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Mohikanerin

Dix Mille LDS [1]

a.d. Bree, v. Architekkt

Dix Mille LDS [1]
Mohikanerin, 4 Jan. 2022
Stelli und Wolfszeit gefällt das.
    • Mohikanerin
      Hoffnung in Genf | 04. Januar 2022

      Monet / Erlkönig / WHC‘ Poseidon / Dix Mille LDS / Jora / Crystal Sky

      Hatte ich schon erwähnt, dass mir dieser Abreiteplatz einen gehörigen Schrecken einjagte? Um mich herum tummelten sich namhafte Reiter aus der gesamten DACH Region, dass ich kaum ein Auge auf meinen Hengst werfen konnte, ohne weiche Knie zu bekommen. Alicia hingegen wirkte wie ein Profi. Ihre Rappstute schritt durch den Sand, verzog keine Miene und hielt die Ohren konsequent bei ihrer Reiterin, selbst der hektische Hengst einige Meter entfernt war vollkommen uninteressant. Ja, Mo fand diesen Ort genauso angsteinflößend wie ich.
      Wir kamen zusammen aus einem verschlafenen Grenzort zur Schweiz, Chez Favre. Mit ein paar weiteren jungen Menschen teilten wir uns ein Stallabteil auf einem Gemeinschaftshof. Wo man nur hinsah, standen Pferde jeder Größe, Farbe und Rasse, dazwischen kleine Wege entlang der Zäune, teils aus Sand und zum anderen befestigt aus alten roten Steinen, wie auch die Gebäude. An den Ställen hing Efeu, der im Frühjahr weiß blühte. Idyllisch war es, doch der Schein trübte. Ständig entstanden unnötige Diskussionen um Gott und Welt und versteht mich nicht falsch, ich wusste nicht einmal welches Problem die Mädels im Stall neben uns hatten. An einem Tag hieß es, dass wir die Reithalle nicht sauber gemacht hätten, obwohl keiner von uns einen Slot gebucht hatte, und an dem nächsten waren wir es, die eine Decke geklaut hatten, die nach einigen Stunden dann doch wieder auftauchte. Bekamen wir eine Entschuldigung? Nein, natürlich nicht. Ich war es leid mich mit dem Stress zu befassen, aber einen Stall zu finden, von dem aus ich nur wenige Minuten nach Hause fuhr, gab es nicht.
      „Neele Aucoin mit Monet bitte in die Halle“, ertönte es aus den blechernen Lautsprechern auf dem Abreiteplatz. Alicia streckte noch die Daumen nach oben und grinste breit, bevor ich sie aus den Augen verlor. Reiten macht Spaß, sprach die leise Stimme in meinem Kopf. In der großen Reithalle verstummten die Zuschauer, die zuvor noch den jungen Mann Beifall gaben. Wir begegneten uns im Tunnel und obwohl kein Wort über meine Lippen huschte, sah ich hoch zu ihm, musterte sein Gesicht. Markant legte sich ein Schatten an seinem Hals vom Kiefer und auf den Lippen strahlte ein solch herzliches Lächeln, das mich ansteckte. In meiner Brust beruhigte sich das pochende Herz. Merci, flüsterte ich und verwahrte das rechte Bahn an der Seite meines Hengstes, während sich das Gewicht leicht zur Linken verlagerte. Einmal sah ich ihm noch nach, so wie er mir auch. Verhalten lächelte ich, wandte den Blick von ihm zum Sand und im nächsten Augenblick betraten wir den abgezäunten Reitplatz inmitten der Reithalle, okay, es war keine richtige Reithalle, sondern eine Messehalle, in der Sand auf den Boden geschüttet wurde.
      Monet schwebte durch den Sand und von einer Phase zur nächsten bekam ich das Gefühl, dass mein Pony Hengst immer größer wurde. Sein Rumpf erhob sich, wodurch durch die Hinterbeine immer weiter unter seinen Schwerpunkt kamen. Durch eine ganze Parade verkürzte sich der letzte Sprung und wir standen, still. Gelassen kaute er auf dem Gebiss, während ich langsam meine rechte Hand zu meinem Helm bewegte, um zu grüßen. Eine Dame von den Richtern lächelte freundlich, nickte und aus dem Halt trabte ich wieder los. Kaum sichtbar vermehrte ich die treibende Hilfe auf beiden Seiten des Pferdebauchs, versuchte mit nur leichten Zügelkontakt das Genick des Pferdes als höchsten Punkt zu behalten, wobei seine Ohren lustig nach vorn und hinten wippten. Je tiefer ich mich in den Sattel setzte, umso mehr setzte auch Monet seine Hinterhand. Im Zusammenspiel mit halben Paraden, den treibenden Beinen verkürzte ich seine Tritte. Kurz vor dem Erreichen der kurzen Seite verlagerte ich das Gewicht auf meine linke Seite und zupfte einmal an dem Gebiss. Punktgenau bog er ab. Den Großen hatte Monet einiges voraus – in den Kurven bekam er die Möglichkeit einige Tritte mehr zu nutzen, um durch die Ecke zu kommen, umso mehr Einsatz benötigte ich, ihn in der Biegung zu halten. Dafür reichte das minimale Verwahren an der Außenseite aus, um ihn an meinem inneren Bein zu wenden und dabei die Schulter nicht zu verlieren. Im Wechsel durch die ganze Bahn verstärkte ich die Tritte. Monet geriet mir dabei zu sehr hinter den Zügel. Unruhig schnaubte er. Aber wie gewünschten bekam er mehr Schwung, vielleicht etwas zu viel, denn ich spürte, wie sich sein Rücken unter dem Sattel verfestigte. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht tiefer in den Sattel, gab ihm Maul eine halbe Parade, um Schub aus der Bewegung zu nehmen. Sofort fußte die Hinterhand aktiver ab und vor mir, baute sich Mo wieder auf. Natürlich würde es Abzüge geben, aber das war mir wirklich nicht wichtig. Ich wollte mir selbst, und den Anderen, beweisen, dass ein Pony genauso gute Chancen haben kann wie ein Warmblut in der Grand Prix. Dass heute nicht der richtige Tag dafür sei und ich uns beide besser hätte vorbereiten sollen, wurde mir erst vor dem Publikum klar. Die Prüfung deswegen abzubrechen, würde daran nichts ändern. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich die 49 % auf der Anzeige aufleuchte. Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt, aber ich konnte die Zügel nicht loslassen, also blieb mir nur der Gedanke daran.
      In der Traversale nach verschätzte ich mich, einige Tritte zu früh kamen wir an der langen Seite an, womit wir uns erneut einen gehörige Punktabzüge einhandelten. Bei der nächsten passte es jedoch und ich flüsterte meinen Hengst leise ein Lob zu. Den Übergang zur Versammlung beherrschten wir im Schlaf und auch in den Halt. Wieder kaute Monet ruhig auf seinem Olivengebiss, während ich den Moment der Ruhe nutzte, um meine Energie wieder zu sammeln. Schreitend trat er fünf Schritte zurück, die ich mit meinen Beinen genau koordinierte. Sanft drückte ich kräftiger in den Bauch, ließ am Zügel nach und er trabte versammelt an. Dabei schnaubte er gelassen haben. Monet war ein Streber, durch und durch, aber der Weg dorthin ähnelte einer Wanderung über die Alpen – barfuß, im Winter.
      „Neele, du hast es geschafft“, freute sich Lotye Quiron, meine Trainerin. Mir fehlten dir Worte, in meiner Brust schlug das Herz Purzelbäume und auch Mo prustete laut. Also nickte ich nur langsam, während meine Hand über den verschwitzten Hals meines Hengstes strich. Von der Seite kam auch mein Vater dazu, der breit grinste und uns beide lobte.
      Wie hypnotisiert drehte ich viele Runden auf dem Abreiteplatz, sah leer zwischen die Ohren meines Tieres hindurch und versuchte mit niemandem einen Unfall zu bauen. Gekonnt wich Monet wie von selbst den anderen Reiterpaaren aus, drehte kleine Volten um sie herum und zwischen trabte er sogar an. Doch für mich gab es nur die Gedanken an die Prüfung. Wir hatten zwar in der Gesamtwertung keine hohe Punktzahl erzielen können, doch hätte mir einer gesagt, dass er mit seiner Passage 89 % erzielen würde, hätte ich gelacht. Nicht, weil es für unwahrscheinlich empfand, sondern aus der Unsicherheit heraus. Doch Monet hatte es geschafft. Für diesen einen kleinen Moment hatte sich die ganze Arbeit gelohnt, als die Tränen, die geflossen sind und Schweiß, all die schlaflosen Nächte und Gedanken, ihn abzugeben, aber es dann doch nicht getan zu haben.
      „Du warst großartig“, flüsterte ich Monet zu und gab ihm ein Kuss zwischen die Nüstern. Im Zeichen seiner Zuneigung drückte er seinen Kopf an meine Schulter und versuchte sich zu scheuern, kurz lachte ich und schob ihn zur Seite. Dann kam auch Lotye wieder, im Schlepptau Alicia und meinen Vater. Die drei schienen es gar nicht abwarten zu können, wieder zurück in die Nachbarhalle zu gehen, um den Hengst abzusatteln. Nur müde schleppte er sich uns hinterher, beachtete gar nicht die Stuten, die ihm lüstern anblickten, zum Glück meinerseits.
      Monet stand mit seiner Decke, und seinem schwarzen Sleezy, in seiner Box, mümmelte schläfrig sein Heu. Erst jetzt, wo alles erledigt war, spürte ich meine eigene Müdigkeit. Schwer lag mein Kopf auf den Schultern und nur mit Mühe konnte ich ihn oben tragen. Auch meine Augen fielen unkontrolliert zu, bis eine tiefe Stimme mich begrüßte und mit dem Finger auf meine Schulter tippte. Am ganzen Körper zuckte ich zusammen, rutschte einige Zentimeter tiefer in den Stuhl, ehe ich mich wieder aufrappelte und den groß gewachsenen, jungen Mann neben mir bemerkte. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass es der Herr auf dem Fuchs war, den ich beim Einreiten getroffen hatte. Auf seinen schmalen, rosigen Lippen lag ein höfliches Lächeln, das mich erneut aufmunterte zu grinsen. Ich schüttelte mich, realisierte dabei auch, dass meine eigentlich weiße Hose vollkommen verdreckt war und der Zopf nur noch locker herunter hing mit vielen Strähnen, die sich daraus verabschiedet hatten. So saß ich vor ihm, kaum zu glauben, dass mich überhaupt jemand ansprach.
      „Soll ich noch mal umdrehen und wieder kommen?“, scherzte er.
      „Ach, alles gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass mich heute noch mal jemand ansprechen wird“, gluckste ich unsicher, schob unaufhörlich die lockeren Strähnen aus meinem Gesicht hinters Ohr, „Aber was machst du hier?“
      „Um ehrlich zu sein, wollte ich dich auf einen Snack einladen, weil du dich so tapfer gegen die ganzen Warmblüter durchsetzen konntest“, reichte er mir seine Hand, um mir aus dem Stuhl zu helfen. So, wie ich vor ihm stand, bemerkte ich, dass er riesig war. Gut einen Kopf ragte er über meinen hinauf, was aber bei meinen Knappen eins sechzig nicht schwer war.
      „Sehr gern“, antwortete ich. Hektisch sah ich mich um, denn einfach zu verschwinden war nicht meine Art, doch von keinen meiner drei Begleitern entdeckte ich jemanden.
      „Vorher muss ich aber meinen Vater finden, warte hier“, huschte ich an ihm vorbei, worauf er wie ein begossener Pudel neben der offenen Box meines Hengstes stand und mir mit zusammen gezogenen Brauen nachsah. Vorbeizog ich an den Menschen, die sich in einigen Gängen tummelten, teilweise mit einem Glas in der Hand, in dem wohl Sekt oder Weißwein drin war. Aus den Gesprächen konnte ich nicht viel verstehen, denn auf einem internalen Turnier, herrschte allem voran ein reges Treiben von Menschen aus anderen Ländern. Wenn ich hätte raten müssen, war die Gruppe aus Polen, oder Tschechien. Oder ein beliebiges anderen Land aus dem Ostblock, so genau kannte ich ihre Sprachen nicht. Für mich stellte es schon eine Herausforderung dar, vier an der Zahl zu beherrschen. Ganz am Ende, dem Eingang, wo die Transporter hineinfuhren und parkten, sah ich meinen Vater rauchend zusammen mit meiner Trainerin.
      „Da seid ihr ja“, krächzte ich außer Atem und legte meine Hand stützend auf die Schulter von ihm. Er grinste und atmete tief aus.
      „Was bist du denn so aus der Puste, hast du ein Gespenst gesehen?“, alle Beteiligten lachten, nur ich nicht.
      „Nein, ich wollte mit jemanden etwas essen gehen und nur Bescheid geben, dass ich nicht mehr bei Monet bin“, gab ich klar zu erkennen. Alica kam auch von der Seite dazu, das Gesicht mit einem frechen Grinsen belegt.
      „Ach ja? Mit jemanden also?“, sprach sie verschmitzt.
      Ich nickte.
      „Du kennst die Regeln“, zog mein Vater verdächtig eine Braue nach oben, zog dabei an seiner Zigarette.
      „Ja, ja. Keine Sorge. Wir essen nur etwas“, rollte ich mit den Augen, „außerdem bin ich volljährig.“
      Erneut lachten die Beteiligten nur, Grund genug, um mich wiederzuverziehen, doch meine beste Freundin folgte mir neugierig.
      „Was willst du?“, fauchte ich sie scharf an, aber sie schwieg. Nur das Grinsen auf ihren Lippen wurde schmutziger. Erneut zogen wir vorbei an der Ostblockgruppe, die aus Polen stammten, denn auf einem der Schabracken vor der Box war ihre Flagge zu sehen. Die Weingläser standen mittlerweile leer auf einem kleinen Tisch und eine andere Flasche mit blauem Etikett stand dabei, die Shotgläser daneben nicht zu verkennen. Glücklich jauchzten sie. Die silberne Schleife verriet mir, dass wohl einer von ihnen den zweiten Platz gemacht hatten in der Senior Klasse. Als wir an ihnen vorbei waren, erblickte ich ihn, wie er noch immer vor der Box stand, aber nun mein Pony ausgiebig streichelte. Der Hengst hatte seinen Kopf an seine Schulter abgelegt und genoss es am Unterhals gekrault zu werden. Von solch großen Händen würde ich auch gekrault werden wollen, nein Neele, halt. Ich schüttelte den Kopf, hör auf, sagte ich mir.
      „Na, diskutierst du wieder mit dir selbst“, erkannt Alicia sofort und drückte ihren Finger in meine Seite. Schmerzerfüllt zuckte ich zusammen, blieb dabeistehen. Sie grinste noch immer schelmisch, als ich ihr nickend beschwichtigte.
      „Aber was willst du eigentlich?“, fragte ich erneut.
      „Ich will sehen, was du dir da angelacht hast und was ich bisher sehe, ist eindeutig über deinem Niveau“, lachte sie und öffnete den Zopf ihrer schwarzen Haare, die weitgefächert über ihre Schultern fielen.
      „Bei Freunden wie dir, braucht man wirklich keine Feinde“, rollte ich mit den Augen und zupfte mir einige Sägespäne aus den Haaren, die ich jetzt erst bemerkte.
      „Außerdem, was heißt ihr über meinem Niveau? Wen soll ich deiner Meinung nach den kennenlernen?“, funkelten meine Augen böse in ihre Richtung. Abermals richtete sie sich das üppige Dekolleté und knöpfte sogar zwei Knöpfe ihres Poloshirts weiter auf. Nein, meine beste Freundin war keine Matratze, wusste sich nur vor dem anderen Geschlecht zu präsentieren, mit dem, was sie hatte, ganz im Gegenteil zu mir. Bis auf meine Haare und dem Eyeliner hatte ich nichts Weibliches an mir. Am liebsten trug ich zu weite, schwarze Shirts, die ich aus dem Schrank meines Vaters klaute, bedruckt mit Metalbands vor meiner Zeit. Die Musik hörte ich nicht einmal, aber mochte die Prints. Äußerlich wäre ich vermutlich das, was man noch vor einigen Jahren als Emo bezeichnete, aber sonst traf nichts auf diese Bezeichnung zu. Weder hatte ich meine Pubertät damit verbracht, alles und jeden zu hassen, noch eine ernsthafte Erkrankung zu haben oder die dazugehörige Musik zu hören. Ehrlich gesagt hörte ich am liebsten Taylor Swift und Katy Perry, außerdem interessierte mich die Meinung Anderer nicht, wirklich. Wirklich, wirklich. Na gut, vielleicht ein wenig.
      „Nun, er sieht gesellschaftstauglich aus, was man von den Herren zuvor nicht sagen kann“, zuckte Alicia ihre Schultern.
      „Gesellschaftstauglich also? Was war denn so schlimm an Noah oder Artus?“, hackte ich nach. Sie zog mich am Arm, aber standhaft blieb ich an der Stelle verwurzelt, wollte dieses Thema erst geklärt haben, bevor wir zu ihm gingen. Ja, ich wusste seinen Namen zu dem Zeitpunkt noch nicht.
      „Man, Neele, müssen wir jetzt darüber diskutieren? Noah war hässlich wie die Nacht, kaum zu glauben, dass du mit dem so lange, so glücklich warst und Artus wollte nicht mal mit auf den Pferdehof, weil ihm das eklig war“, ratterte sie wie ein Dieselmotor beim Start herunter, zog erneut an meinem Arm. Da mir wirklich die Worte fehlten, folgte ich. Je näher wir kamen, umso emsiger pochte das Herz wieder in meiner Brust, was nicht dem Tempo geschuldet war, das Alicia an den Tag brachte.

