tieres bewegten sich verwirrend von vorne nach hinten, erst reichte man ihm die großartige Tüte und dann sollte er sie im nächsten Augenblick wieder hergeben. Ich würde genauso eingeschnappt reagieren wie der Gott. Wieder lachte ich.
      „Noch ist etwas da, also lass uns deine Freundin überraschen, schließlich habe ich noch anderes zu tun“, sagte Raphael entschlossen und lief voraus zu den Boxen. Mein Mund öffnete sich, um mich für die Störung zu entschuldigen, doch da hörte ich die genervte Stimme von Alicia und dem Gegenpart – Vachel. Fragend drehte sich der Kanadier zu mir um.
      „Am besten entführe ich den Hahn und du folgst mir“, schlug ich vor. Er nickte und überholte ihn. Wieder sah ich die polnischen Reiter, doch dieses Mal stand eine Wasserflasche auf dem Tisch. Die Hoffnung bestand, dass das Kochwasser zuvor noch vom Abend war.
      An den Boxen bemerkte ich Vachel als Erstes, hatte sich in der Zwischenzeit mit sauberer Kleidung ausgestattet. Das graue Oberteil saß eng an seinem Oberkörper, der durchtrainiert durch den Stoff blitzte. Sein verärgertes Gesicht wandelte sich zu einem sonderbaren und begierigen Lächeln, dabei sahen wir uns tief in die Augen. Die Flut kam näher ans Ufer, noch tiefere und versteckte Gefühle drückten sich durch den getrockneten Sand nach oben. Bevor es wie ein Tsunami über das Land trat, vernahm ich die sanfte Berührung an meinem Arm von Raphael, der von seinem kleinen Versteck in den Vordergrund trat. Schließlich drehte sich auch Alicia um. Unbeweglich standen wir vier voreinander, versuchten die Situation zu deuten, bis meine beste Freundin panisch losschrie, auf Französisch oder auch Deutsch, vielleicht etwas Italienisch, auf jeden Fall laut und unerträglich. Er reichte ihr die angebissene Tüte, worauf erneut unverständliche Worte durch die Halle schwangen.
      Zusammen mit Vachel ging ich ein Stück zur Seite, besser gesagt zu seinem Hengst, der um einiges entfernt stand. Vielleicht auch besser für alle Beteiligten. Dann stoppte er plötzlich und flüsterte: „Ist der Schnösel ihr Freund? Oder deiner?“ Über die Absurdität konnte ich nur lachen und schüttelte den Kopf.
      „Nein, das ist ein bekannter Springreiter, von dem sie ein riesiger Fan. Ich, als beste Freundin, habe nur dafür gesorgt, dass er ein Gespräch mit ihr führt. Also alles gut. Hängst du noch an ihr?“, überfiel ich ihn umgehend mit meinem ersten Gedanken. Er schluckte, aber verneinte.
      „Dafür war die Trennung zu schmerzhaft, um der gemeinsamen Zeit hinterher zu jammern. Aber war schön, dich zu treffen, sehen wir uns später noch einmal?“, sanft legten sich seine Worte in meinen Ohren ab. Ich vermisste die Zeit mit ihm, nicht nur wegen der Gefühlsduselei. Vielmehr waren wir so enge Freunde, dass der Verlust vermutlich noch schmerzlicher war, als die Trennung. Also ja, ich hatte nichts mit der Trennung am Hut, konnte mir der Umstände entsprechend vorstellen, wie er sich dabei fühlte. Auch, nach dem Alicia von einem zum anderen Tag beschloss, dass er deshalb aus dem Stall verschwinden sollte.
      Ich bekomme die Krise.
      Nervös fummelte ich in der Mähne meines Hengstes herum, versuchte mich all der Dusselei klar zu werden. Wünschte ich mich in dem Augenblick woanders hin? Ganz bestimmt, aber was ich noch nicht wusste: Der Wunsch würde sich schneller erfüllen, als es mir lieb war. Doch dazu wenden wir uns an einem anderen Tag.
      „Wo ist eigentlich dein gutaussehender neuer Freund?“, drückte Alicia noch tiefer in die Wunde. Seit unserer Ankunft versuchte ich ihn in den Mengen der Menschen zu entdecken, scheiterte aber auf ganzer Linie. Resigniert zuckte ich mit den Schultern und reichte ihr die Trense von der Boxenfront, wo sie an einem Haken hing.
      „Ach Neele“, jammerte sie beim Trensen, „jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Er wird sich schon anfinden, ansonsten finden wir jemand anderes für dich und dieses Jahr stehen doch noch einige Veranstaltungen auf dem Plan.“ Ihr kindliches Lachen zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Dann schnappte ich mir die nötigen Sachen wie Gerte und Abschwitzdecke. Für heute wurde ich als Turniertrottel vereinnahmt, sah mir demnach ihre Runde von der besten Position an.
      Auf dem Abreiteplatz wurde es immer mehr Reiter, daraus resultierte auch, dass der gegenseitige Respekt sich verringerte. Insgesamt waren fünf Sprünge aufgebaut, die Alicia nach einer intensiven Aufwärmphase mit Dix nacheinander nahm. Die Stute zog kräftig an, doch sie wusste ihr Pferd mit einer halben Parade und einem tiefen Sitz im braunen Sattel zu bändigen. Dix bremste und sprang im richtigen Moment ab, wie ein Vogel flog der Rappe über die bunten Stangen, touchierte jedoch mit dem rechten Hinterbein die oberste. Mein Atem stockte, aber als die Vorderbeine im Sand landeten und die Stange noch auf der Halterung lag, wurde mir ums Herz leichter. Normal setzte meine Atmung fort. Vor dem Sprung zwischen all den Anderen drückte ich meine Daumen fest gegen die Handinnenfläche. Es würde mir fehlen, wenn heute etwas passieren würde. Dann wurde es mir klar: Lotye, unsere Trainerin, war gar nicht da. Verzweifelt wühlte ich mich durch die Abschwitzdecke zu meiner Hosentasche vor, wischte mit meinem Finger über den gläsernen Bildschirm und klickte schlussendlich auf das kleine Hörer-Symbol. Zweimal piepte es und dann kam schon die Mailbox. Auch beim vierten, fünften und sechsten Mal hob sie nicht ab. Meine Atmung wurde schneller, das Blut brodelte in meinen Adern und schlagartig wurde mir heiß. Das kann doch nicht sein. Alicia sprang heute die erste CSI1 im Senior, eine Höhe von hundertfünfundzwanzig Zentimetern musste sie bestreiten bei zwei Durchgängen und zwölf Hindernissen. Schon allein diese Vorstellung jagte mir eine gehörige Angst ein. Ich hatte das den Parcours in der Hand, versuchte den Ablauf in meinem Kopf mit Monet zu springen. Eigentlich wirkte es ganz niedlich, doch mir war klar, dass keiner uns von uns beiden dazu in der Lage war.
      „Was denn mit dir passiert?“, fragte meine beste Freundin schockiert, die mit Dix vor mir anhielt.
      „Lotye geht nicht an ihr verdammtes Telefon“, fluchte ich. Sie begann zu lachen. Hatte ich was verpasst?
      „Du hörst wohl nicht richtig zu. Sie hat heute Training auf einem Gestüt hier in der Nähe, deswegen wird sie mich nicht betreuen. Da Dix schon sicher bis hundertvierzig springt, waren wir uns einig, dass das heute ein Kinderspiel wird“, erklärte Alicia. Ach ja? Ein Kinderspiel also? Vor einigen Stunden saß sie noch kreidebleich vor der Box ihrer Stute, wusste nicht, wohin mit den schlechten Gedanken und hatte dabei um Haaresbreite ihren Traummann verpasst, was dank mir doch noch funktionierte. Aber ich mochte Alicias Selbstsicherheit, wenn sie auf ihrer glänzenden Stute saß. Die beiden wirkten so harmonisch und vertraut, dass keiner sie auseinanderbringen könnte. Ein Vorteil, wenn man wie wir ein Tier viele Jahre begleitet und sich auf Partner-Pferd verlassen konnte, egal was passieren mag.
      Alicia war die zweite Teilnehmerin in der Prüfung, so hatte sie nur einmal die Möglichkeit den Parcours geritten zu trachten. Hintergründig spielte Musik, ich glaube es was das Titellied von Titanic, während aus dem schrillen Lautsprecher der Name des ersten Reiters ertönte. Es war der junge Pole, der gestern grölend durch die Gänge lief und versuchte Kleingeld zu bekommen. Vermutlich hatten sie im Rausch eine seltsame Wette abgeschlossen, oder einen Junggesellenabschied. Nur bei einer Sache war ich mir ganz und gar sicher – den Leuten werde ich aus dem Weg gehen. Wie ein hilfloses Reh galoppierte er sein Pferd an, das nervös den Kopf nach oben zog und dabei den Unterhals vordrückte. Vor dem allerersten Sprung ließ er das Tier los und mit einem guten Absprung begann der Parcours. Mit einem Stangenwurf und drei Sekunden zu langsam ritt er hinaus, strich seinem Pferd dennoch strahlend über den verschwitzten Hals.