      „Hey“, rief sie ihm laut zu und winkte. Freundlich gab er es zurück, trat aus der Box hervor und schloss sie langsam. Monet trat einige Schritte vor, um seinen Kopf auf dem Metall abzulegen.
      „Ich sehe, wir gehen nicht allein etwas essen?“, grinste er. Noch bevor ich es verneinen konnte, mischte sich Alicia ein: „Sehr gern komme ich mit.“
      Hörbar atmete ich aus, aber blieb stumm. Die Beiden kamen umgehend ins Gespräch, dem ich nicht folgte. Stattdessen lief ich einige Schritte, die zwischen meinem Pferd und mir lagen, um ihm das letzte verbleibende Leckerlis aus meiner Hosentasche zu geben. Vorsichtig fummelte er mit seiner Oberlippe auf meiner Handfläche herum, bis er erfolgreich das Stück aufgesammelte hatte und langsam zwischen den Zähnen zerkaute. Dabei strich ihm über den in Stoff verhüllten Kopf.
      „Warte, das bist du?“, hörte ich plötzlich meine beste Freundin lauthals rufen. Erschreckt, drehte ich mich zu den Beiden um, denn auch Monet hatte sich mit einem kleinen Sprung zur Seite Distanz geschaffen. Weit öffneten sich meine Augen.
      „Ist das wichtig?“, zuckte er mit den Schultern.
      Sofort nickte Alicia.
      „Ach ja?“, sagte ich überrascht und trat näher an die Beiden heran, die für meinen Geschmack zu sehr beieinander standen, aber so grob gesagt, hatte sie wohl mehr Chancen bei ihm, „wer bist du denn, dass meine beste Freundin einen derartigen Schock bekommt?“
      Ja, ehrlich gesagt war mir egal, wie er hieß oder welches Ansehen er in der Pferdeszene hatte, schließlich konnte er sich mit der Schleife küren, das erste männliche Wesen zu sein, dass mich freiwillig angesprochen hatte.
      „Eskil. Eskil Mattsson aus Schweden“, grinste er und gab mir die Hand. Auch mir blieb der Atem weg. Er hatte in der Grand Prix den ersten Platz belegt mit einer Top-Leistung von 90,57 %, hatte damit für die Schweiz einen internen Rekord aufgestellt. Da wunderte es mich nicht, dass sein Fuchshengst vorhin so sehr geschwitzt hatte. Wow, formte sich stumm auf meinen Lippen.
      „Dein Pferd ist so toll“, schwärmte Alicia und fragte ihn direkt tausend Sachen, die Eskil gar nicht so schnell beantworten konnte, wie sie auf ihren Mund ratterten. Währenddessen stand ich nur daneben, verkniff mir jegliche unsinnige Kommentare. Dafür bekam ich die Möglichkeit, den durchtrainierten jungen Mann genau zu mustern, wobei ich auch sein Anubis Tattoo auf dem Unterarm bemerkte. Langsam wanderten meine Augen am Arm entlang. Sein Bizeps zuckte leicht, als wüsste er nicht wohin damit und auf seine Schulter und der Nacken waren angespannt. Dann trafen sich unsere Blicke. Eskil lächelte so sanft, dass ich nur schlucken konnte und den Kopf zu Boden senkte.
      „Wenn wir hier weiter so herumstehen, werde ich wohl ein Pferd essen müssen“, mischte ich mich ein und erntete kleine Blitze, die mir Alicia mit ihren Augen zusandte.
      „Lieber nicht, dann ist noch jemand traurig“, lachte Eskil wieder einmal. So viel Frohsinn wie er hätte ich gern einmal.
      Auf der Fressensmeile gehörten wir zu den letzten Leuten, die verzweifelt versuchten etwas Essbares auszuwählen. Vom Publikum war kaum noch einer da, na gut, die Messe schloss auch in weniger als zwanzig Minuten und für die Reiter, sowie das Personal waren die Stände noch eine Stunde länger geöffnet. So konnten besonders die bekannten Leute der Laufkundschaft entgehen und in Ruhe alles besichtigen. Das internationale Event war von der Vielfalt nicht mit einer typischen Messe vergleichbar, aber es reichte aus, um die neusten Trends zu beschauen oder sich ein Beratungstermin zu unterziehen. Tatsächlich wurden es von Minute zu Minute mehr Leute an den Ständen, aber ich konnte mich erneut für keine Speise entscheiden. Alica lief wie ein Tiger hin und her, beachtete mich nicht einmal. Doch ich war froh, als Eskil sich zu mir stellte.
      „Du wolltest gerade noch ein Pferd essen, kaum zu glauben, dass du dich nun nicht entscheiden kannst“, legte er seinen kräftigen Arm auf meinen Schultern ab. Für einen Augenblick stoppte meine Atmung, ehe ich hörbar ein- und ausatmete. Frech schielte er zu mir hinunter.
      „Schon, aber irgendwie klingt das alles nicht nach dem, was mir vorschwebt“, seufzte ich. Auch meine Augen wanderten hoch zu ihm. Zugegeben, für einen Moment fühlte es sich an, als würden wir uns ewig kennen und diese Nähe, die zwischen uns lag, brachte mich zum Schwitzen. Ein Gefühl durch schwemmte meinen Körper und willkürlich kam in mir das Verlangen, meine Lippen auf seine zu drücken, obwohl ich mir auch gut vorstellen konnte, dass ein Mann wie er, nur vergeben sein konnte. Neele, sei ruhig.
      „Worauf hast du denn Lust?“, erkundigte sich Eskil. Wäre es unangebracht mit ‘auf dich’ zu antworten? Vermutlich. Kurz dachte ich nach und mein grummelnder Magen gab mir zu verstehen, dass ich lieber schneller einen Entschluss fassen sollte.
      „Pizza“, gab ich zu verstehen, und grinste. Er nickte, dann nahm er den Arm wieder von meinen Schultern und lief zu dem Stand, der sich zwischen den Hallen befand. Es gab tatsächlich Pizza hier. Erleichtert fiel mir ein Stein vom Herzen und schnellen Schritten folgte ich ihm, beim Bestellen musste ich zum Verdruss feststellen, dass mein Geld noch bei Papa in der Jackentasche war.
      „Du?“, tippte ich ihm mit meinem Zeigefinger vorsichtig in den Bauch. Natürlich kam direkt ein fühlbarer Widerstand und ich spürte, dass er seine Muskulatur anspannte. Sein Ernst? Immer mehr kam das Verlangen in mir hoch, aber ich wusste mich zu beherrschen, schließlich war Eskil nicht der erste hübsche Mann in der meiner Gegenwart.
      „Ja? Was ist los?“, flüsterte er.
      „Mir ist das wirklich unangenehm, aber ich habe mein Geld vergessen“, säuselte ich. Eskil lachte auf, schüttelte nur den Kopf und fühlte sich dann dazu berufen mir die Frisur noch mehr zu versauen und meine halbe Pizza zu bezahlen. Dankbar funkelte ich hoch zu ihm, hielt mich dabei an einem Oberarm fest. Ungezwungen grinsten wir einander immer wieder an, bis schließlich Alicia dazu kam und ich panisch wieder von ihm abließ. Wieder funkelten ihre Augen böse in meine Richtung, was mir zunehmend mehr Sorgen bereitete. Ich wollte nicht, dass wir wegen eines Typen uns stritten. Das gab mir den Grund, ihn ihr zu überlassen, auch, wenn am Ende des Tages er die Entscheidung treffen musste.
      Mit der Pizza in der Hand liefen wir alle zusammen zu den Tischen, die über eine Treppe auf einer Art Terrasse standen, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Abreiteplatz hatte. Tatsächlich ritten dort einige. In der Mitte waren zwei Sprünge aufgebaut, die jemand im Wechsel abänderte und hörbar Tipps gab, zumindest war es das naheliegendste. Die Sprache kam keiner der mir bekannt nahe, selbst nicht dem Polnisch, das vorhin meine Ohren vordrang.
      „Ich flippe aus“, flüsterte mir Alicia laut ins Ohr. Was hatte ich vor einigen Stunden, noch auf dem Platz sagt? Dass sie wie ein Profi sei? Diese Aussage würde ich nun revidieren. Je mehr bekannte Personen sie bemerkte, umso höher wurde ihre Stimme, so auch offenbar der Herr auf einem glänzenden Rappen, der ein furchtbar niedliches Abzeichen auf dem Kopf trug.
      „Wer ist das?“, wunderte sich Eskil und drehte sich um. Ich zuckte nur mit den Schultern. Schon allein aus der Tatsache heraus, dass ich mir Namen nur schlecht merken konnte, befasste ich mich zwar mit der Szene, aber Größen aus dem internationalen Sektor mussten erst ihren Platz in meinem Kopf finden. Einen kannte ich, auch wenn mir der Name just ist diesem Moment wieder verfiel. Er ritt eine Schimmel Stute mit blauen Augen und seine Arme – voll tätowiert, ein Traum, auch wenn es mich an Menschen aus dem Gefängnis erinnerte. Schön anzusehen, aber ein Gespräch wollte ich lieber nicht mit ihm führen, dafür wirkte er mit seiner Größe zu einschüchternd, die Breite seines Kreuzes und das restliche Auftreten trugen auch ihren Teil dazu bei. Und Geld hatte er, das verschwieg er nicht. Ah, da kam es mir wie ein Geistesblitz, sein Nachname war Olofsson, so wie der Stahl-Hersteller aus Schweden.
      „Jetzt sagt mir nicht, dass ihr nicht wisst, wer der hübsche junge Mann ist“, gab Alicia zu bedenken, doch Eskil und ich zuckten nur synchron mit den Schultern, „das ist Raphael Craig mit seinem Elite-Hengst Poseidon. Die Beiden springen extrem erfolgreich auf CSI*1 und seit einigen Turnieren sogar schon auf CSI*2. Auf den letzten hatten sie sogar jeden den Sieg auf ihrer Seite.“
      Ausgiebig erklärte sie uns, was der Kerl mit dem Hengst schaffte. Für mich waren die Begriffe des Niveaus schon zu schwer verständlich, denn das höchste meiner Gefühle zum Springen war ein Einsteiger Turnier. Doch da hatten Monet und ich uns ziemlich gut geschlagen, bei fünfzig Teilnahmen belegten wir den zwölften Platz.
      „Dann muss ich wohl doch morgen das Springen ansehen“, lachte Eskil und biss von meiner Pizza ab, die wie versteinert in meiner Hand hing.
      „Das ist meine“, zog ich verärgern das Stück wieder zu mir. Er wischte sich mit der Hand die rote Soße von den Mundwinkeln weg. Frech zogen sich die Wangen nach oben, wodurch sein markantes Kinn Schatten warf. Verträumt biss ich mir auf der Unterlippe herum, auch, um mich zu zügeln. Kaum war ich ihm wieder so nah, gingen die jungen Pferde in meinem Kopf durch. War er perfekt? Zumindest sehr dicht daran.
      „Ich springe morgen CSI*1, wirst du dann auch im Publikum sitzen?“, funkelten Alicias Augen groß. Unter dem Tisch trat sie mir unlieb gegen das Schienbein, denn von mir gabs es ausnahmsweise auch einmal einen bösen Blick. Es stieß mir noch immer sauer auf, dass sie mit biegen und brechen versuchte seine Zunft zu gelangen, obwohl wir eigentlich gute Freunde waren. Ja, ihr Ex-Freund Vachel, der bis vor der Trennung, der beiden ebenfalls bei uns mit im Stall stand, gehörte mit zu meinen engen Freunden, doch danach war es auch vorbei. Hatte ich ihr jemals erzählt, dass ich starke Gefühle für ihn hegte und deswegen sogar die Beziehung zu Noah beendete? Nein, natürlich nicht. Auch, versuchte ich mich stets zurückzuhalten, was ihn betraf, nur, um sie nicht in eine solche Situation zu bringen.
      „Neele, du wirst sicher zu sehen, oder?“, vergewisserte ich Eskil, woraufhin ich direkt nickte, „dann ja.“ Alles an dieser Antwort brachte mein Blut in Wallungen. Wie er meinen Namen aussprach, dass er es von mir abhängig machte, rundum – perfekt. Alicia gab darauf nur eine kurze Antwort und lehnte sich zur Seite, um Raphael, oder wie er hieß, genauer beobachten zu können.

      „Hast du meine Tochter gesehen?“, hörte ich meinen Vater zu Alicia sagen, als ich noch mit Eskil hinter den Boxen stand, abseits der wenigen Leute, die uns hätten sehen können. Dicht standen wir beieinander, meine Arme eng um seinen Hals geschlungen. Was tat ich hier eigentlich? Ich kannte ich so gut wie gar nicht, aber kam meiner Versuchung nach, wissen zu wollen, wie er schmeckte. Doch Eskil machte es mir nicht leicht. Etwas unbeholfen hielt er mich an der Hüfte fest, grinste mich jedoch breit an. Seine Augen gaben mir jedoch andere Signale. Flüchtig wichen sie mir aus, versuchten einen Weg herauszufinden. Aber um mir zumindest einen Augenblick des Erfolgs zu geben, drückte ich meine Lippen auf seine Wange und ließ von ihm ab.
      „Danke“, flüsterte ich nur und verabschiedete mich kurz. Er hob die Hand, die leicht zittrig die Finger bewegte.
      „Da bist du“, gab mein Vater erleichtert zu verstehen und schob mich am Pony vorbei in Richtung des Ausgangs. Nur wenige Kilometer entfernt hatte er für uns ein Hotelzimmer gemietet, in dem Alicia und ich uns ein Bett teilten. Er schlief einen Raum weiter.
      Als wir im Bett lagen, huschten all die Gedanken durch meinen Kopf. Es war ein Rausch der Gefühle, vollbracht durch unreflektiertes Verhalten und dem Verlust aller sinnigen Gesellschaftsregeln, die mein Vater so viele Jahre versuchte mir beizubringen. Bisher hatte ich es auch geschafft, als dieses einzuhalten, doch heute war etwas anderes. Vermutlich trug auch Alicia ihren Teil dazu, dass ich ihr beweisen wollte, dass ich in der Lage war einen attraktiven Kerl kennenzulernen. Leise seufzte ich.
      „Bist du noch wach?“, flüsterte sie mir zu.
      „Ja“, stimmte ich zu.
      „Es tut mir leid, dass ich mich heute derartig schlecht dir gegenüber verhielt. Ich habe mich so darüber geärgert, dass dich jemand angesprochen hat und nicht mich“, entschuldigte sich Alicia. Ein stilles Schniefen ging durch den Raum.
      „Ach, ist doch alles gut. Passiert, aber morgen wird es besser. Vielleicht spricht Raphael mit dir“, hörte man auch das Grinsen in meiner Stimmte.

      In Herrgottsfrühe klingelte mein erster Wecker, bei dem ich unmittelbar hochschreckte und mit meinen Füßen den kühlen Holzboden berührte. Über Nacht war das Fenster offen und hatte die, sonst erträgliche, Temperatur im Raum, um einiges heruntergekühlt. Schnellen Schritte verschwand ich im Bad unter der Dusche und noch bevor der zweite Wecker schellte, hatte ich mich abgetrocknet und das Zimmer verlassen. Mürrisch drehte sich Alicia im Bett.
      „Ich möchte nicht aufstehen“, murmelte sie leise und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Nichts da“, nahm ich lachend die Bettdecke wieder weg, „aufstehen!“
      Erneut sprach sie ins Kopfkissen, aber entschloss sich dann doch ins Badezimmer zu gehen. Ich setzte mich in der Zeit auf den Stuhl neben dem Bett und durchforstete die neusten Nachrichten rundum die Pferdewelt, eine große Eilmeldung war, dass die Weltreiterspiele verschoben wurden, da es Probleme bei der Planung gab und sie nun ein Jahr früher stattfinden sollten. Aufgrund des bereits festgelegten Termins musste jedoch ein neuer Austragungsort gefunden werden, wovon schon einzige in der engeren Auswahl standen. Mehr Informationen konnten bisher nicht herausgegeben werden. Ganz am Ende stand noch einige wichtige Mitteilung für mich. Ich hatte bereits Tickets, die auch für die neue Austragung gültig sein würden oder kostenlos storniert werden können. Erleichtert atmete ich aus. Dann scrollte ich weiter, besonders eine Schlagzeile verankerte sich fest in meinem Kopf: “Schwedische U25 Teamaufstellung so schwach wie noch nie.“ War Eskil nicht aus Schweden? Zumindest meine ich mich an ihre Flagge zu erinnern, die verhalten auf seiner weißen Schabracke glänzte. Im kaum beleuchteten Tunnel konnte ich es jedoch nicht genau erkennen. Kurz überflog ich den Artikel, der davon berichtete, dass immer mehr aus dem Kader wegen schlechtem Benehmen und Leistungen diesen verlassen mussten, einige interessante Kandidaten standen für die nächste Aufstellung zur Wahl, doch es war noch zu früh, um darüber zu spekulieren, wer die nächsten sein würden. Auch bei den Senioren gab es Schwierigkeiten ein vollständiges Team zu bekommen. Traurig, gab es so wenig gute Reiter? Ich kannte das Land als ein ziemlich erfolgreiches.
      „Bist du bereit“, sprang Alicia voller Motivation aus dem Badezimmer, nur mit mehreren Handtüchern um den Leib gebunden.
      „Im Gegensatz zu dir bin ich mit dem Turnier durch, aber ich freue mich, dass du so voller Energie bist“, grinste ich freundlich und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Es vibrierte, aber meine Neugier hielt nur kurz an, sodass ich gar nicht nachsah.
      „Mädels, seid ihr angezogen?“, fragte mein Vater durch den Türspalt, was ich bejahte. Dann schob er noch das letzte Stück auf und in neuer Frische stand er grinsen vor uns. Mit einem herzlichen ‘Guten Morgen’ grüßten wir einander.
      „So, dann kann es losgehen?“, vergewisserte er sich nach einem kurzen Gespräch darüber, wie die Nacht war.
      „Ja, auf in die Schlacht“, lachte ich und erhob mich aus dem Stuhl. Wir folgten dem langen Flur, der mit einem seltsamen blauen Teppich geschmückt war, nicht etwa auf dem Fußboden, nein, an der Wand. Schön sah es nicht aus, dafür dass dieses Hotel ganze vier Sterne unter dem Namen trug.
      „Lotye hat dir einen Platz im freien Training besorgt“, erzählte mir Papa, als wir einige Meter hinter Alicia zum Auto liefen. Verhalten nickte ich.
      „Danke“, murmelte ich noch. Besorgt sah er mich von der Seite an.
      „Freust du dich nicht?“, wunderte er sich umgehend. Von seiner Kleidung stieg der eklige, stickende Geruch von Schweiß und Zigarettenqualm in meine Nase. Wie konnten das seine Arbeitskollegen im Büro nur aushalten? Für mich war es schon schwer in dem weitläufigen Flur.
      „Doch schon“, seufzte ich, „aber eigentlich wollte ich nicht noch eine Nacht hier schlafen.“
      „Hättest du sowieso, weil ich euch nur hinüberfahre und dann ins Büro muss. Einige Planungen warten noch auf mich und wir brauchen den Zuschlag“, erklärte Vater. Wieder nickte ich wissend, dass die Arbeit immer in seinem Leben Vorrang hatte. Gut, da ich heute ohnehin keine Vorstellung hatte, passte es mir ziemlich gut. So konnte ich mein Erspartes für eine oder zwei Schabracken ausgeben. Vielleicht wurde ich auch fündig bezüglich einer weiteren Jacke für noch winterlichere Temperaturen, die im Hochland zum guten Ton gehörten.
      „Okay?“, vergewisserte er sich.
      „Ja, alles gut. Passt“, grinste ich und stieg ins Auto, an dem Alicia bereits sehnsüchtig wartete. Während der kurzen Fahrt war es still. Meine Freundin fummelte wild auf ihrem Handy herum und zeigte mir einige Bilder von der Dressur. Leider fand sie keins von Monet und mir, doch in kleinen Vorschau erkannt ich sofort Eskil mit seinem Fuchs wieder. Erlkönig hieß er, wenn ich der Bildbeschreibung Glauben schenken konnte. Hitzig riss ich ihr das Handy aus Hand und betrachtete alle sehr genau. Wie konnte jemand wirklich so gut aussehen und dermaßen freundlich? Ich verstand es nicht, wollte es vermutlich auch nicht. Stattdessen begann dieses undefinierte Kribbeln in meinem Bauchraum wieder die Oberhand zu ergreifen.