      Alicia trabte bereits mit Dix durch den Sand und wartete auf ihren Start. Der Sprecher sagte die Beiden an: „Alicia Émile Jacques auf Dix Mille LDS, viel Erfolg.“ Dann verstummte die Halle. Ich stand direkt neben eine der großen Boxen aus denen noch immer Musik ertönte, vermutlich so leise, dass Reiter sie gar nicht wahrnahmen. Mir störte Gebrumme, aber für die fünfundneunzig Sekunden könnte ich das aushalten. Gigantisch galoppierte die Rappstute an, hatte ihre Ohren die ganze Zeit bei ihrer Reiterin. Sprung für Sprung nahmen sie wie die Profis. Aus der Kombination ging es auf geraden Weg zum Wassergraben, in meinem Kopf zählte ich die Galoppsprünge mit: eins, zwei, drei, vier, fünf, hopp. Stolz ballte ich meine Faust, wenn die beiden gezielt über die bunten Stangen flogen, ohne dass Dix eine von ihnen berührte. Stattdessen wölbte sie ihren Rücken, zog die Vorderbeine eng an den Brustkorb und wirkte dabei wie ein startendes Flugzeug. Nun kamen noch ein Oxer und danach ein Rick. Nervös bis ich mir auf der Unterlippe herum. Jede Zelle in meinem Körper wippte in der Bewegung meiner besten Freundin mit, fühlte die Hufe des Pferdes, die sanft durch den Sand glitten und jede Hilfe und Parade umsetzten, doch da. Alicia verschätzte sich bei dem Rick, Dix kam ins Stolpern, sprang zu früh ab. Stille. Hohl fiel die Stange zu Boden und die beiden handelten sich damit unnötige Strafpunkte ein. Aber sie strahlte breit, von einem Ohr zum anderen. Der Übermut kam am Ende durch, doch mit der rekordverdächtigen Zeit konnten sie einiges gut machen, abzuwarten blieb der zweite Ritt.
      „Das war fantastisch“, gab ihr Zuspruch.
      „Ja, Dix war wunderbar und ich“, natürlich wollte sie den Fehlerpunkt umgehend als ein riesiges Problem darstellen, aber ich unterbrach Alicia noch, bevor sie ausgesprochen hatte.
      „Und du warst auch grandios. Mein Gott, es war die erste Runde, nachher wird es besser“, strich ich Dix über den nassen Hals und wischte meine Hand an der Decke ab. Verstohlen nickte sie nur, ein Zeichen, dass sie ihre Ruhe wollte.
      „Ich setzte mich da an die Seite“, zeigte ich auf eine ruhige Stelle hinter dem Zaun, “wenn was ist, schrei“, freundlich zog ein Lächeln über die Lippen und legte die Decke auf dem Po der Stute ab. Auf Umwegen kam ich an der gesagten Stelle an. Noch immer war niemand dort zu sehen und setzte mich auf den grauen Teppichfußboden, der rundum in den Hallen verlegt war. All die Aufregung ihrer Prüfung fiel mit einem Mal von mir ab. Mein Handy sagte mir, dass Lotye mir eine Nachricht schrieb mit dem Inhalt: „Neele, ich bin auf einem Trainingstag. Es ist alles geklärt, viel Erfolg. Gruß Lotye“
      Abermals schwebte mein Finger über den Bildschirm, wusste allerdings genauso wenig wie ich, worauf er tippen sollte. Ich merkte die auffällige, zweistellige, weiße Zahl im roten Kreis neben dem Instagram Icon, was war denn da los. Neugierig öffnete ich die Anwendung und die Anzahl der Benachrichtigungen blickte kurz auf, ehe ich auf das Herz klickte. Viele mir unbekannte Leute versuchten mir zu folgen, da ich privat war, musste jede Anfrage separat beantwortet werden. Einige von ihren waren großbrüstige Bots, die umgehend ablehnte, doch ein Name fiel mir direkt ins Auge. Offenbar hatte Eskil schon gestern Abend versucht mir zu folgen. Mein Blick erhob sich, weg von der leuchtenden Anzeige und sah sich um. Noch immer keiner in der Nähe, somit konnte ich mir in Seelenruhe seine Bilder anschauen. Das Kribbeln im Bauch kam wieder, als ich die ganzen Oberkörperfreien Fotos sah. Hitze stieg mir in den Kopf und ich musste einen Augenblick nach Luft schnappen mit einem überspitzten Lächeln auf den Lippen. Sosehr ich auch versuchte diese Gefühle loszuwerden, gelang es mir nicht. Zwischen all den anzüglichen Bildern entdeckte ich auch welche von seinem Hund und einem braun gebrannten anderen jungen Herrn, der wohl sein bester Freund war. Als Standort war Portugal angegeben, hatte er da gelebt, oder lebte er da sogar noch? Je weiter ich mich durcharbeitete, umso fand ich über ihn heraus. Kaum zu glauben, wie leichtsinnig Menschen mit ihren Daten umgingen.
      Ich wusste, dass er in Portugal bei seinem besten Freund auf dem Hof lebte und dort mit dem Fuchshengst Erlkönig in der Dressur trainierte, nebenbei auch die portugiesische Arbeitsreitweise beherrschte. Sie holten und separierten Kühe auf einem großen, trocknen Feld. Ansonsten war er auch an dem Training anderer Pferde beteiligt. Das neuste Bild wurde in Schweden aufgenommen, vermutlich zog er zurück in seine Heimat. Ach, und er hatte eine Schwester, Jonina, die einen Isländer besaß.
      Auf meiner Schulter spürte ich eine warme Berührung und beunruhigt drehte ich mich um. Vor lauter Schreck fiel mir mein Handy aus der Hand – Eskil stand hinter mir und grinste.
      „Na, stalkst du mich?“, lachte er fröhlich. Schlagartig lief mein Gesicht rot an. Mit geöffnetem Mund versuchte ich eine Antwort zu verfassen, doch nur Luft verließ ihn.
      „Ganz ruhig, ich meinte das nicht so“, strich er mir durchs Haar.
      „Du … was … Hä … warum bis … Wo warst du?“, stammelte ich. Eine Hand fummelte nach meinem Handy, das offenbar in meinen Schritt gefallen war. Dennoch versuchte ich es herauszufischen, wobei mir Eskil schließlich zu Hilfe kam. Seine unglaublich großen, weichen Hände berührten meine. Unüberlegt strichen meine Finger auf seinem Handrücken entlang. Fasziniert betrachtete ich das Spiel seiner Knochen, die sichtbar unter der dünnen Haut hervorlugten und von Adern übersät Schatten warfen. Mein Gestammel verstummte und auch Eskil schwieg, unverändert lag das Lächeln auf den Lippen. Aus der Stille wurde erst ein Klopfen in den Ohren und dann ein Schreien, als würde mein Gewissen mitteilen wollen, dass er sich genauso sehr nach mir sehnte wie ich mich nach ihm. Doch von der anderen Schulter wurde ich daran erinnert, dass genau dieser gestandene Mann am Abend zuvor wie ein Häufchen Elend vor mir stand, als ich nur sehr dicht mein Gesicht an seinem hatte. Entschieden nahm ich meine Hand von seiner und stand vom Teppich auf. Mein Fuß kribbelte seltsam – Eingeschlafen.
      „Worauf warten wir hier?“, wechselte Eskil das Thema, nach dem mein kleines Tänzchen beendet war, womit ich versuchte das Blut wieder in die Gliedmaße zu bekommen. In meinem Kopf ratterte es, aus welchen Grund war ich noch einmal hier? Dabei huschte ein glänzender Rappe an uns vorbei, hielt und die Luft aus den geblähten Nüstern prustete in meine Richtung. Alicia! Deswegen. Unglaublich, dass in dem kurzen Rausch der Emotionen meine beste Freundin vollkommen verdrängt hatte.
      „Dein Prinz scheint dich wieder gefunden zu haben“, feixte sie. Mit einem kräftigen Schnauben schien auch Dix dieser Aussage zuzustimmen. Mir wurde umgehend wieder warm um die Wangen.
      „Was sagt die Wertung?“, fragte ich und drehte den Kopf Seite. Neben dem Zaun stand eine Anzeige mit dem aktuellen Ranking. Von vierundsechzig Teilnehmern waren neunundvierzig durch, dabei hielt sich meine beste Freundin wacker auf dem dreizehnten Platz, das hieß nichts Gutes, aber noch gab die Chance in der zweiten Runde aufzuholen. Bei einer Fehlerlosen könnte sie sich noch hoch, unter die Top-Zehn kämpfen und so gut ich sie kannte, wusste ich, dass sie die Zähne zusammenbiss. Was es mir an Ehrgeiz fehlte, machte sie wieder gut!
      „Sieht doch vielversprechend aus“, gab Eskil seinen Senf dazu.
      „Vielleicht sollte ich mal nach Monet sehen, der fühlt sich sicher allein so in der Box“, murmelte ich dann, als meine beste Freundin wieder ihre Stute in den Schritt versetzte und federnden Tritten durch den Sand stolzierte.
      „Wenn du möchtest, aber ich denke, dass er klarkommt. Neben ihm stand doch noch ein anderes Pferd“, brachte er mich zum Nachdenken. Vermutlich machte ich mir wirklich zu viele Gedanken. Dennoch verließen wir den Zaun vom Abreiteplatz, liefen wieder einmal zur Fressmeile. Obwohl ich wie ein Stein in dem weichen Bett des Hotelzimmers schlief, übergab mich zunehmend die Müdigkeit, ungünstig, wenn es heute noch ein langer Tag werden sollte. Während Eskil sich eine Gemüsepfanne bestellte, besorgte ich mir drei Stände weiter einen Kaffee, nach dem der vorherige auf der Kleidung von Vachel verschüttging. Intensiv nahm ich einen Atemzug an dem kleinen Loch des Plastikdeckels, verspürte, dass es die richtige Wahl war. Auch der Große hielt glücklich die Schüssel in der Hand. Neben der Tribüne suchten wir uns einen Platz, um das Springen beobachten zu können. Meiner besten Freundin schrieb ich Nachricht, die sie mit ‘k beantwortete. Kurz, aber passt.
      „In ungefähr zwei Stunden muss ich aber los“, seufzte Eskil, nach dem er aufgegessen hatte. Flattrig wippte mein Bein unter dem Tisch. Das Gefühl wanderte langsam in meinen Oberkörper, wodurch sich mein Magen ungewöhnlich leer und voll gleichzeitig anfühlte. Lieber Körper, ich wäre dir sehr dankbar daraus keine große Sache zu machen.
      „Wo geht es hin?“, blieb ich gefasst und nahm einen Schluck aus dem Becher.
      „Nach Hause, Schweden. Schließlich steht für Erlkönig und mich am kommenden Wochenende bereits die nächste Prüfung an“, sprach er herzlich. Ich nickte langsam, wissend, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
      „Welche?“, versuchte ich meiner Unwissenheit Einhalt zu gebieten.
      „Auch wieder eine CDI3*, in Stockholm. Wirst du auch da sein?“
      „Unwahrscheinlich“, murmelte ich und versuchte einen anderen Termin zu finden, an dem wir uns wiedersehen würden. Ich zückte mein Handy wieder aus der Hosentasche, las ihm die drei Turniere vor, an denen ich in diesem Jahr noch international mit Monet starten wollte, sofern keine andere Angelegenheit mir einen Strich durch die Rechnung machte. Leider überkreuzte sich keines davon mit seinen Plänen. Niedergeschlagen senkten sich meine Schultern, während sich die Hände an dem Pappbecher klammerten, der von außen deutlich heißer war, als von innen. Dann kam eine unangenehme Stille auf.
      Nach der Pause setzte sich der Start wie zuvor zusammen, damit hetzte der Pole mit seinem Pferd in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch den Sand. Dabei verweigerte das Tier jedoch und riss zwei Sprünge. Die Zeit war besser, aber die Ansammlung an Fehlerpunkten machten ihm diese Wertung zunichte. Sein Lächeln hingegen blieb unverändert. Als Nächstes ging damit meine beste Freundin an den Start. Dix trampelte ungeduldig auf der Stelle herum und beim Start legte sie einen gehörigen Sprung nach vorn an den Tag. Selbst von unserer Position so Abseits hörte ich das laute prusten und grunzen der Stute.
      Alicia schaffte es, die aufgeputschte Stute fehlerfrei durch den schweren Parcours zu lenken und dabei noch eine persönliche Bestzeit abzulegen. Damit würde sie auf jeden Fall unter die Top-Zehn rutschen, das spürte ich. Schnell rauschte ich die Treppen herunter, die laut unter meinen Schritten knarrten. Eskil folgte mir, um meine beste Freundin noch am Ausgang abzufangen. Sie ritt die verschwitzte Stute noch so lange durch den Sand, bis sich die Atmung mehr oder weniger normalisierte hatte. Dann half ich in guter Manier, die Steigbügel hochzulegen, den Gurt leicht zu lockern und das Zeug zu tragen. Alicias Kopf war noch von der Prüfung hochrot gefärbt, während der Helm eine genaue Spur auf ihrem dunklen Haar hinterließ.
      „Ich bin sprachlos und sehr stolz auf euch“, gab ich positiven Zuspruch, den sie nur mit einem Handwink hinnahm. Meine Bekanntschaft schwieg dabei, aber folgte dem Gespräch, half sogar beim Tragen. An den Boxen ging es ziemlich schnell. Ich bereitete eine weitere Portion Kraftfutter zu und Eskil nahm dem Pferd das Sattelzeug ab. In der Zeit nahm sich Alicia eine kurze Auszeit im Stuhl, schaffte es zu meiner Verwunderung sogar einzuschlafen. Fasziniert beobachtete ich, wie sie den Kopf an die Box gelegt hatte und sogar leise schnarchte. Wir ließen sie schlafen.
      „Wenn sie schläft, mag ich sie am liebsten“, spottete Vachel von der Seite, musterte dabei auch Eskil, der wieder voller Freundschaft meinen Hengst am Unterhals streichelte. Ich könnte ihnen stundenlang zu sehen und Mo sah es vermutlich genauso. Wenn ich nicht gerade mit der Stallarbeit beschäftigt war, kuschelten wir ebenfalls stundenlang. Ja, ich verbrachte jeden Tag, vom Morgen bis zum Abend auf dem Hof. Meinen Vater störte es nicht, so konnte er in Ruhe Bekanntschaften mit nach Hause bringen oder länger im Büro arbeiten.
      „Nicht so laut, sonst weckst du sie noch“, flüsterte ich ihm zu. Vachel drehte in seiner überheblichen Art die Augen, natürlich wollte er immer im Mittelpunkt stehen, das hatte er mit seinem bildschönen Schimmelhengst gemein.
      „Und er da? Dein Freund?“ Musste das sein?
      „Nein, ich bin …“, und dann unterbrach ich Eskil, der zu einer Antwort ansetzen wollte, „Nein, nur ein netter Kerl, den gestern kennengelernt habe. Eifersüchtig?“ Erleichtert holte er Luft, wodurch Vachels Grinsen noch strahlender wurde.
      „Und, bei dir? Hast du jemanden an deiner Seite?“, versuchte ich die Frage so beiläufig, wie möglich zu stellen. Wenn sich seinerseits, durch den Erguss des Kaffees, nichts geändert hatte, würde er meine Nervosität auf Alicia beziehen. Im Schlaf wendete sie sich auf dem Stuhl, aber wachte nicht auf.
      „Nicht direkt“, er überlegte, „hier und da mal etwas, sagen wir Kurzfristiges, aber nichts Festes.“
      Nebenher nickte ich ein paar Mal, ohne den Augenkontakt zu halten. Generell versuchte ich den Blick auf seiner strammen Brust zu halten, die Gründe dafür genauso vielfältig wie mein Kleiderschrank.
      „Was willst du eigentlich bei uns? Hattest du nicht geplant mit Sky, wenn du ihn noch hast, auf den Platz zu gehen?“, wechselte ich das Thema.
      „Ja, deswegen bin ich hier. Ich habe meine Bandagen vergessen“, grinste Vachel und schielte zu meiner Tasche, aus der die dunkelroten Fleece-Bänder lugten, zusammen mit den schwarzen Unterlagen.
      „Klar“, antwortete ich und reichte ihm alles. Mit der kleinen Stofftasche in der Hand bedankte er sich. Selbst Eskil drückte er beinah brüderlich an sich heran, ehe er sich auf den Rückweg zu seinem Pferd machte. Für mich hieß es nun abwarten, in zwei Stunden war die Siegerehrung der Prüfung, die Alicia mit Dix beschritten hatte.
      „Ach und noch etwas“, drehte Vachel sich auf halbem Weg um, trat dabei wieder wenige Schritte zu uns zurück, „Nachher ist eine Feier, ich erwarte euch.“
      Eskil runzelte seine Stirn.
      „Da werde ich wohl absagen müssen“, spottete er, „und den hübschen Kanadier verpasse ich auch.“ Prüfend sah er zu seinem Handgelenk, an dem eine silberne Uhr funkelte.
      „Ach alles gut, man sieht sich bestimmt noch mal wieder“, grinste ich aufmunternd und umschlang meine Arme um seinen Oberkörper. Mit einer Hand strich er mir über den Rücken, mit leichtem Druck kam ich näher an ihn heran. Sanft zog mein Lächeln sich durch mein Gesicht, dass ich an seiner Brust vergrub. Von seinem dunklen Oberteil stieg mir ein blumiger Geruch in die Nase mit einem Hauch Männlichkeit und Holz, sehr vertraut und angenehm. Kräftig zog ich die Noten in mich hinein, versuchte sie abzuspeichern, um auf sie in schwierigen Momenten abrufen zu können.
      „Musst du dann los?“, lösten wir uns voneinander. Eskil nickte. Kurz drückte wir uns erneut, bevor er winkend den gleichen Weg einschlug wie Vachel und zwischen den Boxen verschwand. Weg war er. Schwer wurde mir ums Herz, als hätte ich einen wirklich bedenklichen Verlust erlitten.
      Nervös tippte Alicia auf ihrem Handy herum, dass in ihrer Hand zitterte und jeden Augenblick drohte hinunterzufallen. Glücklicherweise standen wir im Sand, wodurch der Fall verkraftbar sein würde. Wir hatten uns das Ranking seit dem zweiten Ritt nicht mehr angesehen, viel mehr wollte sie den Moment erleben, in dem ihr Name unter Umständen aufgerufen wurde. Dann begann es. Stimmungsvolle Musik kam verhaltend aus den Lautsprechern. Die Töne marschierten wie die Teilnehmer, verstärkten die Lautstärke bis ein rhythmisches Klatschen im Publikum begann. Auch aus der Ferne bekam ich das Gefühl, dass Alicias Unruhe sich auf meinen Körper übertrug. Fest klammerte ich mich an die Brüstung, die dabei verdächtig quietschte. Eine Dame hinter mir flüsterte gemeine Sachen in das Ohr ihres Freunds, aber mein Selbstbewusstsein fühlte sich davon nicht betroffen.
      Auf dem ersten Platz landete eine Reiterin aus Deutschland mit zwei fehlerlosen Runden und zwei atemberaubenden Zeiten, kurz dahinter folgte ein Brite und tatsächlich, bevor die Hoffnung verflog, kam Alicia. Kurz prüfte ich die Wertung. Mir fiel auf, dass der Herr, der vor ihr im Ranking war, durch die Ausrüstungskontrolle gefallen ist. Glücklich strahlte sie zu mir und meine sogar die Freudentränen in ihrem Gesicht zu sehen, als sie den Preis entgegennahm. Aus allen Richtungen flackerte helles Licht untermalt mit einem unaufhörlichen Klicken der Blende.
      „Herzlichen Glückwunsch“, drückte ich mich fest an meine beste Freundin heran, die schluchzend vor mir stand und noch immer nicht die Situation fassen konnte. Sie hatte es wirklich aufs Treppchen geschafft! Stolz liefen wir weiter und eigentlich müsste man darauf anstoßen, doch keiner von uns beiden genoss Alkohol.
      „Wollen wir dann noch Raphael zu sehen? Der müsste doch demnächst an der Reihe sein“, versuchte ich Alicia wieder in die Realität zurückzuholen. Entgegen meiner Erwartungen schüttelte sie mit dem Kopf. Verwirrend drückte ich die Brauen zusammen.
      „Ich würde viel lieber shoppen gehen“, strahlte sie und wechselte in der Box ihrer Stute die Kleidung von weiß zu dunkelblau. Eigentlich wollte ich seinen Ritt sehen, aber ich konnte ihr den Wunsch nicht ausschlagen. Deswegen schnappte ich mir meine Tragetasche und zusammen gingen wir zu der Halle, in der die Stände mit Pferdezubehör aufgebaut waren.
      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 69.700 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
    • Mohikanerin
      Dressur E zu A | 28. Februar 2022