      „Das reicht doch jetzt“, flüsterte sie mir zu, aber war so zuvorkommend mir den Link zu senden, damit ich selbst noch einmal in Ruhe sehen konnte. Augenblicklich funkelte schon der Eingang vom Gelände durch die Windschutzscheibe, überall hingen violette Fahnen mit dem allseits bekannten Logo der FEI, die nicht weit von hier entfernt ihren Sitz hatten. Vorbeizogen wir an den langen Schlangen des Besucherparkplatz, direkt zur Schranke.
      „Kann ich euch hier herauslasen?“, fragte Papa nach, woraufhin ich schon die Tür aufdrückte und aus dem Fahrzeug stieg. Alicia wirkte von dem schnellen Rauswurf überfordert, aber stieg ebenfalls einige Sekunden später ins Freie. Oberflächlich verabschiedeten wir uns und schon brauste der schwarze Geländewagen an uns vorbei. Ich lief vor, da meine beste Freundin ohnehin nur mit meiner Hilfe den Weg finden würde. Mehrfach wurden wir mit unseren Ausweisen kontrollieren und kamen schließlich in der Halle an, in der alles vollgestellt war mit den Boxen. Der vertraute Geruch von Schweiß, Heu und Pferdeäpfeln stieg mir in die Nase und versteht mich nicht falsch, ich würde sogar sagen einen Crêpe erduftet zu haben. Mürrisch meldete sich mein Magen. Seit der halben Pizza hatte ich nichts mehr gegessen und da Alicia demnächst an der Reihe war, sollte ich wohl für uns beide noch etwas besorgen. Kurz prüfte ich die Tasche meines Kapuzenpullovers, in der mein Portemonnaie friedlich ruhte.
      Eilig liefen wir durch die überfüllten Gänge, versuchten so schnell wie möglich unsere beiden Pferde zu erreichen, die im landeseigenen Abteil standen, darüber hing die große Drapeau Tricolorevon der Decke, die eine gute Orientierungsmöglichkeit boten. Neben uns waren die Ukrainer und Spanier. Auch Raphael entdeckte ich aus der Ferne, gab Alicia jedoch nicht Bescheid. Sie hatte genug damit zu tun bei meinen kleinen, aber flinken Schritten mitzuhalten und somit kam ich als Erstes bei den Boxen an. Monet wieherte mich neugierig an. Sofort schob ich die Tür zur Seite und umarmte meinen Hengst innig, der nichts besseres Zutun hatte, als an meiner Kapuze zu zupfen. Natürlich hatte ich in meiner Hosentasche bereits ein Leckerli für ihn vorbereitet.
      „Kannst du Croissants besorgen?“, funkelten mich die braunen Augen meiner besten Freundin von der Seite an, als ich gerade die Kraftfutterportionen der Pferde zubereitete. Kurz ließ ich die Eimer stehen.
      „Wie viel Klischee möchtest du noch sein?“, lachte ich und nahm die schwarzen Behälter wieder hoch, um sie in die jeweilige Box unserer Pferde zu stellen. Monet verschwand samt Ohren in seinem Frühstück. Überall klebte das Masch. Froh darüber, dass er den Sleezy trug, lächelte ich und warf noch einen Blick auf Dix. Die Rappstute fraß wie ein Schwein, überall verteilte sich das Kraftfutter im hellen Einstreu, wohingegen Monet es bevorzugte darin zu baden. Ja, ehrlich gesagt konnte keins unserer Pferde vernünftig Fressen.
      „Excuse-moi“, rollte Alicia mit den Augen und sortierte sinnlos die Sachen vor der Box, von einer Seite zur anderen, bevor ich sie am Arm griff und in den Stuhl drückte. Vollkommen außer Atem sah sie an mir hoch, die Augen glasig und ihr Eyeliner verwischte etwas. Sie hatte ein Talent dafür, nicht über die innerliche Anspannung zu sprechen, stattdessen suchte Alicia sich eine Beschäftigung. Vielleicht sollte ich ihr eine Freude machen, schließlich entdeckte ich Raphael bereits nur wenige Gänge weiter.
      „Ich gehe gleich“, sagte ich dann und lächelte freundlich. Hörbar nahm sie einige kräftige Atemzüge und auch ihre Augen wurden trockener. Für meine beste Freundin war es die erste CSI*1, aber sie verpasste keine einzige Veranstaltung, die von unserer Heimat erreichbar war. Also kannte Alicia die Atmosphäre besser, doch nun selbst zu den Teilnehmern zu gehören, wirkte nicht mehr so vertraut. Ihre Knie zitterten unaufhörlich.

      „Was ist, wenn was passiert?“, flüsterte sie mir leise zu.
      „Dann passiert es nun mal, kann man nicht ändern“, zuckte ich mit den Schultern, obwohl ich selbst bisher nicht verarbeiten konnte, dass ich Monet kaum vorbereitet hatte und damit die Wertung niedriger ansetzte, als es sein Niveau war. Ich wurde ihm nicht gerecht an diesem Wochenende, aber es standen noch viele Turniere an, wo ich unser Können Unterbeweis stellen würde. Lang und breit erklärte Alicia mir, was alles in dem Parcours passieren könnte, dass sie mit Dix für solche Fällte nicht trainiert hatte und nun den Start überlegte abzusagen. Wie war das noch mal? Profi? Ich lachte. Schockiert riss sie die Augen auf und blitzte finster in meine Richtung.
      „Du bist keine Hilfe“, maulte sie und schickte mich auf den Weg Essen zu besorgen. Wieder kämpfte ich mich durch die Mengen in den Gängen, vorbei an den Kanadiern, die nur drei Blöcke entfernt ihr Quartier hatten. Neugierig musterte ich die Jungs, wovon einer Raphael war. Angezogen von dem Charme der Männer blieb ich auf ganze Linie stehen. Einer ihrer erhob sich, lief zu seinem Brauner in der Box. Dann verstummte das Gespräch, als er meine starrenden Blicke bemerkte und mit einer fuchtelnden Handbewegung mich zu sich holte. Kalt lief mir ein Schauer über den Rücken. Alicias Worte hingen mir noch in den Ohren – Raphael war auf dem Weg nach ganz Oben, zu den Stars und Sternchen des Springreiterhimmels. Der Nächste reihte sich in meiner Liste an mit Männern, die mich bedeutungslos auf einem Turnieransprachen. Ich versuchte die Freundlichkeit in den Vordergrund zu stellen und nicht direkt an eine Hochzeit zu denken, schließlich war nicht jedes Gespräch eine Offenbarung der Liebe.
      Nacheinander stellte man uns einander vor, dabei tippte ich mit meiner Hand gleichmäßig am Oberschenkel, versuchte weder in Tränen auszubrechen, noch den Schleier aus Freundlichkeit zu verlieren. In meiner Brust wurde es lauter und lauter, aber den Blicken zur Folge hörte es niemand. Nur in meinen Ohren vibrierte und donnerte es laut, als befand ich inmitten eines Schlachtfeldes, zwischen den Schützengräben, die weit entfernt lagen und mir keinen Schutz mehr gewähren konnten. Zu lange hatte ich kein männliches Wesen, außer meinen Hengst, an meiner Seite, dass mir langsam oder sicher jedes Gespräch mit einem dieser wie ein Groschenroman vorkam. Etwas lag in dieser Halle in der Luft, dass mich wie ein unsichtbarer Mantel umzog und schließlich in mich hineinkroch, festgebissen an allem, was an Gefühlen vorherrschte. So stand ich hier, machtlos und überrumpelt. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie zu mir sagten und das scheiterte keinesfalls an der sprachlichen Barriere. Stattdessen fühlte ich mich erschlagen von all den Hormonen, die in diesen Gängen schwebten, mir die Sicht vernebelten und schlussendlich die letzten klaren Gedanken übernahmen.
      „Kann ich dir helfen?“, fragte Raphael zum wiederholten Mal, doch erst jetzt drangen die Worte wellenartig in meine Ohren. Ich schüttelte mich.
      „Es tut mir leid, mein Hirn musste neu gestartet werden“, lachte ich und schob eine Strähne aus meinem Gesicht. Auch die anderen setzten mit ein. Dann fiel mir meine Idee wieder ein. Kurz erläuterte ich meinen Plan, dem er höflich zustimmte. Anschließend verschwand ich, um die nötigen Sachen dafür zu besorgen. Den Ausschilderungen folgte ich, kam wieder an den Polen vorbei, die ihren Alkohol auf dem Tisch zu stehen haben. Versteht mich nicht falsch, es gab kein Problem mit der Nation, nur wunderte ich mich, dass ich die fünf nur beim Trinken von russischem Kochwasser sah. Meine Austauschschülerin vor sechs Jahren, oder waren es mehr, trank nicht so viel. Na gut, zu dem Zeitpunkt waren wieder minderjährig.