      Otra // Binomialsats // Erlkönig // Glanni frá glæsileika eyjarinnar // Sakura Blomst

      “Kili, heute ist dein Tag und du entscheidest, was wir machen”, sprach Travaris und reichte mir die Karaffe mit frischem Orangensaft. Sogleich schenkte ich mir ein Glas ein.
      “Ich habe dir schon letztes Jahr gesagt, dass es mir nicht wichtig ist”, erklärte ich ohne dabei den Blick von meinem Handy zu lösen, auf dem ich wieder einmal die romanartigen Nachrichten meiner Schwester versuchte zu verstehen. Sie erzählte von Schwierigkeiten mit Glanni, der inmitten der Dressurprüfung verweigerte und sie in den Sand setzte. Dabei blieb der Spott der Zuschauer und ihrer Freunde nicht aus.
      “Auf der Stelle möchte ich in Feuer aufgehen”, schrieb sie mehrfach, eine Wortverbindung, die sie zu gern nutzte, um ihren Scham zu verbildlichen. Bevor ich den Absatz beendete, verschwand der Text unter einer Hand, die von niemand anderes als meinem Freund gehörte.
      “Jonina braucht mich”, versuchte ich ihm zu vermitteln. Trav kümmerte diese Aussage nicht im Geringsten. Sanft zog er mir das Gerät aus der Hand, sperrte es und legte es auf seiner Seite des Tisches ab, sodass ich nur durchs Aufstehen es zurückbekam. Seufzend sah ich tief in die Meer-blauen Augen und verspürte die plötzliche Sehnsucht nach dem Schnee. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie sich das weiße Zeug zwischen den Fingern anfühlt, obwohl ich vor kaum als sechs Monaten meine Schwester besucht hatte in der Heimat. Alles daran vermisste ich, aber sobald ich in Schweden ankam, zog es mich wieder nach Portugal. Es war eine Zerreißprobe, jeden Tag aufs Neue.
      “Ich hole uns noch einen Kaffee und in der Zeit überlegst du dir, was wir unternehmen”, sprach Travaris, mit einem Lächelns auf den Lippen, “aber das hier nehme ich mit”, fügte er mit meinem Handy in der Hand hinzu. Zugegeben, er mochte meine Schwester nicht, obwohl sie erst zweimal mich besuchen kam. Anstelle mir mögliche Szenarien ihrer Nachrichten zu überlegen, versuchte ich eine geeignete Aktivität für uns beide zu finden und wie wir bei den vorherrschenden fünfunddreißig Grad verbrannten.

      “Und du bist dir ganz sicher?” Travaris erschien überrascht, als ich uns beiden jeweils ein Pferd gesattelt hatte und mein Shirt über den Anbinder warf. Dass sein Blick deutlich von meinen Augen weg wanderten, wunderte mich keines Wegs.
      “Ach Trav, jetzt sei kein Spielverderber”, jammerte ich und drückte ihm die Zügel von Sakura in die Hand, die zum Beritt bei uns auf dem Hof war. Die junge Stute begann aktuell, sich in der Dressur zu festigen. Dabei zeigte sie eine hohe Arbeitsbereitschaft, mit dem Willen, dem Reiter zu gefallen. Mein Hengst Erlkönig hingegen setzte häufig auf Durchzug und wollte nur an einigen Tagen auf mich reagieren. Ein Großteil der Arbeit fand vom Boden aus statt. Er liebte die Doppellonge und fand Vergnügen an der Freiheitsdressur, was ich mit großem Interesse weiterverfolgte. Kaum vorstellbar, dass dieses Pferd für Großes bestimmt war.
      “Weil du es bist”, gab Trav schlussendlich doch noch nach. Schritt für Schritt lief ich auf ihm zu und legte die Hände an seine Hüfte. Während meine Lippen nur Zentimeter von seinen entfernt waren, knurrte er: “Du kennst die Regeln”, und schob mich etwas von ihm weg. Ich gab nicht nach, sondern glitt mit einem Finger nach dem anderen unter sein Shirt, um es schließlich über das perfekte Haar zu streifen und zu meinem zu legen.
      “Ja, ich kenne sie, umso verlockender ist es, sie zu brechen”, flüsterte ich und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Misstrauisch sah er mich an, nickte langsam und zog der jungen Stute die Zügel über den Hals.
      Als eine gesunde Abwechselung hatte ich in der Reithalle die Sprinkleranlage eingeschalten, um uns allen eine Abkühlung zu verpassen. Ungebremste schien die Sonne auf dem Hof. Kein Lüftchen wehte und die wenigen Bäume schenkten nur minimalen Schatten. So schön der Sommer auch war: Es könnte um einiges kühler sein, wenn ich schon nicht am Strand liegen durfte. Wie erhofft lag eine angenehme Frische in der Luft beim Einreiten in die Reithalle, die auch die Pferde mit Begeisterung feststellten. Zielgerichtet lief mein Fuchs zur einzigen kleinen Pfütze im Sand und trank draus, bevor ich mit einigen Paraden dazu motivierte wieder loszulaufen.
      Wir beschränkten die Dressureinheit auf simple Bahnfiguren im Schritt und Trab. In den Wendungen und Schlangenlinien kam Sakura unter Travaris gut an den Zügel, während mein Paso Ibero mehr daran dachte, im Tölt durchzustarten. Ihm langweilte Schritt, umso wichtiger war es, den Hengst in die nötige Balance zu bringen. Die Übergänge und Rückwärtsrichten förderten die Lastaufnahme in der Hinterhand, sodass wir nach einer halben Stunde einen guten Viertakt im Schritt fanden. Schließlich durfte er noch am lockeren Zügel auf dem Zirkel traben, bevor wir aus den Sätteln stiegen.
      “Was findest du nur an dem”, schüttelte mein Freund mit dem Kopf, als er abermals den Fuchs musterte, der mit wippendem Kopf neben mir lief. Dabei stieß mich das Pferd immer wieder aus dem Weg. Ich ignorierte das Verhalten und klopfte Erlkönig auf die Schulter.
      “Dasselbe könnte ich über dich auch sagen”, scherzte ich. Trav stieß mir leicht zur Seite, um mich in der Bewegung eng an sich heranzuziehen und bedrohlich nah an meinen Mund zu kommen. Auf meiner Haut spürte ich den warmen Atem und schluckte vergnügt.
      “Wenn wir nicht schon Tag und Nacht miteinander verbringen würde, wäre mein Leben nicht so erfüllt”, flüsterte er. Seine Hände lösten sich, als Schritte hinter uns ertönten. Ehrlich gesagt war es kein Geheimnis, dass wir seit mehr als einem Jahr ein Paar waren und das Geflüster über uns nahm seinen Lauf. Wir führten die Beziehung mehr hinter geschlossenen Türen, auch, wenn es mir schwerfiel, die Finger zu ihm zu lassen. Heute, an meinem Namenstag, war es eine Ausnahme. Aus der Tradition meiner Heimat, und seiner Vorliebe Dinge zu Feiern, heraus durfte ich mehr tun als sonst.