      Ungeduldig stand vor dem einzigen Bäcker, den ich in der Fressmeile fand, voll war es und auch auf den Tribünen wurden es zunehmend immer mehr. Aktuell fand das Pony Springen statt, dass nicht ansatzweise so viele Begeisterte fand. Schade eigentlich. Mehrfach erhaschte ich einen Blick auf die teils sehr jungen Reiter mit ihren Ponys. Die Zeiten klangen gut, auch wenn sich meine Erfahrung hierfür in Grenzen hielt. Besonders eins fiel mir sofort ins Auge. Der Palomino Hengst stolzierte wie ein König über den Abreiteplatz, während die kleine Dame im Sattel ihn nur schwer unter Kontrolle bekam. Im Galopp buckelte er einige Male, doch sie hielt sich tapfer.
      „Madame, ihre Bestellung“, wiederholte die Verkäuferin. Mist, ich sollte heute konzentrierter sein, wenn ich mir die geistige Abwesenheit nicht anmerken lassen wollte. Für meine beste Freundin wählte ich drei Croissants, mir hingegen reichte ein belegtes Baguette mit Käse und Salat, dazu einen Kaffee. In zwei verschiedene Tüten verpackte sie die wohlriechenden Backwaren und ich lief schnellen Schritte zu Raphael, der als freundlicher Überbringer der Nahrung agieren sollte. Aber noch bevor ich bei dem Kanadier ankam, lief ich unsanft in eine Person herein, dabei verkippte ich mein Heißgetränk über das weiße Hemd und die dazugehörige Hose.
      „Beauf“, fauchte er böse. Warte, die Stimme kam mir bekannt vor. Langsam hob ich den Kopf vom Boden nach oben.
      „Vachel?“, fragte ich vorsichtig, worauf hin er sich mir um den Hals warf. Ja, er war es. An meiner Haute spürte ich, wie die warme, braune Flüssigkeit sich nun auch auf mir verteilte. Etwas angeekelt zuckte ich zusammen. Bloß sein vertrauter Geruch sorgte dafür, dass ich mich wieder in meinem normalen Ich fand, der Neele, die zwar tollpatschig, aber fernab von dem ganzen Gefühlskram durch die Welt ging. Der Grund dafür stand vor mir, oder hing mir am Hals, als wäre nie etwas geschehen.
      „Was machst du denn hier?“, gluckste ich. Aus einer der Tüten nahm ich die Servietten, in der Hoffnung damit seine Kleidung wieder sauber zubekommen – ein unmögliches Befangen. In einer Millisekunde trafen sich unsere Finger. Ich schluckte. All die alten Gefühle sprudelten nach oben, als wäre monatelang Ebbe gewesen, doch jetzt, jetzt kam die Flut. Sie spülte das Alte wieder an die Oberfläche, Erinnerungen und Momente, die ich vergessen hatte oder wollte. Der Übergang war häufig fließend.
      „Eigentlich wollte ich mir einen Crêpe holen und dann mit Sky auf den Abreiteplatz, da wir morgen in der CDI*3 starten, aber offensichtlich“, zeigte er an sich herunter, „muss ich mich erst einmal umziehen.“
      „Dann hole ich dir deinen Crêpe und“, überlegte ich, aber Vachel wusste schon, was ich sagen wollte. Dafür kannten wir uns schon lang genug. Verstohlen lächelte ich, versuchte wie er, das Beste aus der Situation zu machen.
      „Und ich ziehe mich um. Kommst du dann zu unseren Boxen?“, auf seinen Lippen formte sich dieses Lächeln, dass mich vor vielen Jahren bereits verzauberte. Sanft zogen sich die Mundwinkel nach oben und die markanten Wangenknochen traten hervor. Aber meine Chancen waren schlecht. Ziemlich schnell wurde ich in seine Friendzone geschickt, dementsprechend erzählt ich ihm nie von meinen Gefühlen. Bis heute vermutlich eine sehr weise Entscheidung.
      „Da bist du endlich“, jauchzte Raphael, der ungeduldig mit dem Bein wippte. Hinter ihm zupfte Poseidon, der Hengst, der von Alicia so in den Himmel gelobt wurde, an seinem Heunetz. Zwischendurch erhob den Kopf, musterte mit seinen blauen Augen die Umgebung und spitzte interessiert die Ohren, als die Tüte mit den Croissants raschelte. Langsam trat er an uns heran, streckte soweit er konnte den Hals über die Tür. Raphael zeigte ihm die braune Papptüte und das Pferd hatte nur im Sinn einmal kräftig hineinzubeißen.
      „Viele würden das jetzt nicht mehr essen wollen, aber meine beste Freundin wird heulen vor Freude“, lachte ich. Auch er setzte mit ein, versuchte dabei die Tüte wieder aus dem Maul des Tieres zu bekommen. Die Ohren des Tieres bewegten sich verwirrend von vorne nach hinten, erst reichte man ihm die großartige Tüte und dann sollte er sie im nächsten Augenblick wieder hergeben. Ich würde genauso eingeschnappt reagieren wie der Gott. Wieder lachte ich.
      „Noch ist etwas da, also lass uns deine Freundin überraschen, schließlich habe ich noch anderes zu tun“, sagte Raphael entschlossen und lief voraus zu den Boxen. Mein Mund öffnete sich, um mich für die Störung zu entschuldigen, doch da hörte ich die genervte Stimme von Alicia und dem Gegenpart – Vachel. Fragend drehte sich der Kanadier zu mir um.
      „Am besten entführe ich den Hahn und du folgst mir“, schlug ich vor. Er nickte und überholte ihn. Wieder sah ich die polnischen Reiter, doch dieses Mal stand eine Wasserflasche auf dem Tisch. Die Hoffnung bestand, dass das Kochwasser zuvor noch vom Abend war.
      An den Boxen bemerkte ich Vachel als Erstes, hatte sich in der Zwischenzeit mit sauberer Kleidung ausgestattet. Das graue Oberteil saß eng an seinem Oberkörper, der durchtrainiert durch den Stoff blitzte. Sein verärgertes Gesicht wandelte sich zu einem sonderbaren und begierigen Lächeln, dabei sahen wir uns tief in die Augen. Die Flut kam näher ans Ufer, noch tiefere und versteckte Gefühle drückten sich durch den getrockneten Sand nach oben. Bevor es wie ein Tsunami über das Land trat, vernahm ich die sanfte Berührung an meinem Arm von Raphael, der von seinem kleinen Versteck in den Vordergrund trat. Schließlich drehte sich auch Alicia um. Unbeweglich standen wir vier voreinander, versuchten die Situation zu deuten, bis meine beste Freundin panisch losschrie, auf Französisch oder auch Deutsch, vielleicht etwas Italienisch, auf jeden Fall laut und unerträglich. Er reichte ihr die angebissene Tüte, worauf erneut unverständliche Worte durch die Halle schwangen.
      Zusammen mit Vachel ging ich ein Stück zur Seite, besser gesagt zu seinem Hengst, der um einiges entfernt stand. Vielleicht auch besser für alle Beteiligten. Dann stoppte er plötzlich und flüsterte: „Ist der Schnösel ihr Freund? Oder deiner?“ Über die Absurdität konnte ich nur lachen und schüttelte den Kopf.
      „Nein, das ist ein bekannter Springreiter, von dem sie ein riesiger Fan. Ich, als beste Freundin, habe nur dafür gesorgt, dass er ein Gespräch mit ihr führt. Also alles gut. Hängst du noch an ihr?“, überfiel ich ihn umgehend mit meinem ersten Gedanken. Er schluckte, aber verneinte.
      „Dafür war die Trennung zu schmerzhaft, um der gemeinsamen Zeit hinterher zu jammern. Aber war schön, dich zu treffen, sehen wir uns später noch einmal?“, sanft legten sich seine Worte in meinen Ohren ab. Ich vermisste die Zeit mit ihm, nicht nur wegen der Gefühlsduselei. Vielmehr waren wir so enge Freunde, dass der Verlust vermutlich noch schmerzlicher war, als die Trennung. Also ja, ich hatte nichts mit der Trennung am Hut, konnte mir der Umstände entsprechend vorstellen, wie er sich dabei fühlte. Auch, nach dem Alicia von einem zum anderen Tag beschloss, dass er deshalb aus dem Stall verschwinden sollte.
      Ich bekomme die Krise.
      Nervös fummelte ich in der Mähne meines Hengstes herum, versuchte mich all der Dusselei klar zu werden. Wünschte ich mich in dem Augenblick woanders hin? Ganz bestimmt, aber was ich noch nicht wusste: Der Wunsch würde sich schneller erfüllen, als es mir lieb war. Doch dazu wenden wir uns an einem anderen Tag.
      „Wo ist eigentlich dein gutaussehender neuer Freund?“, drückte Alicia noch tiefer in die Wunde. Seit unserer Ankunft versuchte ich ihn in den Mengen der Menschen zu entdecken, scheiterte aber auf ganzer Linie. Resigniert zuckte ich mit den Schultern und reichte ihr die Trense von der Boxenfront, wo sie an einem Haken hing.
      „Ach Neele“, jammerte sie beim Trensen, „jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Er wird sich schon anfinden, ansonsten finden wir jemand anderes für dich und dieses Jahr stehen doch noch einige Veranstaltungen auf dem Plan.“ Ihr kindliches Lachen zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Dann schnappte ich mir die nötigen Sachen wie Gerte und Abschwitzdecke. Für heute wurde ich als Turniertrottel vereinnahmt, sah mir demnach ihre Runde von der besten Position an.
      Auf dem Abreiteplatz wurde es immer mehr Reiter, daraus resultierte auch, dass der gegenseitige Respekt sich verringerte. Insgesamt waren fünf Sprünge aufgebaut, die Alicia nach einer intensiven Aufwärmphase mit Dix nacheinander nahm. Die Stute zog kräftig an, doch sie wusste ihr Pferd mit einer halben Parade und einem tiefen Sitz im braunen Sattel zu bändigen. Dix bremste und sprang im richtigen Moment ab, wie ein Vogel flog der Rappe über die bunten Stangen, touchierte jedoch mit dem rechten Hinterbein die oberste. Mein Atem stockte, aber als die Vorderbeine im Sand landeten und die Stange noch auf der Halterung lag, wurde mir ums Herz leichter. Normal setzte meine Atmung fort. Vor dem Sprung zwischen all den Anderen drückte ich meine Daumen fest gegen die Handinnenfläche. Es würde mir fehlen, wenn heute etwas passieren würde. Dann wurde es mir klar: Lotye, unsere Trainerin, war gar nicht da. Verzweifelt wühlte ich mich durch die Abschwitzdecke zu meiner Hosentasche vor, wischte mit meinem Finger über den gläsernen Bildschirm und klickte schlussendlich auf das kleine Hörer-Symbol. Zweimal piepte es und dann kam schon die Mailbox. Auch beim vierten, fünften und sechsten Mal hob sie nicht ab. Meine Atmung wurde schneller, das Blut brodelte in meinen Adern und schlagartig wurde mir heiß. Das kann doch nicht sein. Alicia sprang heute die erste CSI1 im Senior, eine Höhe von hundertfünfundzwanzig Zentimetern musste sie bestreiten bei zwei Durchgängen und zwölf Hindernissen. Schon allein diese Vorstellung jagte mir eine gehörige Angst ein. Ich hatte das den Parcours in der Hand, versuchte den Ablauf in meinem Kopf mit Monet zu springen. Eigentlich wirkte es ganz niedlich, doch mir war klar, dass keiner uns von uns beiden dazu in der Lage war.
      „Was denn mit dir passiert?“, fragte meine beste Freundin schockiert, die mit Dix vor mir anhielt.
      „Lotye geht nicht an ihr verdammtes Telefon“, fluchte ich. Sie begann zu lachen. Hatte ich was verpasst?
      „Du hörst wohl nicht richtig zu. Sie hat heute Training auf einem Gestüt hier in der Nähe, deswegen wird sie mich nicht betreuen. Da Dix schon sicher bis hundertvierzig springt, waren wir uns einig, dass das heute ein Kinderspiel wird“, erklärte Alicia. Ach ja? Ein Kinderspiel also? Vor einigen Stunden saß sie noch kreidebleich vor der Box ihrer Stute, wusste nicht, wohin mit den schlechten Gedanken und hatte dabei um Haaresbreite ihren Traummann verpasst, was dank mir doch noch funktionierte. Aber ich mochte Alicias Selbstsicherheit, wenn sie auf ihrer glänzenden Stute saß. Die beiden wirkten so harmonisch und vertraut, dass keiner sie auseinanderbringen könnte. Ein Vorteil, wenn man wie wir ein Tier viele Jahre begleitet und sich auf Partner-Pferd verlassen konnte, egal was passieren mag.
      Alicia war die zweite Teilnehmerin in der Prüfung, so hatte sie nur einmal die Möglichkeit den Parcours geritten zu trachten. Hintergründig spielte Musik, ich glaube es was das Titellied von Titanic, während aus dem schrillen Lautsprecher der Name des ersten Reiters ertönte. Es war der junge Pole, der gestern grölend durch die Gänge lief und versuchte Kleingeld zu bekommen. Vermutlich hatten sie im Rausch eine seltsame Wette abgeschlossen, oder einen Junggesellenabschied. Nur bei einer Sache war ich mir ganz und gar sicher – den Leuten werde ich aus dem Weg gehen. Wie ein hilfloses Reh galoppierte er sein Pferd an, das nervös den Kopf nach oben zog und dabei den Unterhals vordrückte. Vor dem allerersten Sprung ließ er das Tier los und mit einem guten Absprung begann der Parcours. Mit einem Stangenwurf und drei Sekunden zu langsam ritt er hinaus, strich seinem Pferd dennoch strahlend über den verschwitzten Hals.
      Alicia trabte bereits mit Dix durch den Sand und wartete auf ihren Start. Der Sprecher sagte die Beiden an: „Alicia Émile Jacques auf Dix Mille LDS, viel Erfolg.“ Dann verstummte die Halle. Ich stand direkt neben eine der großen Boxen aus denen noch immer Musik ertönte, vermutlich so leise, dass Reiter sie gar nicht wahrnahmen. Mir störte Gebrumme, aber für die fünfundneunzig Sekunden könnte ich das aushalten. Gigantisch galoppierte die Rappstute an, hatte ihre Ohren die ganze Zeit bei ihrer Reiterin. Sprung für Sprung nahmen sie wie die Profis. Aus der Kombination ging es auf geraden Weg zum Wassergraben, in meinem Kopf zählte ich die Galoppsprünge mit: eins, zwei, drei, vier, fünf, hopp. Stolz ballte ich meine Faust, wenn die beiden gezielt über die bunten Stangen flogen, ohne dass Dix eine von ihnen berührte. Stattdessen wölbte sie ihren Rücken, zog die Vorderbeine eng an den Brustkorb und wirkte dabei wie ein startendes Flugzeug. Nun kamen noch ein Oxer und danach ein Rick. Nervös bis ich mir auf der Unterlippe herum. Jede Zelle in meinem Körper wippte in der Bewegung meiner besten Freundin mit, fühlte die Hufe des Pferdes, die sanft durch den Sand glitten und jede Hilfe und Parade umsetzten, doch da. Alicia verschätzte sich bei dem Rick, Dix kam ins Stolpern, sprang zu früh ab. Stille. Hohl fiel die Stange zu Boden und die beiden handelten sich damit unnötige Strafpunkte ein. Aber sie strahlte breit, von einem Ohr zum anderen. Der Übermut kam am Ende durch, doch mit der rekordverdächtigen Zeit konnten sie einiges gut machen, abzuwarten blieb der zweite Ritt.
      „Das war fantastisch“, gab ihr Zuspruch.
      „Ja, Dix war wunderbar und ich“, natürlich wollte sie den Fehlerpunkt umgehend als ein riesiges Problem darstellen, aber ich unterbrach Alicia noch, bevor sie ausgesprochen hatte.
      „Und du warst auch grandios. Mein Gott, es war die erste Runde, nachher wird es besser“, strich ich Dix über den nassen Hals und wischte meine Hand an der Decke ab. Verstohlen nickte sie nur, ein Zeichen, dass sie ihre Ruhe wollte.
      „Ich setzte mich da an die Seite“, zeigte ich auf eine ruhige Stelle hinter dem Zaun, “wenn was ist, schrei“, freundlich zog ein Lächeln über die Lippen und legte die Decke auf dem Po der Stute ab. Auf Umwegen kam ich an der gesagten Stelle an. Noch immer war niemand dort zu sehen und setzte mich auf den grauen Teppichfußboden, der rundum in den Hallen verlegt war. All die Aufregung ihrer Prüfung fiel mit einem Mal von mir ab. Mein Handy sagte mir, dass Lotye mir eine Nachricht schrieb mit dem Inhalt: „Neele, ich bin auf einem Trainingstag. Es ist alles geklärt, viel Erfolg. Gruß Lotye“
      Abermals schwebte mein Finger über den Bildschirm, wusste allerdings genauso wenig wie ich, worauf er tippen sollte. Ich merkte die auffällige, zweistellige, weiße Zahl im roten Kreis neben dem Instagram Icon, was war denn da los. Neugierig öffnete ich die Anwendung und die Anzahl der Benachrichtigungen blickte kurz auf, ehe ich auf das Herz klickte. Viele mir unbekannte Leute versuchten mir zu folgen, da ich privat war, musste jede Anfrage separat beantwortet werden. Einige von ihren waren großbrüstige Bots, die umgehend ablehnte, doch ein Name fiel mir direkt ins Auge. Offenbar hatte Eskil schon gestern Abend versucht mir zu folgen. Mein Blick erhob sich, weg von der leuchtenden Anzeige und sah sich um. Noch immer keiner in der Nähe, somit konnte ich mir in Seelenruhe seine Bilder anschauen. Das Kribbeln im Bauch kam wieder, als ich die ganzen Oberkörperfreien Fotos sah. Hitze stieg mir in den Kopf und ich musste einen Augenblick nach Luft schnappen mit einem überspitzten Lächeln auf den Lippen. Sosehr ich auch versuchte diese Gefühle loszuwerden, gelang es mir nicht. Zwischen all den anzüglichen Bildern entdeckte ich auch welche von seinem Hund und einem braun gebrannten anderen jungen Herrn, der wohl sein bester Freund war. Als Standort war Portugal angegeben, hatte er da gelebt, oder lebte er da sogar noch? Je weiter ich mich durcharbeitete, umso fand ich über ihn heraus. Kaum zu glauben, wie leichtsinnig Menschen mit ihren Daten umgingen.
      Ich wusste, dass er in Portugal bei seinem besten Freund auf dem Hof lebte und dort mit dem Fuchshengst Erlkönig in der Dressur trainierte, nebenbei auch die portugiesische Arbeitsreitweise beherrschte. Sie holten und separierten Kühe auf einem großen, trocknen Feld. Ansonsten war er auch an dem Training anderer Pferde beteiligt. Das neuste Bild wurde in Schweden aufgenommen, vermutlich zog er zurück in seine Heimat. Ach, und er hatte eine Schwester, Jonina, die einen Isländer besaß.
      Auf meiner Schulter spürte ich eine warme Berührung und beunruhigt drehte ich mich um. Vor lauter Schreck fiel mir mein Handy aus der Hand – Eskil stand hinter mir und grinste.
      „Na, stalkst du mich?“, lachte er fröhlich. Schlagartig lief mein Gesicht rot an. Mit geöffnetem Mund versuchte ich eine Antwort zu verfassen, doch nur Luft verließ ihn.
      „Ganz ruhig, ich meinte das nicht so“, strich er mir durchs Haar.
      „Du … was … Hä … warum bis … Wo warst du?“, stammelte ich. Eine Hand fummelte nach meinem Handy, das offenbar in meinen Schritt gefallen war. Dennoch versuchte ich es herauszufischen, wobei mir Eskil schließlich zu Hilfe kam. Seine unglaublich großen, weichen Hände berührten meine. Unüberlegt strichen meine Finger auf seinem Handrücken entlang. Fasziniert betrachtete ich das Spiel seiner Knochen, die sichtbar unter der dünnen Haut hervorlugten und von Adern übersät Schatten warfen. Mein Gestammel verstummte und auch Eskil schwieg, unverändert lag das Lächeln auf den Lippen. Aus der Stille wurde erst ein Klopfen in den Ohren und dann ein Schreien, als würde mein Gewissen mitteilen wollen, dass er sich genauso sehr nach mir sehnte wie ich mich nach ihm. Doch von der anderen Schulter wurde ich daran erinnert, dass genau dieser gestandene Mann am Abend zuvor wie ein Häufchen Elend vor mir stand, als ich nur sehr dicht mein Gesicht an seinem hatte. Entschieden nahm ich meine Hand von seiner und stand vom Teppich auf. Mein Fuß kribbelte seltsam – Eingeschlafen.
      „Worauf warten wir hier?“, wechselte Eskil das Thema, nach dem mein kleines Tänzchen beendet war, womit ich versuchte das Blut wieder in die Gliedmaße zu bekommen. In meinem Kopf ratterte es, aus welchen Grund war ich noch einmal hier? Dabei huschte ein glänzender Rappe an uns vorbei, hielt und die Luft aus den geblähten Nüstern prustete in meine Richtung. Alicia! Deswegen. Unglaublich, dass in dem kurzen Rausch der Emotionen meine beste Freundin vollkommen verdrängt hatte.
      „Dein Prinz scheint dich wieder gefunden zu haben“, feixte sie. Mit einem kräftigen Schnauben schien auch Dix dieser Aussage zuzustimmen. Mir wurde umgehend wieder warm um die Wangen.
      „Was sagt die Wertung?“, fragte ich und drehte den Kopf Seite. Neben dem Zaun stand eine Anzeige mit dem aktuellen Ranking. Von vierundsechzig Teilnehmern waren neunundvierzig durch, dabei hielt sich meine beste Freundin wacker auf dem dreizehnten Platz, das hieß nichts Gutes, aber noch gab die Chance in der zweiten Runde aufzuholen. Bei einer Fehlerlosen könnte sie sich noch hoch, unter die Top-Zehn kämpfen und so gut ich sie kannte, wusste ich, dass sie die Zähne zusammenbiss. Was es mir an Ehrgeiz fehlte, machte sie wieder gut!
      „Sieht doch vielversprechend aus“, gab Eskil seinen Senf dazu.
      „Vielleicht sollte ich mal nach Monet sehen, der fühlt sich sicher allein so in der Box“, murmelte ich dann, als meine beste Freundin wieder ihre Stute in den Schritt versetzte und federnden Tritten durch den Sand stolzierte.
      „Wenn du möchtest, aber ich denke, dass er klarkommt. Neben ihm stand doch noch ein anderes Pferd“, brachte er mich zum Nachdenken. Vermutlich machte ich mir wirklich zu viele Gedanken. Dennoch verließen wir den Zaun vom Abreiteplatz, liefen wieder einmal zur Fressmeile. Obwohl ich wie ein Stein in dem weichen Bett des Hotelzimmers schlief, übergab mich zunehmend die Müdigkeit, ungünstig, wenn es heute noch ein langer Tag werden sollte. Während Eskil sich eine Gemüsepfanne bestellte, besorgte ich mir drei Stände weiter einen Kaffee, nach dem der vorherige auf der Kleidung von Vachel verschüttging. Intensiv nahm ich einen Atemzug an dem kleinen Loch des Plastikdeckels, verspürte, dass es die richtige Wahl war. Auch der Große hielt glücklich die Schüssel in der Hand. Neben der Tribüne suchten wir uns einen Platz, um das Springen beobachten zu können. Meiner besten Freundin schrieb ich Nachricht, die sie mit ‘k beantwortete. Kurz, aber passt.
      „In ungefähr zwei Stunden muss ich aber los“, seufzte Eskil, nach dem er aufgegessen hatte. Flattrig wippte mein Bein unter dem Tisch. Das Gefühl wanderte langsam in meinen Oberkörper, wodurch sich mein Magen ungewöhnlich leer und voll gleichzeitig anfühlte. Lieber Körper, ich wäre dir sehr dankbar daraus keine große Sache zu machen.
      „Wo geht es hin?“, blieb ich gefasst und nahm einen Schluck aus dem Becher.
      „Nach Hause, Schweden. Schließlich steht für Erlkönig und mich am kommenden Wochenende bereits die nächste Prüfung an“, sprach er herzlich. Ich nickte langsam, wissend, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
      „Welche?“, versuchte ich meiner Unwissenheit Einhalt zu gebieten.
      „Auch wieder eine CDI3*, in Stockholm. Wirst du auch da sein?“
      „Unwahrscheinlich“, murmelte ich und versuchte einen anderen Termin zu finden, an dem wir uns wiedersehen würden. Ich zückte mein Handy wieder aus der Hosentasche, las ihm die drei Turniere vor, an denen ich in diesem Jahr noch international mit Monet starten wollte, sofern keine andere Angelegenheit mir einen Strich durch die Rechnung machte. Leider überkreuzte sich keines davon mit seinen Plänen. Niedergeschlagen senkten sich meine Schultern, während sich die Hände an dem Pappbecher klammerten, der von außen deutlich heißer war, als von innen. Dann kam eine unangenehme Stille auf.
      Nach der Pause setzte sich der Start wie zuvor zusammen, damit hetzte der Pole mit seinem Pferd in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch den Sand. Dabei verweigerte das Tier jedoch und riss zwei Sprünge. Die Zeit war besser, aber die Ansammlung an Fehlerpunkten machten ihm diese Wertung zunichte. Sein Lächeln hingegen blieb unverändert. Als Nächstes ging damit meine beste Freundin an den Start. Dix trampelte ungeduldig auf der Stelle herum und beim Start legte sie einen gehörigen Sprung nach vorn an den Tag. Selbst von unserer Position so Abseits hörte ich das laute prusten und grunzen der Stute.
      Alicia schaffte es, die aufgeputschte Stute fehlerfrei durch den schweren Parcours zu lenken und dabei noch eine persönliche Bestzeit abzulegen. Damit würde sie auf jeden Fall unter die Top-Zehn rutschen, das spürte ich. Schnell rauschte ich die Treppen herunter, die laut unter meinen Schritten knarrten. Eskil folgte mir, um meine beste Freundin noch am Ausgang abzufangen. Sie ritt die verschwitzte Stute noch so lange durch den Sand, bis sich die Atmung mehr oder weniger normalisierte hatte. Dann half ich in guter Manier, die Steigbügel hochzulegen, den Gurt leicht zu lockern und das Zeug zu tragen. Alicias Kopf war noch von der Prüfung hochrot gefärbt, während der Helm eine genaue Spur auf ihrem dunklen Haar hinterließ.
      „Ich bin sprachlos und sehr stolz auf euch“, gab ich positiven Zuspruch, den sie nur mit einem Handwink hinnahm. Meine Bekanntschaft schwieg dabei, aber folgte dem Gespräch, half sogar beim Tragen. An den Boxen ging es ziemlich schnell. Ich bereitete eine weitere Portion Kraftfutter zu und Eskil nahm dem Pferd das Sattelzeug ab. In der Zeit nahm sich Alicia eine kurze Auszeit im Stuhl, schaffte es zu meiner Verwunderung sogar einzuschlafen. Fasziniert beobachtete ich, wie sie den Kopf an die Box gelegt hatte und sogar leise schnarchte. Wir ließen sie schlafen.
      „Wenn sie schläft, mag ich sie am liebsten“, spottete Vachel von der Seite, musterte dabei auch Eskil, der wieder voller Freundschaft meinen Hengst am Unterhals streichelte. Ich könnte ihnen stundenlang zu sehen und Mo sah es vermutlich genauso. Wenn ich nicht gerade mit der Stallarbeit beschäftigt war, kuschelten wir ebenfalls stundenlang. Ja, ich verbrachte jeden Tag, vom Morgen bis zum Abend auf dem Hof. Meinen Vater störte es nicht, so konnte er in Ruhe Bekanntschaften mit nach Hause bringen oder länger im Büro arbeiten.
      „Nicht so laut, sonst weckst du sie noch“, flüsterte ich ihm zu. Vachel drehte in seiner überheblichen Art die Augen, natürlich wollte er immer im Mittelpunkt stehen, das hatte er mit seinem bildschönen Schimmelhengst gemein.
      „Und er da? Dein Freund?“ Musste das sein?
      „Nein, ich bin …“, und dann unterbrach ich Eskil, der zu einer Antwort ansetzen wollte, „Nein, nur ein netter Kerl, den gestern kennengelernt habe. Eifersüchtig?“ Erleichtert holte er Luft, wodurch Vachels Grinsen noch strahlender wurde.
      „Und, bei dir? Hast du jemanden an deiner Seite?“, versuchte ich die Frage so beiläufig, wie möglich zu stellen. Wenn sich seinerseits, durch den Erguss des Kaffees, nichts geändert hatte, würde er meine Nervosität auf Alicia beziehen. Im Schlaf wendete sie sich auf dem Stuhl, aber wachte nicht auf.
      „Nicht direkt“, er überlegte, „hier und da mal etwas, sagen wir Kurzfristiges, aber nichts Festes.“
      Nebenher nickte ich ein paar Mal, ohne den Augenkontakt zu halten. Generell versuchte ich den Blick auf seiner strammen Brust zu halten, die Gründe dafür genauso vielfältig wie mein Kleiderschrank.
      „Was willst du eigentlich bei uns? Hattest du nicht geplant mit Sky, wenn du ihn noch hast, auf den Platz zu gehen?“, wechselte ich das Thema.
      „Ja, deswegen bin ich hier. Ich habe meine Bandagen vergessen“, grinste Vachel und schielte zu meiner Tasche, aus der die dunkelroten Fleece-Bänder lugten, zusammen mit den schwarzen Unterlagen.
      „Klar“, antwortete ich und reichte ihm alles. Mit der kleinen Stofftasche in der Hand bedankte er sich. Selbst Eskil drückte er beinah brüderlich an sich heran, ehe er sich auf den Rückweg zu seinem Pferd machte. Für mich hieß es nun abwarten, in zwei Stunden war die Siegerehrung der Prüfung, die Alicia mit Dix beschritten hatte.
      „Ach und noch etwas“, drehte Vachel sich auf halbem Weg um, trat dabei wieder wenige Schritte zu uns zurück, „Nachher ist eine Feier, ich erwarte euch.“
      Eskil runzelte seine Stirn.
      „Da werde ich wohl absagen müssen“, spottete er, „und den hübschen Kanadier verpasse ich auch.“ Prüfend sah er zu seinem Handgelenk, an dem eine silberne Uhr funkelte.
      „Ach alles gut, man sieht sich bestimmt noch mal wieder“, grinste ich aufmunternd und umschlang meine Arme um seinen Oberkörper. Mit einer Hand strich er mir über den Rücken, mit leichtem Druck kam ich näher an ihn heran. Sanft zog mein Lächeln sich durch mein Gesicht, dass ich an seiner Brust vergrub. Von seinem dunklen Oberteil stieg mir ein blumiger Geruch in die Nase mit einem Hauch Männlichkeit und Holz, sehr vertraut und angenehm. Kräftig zog ich die Noten in mich hinein, versuchte sie abzuspeichern, um auf sie in schwierigen Momenten abrufen zu können.
      „Musst du dann los?“, lösten wir uns voneinander. Eskil nickte. Kurz drückte wir uns erneut, bevor er winkend den gleichen Weg einschlug wie Vachel und zwischen den Boxen verschwand. Weg war er. Schwer wurde mir ums Herz, als hätte ich einen wirklich bedenklichen Verlust erlitten.

      Nervös tippte Alicia auf ihrem Handy herum, dass in ihrer Hand zitterte und jeden Augenblick drohte hinunterzufallen. Glücklicherweise standen wir im Sand, wodurch der Fall verkraftbar sein würde. Wir hatten uns das Ranking seit dem zweiten Ritt nicht mehr angesehen, viel mehr wollte sie den Moment erleben, in dem ihr Name unter Umständen aufgerufen wurde. Dann begann es. Stimmungsvolle Musik kam verhaltend aus den Lautsprechern. Die Töne marschierten wie die Teilnehmer, verstärkten die Lautstärke bis ein rhythmisches Klatschen im Publikum begann. Auch aus der Ferne bekam ich das Gefühl, dass Alicias Unruhe sich auf meinen Körper übertrug. Fest klammerte ich mich an die Brüstung, die dabei verdächtig quietschte. Eine Dame hinter mir flüsterte gemeine Sachen in das Ohr ihres Freunds, aber mein Selbstbewusstsein fühlte sich davon nicht betroffen.
      Auf dem ersten Platz landete eine Reiterin aus Deutschland mit zwei fehlerlosen Runden und zwei atemberaubenden Zeiten, kurz dahinter folgte ein Brite und tatsächlich, bevor die Hoffnung verflog, kam Alicia. Kurz prüfte ich die Wertung. Mir fiel auf, dass der Herr, der vor ihr im Ranking war, durch die Ausrüstungskontrolle gefallen ist. Glücklich strahlte sie zu mir und meine sogar die Freudentränen in ihrem Gesicht zu sehen, als sie den Preis entgegennahm. Aus allen Richtungen flackerte helles Licht untermalt mit einem unaufhörlichen Klicken der Blende.
      „Herzlichen Glückwunsch“, drückte ich mich fest an meine beste Freundin heran, die schluchzend vor mir stand und noch immer nicht die Situation fassen konnte. Sie hatte es wirklich aufs Treppchen geschafft! Stolz liefen wir weiter und eigentlich müsste man darauf anstoßen, doch keiner von uns beiden genoss Alkohol.
      „Wollen wir dann noch Raphael zu sehen? Der müsste doch demnächst an der Reihe sein“, versuchte ich Alicia wieder in die Realität zurückzuholen. Entgegen meiner Erwartungen schüttelte sie mit dem Kopf. Verwirrend drückte ich die Brauen zusammen.
      „Ich würde viel lieber shoppen gehen“, strahlte sie und wechselte in der Box ihrer Stute die Kleidung von weiß zu dunkelblau. Eigentlich wollte ich seinen Ritt sehen, aber ich konnte ihr den Wunsch nicht ausschlagen. Deswegen schnappte ich mir meine Tragetasche und zusammen gingen wir zu der Halle, in der die Stände mit Pferdezubehör aufgebaut waren.


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      Springen E zu A | 22. Februar 2022

      St. Pauli’s Amnesia // Dix Mille LDS // Jokarie // Jora // WHC’ Poseidon

      Auf dem Abreiteplatz tummelte sich eine Horde an Reitern. Ein untypischer Fuchs trabte um die Ecke, Raphael glänzte auf seinem Rappen und Jordan trieb sich auch irgendwo herum. Den Typen auf der Schecken Stute hatte ich bisher noch nie gesehen, aber das Pferd lief fröhlich vor sich hin. Nur ich stand am Zaun und hatte mein Pony in der Heimat gelassen. Einer nach dem anderen setzte sein Pferd auf den Sprung zu, nichts Großes, viel mehr war der Tag vor dem Turnier als einfaches Training angesetzt. Als Höhe lag die Stange auf einem Meter, sowohl das Rick als auch der Oxer waren von mir aufgebaut worden. Man hatte mich schnell als Turniertrottel aufgestuft.
      “Neele, oder?”, hielt der Große auf dem Schecken neben mir.
      “Ja”, sah ich vom Zaun auf und versuchte bei der niedrig stehenden Sonne sein Gesicht zu erkennen, vergeblich, aber sein breites Lächeln entging mir nicht.
      “Die Stange ist gefallen, würdest du sie wieder hochlegen?”, fragte er höflich.
      “Natürlich, sehr unaufmerksam von mir”, lachte ich und stieg durch den Zaun auf den weitläufigen Reitplatz, immer mehr an Fülle zunahm. Wenn sich meine müden Augen nicht irrten, ritten zu viele gut aussehenden jungen Herren mit ihren elitären Pferden auf dem Sand. Achtsam setzte ich einen Fuß nach dem anderen, konzentriert, keinen Huf abzubekommen. Nachdem die Stangen das Rick wieder auf dem Meter lag, flogen bereits die nächsten des Oxers. Kaum drehte ich mich um, hörte ich das Holz den Boden berühren.
      “Strengt euch doch mal an”, rief ich dem Kerl auf dem Fuchs nach, der nur niedlich lächelte und im Galopp seinen Weg fortsetzte. Offensichtlich machten sie sich einen Spaß daraus, mich von der einen zur anderen Seite zu schicken. So genau er auch es schaffte, die Stute auf das Hindernis hinzuzulenken, bockte sie im letzten Galoppsprung und riss damit die Stange zu Boden. Ich schüttelte nur den Kopf und stampfte wieder hinüber. Diesmal blieb ich einige Meter daneben stehen, wie von einem Wunder gesegnet, sprang das Pferd ohne zu reißen.
      „Geht doch“, lachte ich. Als der Schecke wieder bei mir auftauchte. Sofort begann das Pferd mich zu inspizieren, streckte mir das vollgesabberte Maul in mein Gesicht und wischte es schließlich an meiner Schulter ab, als wäre ich der persönliche Waschlappen. Der erste Tag und schon war mein Lieblingsshirt versaut. Kurz davor, es mir über den Kopf zu ziehen, begriff ich noch im richtigen Augenblick, dass ich irgendwo an der spanischen Küste auf einem Reitplatz stand. Im Vergleich zum Herbst an der Schweizer Grenze, brannte mir die Sonne auf den Pelz.
      “Willst du nicht mit Kinderpferd weiterüben? Du scheinst dich als einziger nicht über ein A Niveau Springen zu wollen, Angst?”, neckte ich ihn und lehnte mich leicht an die verschwitzte Stute an. Er ritt sie die meiste Zeit im Galopp auf den Zirkel, sprang von der einen Hand auf die andere. Die Beiden wirkten vertraut, aber distanziert.
      “Angst, vor einem Meter? Sehen wir so aus?”, schob er die Sonnenbrille von der Nase, wodurch ich den ersten Blick auf die wunderschön funkelnden Augen begann. In der Sonne glänzte der helle Braunton noch intensiver als jedes Gold der Erde. Sofort tadelte ich mich Geiste: Neele, du kennst den nicht mal.
      “Offenbar ja, weil dein Pferd langweilt sich”, merkte ich an, nach dem die Stute unaufhörlich an meinem Ohr knabberte, schob ich sie weiter zur Seite. Vergeblich.
      “Na dann”; schwang er sich aus dem Sattel und drückte mir im selben Moment die Zügel in die Hand, “dann viel Spaß.” Wie angewurzelt verharrte ich im Sand, konnte keine Worte finden, die auch gar nicht nötig waren. Mit seinen kräftigen Händen griff er nach meiner Hüfte und warf mich in den Sattel. Wie auf Wolken saß ich auf der Stute, die den Kopf locker hängen ließ und abschnaubte. Ich wusste nicht genau, wie mir geschieht, aber das Pferd lief wie von selbst los und im nächsten Augenblick trabte ich schon über die Stangen neben dem Oxer. Raphael pfiff mir anerkennend zu, als wären wir Freunde, oder kennen uns schon seit Ewigkeiten, obwohl gegenteiliges der Realität entsprachen.
      “Schönes Gefährt”, lachte er und trabte auf seinem Rappen neben mir her, auch Jordan auf Jora kam dazu, doch dieser schwieg. Seine Stute hatte wohl nicht genügend Schlaf, denn obwohl bei ihm keine einzige Stande im Sand landete, konnte er nur mit viel Aufwand, das Pferd auf einer klaren Linie führen. Gut, ich musste einsehen, dass ich die Stute so gut wie gar nicht kannte, nur als Turnierbegleitung meiner besten Freundin auf Abreiteplätzen beobachtet hatte. Wo steckte sie eigentlich? Ohne auf Raphael zu reagieren, ließ ich meinen Blick über den Platz schweifen. Dixie versuchte am Zaun die letzten Grashalme zu erhaschen, während ein offenbar sehr inniges Gespräch mit dem Fuchsjungen hielt. Auch seine rundlich anmutende Stute versuchte an den einen oder anderen Halm zu gelang, deutlich geübter wirkte ich Einsatz am Zaun. Das Funkeln in Alicias Augen konnte ich sogar aus der Ferne ausmachen.
      Weil ich nicht wusste, was ich überhaupt auf dem Pferd zu suchen hatte, trabte ich einfach weiter, schnappte hier und da einen freundlichen Tipp auf, bis ihr Besitzer auf mich zukam. Er tätschelte seinem Pferd den Hals, blickte immer wieder zu mir und auch ich konnte nicht von seiner herzlichen Art ablassen.
      “Vielleicht nimmst du jetzt mal den mickrigen Oxer und dann reden wir weiter”, grinste er. In meiner Brust klopfte das Herz wie wild, schon bei dem bloßen Gedanken an diesen Stangensalat.
      “Bereite Amy so lange vor, wie du dich wohlfühlst. Am wichtigsten ist es, dass du sicher bist und keine Panik bekommst. Sie spürt alles, was du fühlst”, rief er mir noch zu, bevor ich die Galoppsprünge auf einem Zirkel verkürzte. Sie galoppierte mit einer hohen Vorderhandaktion und setzte sich wie ein Profi auf die Hinterhand, als hätte das Pferd auch eine zielgerichtete Dressurausbildung genossen – dass die beiden für Schweden an den Start gingen, erfuhr ich erst später. Aus dem Gefühl heraus schloss ich die Augen und überließ dem Trakehner die Kontrolle. Ich konnte spüren, wie das Pferd im Takt meines Herzschlags den Sprung anvisierte und im nächsten Augenblick abhob. Die Welt zog in Sekunden an mir vorbei, stoppte, bevor die Hufe auf den Sand trafen. Ein Ruck ging durch meinen Körper und energisch zog ich an den Zügeln, aus der Angst, im Dreck zu liegen. Doch die Angst war unbegründet, denn Amy bremste umgehend ab und erhob den Kopf, um meinen Oberkörper aufzufangen.
      “Wow, das war cool”, schwärmte ich lachend und klopft ihr den Hals.
      “Dann spring doch noch ein paar Mal”, schlug er vor, was ich sogleich nutze. Von Sprung zu Sprung fühlte ich mich sicherer und verstand, wieso Alicia so großen Spaß auf Dixie im Springreiten hatten. Bis zu dem Moment hatte ich immer Bedenken, was alles passieren könnte, was wäre, wenn ich etwas falsch mache. An seiner Seite und in diesem Sattel fühlte ich mich gut, bekam Tipps, aber musste leider schneller wieder absteigen, als es mir lieb war. Er nahm sein Pferd entgegen und verschwand. Ich erfuhr nicht einmal seinen Namen, außerdem schwebte noch immer Vachel durch meinen Kopf.
      Ich setzte mich auf den obersten Balken des Zaunes und beobachtete, wie Alicia mit dem Fuchsjungen begann denselben Sprung zu nehmen, gleichzeitig. Faszinierend, wie die Galoppsprünge der Pferde sich synchronisierten und schließlich auf den Millimeter die Stange überquerten. Auch Raphael folgte mit Poseidon und Jordan auf Jora.
      “Komm’, ich bin fertig”, holte mich Alicia wieder weg, nur damit ‘ihre’ Jungs nicht näher betrate, frech, aber so kannte ich sie. Im Großen und Ganzen fand ich es sehr lustig, wenn Reiter aus dem hohen Springniveau plötzlich nur einen sprangen.

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      Springen A zu L | 15. März 2022

      Dix Mille LDS / WHC' Poseidon / Jora / Jokarie

      In den wenigen Tagen, die mir noch in dem großartigen Haus verblieben, saß ich die meiste Zeit auf der Couch herum. Monet befand sich in der Vorbereitung auf seine Abreise nach Schweden. Einerseits freute ich mich, schließlich wollte das Schicksal es so, dass ich offenbar näher bei Eskil war, doch brachte es mich in die Situation über tausende Kilometer zwischen Vachel und mir zu haben. Seufzend kippte ich mir zur Seite auf die Polster, blickte zum Laptop auf dem Tisch. Dieses Warten bereitete mir keinen Spaß.
      Ich hatte die Uhr vollkommen aus dem Blick verloren, als ein Schlüssel in der Haustür ertönte und sie sich öffnete. In einer schwarzen Jogginghose stand Alicia da, bewaffnet mit einer alkoholfreien Flasche Wein und Kuchen. Das war meine Rettung.
      “Wir müssen uns was angucken”, grinste sie, das konnte nur mit Matteo und Raphael zu tun haben. Immer mehr eiferte sie den beiden nach und hatte sich sogar dazu entschlossen, mit nach Schweden zu kommen, um dort mit Dixie weiter zu üben. Zum anderen wollte sie nicht allein bleiben. Sie sagte selbst über sich, dass sie gute Chancen hatte und sich bei verschiedenen Reitschulen bewarb. Was es damit auf sich hatte, wusste ich nicht genau, aber das würde sich noch zeigen. Papa freute sich, dass ich damit jemanden hatte, den ich kannte.
      “Dann zeig mal”, freute ich mich und beobachtete, wie sie mit den Fingern über die Tastatur huschte und es öffnete sich eine in schwarz getauchte Website. Darauf leuchteten die blauen Augen in der Frontansicht von Poseidon.
      “Was ist das?”, wunderte ich mich und beugte mich näher zu dem Gerät.
      “Raphael hat seit gestern eine Website und da habe ich ein Video gefunden, was du sehen solltest.” Sie klickte wie wild herum. Dann öffnete sich ein sehr hochauflösendes Video. Sein Hengst wirkte darin noch wie ein Baby, also musste es aus seiner Anfangszeit aus. Immer wieder tauchte auch Jordan mit Jora auf. Nach einander übersprangen sie ziemlich niedrige Hindernisse, also im Verhältnis zu dem, wie ich die beiden bisher erlebte. Poseidon wirkte unsicher, sogar etwas panisch, wenn er den bunten Stangen näherkam. Raphael beruhigte ihn in seiner sanftmütigen und äußerst liebenswürdigen Art. Immer wieder folgten zwischen den direkten Aufnahmen von Pferd und Reiter, Drohnenshots, Slow Motion. Ziemlich teuer und hochwertig. Nach einigen Minuten war es vorbei.
      “Das war cool”, sagte ich noch immer verwundert, welchen Mehrwert ich daraus ziehen sollte.
      “Neele, du bist wirklich schwer zu begeistern”, stöhnte sie. Vom Tisch krallte sie das Gerät und drückte auf dem Trackpad herum, bis ein dumpfes Tuten aus den Lautsprechern ertönte. Sie stellte das Laptop wieder auf den Tisch und schob sich dicht an mich heran. Erschrocken blickte ich zum Bildschirm, konnte das gesehene nicht richtig einordnen.
      “Warum rufst du Raphael an und wieso über mich?”, flüsterte ich in der Angst, dass er genau in dem Moment abhob.
      “Weil wir jetzt Unterricht haben”, grinste sie und dann leuchtete er auf dem Bildschirm. Freundlich winkte er in die Kamera. Schweigend saß ich neben meiner besten Freundin, die direkt fröhlich losplauderte von dem Video, was wir uns gerade angeschaut hatten und dass sie genau diese Übung auch mit Dixie gemacht hatte. Dadurch wurde die Stute so viel Feiner am Schenkel und riss keine einzige Stange von den leichten Hindernissen.
      Tatsächlich hatten wir kein Unterricht in dem Sinne, vielmehr war es ein kommentierter Ritt und zunehmend kamen auch weitere Leute in den Anruf. Auch Alicias anderes Schätzchen. Dieser erzählte ebenfalls von dem heutigen Trainingstag mit seiner Fuchsstute, die aktuell Winterpause hatte und ebenfalls unter einen Meter zwanzig überquerte. Für die kleinere Stute, im Vergleich zu Dixie, schon eine Herausforderung.
      Mich langweilige tatsächlich der Ritt, nur Alicia tauschte sich fröhlich mit den Anderen aus. Was hatte ich auch davon? Ich sprang nicht, es war eine Ausnahme auf Amy. Zwischendurch stand ich auf und holte eins der letzten Gläser. Kaum hatte ich mich umgedreht, um die Flasche zu öffnen, rief Alicia hektisch: “Dein Verehrer hat geschrieben.” Kurz blieb mir die Luft weg. Warum sollte mit Vachel schreiben? Und wieso wusste sie davon. Die Flasche noch mit dem Öffner im Hals ließ ich auf der Stelle in der Küche stehen und huschte zur Couch. Dort lag auch mein Handy, dass ich sofort ergriff. Eskil hatte mir geschrieben. Damit hatte ich wirklich nicht mehr gerechnet. Vor einigen Tagen schrieb ich ihm einige, nun im Nachhinein, seltsame Nachrichten. Ich wollte wissen, ob bei ihm unterkommen kann. Mein Vater hatte so spontan wie er war, ein Haus gekauft, irgendwo zwischen anderen neureichen Menschen, die ich ohnehin nie sehen würde. Auf dem Grundstück standen riesige Hecken, die jede Sicht bedeckte. Aber das Haus steht erst ab Dezember zur Verfügung und ich wollte, keine Ahnung ehrlich gesagt. Vielleicht wollte ich einfach ein Nein hören, doch Eskil stimmte zu.
      “Damit hatte ich nicht gerechnet, aber selbstverständlich. Ich freu mich. Du musst dann aber mit nach Stockholm kommen”, schrieb er. Ich versuchte mich zusammenzureißen, doch aus meinem Mund kroch ein hoher Schrei der Freude. Verwundert drehte sich Alicia um.
      “Was denn mit dir?”, fragte sie, aber verfolgte mit einem Augen den nächsten Ritt weiter. Das Bild hatte sich von Raphael auf Jordan gewechselt, der auch gerade mit dem Warmreiten fertig zu sein schien und locker über ein Rick sprang. Es war schon ziemlich erstaunlich, wie leicht es aussah, aber ich wusste von Alicia wie viel Training es bedarf.
      „Ich bin erst mal bei Eskil in Schweden“, flüsterte ich in Ohr, schließlich war das Mikrofon noch eingeschalten. Mit einem Tastendruck änderte sie das. Auch ihr Gesicht war geprägt von Erstaunen.
      „Oha, du gönnst dir. Du rufst mich dann jeden Abend an, ja?“

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      Essen im Karton | 14. April 2022