      Erst am Abend bekam ich mein Handy zurück und überprüfte sofort die Nachrichten meiner Schwester, die nicht nur immer mehr wurden, sondern auch länger. So schrieb sie über eine gescheckte Stute, Otra, die wohl auf dem Platz deutlich schlechtere Leistungen zeigte, als die Besitzer sich vorstellten. Dafür bekam Jonina, als Reiterin, natürlich die Schuld. Langsam aber sicher kristallisierte sich heraus, dass meine Schwester den Willen für Turniere verlor. Seufzend legte ich mein Handy zur Seite und starrte auf den Bildschirm meines Laptops. Bevor ich auch endlich ins Bett kehren konnte, stand noch eine Unterrichtsstunde auf dem Plan, mit einem Mädchen aus Schweden. Sie besaß einen braunen Hengst, Bino, der aus unbekannten Gründen Aussetzer hatte. Dabei buckelte er unkontrolliert los, wollte nichts weiter, als die Reiterin von seinem Rücken zu bekommen. Erst durch meine Hilfe konnte sie ihr Pferd in solchen Situationen stoppen. Mein König war schließlich auch so.
      „So ist gut“, lobte ich die beiden, als sie auf dem Zirkel trabte und im Anschluss aussaß auf einer doppelten Schlangenlinie. Das Paar stand noch am Anfang der Dressurarbeit, doch das Pferd zeigte großes Potenzial und ich war fest davon überzeugt, dass der Hengst nur seine Chance nutze. Die Kleine saß unsicher im Sattel und traute sich nicht, den Schenkel ordentlich anzulegen. Konsequent zog das Pferd ihr die Zügel aus der Hand. Meine Ideen zur Arbeit mit dem Tier waren vielfältig, allerdings interessierte sich die Pubertierende nicht für Bodenarbeit und der Festigung von Vertrauen. Der Hengst sollte ordentlich laufen und das war's. Seufzend sah ich zur Seite. Trav stand seit Minuten nur mit einem dünnen Stoff bekleidet am Türrahmen gestützt und beobachtete das Spektakel auf dem Bildschirm.
      “Vielleicht sollte sie mal herkommen, schließlich sieht das da wirklich grausam aus”, merkte dieser an und öffnete einen weiteren Knopf des Hemds. Mit einem Tastendruck stellte ich das Mikrofon aus, drehte mich mit dem Stuhl in seine Richtung und zog die Unterlippe zwischen meinen Zähnen hindurch. Unpassender hätte er die Anspielungen nicht wählen können.
      “Möchte sie nicht”, stammelte ich etwas unbeholfen. Mir drückte es auf dem Brustkorb, so wollte ich nichts lieber, als endlich ins Bett kommen, schließlich hatte auch Travaris festgestellt, dass dieser Unterricht nur Zeitverschwendung war. Mein Gewissen sprach weiterhin, dass ich lieber zum Bildschirm blicken sollte, schließlich stand sie noch immer in meiner Verantwortung.
      Die letzten Minuten sah ich mir das Schauspiel noch an, bevor ich sie aus dem Sattel holte. Schockiert blickte sie in die Kamera, verstand nicht so ganz, wo mein Stimmungswechsel herkam – ich auch nicht. Ich informierte sie über ihre Möglichkeiten, bevor sie wortlos den Anruf beendete und auch Anrufe nicht mehr reagierte. Dass sie im selben Alter wie meine jüngere Schwester war, unterstrich nur die Tatsache, dass es die Hormone waren.

      © Mohikanerin // Eskil // 8831 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Juni 2019}
    • Mohikanerin
      Dressur A zu L | 07. März 2022

      Sakura Blomst // Erlkönig // Ermgravin // WHC' Afterglow

      Es ist keine große Sache, redete ich mir ein, immer und immer wieder sprach ich die Worte wie ein Gebet. Auch Erlkönig schnaubte als seelische Unterstützung ab und stupste mich damit an der Seite ab. Sosehr ich es versuchte, mein Blick blieb bei Travaris hängen, doch er stand nicht allein am Zaun. Neben ihm lachte Narcis über einen blöden Witz, den mein Freund erzählte. Für meinen Geschmack lagen ihre Hände zu dicht aneinander, allerdings wollte ich keinen Streit beginnen. Wir stritten zu viel in letzter Zeit.
      “Gut, dass ich dich gefunden habe”, stöhnte Maria erschöpft. Kleine Schweißperlen wanderten ihre Stirn entlang, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Bei den Temperaturen war jeder unnötiger Meter eine Herausforderung.
      “Trink erst einmal ein Schluck”, reichte ihr meine Wasserflasche, die sie großzügig entgegennahm und halb leerte. Nach einem kräftigen Atemzug rappelte sich Travs Schwester auf und steckte meinem Pferd ein Leckerli zu. Erlkönig verschlug es in einen Bissen.
      “Danke, du bist ein Schatz”, grinste sie, bevor auch in ihre Augen das Duo erschien, “was soll denn das? Der kann sich was anhören.” Sofort wollte sie losziehen, wie ein Kämpfer in die Arena, aber ich stoppte sie.
      “Ist doch alles gut, sie reden nur”, versuchte ich Maria, oder deutlich mehr mich, zu beruhigen. Misstrauisch runzelte sie die Stirn: „Du denkst das nicht wirklich? Der flirtet mit ihm und das geht nicht, schließlich seid ihr das Traumpaar des Jahrzehnts.“ Mit einem leisen Lachen ließ ich von Marias Arm ab, um endlich den Schutz im Schatten des Stalles zu suchen. Sie folgte mir.
      „Wenn du mich gesucht hast, was wolltest du?“, fragte ich nach, als wir zusammen meinen Hengst absattelten. Er hatte großartige Leistungen gezeigt. Anfangs diskutierte er noch, aber lief im Laufe der Dressurarbeit immer besser an den Zügel heran, bis wir sogar eine Lektionen-Abfolge von Traversale und Versammlung abrufen konnten. Erlkönig kam endlich zur Reihe, nach mehr als einem Jahr. Ich war stolz auf mein Pferd.
      „Hast du Lust, mit der Gräfin zu arbeiten?“, bot sie mir ihre niederländische Stute an. Eigentlich durfte niemand an ihr Pferd ran, nicht einmal um es auf die Weide zu bringen. Zu wichtig war es Maria, dass sie die Gräfin selbst betreute. Kein Wunder, schließlich verschlang das Tier schon Unsummen beim Kauf.
      “Sehr gern, holst du sie?”, versuchte ich mein Vorfreude zu verstecken, aber hüpfte beinah so sehr durch die Gegend wie sie. Von einem der Halterungen an der Wand griff sie ein Halfter und lief hinüber in den Stalltrakt, in dem die Stuten ihr Zuhause hatten. Zur selben Zeit löste ich den seitlichen Strick vom Halfter und zog ihn zur Dusche. Von den Hinterbeinen über die Kruppe kühlte ich den Fuchs ab, der das Wasser auf dem Fell genoss. Seine Augen schlossen sich langsam, je weiter ich zu seinem Hals kam. Dann überlegte er sich anders. Hektisch biss er in den Schlauch, der von der Decke herunter hin und riss mir das Ende aus der Hand. Wie ein kleines Kind wippte er mit dem Kopf und spritzte nicht nur den halben Stall voll. Vollkommen durchnässt stand ich vor Erlkönig, der mich auslachte, zumindest erweckte das Pferd den Anschein. Mit dem Schweißmesser entfernte ich das überschüssige Wasser und brachte ihn letztlich zurück in die Box.
      “Ich habe Gräfin auch – ”, Maria stoppte, als ich mich von Kopf bis Fuß durchnässt sah und begann schlagartig zu lachen, “vielleicht willst du dich erst einmal umziehen?”
      “Nein, alles gut”, sagte ich und entschied einfach mein Shirt in die Sonne zu legen. Die nasse Reithose würde mir eine nötige Erfrischung geben. Zusammen überquerten wir den Hof. Noch immer stand Travaris mit Narcis am Zaun, beobachteten aktuell Glowy, eine der barocke Stute, die zum Beritt bei uns stand. Ihre Versammlungen waren ein Highlight, jedes Mal, wenn ich das Pferd durch den Sand laufen sah, schwärmte ich von ihr. Mein Freund hielt mich allerdings fern von der Stute, nichts, was ich näher hinterfragte, schließlich durfte ich in wenigen Minuten auf der Gräfin sitzen.
      In der Reithalle tummelte sich eine Gruppe von jungen Mädchens, genauer gesagt “Marias Truppe”. Sie strotzten nur von unkontrollierten Hormonen und steckten mit beiden Beinen in der Pubertät fest. Ein unverständliches Flüstern ging durch die Halle, bevor sie wie wild klatschten und sich über die Bande lehnten.
      “Warum hast du nichts gesagt, dass ich Zuschauer habe?”, raunte ich Maria zu, sie legte ein Grinsen auf und zuckte mit den Schultern. Alles klar, also war es geplant. Ich schüttelte mir leicht den Kopf, bevor ich mir die Steigbügel einstellte und in den Sattel schwang.
      „Und zeig meinem Bruder, dass du besser bist als die Bohnenstange“, fügte Maria noch hinzu.
      Ich begann im Schritt auf der Stute in immer enger werdenden Biegungen auf der ganzen Bahn und dem Zirkel. Gräfin reagierte anstandslos auf meinen Schenkel, eine wirkliche Erleichterung gegenüber der anderen Pferde hier am Hof. So konnte ich mich mehr darauf konzentrieren, korrekt die Lektionen abzufragen und meinen Sitz zu verbessern. Ihr Trab war federleicht, als würde man auf Wolken schweben. In meinen Ohren hing dennoch das Geflüster der jungen Damen.
      “Und du denkst wirklich, dass das mit deinem Bruder so ernst ist?”, sagte eine zu Maria.
      “Das steht nicht in meinem Wirkungskreis”, zuckte sie mit den Schultern.
      “Also denkst du, könnte ich Chancen haben?”, sprach ihre Freundin außergewöhnlich überzeugt, aber tauchte in einen intensiven Rotton, als ich Ermgravin vor ihr anhielt. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und wollte vermutlich im Boden versinken. Die Mädchen um sie herum begann zu lachen und eine zückte sogar ihr Handy, um die Szene aufzunehmen.
      “Kleine, es tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, aber du wirst auch aus einem anderen Grund keine Chance haben – du bist neun Jahre jünger”, versuchte ich sie aus der Traumwelt herauszuholen. Dass sie sich noch für längere Zeit Hoffnungen machen würde, könnte schmerzhafter sein, als es direkt von mir zu hören. Deswegen nahm ich es als Kompliment, schließlich wusste sie es nicht besser. Noch immer versteckte sie ihr Gesicht in den Händen und erst als ich diese berührte, kam der hochrote Kopf zum Vorschein.
      “Aber in drei Jahren bin ich volljährig, bist du dir sicher?”, schluchzte sie. Mit einem Lächeln auf den Lippen nickte ich, wodurch das Schniefen noch lauter wurde. Nach einer weiteren Runde im Schritt hielt ich erneut bei ihr an, hoffte sie, auf welche Art auch immer, aufmuntern zu können. Ihre Augen waren noch immer gefüllt mit Tränen.
      “Wie kann ich dir helfen?”, versuchte ich wirklich eine Lösung zu finden und all meine Möglichkeiten zu bieten, ohne dabei einen Schritt in die verkehrte Richtung zu setzen. Schließlich war ich kein Monster.
      “Ich”, schluchzte das Mädchen und sah endlich zur mir, “ist blöd zu sagen, dass ich einen Kuss mir auf die Wange wünsche?” In den feuchten Augen begann es zu funkeln, als ich kurz nachdachte und mich schließlich kurz zu ihr hinüberbeugte, um ihr diese Kleinigkeit zu erfüllen. Sie lachte und legte eng ihre Arme um mich.
      “Danke”, sprach sie für die anderen nicht hörbar in mein Ohr. Damit hörte das schluchzend auf und ich konnte entspannt auf der Gräfin weiterarbeiten. Jeden Tag eine gute Tat, oder so ähnlich.
      Nachdem Ermgravin zuverlässig die Aufgaben einer leichten Dressur gezeigt hatte, ritt sie ab. Die Mädchengruppe wurde immer weniger, bis nur noch drei von ihnen am Rand saßen und die letzten Runden beobachten. Schließlich stieg ich ab. Lobend klopfte ich den Hals der Stute und führte sie aus der kühlen Halle heraus. Davor traf uns eine Hitzewelle, die mir sofort Schweißperlen auf die Stirn zauberte und auch einen Schauer über den Rücken jagte. Mit meinem Arm versuchte ich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen, wodurch es nur noch mehr wurden. Kurz vor den Stallungen nahm mir Maria die Stute ab, verschwand mit den Mädels darin. Ich blieb für einen Moment wie bestellt und nicht abgeholt stehen. Aber meine Abholung nahte bereits.
      “Du weißt, wie sehr ich diesen Anblick schätze, aber nicht in der Öffentlichkeit”, murmelte Travaris, der gerade mit der verschwitzten Sakura wieder kam. Offenbar ritt er mit ihr auf dem Platz, denn das Fell war überseht mit dem hellen Staub. Die Arbeit mit Sakura zahlte sich aus. Woche für Woche machte das Pferde fortschritte und zeigte sich als ein freundliches Kinderpony, dass sogar die bunten Schleifen an der Trense akzeptierte. Seinem Gesichtsausdruck zu folge, hatte sich die Arbeit gelohnt in der Dressur.
      “Ich könnte mir ein Shirt anziehen”, trat ich näher an meinen Freund heran und legte meine Hände an den Bund seiner Hose.
      “Oder?”, schmunzelte er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
      “Ich bleibe, wie ich bin, helfe dir Sakura zu duschen und dann machen wir eine Pause”, rutschte ich höher, mit meinen Fingern und zog dabei das Shirt heraus. Trav schluckte. Sanft legte ich die Lippen an seinen Hals und wusste genau, dass ihm nun die Argumente ausbleiben würden.