      Monet / Crystal Sky / Dix Mille LDS

      Du bekommst viereckige Augen, wenn du so viel auf den Bildschirm starrst, pflegte mein Vater stets zu sagen, obwohl er nichts anderes den ganzen Tag im Büro tat. Natürlich wäre eine Argumentation angebracht, aber er mochte Scherze. Ich saß auf der Couch und blickte auf besagten Laptop, der auf meinem Schoß stand. Es blitzten zahlreiche Bilder nacheinander auf, die zusammen ein gleichmäßiges Video ergaben, eins, das ich mir seit Stunden ansah, immer wieder von vorn begann und mich von nichts ablenken ließ. Zwischendurch hatte das Haustelefon geklingelt, das ich, wie so oft, erfolgreich ignorierte. Das Handy lag seit Tagen ohne Akku auf meinem Schreibtisch, irgendwo zwischen losen Blättern, die noch an meine Schulzeit erinnerten und bisher keinen Platz gefunden hatte. Ich überlegte sie zu entsorgen, gleichzeitig schmerzte aber, die schönen Erinnerungen in den Recyclingkreislauf zu übergeben.
      Es klopfte. Mit einem Seufzer stellte ich das Laptop auf den Glastisch, richtete meine, mit Tomatensoße vom Mittagessen, befleckte Hose und lief zur großen Haustür. Nur schwerfällig öffnete sich das riesige Teil. Eigentlich wusste jeder, dass ich Besuch über den Nebeneingang empfing. Tellergross riss ich meine Augen, als ich die Person erblickte, die mit einem peinlich berührten Lächeln vor mir stand und leicht geröteten Wangen.
      „Dich hätte ich nicht erwartet“, stöhnte ich aus dem Schreck heraus, die Stimme so, dass es klang, als wäre ich enttäuscht. Keinesfalls war ich dies, aber überrascht.
      „Herzallerliebst, wie man dich kennt“, sagte Vachel und hielt mit einer Hand die Tür fest. „Ich habe mir Sorgen gemacht, auch nachdem Alicia nicht gewusst hatte, was mit dir los sei.“
      Ich schluckte. Hatte er wirklich bei ihr nachgefragt, obwohl er sich der Kontaktstille bewusst sein sollte?
      „Tut mir leid. Ich wollte dir keine Umstände machen“, erklärte ich. „Willst du hereinkommen?“
      „Wenn du dich dann umziehst?“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte sein Gesicht.
      „Das würde dir wohl gefallen?“, merkte ich ebenfalls spitz an, aber machte den Weg frei. Mit Begeisterung sah er sich in dem weitläufigen Haus um, blickte hoch zur Galerie, die zu meinem Zimmer führte. Ich betrat den Moment die Treppen.
      „Du wartest hier“, sagte ich und rannte ins Ankleidezimmer. Etwas überfordert vom Anlass seiner Ankunft sah ich die Kleidung durch. „Was soll ich denn anziehen?“
      „Reitsachen“, rief er ebenso laut wie ich, aber abgelenkt. Natürlich, Vachel wollte sicher wieder ausreiten. Also zog ich so schnell ich konnte eine dunkelblaue Reithose an, ein dazu passendes Oberteil und eine roséfarbene Weste. Im selben Tempo stürmte ich wieder hinunter und sah ihn auf den Bildschirm blicken, die Hände lässig in den Hosentaschen.
      „Gibst es einen triftigen Grund oder hast du mich einfach vermisst?“ Wieder dieses verdammte Lächeln auf seinen Lippen! Meine Wangen färbten sich zu der Farbe der Weste und ich wich den Blicken aus. Den Laptop klappte ich und steckte ihn in die Seite der Couch.
      „Als ob ich dich vermisst habe“, zischte ich leise, „das war Zufall. Ich habe mir FEI Dressurveranstaltungen angeschaut.“
      “Alles andere wäre auch undenkbar, stimmt’s?”, lachte er.
      “Du hast es erfasst.”
      Vom Schlüsselbrett nahm ich den Hausschlüssel und schloss hinter uns ab. Kurz überlegte ich, ob auch alle anderen Türen zu waren, aber klar. Seit Tagen hatte ich das Haus nicht verlassen, worüber auch mein Pferd sich ärgern würde. Noch viel mehr, dass ich ihn heute dann stören würde. Vor dem Haus stand nur sein übertrieben großes Fahrzeug, ohne Anhänger.
      “Wo ist denn Sky?”, wunderte ich mich.
      “Der steht bei euch am Stall”, erklärte Vachel, ohne den Blick von der Straße zu verlieren. “Schon seit einigen Tagen.”
      Warum stand das Goldstück bei uns? Auf einem Hof voller seltsamer Menschen, die es liebten, einander zu zerfleischen, es bevorzugten, hinter dem Rücken anderer zu sprechen anstelle Probleme aus der Welt zu schaffen. Nur Lotye hatte sich dem Mist nie hingegeben und kam regelmäßig für Trainingseinheiten vorbei.
      Langsam fuhr dem gepflastertem Weg entlang. Durchs Fenster sah ich bereits die ‘Premiumreiter’ auf dem großen Reitplatz. Wir nannten sie so, da sie nur darauf achteten, wie sie auf dem Pferd aussahen. Ihnen fehlte das Verständnis der Tiere gegenüber. Es sollte funktionieren und eine Lektion nach der anderen Abspielen. Auf der Weide gegenüberstanden die beiden Pferde von Marie, zupften an den kleinen verbliebenen Grashalmen.
      “Warum bist du hier?”, fragte ich offen heraus, als wir den Stall betraten. An der Ecke stand sein Turnierschrank. Eine niedliche Kinderzeichnung von seinem Hengst hing daran, verziert mit blauen Glitzersteinen. Vermutlich von seiner kleinen Schwester, die er nicht so oft sah. Zumindest hatte Vachel nichts mehr erzählt von ihr.
      “Marin hat über Nacht den Stall verlassen. Es gab einige Unstimmigkeiten mit der Hofbesitzerin und deshalb bin ich auch gegangen”, erklärte er.
      Sein Schimmel streckte sein Maul durch die Gitter, leises Brummen ertönte, je näher wir kamen. Auch Monet streckte sich und wieherte mit einem hohen Ton. Jeder von uns holte sein Pferd aus der Box heraus und putzte in aller Ruhe. So dreckig war Monet seit Jahren nicht mehr. Neben dem normalen Staub hatte er Grasflecken am Bauch, Po und den Hinterbeinen.
      “Was hast du nur gemacht?”, flüsterte ich ihm zu, aber bekam, bis auf einen Seufzer, keine Antwort.
      “Pferde können nicht sprechen”, erinnerte mich Vachel und wechselte dabei die Seite seines, um auch dort den Dreck zu entfernen. Sein Schimmel wies deutlich weniger Flecken auf, Glückspilz.
      “Ja, ja. Ich weiß. Aber sprichst du nie mit Sky?” Angestrengt fuhr ich mit der Bürste immer wieder durchs Fell, aber es wurde nicht besser, zum Glück auch nicht schlimmer.
      “Natürlich, ich erzähle ihn immer von meinem Alltag”, grinste er.
      “Ach, was passiert da so spannendes?”, nutze ich den Moment, um mehr über Vachel zu erfahren. Lang, mit viel Rattenschwanz, erklärte er mir, wie wichtig seine Arbeit sei. Was er genau tat? Das hatte ich bereits wieder vergessen, auf jeden Fall etwas, ohne Pferde. Aber ich hörte ihm zu, zumindest vernahm ich seine weiche Stimme in meinen Ohren. Egal, was er sagte, es klang toll und wie sich seine Lippen dabei bewegten, ein Traum. Ich spürte wieder dieses Kribbeln von unserem Kuss, aber wie ein Messerstoß wurde es mir nicht gewehrt, mehr zu fühlen. Schließlich hatte ich Vachel geghostet. Den Grund dafür lag weit außerhalb der Denkzone.
      “Das ist toll”, warf ich zwischendrin ein, wenn sich die Erzählung nach etwas Positiven anhörte. Dem stimmte er erfreut zu und verlor sich weiterhin darin. Nebenbei hatten wir die Pferde gesattelt und aus dem Stall geführt.
      “Und, was willst du machen?”, kam plötzlich diese eine Frage, die auch mein Vater zu gern stellte.
      “Gute Frage”, erwiderte ich, ohne zu überlegen. “Mit den Reitstunden für kleine Kinder bin ich eigentlich zufrieden.”
      “Aber möchtest du nicht auch andere Dinge erleben?”
      “Wieso? Ich meine ja, ich reite nicht ansatzweise so gut wie du und meine erste und einzige internationale Prüfung liegt Wochen zurück, aber ich bin zufrieden mit dem, wie es ist”, dabei bemerkte ich, dass wirklich nie Gedanken daran verschwendete, wie ich ohne das Geld meines Vaters leben würde oder könnte. Ich wollte ihn auch nicht verlieren, im Stich lassen oder Ähnliches. Es war gut, wie es ist. Wieso sollte ich daran etwas ändern?
      “Jetzt sag so etwas nicht.” Da war es wieder! Dieses Lächeln. Langsam wurde es unerträglich, ihn anzuschauen. So richtete ich mich im Sattel auf, den Blick fest durch die Ohren meines Ponys und trabte an. In gleichmäßigen Schritten und den Kopf nach unten gesenkt, schliff er durch den Sand. Überall lagen bunte Blätter von den Laubbäumen auf dem Weg. Es raschelte vertrauenswürdig unter seinen Hufen. Vachel kam uns problemlos nach. Kurz vor der Abbiegung zum See hielten wir an.
      “Wo lang?”, fragte ich aus der Puste und musste einmal tief Luft holen.
      “Wie du möchtest, aber einmal um den See, ist doch eine schöne Runde”, merkte er an. Also setzten wir die beiden Hengste wieder in Bewegung. Das Thema ‘womit möchtest du dein Lebensunterhalt verdienen’ war vom Tisch. Hier und da kamen wir auf ein anderes Thema, aber landeten immer wieder bei den Pferden. Wir verloren uns so sehr darin, dass wir die Weggabelung verpassten zum Hof und vor der Landstraße standen.
      “Ähm, hier war ich ewig nicht”, merkte ich verwirrt an. Ich kannte die Stelle, aber wie wir zurückkamen, wollte mein Hirn nicht ausspucken.
      “Ich habe hier kein Netz. Was sagt dein Handy?”
      “Das sagt ‘ich liege zu Hause’”, lachte ich, aber war klug genug, um ein Schild zu lesen. Wir waren am Ortseingang vom Dorf des Stalls. Also folgten wir hintereinander der ruhigen Straße. Selten fuhren hier Autos am Nachmittag, seitdem es einen kürzeren Weg zur Schweizer Grenze gab. Die Einwohner genossen ihre neu erlangte Ruhe in vollen Zügen.
      „Danke“, schmunzelte ich. Wir waren am Hof angekommen, hatten die Pferde abgesattelt und fütterten sie. Maries beiden standen bereits in der Box, nur von ihr war weit und breit nichts zu sehen. Ihr Fahrrad lehnte an der Wand und auch das von Alicia. Dann ertönte Gelächter aus dem Nebengebäude, dass man ausnahmslos den Mädels
      zu ordnen konnte. Instinktiv duckte ich mich, obwohl es unmöglich war, dass sie wie eine Schnecke ihre Augen ausfahren konnten, um um die Ecke zu schauen.
      „Ja, mir hat es auch gefallen“, gibt Vachel nicht weiter auf mein seltsames Verhalten ein. „Das können wir jetzt öfter machen.“
      „Könnten wir, ja. Aber ich muss schauen, ob mein Arbeitspensum das zulässt“, grinste ich wagemutig und schnappte mir eine Forke. Monets Box sah aus - unbeschreiblich. Seit Tagen hatte niemand sauber gemacht, eigentlich frech, da ich so oft auch die Boxen der anderen reinigte, dass ich es ebenfalls erwartet hatte. Immerhin hatten sie ihn, augenscheinlich, auf die Weide gebracht.
      Ich brachte mein Pony wieder in sein sauberes Bettchen. Sofort legte er sich mit seiner Stalldecke ins Einstreu und war vollständig mit den Spänen übersät.
      „Du hast da was“, flüsterte Vachel mir verräterisch ins Ohr und zupfte aus meinem Haar ebenfalls welche. Sanft berührte dabei seine Hand meinen Hals. Mir stoppte der Atem durch einen Knoten, der sich von einer zur anderen Sekunde gebildet hatte. Wie eingefroren, verharrte ich an Ort und Stelle.
      „Oh, danke“, gluckste ich mit kratziger Stimme.
      „Kein Problem“, sagte er freudestrahlend und beobachtete ebenfalls, wie sich Monet immer wieder in seiner Box wendete.
      Ohne mit Alicia und Marie gesprochen zu haben, stieg ich wieder in das Auto von Vachel und wurde von ihm nach Hause gefahren. Lange überlegte ich über weiteres vorgehen. Aber die Entscheidung nahm er mir ab.
      “Hast du Lust auf Pizza?”, fragte er.
      “Wer nicht?”, grinste ich.
      Am Haus stiegen wir aus und betraten es. Es war dunkel, wie draußen. Zellen hofften darauf, dass Papa heute kommen würde, aber nichts. Nicht einmal unsere Haushälterin befand sich drinnen, natürlich. Nach einander schaltete ich die Lichter an, bis es wieder wohnlich wirkte. Im selben Zuge ließ ich die Rollladen herunter, um mehr das Gefühl von Privatsphäre zu haben. Zur gleichen Zeit tippte Vachel auf seinem Handy herum und wählte für jeden eine Pizza aus.
      “In zwanzig Minuten sollte sie da sein”, informierte er mich.
      “Möchtest du eine bequemere Hose oder so?”, fragte ich höflich nach.
      “Gern.”
      Wieder rannte ich die Treppen hoch, wechselte mein eigenes Outfit und bediente mich an dem Kleiderschrank meines Vaters. Es müsste ihm passen, ihre Größenunterschiede sollten nicht groß sein. “Das oder das?”, fragte ich von der Galerie herunter und zeigte zwei verschiedene Hosen. Er zeigte auf eine, die er direkt zugeworfen bekam.
      “Essen!”, rief ich und stürmte von der Couch auf zur Tür. Mit Mühe hatte ich das riesige Ding offen und nahm die beiden Kartons entgegen. Auf dem Schlüsselbrett stand auch eine Schüssel mit Kleingeld. Daraus gab ich der jungen Dame einige Münzen, bevor die Tür hinter mir zu viel.
      “Ist es zugeschnitten?”, fragte Vachel. Ich öffnete vorsichtig den oberen Karton.
      “Ja”, sagte ich, ohne den Blick davon zu verlieren vom dampfenden Essen vor mir. Erst als ich am Tisch saß, bemerkte ich ihn. Ich schluckte. Wieder kam dieser Knoten. Beinah wären mir die Kartons aus der Hand gefallen, wenn er sie nicht abgefangen hätte.
      “Gefällt dir, was du siehst?”, flüsterte er wieder in mein Ohr, zu dicht, aber nicht, dass es mich störte. Es verunsicherte mich im positiven Sinne.
      “Die Pizza sieht gut aus, ja”, lenkte ich von seinem freien Oberkörper ab.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 12.585 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende September 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel fjorton | 14. April 2022

      Einheitssprache / HMJ Divine / Legolas / Schneesturm / Outer Space / Sturmglokke LDS / Maxou / Dix Mille LDS / Binomialsats / Form Follows Function LDS