      © Mohikanerin // Eskil // 9005 Zeichen
      zeitliche Einordnung {September 2019}
    • Mohikanerin
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      Dressur L zu M | 29. Mai 2022

      Saturn // Matt Grasso
      Erlkönig // Brooke Scott
      HGT’s Be My Sunshine // Tamara Jones
      PFS Snap Cat // Quinn Callahan

      Die letzten Tage hatten wir neben Sunny noch weitere Berittpferde die mit ihren eigenen Reitern kamen um sich fortzubilden. Darunter Matt Grasso mit seinem braunen Saturn und Quinn Callahan aus dem Pine Forest Stables mit PFS Snap Cat. Der Schimmelhengst Snap Cat, kurz Scat, hatte öfter ein Problem mit Geistern, die er sah. Mal waren sie in den Ecken, mal mitten in der Halle und außer ihm, schien keines der anderen Pferde oder auch Menschen zu bemerken. In den Trainingsstunden konnte man es verkraften, denn er lief unter Quinn ziemlich konzentriert, nur beim Ausreiten war es schon gefährlicher. Die M-Lektionen begriff er aber ziemlich rasch, genauso wie Erlkönig, der unter Brooke wie eine Eins lief. Gerade die Seitengänge gefielen Erl und er hatte deutlich Spaß dabei, auch wenn er ab und zu unberechenbar wurde, wenn ihm etwas nicht gefiel oder er frustriert war. Aber gerade Sunny, der gerade noch in der Flegelphase war, stellte sich mit Tamara gut an und machte die meisten Fortschritte. Er ging gut in Anlehnung und bot diese mittlerweile auch eigenständig an. Dazu bekam er noch oft Pausen um nicht sauer geritten zu werden oder ihn zu überfordern. Saturn machte sich hingegen nicht ganz so gut und Matt hatte in ihm eine Herausforderung gefunden dem Hengst die M-Lektionen beizubringen. Er brauchte einfach länger als andere, was größtenteils auch durch sein Exterieur zu schulden kam. Doch daran konnte man nichts ändern. Saturn gab trotzdem sein bestes. Eine einfache M-Dressur konnte man mit ihm schon probieren. Bei den anderen sah man jedoch noch deutlich Potenzial für die nächsthöhere Klasse.

      © Sosox3 // Nathan Scott // 1617 Zeichen
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  • Album:
    kalmar.
    Hochgeladen von:
    Mohikanerin
    Datum:
    8 Sep. 2021
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    EXIF Data

    File Size:
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    Mime Type:
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    960px
    Height:
    640px
     

    Note: EXIF data is stored on valid file types when a photo is uploaded. The photo may have been manipulated since upload (rotated, flipped, cropped etc).


  • Erl ist 15 Jahre alt.

    Aktueller Standort: Lindö Dalen Stuteri, Lindö [SWE]
    Unterbringung: Hengstpaddock


    –––––––––––––– s t a m t a v l a

    Aus: Unbekannt [Paso Iberoamerikano]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt


    Von: Unbekannt [Paso Iberoamerikano]
    VMM: Unbekannt ––––– VM: Unbekannt ––––– VMV: Unbekannt
    VVM: Unbekannt ––––– VV: Unbekannt ––––– VVV: Unbekannt



    –––––––––––––– h ä s t u p p g i f t e r

    Zuchtname: x
    Rufname: Erl, Roter Baro, König
    Farbe: Fuchs
    [ee Aa nZ]
    Geschlecht: Hengst
    Geburtsdatum: Juli 2005
    Rasse: Paso Iberoamerikano [x]
    Stockmaß: 169 cm

    Charakter:
    fleißig, genügsam, unberechenbar, intelligent, nervenstark

    * Erl ist untypisch groß für seine Rasse.


    –––––––––––––– t ä v l i n g s r e s u l t a t

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    Dressur M [S+] – Springen A [A] – Western E [A] – Distanz E [L] – Gangreiten E [M]

    Ebene: International

    September 2021
    Unterricht, Springen E zu A

    Dezember 2021
    3. Platz, 643. Dressurturnierr

    Februar 2022
    Training, Dressur E zu A

    März 2022
    Training, Dressur A zu L

    Mai 2022
    Training, Dressur L zu M

    August 2022
    2. Platz, 648. Westernturnier

    Oktober 2022
    2. Platz, 656. Westernturnier
    1. Platz, 658. Westernturnier
    3. Platz, 661. Westernturnier
    Training, Dressur M zu S

    November 2022
    2. Platz, 663. Westernturnier
    3. Platz, 664. Westernturnier
    3. Platz, 666. Westernturnier
    1. Auslosung
    1. Platz, 666. Westernturnier
    2. Auslosung

    Dezember 2022
    3. Platz, 668. Westernturnier
    3. Platz, 670. Westernturnier
    3. Platz, 671. Westernturnier


    –––––––––––––– a v e l

    [​IMG]

    Gekört durch HK517 im Februar 2023.

    Zugelassen für: Paso Iberoamerikano; Barock-Reitpferd
    Bedingung: Keine Inzucht; Dressur mind. M
    DMRT3: CA [viergänger]
    Leihgebür: 295 J. [Verleih auf Anfrage möglich]

    Fohlenschau: 0,00
    Materialprüfung: 0,00

    Körung
    Exterieur: 7,37
    Gesamt: 7,18

    Gangpferd: 7,06


    –––––––––––––– a v k o m m e r

    Erlkönig hat 1 Nachkommen.
    • 2016 Friedenskönigin von Atomic (aus: Friedensstifter)


    –––––––––––––– h ä l s a

    Gesamteindruck: gesund, im Training
    Krankheiten: Probleme mit der Fessel (Vorne Links)
    Beschlag: Barhufer


    –––––––––––––– s o n s t i g e s

    Eigentümer: Eskil Mattsson [100%]
    Pfleger: Jonina Mattsson
    Reiter: Jonina Mattsson
    Züchter: [POR]
    VKR / Ersteller: Mohikanerin

    Punkte: _gekört

    Abstammung [0] – Trainingsberichte [5] – Schleifen [12] – RS-Schleifen [0] – TA [0] – HS [2] – Zubehör [2]

    Spind – Hintergrund

    Erlkönig existiert seit dem 8. September 2021.