      Lina
      “Braaav”, sprach ich zu dem dunklen Hengst und strich ihm loben über den kräftigen Hals. Die lange Mähne war in dicken, ordentlichen Zöpfen geflochten, die wie Lakritz in dem schwachen Licht glänzten, welches durch die großen Fenster in die Halle drang. Irgendwie wollten die Lektionen heute nicht so richtig funktionieren, was allerdings weniger am Pferd lag. Wie immer bei der Bodenarbeit war Rambi aufmerksam und versuchte motiviert meine Anweisungen umzusetzen. Nein, heute war definitiv ich das Problem. Die Nacht war wenig erholsam gewesen, denn der Welpe hatte gefühlt die ganze Nacht wimmernd und jaulend sein Leid beklagt und auch Fredna war ziemlich unruhig gewesen. Das nächste Mal sollte ich länger darüber nachdenken, wie wichtig mir mein Nachtschlaf war, bevor ich Vriskas Besuch zustimmte. So nahm mit jeder voranschreitenden Stunde die Müdigkeit zu und das einzige, was meine Konzentration halbwegs aufrechterhielt, waren die mittlerweile fünf Becher Milch mit Kaffeegeschmack, wie Vriska es nennen würde.
      Ungeduldig kratze der Freiberger mit seinem Huf durch den Sand, als es ihm zu lange dauerte, bis ich die Zügel wieder sortiert hatte.
      “Rambi, hör auf Löcher zu graben”, ermahnte ich den Hengst und klopfte ihm auf die Schulter, um ihn zum Aufhören zu bewegen. Ein letztes Mal wiederholte ich noch das Übertreten an der Hand, welches der Hengst vorbildlich ausführte. Schön wäre es, wenn er so auch mal unter dem Sattel funktionieren würde, anstatt ständig seine Männlichkeit unter Beweis stellen zu müssen. So wie Rambi sich dann aufführte, wunderte es mich nur wenig, dass seine Besitzerin ihn nur außerordentlich selten ritt.
      Zufrieden pruste der Braune die Luft aus seinen Nüster und schüttelte den Kopf, nachdem ich ihn von den Zügeln befreit hatte. Mit der Nase stetig am Boden stampfte er, solange durch den Sand, bis er den idealen Fleck gefunden hatte, um sich dort niederzulassen und genüsslich zu wälzen.
      Gerade als ich die Hufe des Hengstes vor dem Verlassen der Halle auskratze, ließ mich das Zuschlagen einer Autotür aufhorchen. Auch Rambi schien das Geräusch wahrgenommen zu haben, denn er reckte mit gespitzten Ohren den Kopf um die Ecke. Das musste Ivy sein. Augenblicklich beschleunigte sich mein Puls und vertrieb jegliche Müdigkeit aus meinen Gliedern. Hastig entfernte ich den Sand auch aus dem letzten Huf und noch bevor ich selbst um die Ecke kam, erkannte ich bereits an Rambis Verhalten, dass breites jemand auf der Stallgasse stehen musste.
      “Samu”, entwich es mir freudig, als ich die Person erblickte. Das Pferd an meiner Seite drängelte voran, wollte unbedingt den Neuankömmling begrüßen. Nur mit großer Anstrengung konnte ich den sturköpfigen Hengst, davon abhalten einfach vorzustürmen.
      > Yllättynyt?
      “Überrascht?”, grinste mich der Finne amüsiert an. Das Pferd steckte ihm neugierig die Nase ins Gesicht, während ich nicht anders konnte, als meine Arme um ihn herumzuschlingen.
      > Joo... missä... En odottanut sinua ollenkaan. Mistä olet kotoisin? Mitä teet täällä?
      “Ja! Wo ... “, stammelte ich aufgeregt vor mich hin, “Ich habe dich überhaupt nicht erwartet. Wo kommst du her? Was machst du hier?” Durch die unerwartete Ankunft meines Freundes bildete sich plötzlich ein riesiger Knoten in meinem Hirn, der jegliches sinnvolles zusammenführen von Informationen verhinderte. Rambi, dem es nicht zu passen schien, dass die Aufmerksamkeit nicht auf ihm lag, schob seinen Schädel zwischen uns und schob uns somit wieder auseinander.
      > Kuka täällä muuten on mustasukkainen?
      “Wer ist der eifersüchtige Geselle hier eigentlich?” Lachend ließ der Blonde seine Hände über den Hals des Tieres bis hinunter zur Brust gleiten und begann dort ausgiebig zu kraulen.
      > Melkein tiedät sen, se on Einheitssprache tai myös rakkaudella Rambiksi kutsuttu
      “Den kennst du schon fast, das ist Einheitssprache oder auch liebevoll genannt Rambi”, antwortete ich und beobachte wie die Ohren des Hengstes sich leicht nach hinten drehten, der Hals eine schöne Wölbung erhielt und sich ein Ausdruck von wahrem Genuss in seinem Gesicht abzeichnete.
      > Freiberger mainoksesta, eikö niin?
      “Der Freiberger aus der Anzeige, nicht wahr?”, erkundigte sich Samu, während der dunkle Hengst immer weiter in den Genüssen versank. Wenn es nach ihm ginge, könne man ihn wohl auch den restlichen Tag lang kraulen.
      > Mutta jos olisin sinä, laittaisin tämän kauniin hänen sänkyynsä jonain päivänä. Koska minulla on jotain... tai ehkä minun pitäisi sanoa, että toin jonkun mukaani, josta tulet varmasti olemaan iloinen.
      “Aber wenn ich du wäre, würde ich den hübschen hier mal in sein Bettchen bringen”, sprach Samu scheinheilig, dennoch vernahm ich das Lächeln in seiner Stimme, ”Ich habe da nämlich etwas ... oder vielleicht sollte ich sagen, jemanden mitgebracht, über den du dich sicher freust.” Natürlich war mir sofort klar, wen er mitgebracht haben mochte. Wenn es denn noch möglich war, schoss mein Plus umso mehr in die Höhe und ich konnte Rambi gar nicht schnell genug zurück auf seinen Paddock bringen.
      Mit schnellen Schritten folge ich Samu schließlich vor den Stall. Auf der weitestgehend schneebedeckten Fläche stand ein Transporter. Ehrfürchtig stand ich daneben, konnte gar nicht glauben, dass der Moment, auf den ich nun schon so lang gewartet hatte, gekommen war.
      > Tule katsomaan
      “Na komm, sieh schon nach”, forderte Samu mich lächelnd auf und schob mich sanft die letzten Meter durch den Schnee. Da ich selbst nur knapp den Verschluss der oben Klappe erreichte, war Samu so freundlich diese für mich zu öffnen. Eine einzelne Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und kullerte warm meine Wange hinunter. Sanfte dunkle Augen blicken mir entgegen, begleitet von einem freudigen Wiehern, bei dem kleine, weiße Atemwölkchen in die Luft emporstiegen. Da stand er, Divine, die kleinen, niedlichen Ohren aufmerksam gespitzt, beinahe so wie ich ihn zurückgelassen hatte. Einzig das dicke, weiße Fell, welches ihn aussehen ließ wie ein Teddybär, war neu. Mit zittrigen Fingern ließ ich die Hängerklappe hinunter und kletterte zu ihm hinein.
      > Kaipasin sinua pikku yksisarviseni
      “Ich habe dich vermisst, mein kleines Einhorn”, hauchte ich Ivy leise zu und ließ meine Finger durch sein langes Fell gleiten. Es war tatsächlich noch weicher als es aussah. Der weiße Hengst brummelte leise und stupste mich zaghaft ab. Aus meiner Jackentasche angelte ich ein Leckerli heraus, welches er mit weichen Lippen von meiner Hand fischte. Erst als sich eine weitere Pferdeschnauze in den Vordergrund drängte und ebenso nach einem Leckerbissen verlange, bemerkte ich das weitere Tier. Seidig glänzte das schwarze Fell im Halbdunkeln des Transportes. Aus Augen, so blau wie Kanadas Bergseen, blickte mir das Pferd entgegen und den Kopf geziert mit einer charakteristischen breiten Blesse.
      > Otit myös Legolaksen mukaasi! Tarkoittaako se sinua...?
      “Legolas hast du ja auch mitgebracht! “, rief ich aus und blickte Samu fragend an, “Heißt das du ...? Er nickte, noch immer ein Schmunzeln auf den Lippen: “Ja, ich bleibe”
      Kaum zu glauben, wie er fröhlich grinsend vor mir stand, obwohl ich ihn mindestens hundertmal gefragt hatte, wann genau er endlich hier nach Schweden ziehen würde. Hatte der Blödmann mich doch tatsächlich einfach die ganze Zeit angelogen und fand sich auch noch toll dabei.
      > Kuinka kauan olet ollut täällä?
      “Wie lange bist du schon hier?”, frage ich argwöhnisch, denn mich beschlich der Verdacht, dass Samu auch in dieser Sache nicht ganze Wahrheit von sich gegeben hatte.
      > Niin kauan kuin hevosesi on
      “Solange wie dein Pferd auch”, grinste er und in seinen Augen funkelte es schelmisch. Es erschien mir beinahe so, als hätte die Leute in letzter Zeit ziemlich viel Freude daran mir Informationen zu unterschlagen. Immerhin stand stets der Zweck dahinter, mir eine Freude zu bereiten.
      >Haluammeko purkaa ne kaksi vai haluatko jatkaa minua?
      “Wollen wir, die beiden auch mal ausladen oder möchtest du mich weiter böse anstarren?”, lachte er vollkommen ungerührt von meinen Blicken.
      > Tottukaa
      “Ja, natürlich”, entgegnete ich leicht pikiert und löste Ivys Strick. Vertrauensvoll folgte mir mein Hengst die Rampe hinunter, auch wenn er durch die Transportgamaschen, mehr wie ein Storch anmutete als einem Pferd. Während ich etwas abseits, darauf wartete, dass auch Samu seinen Hengst auslud, reckte Ivy neugierig die Nase zu Boden und schnupperte an dem Weiß an seinen Hufen. Ich erfreute mich an dem Anblick, wie der helle Hengst nach der ersten Inspizierung die Zunge ausfuhr und begann an dem Schnee zu schlecken. Routiniert ließ auch Lego sich abladen und blickte mit wachen Augen um sich. Gemächlich trudelten einzelnen Schneeflocken vom Himmel und blieben in den Mähnen der Pferde hängen. Auch auf der blauen Fleecedecke, die das langbeinige Warmblut umhüllte, glitzern die Eiskristalle.
      Sanft am Strick zupfend, erlangte ich die Aufmerksamkeit meines Pferdes zurück und schlug den Weg in Richtung Stall ein. Bei Betreten desselben, verkündenden die beiden Hengste ihre Ankunft und bekamen sogleich eine mehrstimmige Antwort. Zielstrebig steuerte ich eine der großen Boxen an, die bereits für Ivy vorbereitet gewesen war, als plötzlich ein kleiner schwarz-weißer Blitz angerannt kam, der beim Versuch zu Bremsen über seine eigenen noch viel zu großen Pfoten purzelte. Interessiert streckte mein Pferd den Kopf dem Welpen entgegen, der mit eingezogenem Schwanz zurückwich. Als wundere sich Ivy über die seltsame Reaktion des Wesens, drückte er sich an meinen Oberkörper. Dabei schien Fred, wie wir ihn bisher nannten, doch mutiger zu sein. Tollpatschig, setzte ein Bein vor das andere. Anstelle weiterer Bekanntschaften mit Ivy zu machen, bemerkte er ein lockeres Band der Decke, schnappte zweimal danach und hatte es schließlich zwischen den kleinen Zähnen. Wie wild geworden zerrte er daran. Irritiert über das herum geziehe, drehte der Rappe die Ohren nach hinten, wagte sich aber auch nicht mehr sich zu bewegen.
      > Saanko esitellä, tämä on Fred meidän löytöpoikamme
      “Darf ich vorstellen, das ist Fred unser Findelkind”, erklärte ich Samu das Auftauchen des Welpens. Der Finne ging in die Hocke und versuchte den Welpen anzulocken, doch die Decke schien um ein vielfaches Spannender. Divine hatte das Interesse an dem kleinen Fellbündel, längst verloren und durchsuchte lieber mich nach weiteren Leckereien. Vermutlich hatte er schon längst gerochen, dass ich heute sogar extra seinen Lieblingssnack bei mir trug, in Form von Pastinakenchips. Das leise Rascheln, welches meine Finger erzeugten, erweckte nicht nur größeres Interesse bei meinem Pferd, sondern auch der Welpe schien interessiert daran, was ich aus meiner Tasche holte. Mit dem ganzen Hinterteil wackelnd blickte er zu mir hoch und stürzte letztlich sogar, die Vorderpfoten an meinem Knie ab und die Schnauze näher an die Quelle der Geräusche zu bringen.
      “Ich glaube ja, nicht, dass du das magst”, sprach ich zu dem Hund, hielt ihm aber dennoch eine der getrockneten Gemüsescheibchen hin. Die dunklen Nasenflügel bebten, bis Fred gierig danach schnappe und sich mit seiner Beute auf die Decke verzog, die ein paar Meter weiter lag. Mein Hengst entgegen, dem es zu lange dauerte, bis er sein Leckerli bekam, strecke mir seine rosafarbene Schnauze ins Gesicht und klappte sanft die Lippen auf und zu. Dieses Verhalten mag zwar äußerst niedlich erscheinen, ist auf Dauer aber ein wenig nervtötend, vor allem, weil Ivy ein Talent dafür besaß, dies in den ungünstigsten Moment zu tun. Sanft schob ich den wuchtigen Kopf beiseite, bevor ich ein Stück des Gemüses zwischen die gierigen Lippen schon. Selbstverständlich bekam Legolas, der die ganze Szene mit aufmerksam gespitzten Ohren beobachte, ebenso ein Leckerli.
      Nachdem nun alle hungrigen Mäuler gestopft waren, konnten wir auch die letzten Meter zu der geräumigen Box beschreiten.
      > Esimerkiksi Lego siinä
      “Wie, Lego auch darein?”, fragte Samu etwas schwer von Begriff als ich ihn deutet seinen Rappen ebenfalls in die Box zu führen, bevor ich dem Freiberger das Halfter auszog.
      > Kyllä, jos katsoisit ympärillesi, huomaat, että kaikki nastat elävät täällä niin. Tällä on myös se etu, että kaksikko voi tottua siihen rauhassa ennen kuin heidät päästetään irti laumasta eivätkä silti ole täysin yksin.
      “Ja”, nickte ich bestätigend, ”wenn du dich hier mal um siehst, würdest du erkennen, dass die Hengste hier alle so wohnen. Außerdem hat das den Vorteil, dass die beiden sich so erst einmal in Ruhe eingewöhnen können, bevor sie auf die Herde losgelassen werden und sind trotzdem nicht ganz allein.” Die Erklärung schien ihm einzuleuchten. Legolas marschierte, kaum war das Halfter runter, direkt nach draußen, um seinen neuen Balkon zu erkunden. Wie nicht anders erwartet, stürzte der Freiberger sich direkt auf den Heuhaufen in der Ecke, bevor er sich mampfend die neue Umgebung ansah. Stundenlang könnte ich hier stehen und Ivy beobachten, doch als Samus Rappe von einer leichten Schneeschicht überzogen, wieder hineintrat, fiel mir ein, dass eine Abschwitzdecke wohl nicht die beste Wahl für freien Paddockgang war. Divine mit seinem dicken Eisbärenpelz würde problemlos ohne Decke auskommen, doch der Hannoveraner, der von Großteilen seines Felles beraubt wurde, würde bei der Kälte noch glatt erfrieren. Seinem Besitzer war offenbar schon der gleiche Gedanke gekommen, denn er verschwand zurück zum Transporter, tauchte allerdings mit leeren Händen wieder auf.
      > Onko teillä jossain vilttiä Legolle? Ilmeisesti unohdin pakata sen.
      “Hättest du zufällig irgendwo eine Decke für Lego? Offenbar habe ich wohl vergessen die einzupacken.” Wow, ein Wunder. Eigentlich war doch Samu der Organisierte von und beiden der doch nie vergaß etwas einzupacken. Natürlich konnte ich nicht widerstehen, als ihn ein wenig damit zu triezen.
      > Oletko tulossa vanhaksi ja unohtelevaksi
      “Wird du etwas langsam alt und vergesslich?”, lachte ich, schlug aber sogleich den Weg zu Sattelkammer ein. In dieser Sammlung von Pferdezubehör würde sich sicher etwas für den Rappen finden lassen.
      > Älä ole niin röyhkeä, nuori nainen
      “Seien sie mal nicht so frech, junge Dame”, sagte er beinahe ernst, nur konnte er das Schmunzel nicht ganz verstecken.
      > En minä
      “Ich doch nicht”, grinste ich ihn an und wich erfolglos seiner Kitzelattacke aus. Dies rief nun auch Fred wieder auf den Plan, der bellend angelaufen kam und mitspielen wollte. Wild sprang der Welpe an uns hoch und wuselte uns durch die Füße, bis Samu ins Straucheln geriet und mich mit sich zu Boden riss. Glücklicherweise hatte er schon immer ein gutes Reaktionsvermögen gehabt, was ihm indessen dabei half den Sturz abzufangen, weshalb ich relativ weich auf seiner muskulösen Brust landete. Begeistert stürzte sich der Hund mit in das Knäuel, zerrte an meinen Zöpfen und kläffte bis er triumphierend auf der Brust des Finnen stand und aussah als hätte er gerade einen Hirsch erlegt.
      “Ich freue mich sehr für euch, dass ihr endlich dazu bereit seid, euch die unbestreitbare Liebe zu gesehen”, ertönte es unverkennbar hinter uns. Die gleichmäßigen kurzen Schritte nacheinander konnten nur von einer Person stammen und die tiefe Stimme dazu – Vriska kam. Von Samus Brust sah ich auf. Breit grinste sie, hielt dabei einen Kaffee in der Hand und wurde von Trymr begleitet, der beim Anblick des kleinen Clowns an Ort und Stelle verweilte.
      “Wisst ihr”, stand sie mittlerweile dicht neben uns, nahm einen kräftigen Schluck aus der schwarzen Tasse und sah nach unten, “ich bin wirklich die Letzte, die euch beide verraten würde, aber ich möchte euch daran erinnern, dass jeder von euch eine Beziehung führt. Also, ich schweige wie ein Grab.” Ich wollte etwas erwiderte, doch einzig ein ziemlich klischeehafter Satz kam mir in den Sinn. Nein, Lina, das würde es nur seltsamer machen.
      „Ähm … Ja“, stammelte ich aus dem Konzept gebracht, „dein Hund … fand uns wohl auf dem Boden hübscher.“ Vollkommen sinnbefreit strich die Falten von Samus Pulli glatt, bevor ich begann mich aufzurappeln. Besagter Kerl äußerte sich nicht zu der Situation, schien sich viel eher über meine Reaktion zu amüsieren.
      „Ihr wisst, dass man jederzeit kostenlos hier heiraten kann? Ich würde euch auch fahren“, fummelte Vriska in der riesigen Tasche der Jogginghose und holte einen klimpernden Schlüsselbund heraus. Triumphierend hielt sie es in der Hand nach oben. Was hatte sie da eigentlich alles daran? Das Ding sah nicht aus, wie ein typischer Bund, nein, da hingen tausende Schlüssel, ein langes Band, diverse Anhänger und ich würde lügen, wenn die beiden Fernbedienung nicht zu einem Auto gehörten.
      „Und was den Hund betrifft“, ging sie schließlich in die Knie, „aktuell gibt es noch kein dein und mein. Es ist der Hund.“ Die vorherige Freunde in der Stimme war wie verraucht. Sie hatte doch entschieden sich erst einmal, um Fred zu kümmern, was konnte sie so schnell umstimmen?
      “Danke, aber ich hatte weder heute noch in näherer Zukunft vor zu heiraten, egal wen”, lehnte ich ihr Angebot dankend ab. So wirklich verstand ich nicht, was immer alle bezüglich Samu und mir wollten. Ich meine ja, wir standen uns sehr nahe, führten auch eine sehr innige Beziehung, aber mit den romantischen Gefühlen, die eher aus einer kindlichen Naivität herrührten, hatte ich schon ziemlich lange abgeschlossen. Mittlerweile hatte auch Samu sich vom Boden erhoben und stand grinsend wie ein Schuljunge neben mir.
      Was den Hund anging, hatte ich auch, ohne dass Vriska etwas dazu sagte, das Gefühl, dass die Besitzverhältnisse nicht wirklich zur Debatte standen.
      “Alles okay, wegen des Hundes? Gestern klangst du noch deutlich erfreuter?”, hakte ich bei Vriska nach, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass es nur eine ihrer Launen war, die Auslöser dafür waren.
      “Ich habe mir erst das da angelacht”, sah sie zu dem fressenden Pony hinüber, das nur noch an den Ohren Fell hatte und eine dicke Decke trug, “da kann ich nicht noch so einen Pflegefall aufnehmen, und außerdem.” Es klang, als würde ihre Stimme versagen. Hörbar atmete sie ein und aus, rückte allerdings nicht weiter mit der Sprache heraus. Stattdessen wurden ihre Augen glasig.
      “Außerdem, was?”, fragte ich einfühlsam, blieb aber beharrlich. In einer ermunternden Geste berührte ich sie behutsam und auch Trymr presste sich an ihre Seite.
      “Macht er meine Beziehung kaputt”, flüsterte in den hohen Kragen der Jacke. Daher rührte der Meinungswechsel also. Samu, der die Emotionalität der Lage zu erfassen schien, zog sich pietätvoll zurück.
      “Magst du genauer erklären, warum du das denkst? Gibt es eine Schwierigkeit mit dem Kleinen oder was ist das Problem? ”, versuchte ich näher zu ergründen, was sie bewegte.
      “Er hat nur noch Augen für Hund, als wäre ich Luft. Das ist das Problem”, seufzte sie, sah kurz zu Samu, der missverstanden das Gesicht verzog, aber sich aus dem Gespräch heraushielt. Stattdessen versuchte er sich den beiden Hengsten zuzuwenden, aber an seiner Kopfhaltung erkannt ich sofort, dass er zuhörte und dabei unauffällig wirken wollte.
      “Das wird sich legen. Das ist wie mit einem neuen Spielzeug, die ersten Tage ist es furchtbar spannend und steht im Mittelpunkt und wenn es dann normal ist, dass es da ist, nimmt alles wieder alltägliche Formen an. Außerdem rede mit deinem Freund, ich bin mir sicher er macht das nicht absichtlich”, versuchte ich sie aufzuheiternd, den kleinen Teufel in meinem Kopf ignorierend, der sich darüber beschwerte, dass sie ihren Freund immerhin täglich zu Gesicht bekam.
      “Spielzeug also?”, kam Schritte näher und her. Erik grinste gutmütig, schüttelte den Kopf und begrüßte zu nächst den kleinen Hund, der sich von Samu löste. Je mehr Menschen dazu kamen, umso mehr Freude strahlte das Tier aus, als gäbe es nichts Besseres als unsere Gesellschaft. In Vriskas Gesicht hingegen färbten sich die schmalen Wangen rot. Sie versuchte alles, um ihren Freund nicht anzublicken, schielte jedoch mit den Augen zu ihm, als triebe eine unsichtbare Kraft sie an. Es war ja klar, dass Erik genau dann auftauchen musste, wenn es um ihn ging.
      “Du weißt schon, dass du nicht darum herumkommen wirst ihn heute irgendwann wieder anzusehen?”, flüsterte ich Vriska leise zu, “Alles okay oder sollen wir woanders hingehen?” Im Hintergrund tauchte nun auch wieder Ivys Kopf aus dem Heu auf. Entweder er spürte Vriskas Unsicherheit oder er wollte sich noch ein Leckerli oder wenigstens eine Streicheinheit zu erbitten, wenn schon so viele Menschen auf der Stallgasse herumstanden.
      “Du kannst mit in den Wald kommen, wenn du Lust hast”, schmunzelte sie dann, “wollte mal schauen, was Maxou vom Handpferd Dasein hält.” Der verschneite Wald lud geradezu dazu einen winterlichen Ausritt zu unternehmen, aber dann waren da auch noch Ivy und Samu, die ich Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Hin- und hergerissen, betrachtete ich meinen Hengst, der in seiner drolligen Art die beiden Männer belästigte.
      “Das klingt gut, aber Samu ist extra hergekommen”, versuchte ich ihr meine Misere zu erklären, “Ich kann ihm doch dann jetzt nicht einfach so weglaufen?”
      Langsam senkte sie ihren Kopf, warf mir von unten einen direkten Blick die Augen. Dann begann sie wild zu gestikulieren, was die Pony Stute auch aus der Reserve lockte. Neugierig spitzte sie die Ohren, brummte leise, als Erik sich zu ihr bewegte. Natürlich, wie konnte ich das nur übersehen haben, hier waren tausende Pferde.
      “Wir drücken ihm ein Pferd in die Hand und los gehts, warum solltest du weglaufen?”, kramte sie nach dem Handy und schaute vermutlich nach, welche Tiere für den Tag noch zur Verfügung standen.
      Mit der flachen Hand schlug ich mir gegen die Stirn: “Stimmt ja, wir haben ja ausreichend Pferde.” Divine forderte Samu, der zwischenzeitlich aufgehört hatte ihn zu kraulen, stupsend auf damit fortzufahren.
      “Während du da noch schaust, gehe ich Lego mal endlich eine vernünftige Decke holen”, schloss ich an, denn die Flocken, die er mit hineingebracht hatte, waren mittlerweile geschmolzen und hinterließen dunkle Flecken auf dem Stoff. In der Sattelkammer fand ich zwischen den hunderten von Decken, tatsächlich recht schnell ein Modell, welches dem Rappen passen sollte.
      “Da, bitte schön”, drückte ich Samu die gefütterte Decke in die Hand. Leise brummelte Ivy und drückte mir etwas unsanft seinen Kopf gegen die Brust. Sanft strich ich über sein weiches Fell, während Samu seinem Hengst die Abschwitzdecke vom Rücken zog. Darunter kam ein Pferd zum Vorschein, welches ziemlich kahlgeschoren war, einzig in der Sattellage, an den Beinen und am Kopf stand noch etwas von dem plüschigen Winterfell. Gut, dass ich intuitiv zu der dickeren Decke gegriffen hatte.
      “Und welches von den hübschen Tieren hier darf ich gleich mitnehmen?”, fragte der Finne und warf mit einer schwungvollen Bewegung die Decke über den Rücken des Hannoveraners, wobei leise die Verschlüsse aneinander klimperten.
      “Das ist eine ziemlich gute Frage”, entgegnete ich, blickte kurz auf die Stall Gasse, doch Vriska war bereits verschwunden, um ein Pferd zu holen. Somit zog auch ich das Smartphone aus der Jackentasche, um selbst einen Blick in das System zu werfen. Interessiert scrollte ich durch die Pferde, die heute noch bewegt werden mussten und entdeckte dabei auch gleich einen Kandidaten, der mir sehr zusagte.
      “Also ich werde Sturmi nehmen”, verkündete ich schließlich entschlossen, “Möchtest du lieber etwas Ruhiges oder etwas mit ein wenig mehr Temperament?”
      “Es darf gerne etwas Charakterstarkes sein”, antworte Samu und strich dem lackschwarzen Hengst über den Hals, der mit eisblauen Augen neugierig seine Bewegungen beobachtete.
      “Gut, dann ständen Flyma und Alfi zur Verfügung. Letzterer ist recht spritzig und Flyma ein Überraschungspaket, sie ist meisten brav, kann aber auch ziemlich eklig werden”, stellte ich ihm die Auswahl vor. Daraufhin entschied er sich für den Hengst.
      “Na dann holen wir die beiden mal”, entgegnete ich dem Blonden fröhlich gestimmt.
      “Und zu dir komme ich später noch einmal, mein Hübscher”, raunte ich Ivy in die plüschigen, kleinen Ohren und steckte noch einen Snack in die beiden rosafarbenen Schnauzen, die sich mir entgegenstreckten.
      Auf dem Weg nach draußen, um die beiden Tiere zu holen, verfasste ich noch schnell eine Instagram Story mit einem Bild, welches ich beim Ausladen aufgenommen hatte, um zu verkünden, dass der weiße Hengst nun endlich Zuhause angekommen sei. Jedes Mal wieder, wenn ich einen Post über meinen Hengst verfasste, erstaunte es mich wie viele Leute scheinbar Interesse an einem einzigen Pferde zeigten. Okay, während die Challenges des Horse Makeover noch lief, konnte ich das Interesse insofern nachvollziehen, als man die Kandidaten verfolgen wollte, um einen Überblick über die Fortschritte zu erhalten. Vielleicht diente es auch dazu bereits erste Voraussagen zu treffen, wer das Makeover gewinnen könnte oder ob es sich Lohen würde bei der geplanten Auktion am Ende des Events vorbeizuschauen. Aber was jetzt noch an Divines Training interessant sein sollte, leuchtet mir nicht wirklich ein. Bisher erkannte ich kein außergewöhnliches Potenzial bei dem Tier, genauso wenig gab es ein festes Ziel, worauf ich hinarbeite, davon abgesehen, dass Ivys Gesundheit immer im Vordergrund stand. Genau so wenig gab es Turniererfolge zu bewundern und Methoden und Trainingskonzept folgte eher Intuition als festgeschrieben Regel und Philosophien. Dennoch schien es etwas zu geben, was die Menschen anzog, denn entgegen meinen Erwartungen, stiegen die Followerzahlen weiterhin an. Ein Gedanke, so flüchtig wie Reh, welches im gleißenden Scheinwerferschein die Straße kreuzte, schoss mir durch den Kopf und suggerierte mir ein Gefühl, dass Ivy zu mehr bestimmt war, als ein Hund in einem Pferdekörper zu sein. Nur wie und was genau das sein sollte, eröffnete mir dieser Gedanke nicht.
      “Welcher von den Hübschen ist denn meiner?”, fragte Samu und holte mich damit zurück in die Realität und den bevorstehenden Ausritt. Das Handy, welches die Zeit über in meiner Hand geruht hatte, ließ ich wieder meine Tasche zurückgleiten.
      “Der große Schimmel da”, antworte ich ihm und deutete auf Alfi, der am Heu stand. Wenig später kehrten wir, jeder mit einem Hengst am Halfter zurück in den Stall. Vriska war mittlerweile auch wieder aufgetaucht und stand bereits mit Schneesturm, der Mutter des jungen Hengstes, der mir folgte, am Putzplatz. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass die Wahl mit zwei Hengsten vielleicht nicht die aller klügste Entscheidung war, zumal bei Maxou keiner wusste, wie sie reagieren würde.

      Kalmar

      Niklas
      Bino scheute bereits nach wenigen Metern vor der Autobahnbrücke und wollte keinen einzigen weiteren Schritt in diese laute und angsteinflößende Richtung setzen. Unruhig schlug sein Schweif von oben nach unten. Die Ohren lagen eng am Genick und einige Male drohte er mir mit Bissen. Auch, wenn er mich dabei nicht traf, wirkte es nicht nach einer vielversprechenden Idee, ihn noch mehr Stress auszusetzen. Wir ließen die stark befahrende Straße hinter uns und sofort stellten sich Binos Ohren wieder auf. Ruhig schnaubte er ab, noch bevor ich beschloss den Strick lockerer zu lassen, drehte er den Kopf panisch von links nach rechts. Am Gestüt wurde die Geräuschkulisse wieder vordergründig. Neben uns, wenn auch auf sicherer Entfernung, versuchte ein Mitarbeiter den Traktor zu starten, während zwei Pferde auf dem großen Paddock quietschend miteinander spielten. Von vorne kam eine Gruppen Reiter entgegen, unterhielten sich und die Tieren klapperten mit den Eisen auf dem Stein. Das alles sorgte dazu, dass Bino erneut mit dem Schweif schlug und die Hufe vom Boden erhob. Laut schnaufte er.
      “Na, hast du ihn nicht im Griff”, feixte Phina auf ihrem edlen Ross. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein schelmisches Grinsen, dass sie sich für meinen Geschmack auch hätte verkneifen können. Stattdessen schwieg ich und sprach ruhig auf den Hengst ein, der noch immer am Strick hampelte. Erst als Truppe hinter uns verschwand, die Gespräche in den Hintergrund rückten, kam Bino zur Ruhe. Sanft strich über den Hals, der mit ungleichmäßig verschwitzten Flecken bedeckt war. Ich konnte mir vorstellen, wie so ein Muster entstehen konnte, wollte mir aber in den kommenden Tage noch ein vollständiges Bild des Hengstes machen. Bewegung war wichtig, deswegen entschied ich, ihn noch für eine gewisse Zeit in die Führanlage zu stellen.
      Überraschenderweise lief bereits ein Pferd darin, eins, das ich zuvor noch nicht am Hof gesehen hatte. Der Rappe trug eine rosafarbene Decke, die rundum am Hals mit Lammfell geschmückt war. Aufmerksam spitzte Bino die Ohre, als er das andere Pferd erblickte und brummte leise. Sein Kopf wippte leicht mit klimperndem Strick am Halfter.
      „Niklas, oder?“, fragte die dunkelhaarige Frau, die gespannt ihren Rappen beobachtete.
      „Ja, und mit wem spreche ich?“, versuchte ich meine Unwissenheit zu befriedigen. Doch sie sah keine Notwendigkeit dafür, stattdessen drehte sich um und blickte mich selbstsicher an. Auf ihren runden Lippen lag ein verschmitztes Lächeln und ihre Augen strahlten wie tausend Sonnen, aber aus welchem Grund? Ebenso beachtlich war ihr Körper. Es gab keinen sinnigen Vergleich für eine Schöpfung der Natur. Passend dazu hatte sie eine wunderschöne lackschwarze Stute, gezeichnet mit einer breiten regelmäßigen Blesse, die sich in Augenhöhe verjüngte und eine Art Stern auf der Stirn bildete.
      Nicht nur ich hatte ein äußerst anregendes Erlebnis mit der neuen Bekanntschaft, sondern auch Bino. Neugierig streckte er sein Hals der Dame entgegen, die sich noch immer nicht vorstellen wollte, aber fröhlich von ihrem Pferd erzählte, das wohl Dixie hieß. Sie war am Abend angekommen nach einer langen Reise aus Frankreich. Was die beiden von so weit weg nach Schweden trieb, konnte ich in der kurzen Unterhaltung nicht erfahren. Freundlich bot sie an Bino zurück in den Stall zu bringen, wenn die Einheit vorbei war.
      Erst die Vibration meines Handys erinnerte mich daran, was ich tun wollte und die Nachricht, dass ich eine Beziehung führte. Lina schickte mir ein Foto von Divine, der offenbar auf dem Hof angekommen war. Für einen Moment sah ich den weißen Hengst auf der verschneiten Weide an, sendete ein Herz und schloss den Chat wieder. Von der Dame verabschiedete ich mich und wie von selbst bewegten sich meine Beine auf dem festen Weg entlang zur Brücke, um dahinter in den endlosen Wald zu gelangen. Dabei fummelte ich aus der engen Hosentasche den kleinen Kasten der Kopfhörer heraus und steckte sie mir nacheinander in die Ohren. Noch während ich durch die Musikbibliothek scrollte und unentschlossen einen Titel nach dem anderen auswählte, um ihn zu überspringen, vibrierte es erneut. Ich klickte auf den Banner und gelangte wieder in den Chat. Lina hatte eine Sprachnachricht gesendet. Neugierig tippte ich darauf und wurde zunächst von der lauten aber fröhlichen Stimme erschreckt. Sie schwärmte davon, ihren Hengst endlich wiederzusehen und wünschte sich, dass nach dem Stall zu ihr käme. So wirklich überzeugt war ich von dem spontanen Entschluss nicht, aber sah darüber hinweg, schließlich hatte sie ihr Pferd ewig nicht gesehen. Ich verstand, dass sie den Moment mit mir teilen wollte. Also stimmte ich zu, aber wusste nicht genau, wann ich da sein würde. Seufzend schloss ich den Chat wieder. In der Bibliothek dauerte es noch viele Meter, bis ich mich für die Sport-Playlist entschloss und mein Handy auf stumm stellte. Es verschwand in der Innentasche der Jacke.
      Erst im Wald war ich mit mir allein. Der Weg erstrahlte in einer weißen Decke aus Schnee und im Unterholz hatte sie die Natur bedeckt. Nur einige Hufabdrücke zeichneten sich in der Oberfläche, die ansonsten unberührt um mich herum lag. Jeder Schritt wurde sanft abgefedert und Schnee knarrte spürbar unter den dünnen Sportschuhen. Egal, wie das Wetter war, Schweden konnte mir immer das Wasser reichen. So ließ ich mich treiben durch die Winterwelt, durchdachte all die nervenaufreibenden Situationen der letzten Tage als wäre ich ein Außenstehender in meinem Leben. Wie würde es mit Smoothie weitergehen? So könnte mein Pferd an einer experimentellen Studie teilnehmen, die eine OP des Knorpels beinhaltet und einer medikamentösen Therapie. Die Ergebnisse waren bisher vielversprechend. Also bestände doch die Möglichkeit, mit ihr die Qualifikation zu bekommen? Und was war mit Form? Sollte die Rappstute mit den leuchtenden blauen Augen bei mir bleiben, in der Dressur gefördert werden und mein aktueller Wegbereiter sein? Zu guter Letzt war da noch Bino, den ich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer einschätzen konnte. Der Hengst war panisch und verspannt, vielleicht hatte er sogar Schmerzen. Ein Tierarzt musste kommen.
      Mit nassen Füßen kehrte ich zurück zum Hof. Es war leerer geworden, nur noch vereinzelt trieben sich Leute an den Ställen auf. In der Umkleide traf ich auf Eskil, der sich, wie der Name schon sagte, umzog.
      > Jag tror att du är på fel ställe.
      „Ich denke, dass du hier falsch bist“, merkte ich abfällig an und zog das verschwitzte Shirt aus, das sogleich im Schrank landete. Er schwieg, aber schielte mit flüchtenden Blicken zu mir, die sekündlich länger wurden, bis ich sie wie Feuer auf meiner Haut brannten, folgend bei jeder Bewegung meines Körpers. Ich fühlte mich wie ein Tier im Zoo, wenn auch die Gitter fehlten, um uns räumlich voneinander zu trennen. Etwas schrie in mir, als wolle es aus der unangenehmen Situation entfliehen, in der wir oberkörperfrei nebeneinanderstanden. Nicht, dass es mir angenehm war, mich mit oder vor anderen auszuziehen, viel mehr war es er als Person, der ein undefiniertes Gefühl auslöste. Peinlich berührt schluckte ich und formte meine lockeren Gesichtszüge wieder in eine gerunzelte Stirn, mit dem Blick in meinen Schrank. Noch bevor die Unannehmlichkeit von mir fiel, spürte ich eine warme und ziemliche weiche Hand auf meine Schulter, klein war sie. Allerdings groß genug, dass ich mich in Sicherheit geborgen fühlte, als wäre es nicht jene, die ich zu verabscheuen vermag.
      > Jag tror inte att.
      “Ich denke nicht”, flüsterte er mir von der Seite ins Ohr. Erneut lief es mir kalt den Rücken herunter, doch anstelle mich endlich selbst davon zu befreien, schwieg nun ich, verkroch mich gedanklich in meinem Kopf. Es war unglaublich still geworden, nur mein Herz schlug wie wild in der Brust. Ich versuchte alle Zeichen meines Körpers zu verstehen, besser auf meine Gefühle zu konzentrieren – Wo waren sie? Kein Hass, kein Ekel und auch keine Abneigung lauerten wie gefräßiges Tier auf mein Opfer, stattdessen genoss ich die Berührungen, wünschte mir für einen kurzen Augenblick, dass sie niemals enden würde. Als hätte Eskil meine Gedanken lesen können, fuhr er langsam an meiner rasierten Brust entlang. Ich spürte jede kleinste Bewegung, wie seine Finger zuckten und meine Haut eine winzige Gänsehaut bildete. Dabei schloss ich langsam die Augen und legte leicht den Kopf in den Nacken, wollte diese zarten Berührungen. Es war mir egal, was er darstellte für mich. Erst jetzt gelang es mir den Kopf freizubekommen. All der Stress der letzten Tage fiel von mir ab und keine Dusche der Welt konnte mir diese Befriedigung geben. Mit einem sanften Druck zog er sich näher an mich heran. Seinen Atem spürte ich immer deutlicher an kühlen Haut am Hals, bis sich schließlich ein feuchtes Gefühl daran ausbreitete, zusammen mit einem Paar Lippen, das langsam zu meinem Kiefer wanderte. Was passierte hier? Gute Frage, kurz erinnerte ich mich, was ich überhaupt in der Umkleide wollte, doch das Kribbeln, das sich vom Hals aus in meinem Körper ausbreitete, holte mich in die Realität zurück. Stoßhaft atmete ich ein und wieder aus, versuchte mich ruhig zu verhalten und keine Aufmerksamkeit zu erregen.
      Kurz öffneten sich meine Augen, schweiften von der linken zur rechten Seite, doch wir standen in der zweiten Reihe der Schränke vor den Duschen und selbst, wenn jemand durch die Tür kommen würde, müsste dieser erst um die vorderste laufen. Damit versank ich wieder, gehalten von seinen kräftigen Armen, in der kleinen Trance. Es fühlte sich nicht real an, als wäre es ein Traum, der mich daran erinnern sollte, das Leben weniger ernst zu nehmen und mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, aber jede dieser Berührungen war echt. Das Kribbeln verwandelte sich in ein leichtes Ziehen im Bauch und wechselte zu einem undankbaren Engegefühl in der Hose, was nur für kurze Dauer unbemerkt blieb. Die Lippen an meinem Hals lösten sich, aber ich wollte mehr. Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte ich mich um zu ihm. In seinen grauen Augen funkelte die Erregung und im Gesicht breitete sich ein verschmitztes Lächeln aus, das nicht viel mehr sagte als “Wir wussten es beide”. Kurz seufzte ich, aber konnte nicht anders, als mich meiner Lust hinzugeben, mich an ihn zu drücken und auch seine zu verspüren.
      Viele Minuten vergingen, ehe wir mit langem Abstand die Umkleide verließen. Ich hatte mich schließlich doch noch dazu entschieden, unter der Dusche zu verschwinden, nicht nur, den Schweiß von der ausgiebigen Runde abzuwaschen. So klebte sein Geruch überall an mir, krallte sich fest wie eine wütende Katze. Es war befreiend, also nicht nur das Wasser auf meinem Körper, sondern diesen bedauerlichen Druck los zu sein, die Alltagswut, die ich jeden Tag mit mir herumschleppte und nicht mehr in das Gefühl der Losgelassenheit zu kommen. Also, wie sollte ich mit so viel zerstörerischer Energie von einem meiner Pferde verlangen, dieses Gefühl zu erreichen? Ich war frei, lächelte wieder und konnte trotz des beschämenden Gedankens im Kopf, meiner Freundin in alter Frische, wie sie mich kennengelernt hatte, begegnen. Den Wasserhahn schaltete ich aus, stieg aus dem Feuchtgebiet und trocknete mich ab.
      > Vad hände med Eskil?
      “Was ist denn mit Eskil passiert?”, fragte Chris, der überraschend an seinem Spind stand und seine Wertsachen verstaute.
      > Vi kunde lösa våra problem.
      “Wir konnten unsere Probleme klären”, antwortete ich wahrheitsgemäß und trocknete mich vollständig ab. Er nickte nur zufriedenstellend. Man sollte erwähnen, dass er nicht zu den Menschen gehörte, die intensiv Dinge hinterfragte, oder mehr wissen wollte, als nötig war. Die Tatsache stand im Vordergrund und diese bestand daraus, dass der Stress zwischen uns, erst einmal, geklärt war.
      > Kommer du till skogen?
      “Kommst du mit in den Wald”, drehte er sich von dem Schrank weg, das verneinte ich nur und dann verschwand er. Beim Anziehen stellte ich im Spiegel fest, dass sich ein minimaler Fleck an meinem Hals befand, Mist. Wäre es Chris aufgefallen, hätte ich ihm eine Erklärung geschuldet, somit musste ich nur hoffen, dass auch Lina nachher nicht auffallen würde. Mit der frischen Energie zog ich mich an und verließ die Hütte, um die Rappstute aus der Box zu holen.
      Aber wie den kleinen Dämonen auf meiner Schulter, trieb sich eine Frage in meinem Kopf, wie konnte es dazu kommen? Vielleicht spulen wir dafür nicht nur einige Monate zurück, sondern einige Jahre. Joana hatte die Beziehung nach über zehn Jahren beendet, mein Traum einer Frau, nach dem sie mich durch meine ganze Karriere auf den Turnieren Tag ein und Tag aus begleitet hatte. Ich wusste nicht, ob es ein für immer sein würde und noch fast ein Jahr kämpfte ich dafür, sie wiederzubekommen. Sie wusste von dem dunklen Schatten, der mich umgab, verurteilte mich nicht, sondern gab alles dafür, dass ich mich wohlfühlte. Ein Gefühl, das ich an dem Tag der Trennung verlor – Geborgenheit. Der Schmerz saß tief und der bloße Gedanke daran, trieb mir die Tränen in die Augen. Hatte ich seitdem darüber nachgedacht, das ganze Thema über den Haufen zu werfen? Ja, ständig, doch ich hatte auch Angst, wie viele andere Menschen. Ich versuchte mich aus, aber über den eigenen Schatten zu springen, konnte ich bei meiner Sexualität nur selten. Also begnügte ich mich mit dem, was sich in meinen Weg warf. Aus dem Schmerz wurde Wut, die bereits erwähnte Alltagswut, wie ich sie gerne nannte. Chris und Ju wussten davon, auch, wie ich sie wieder loswurde, meistens durch Abenteuer jegliche Art, so gehörte auch Kanada dazu, sowie Lina und vor allem Vriska. Doch, ich war es leid. So schmerzte die Erinnerung daran, alles tauchte mich in ein tiefes Loch. Was hatte ich nur getan?
      Doch weiter im Text, spulen wir wieder ins jetzt, oder besser gesagt zum Turnier in Stockholm. Ich wusste bereits einige Tage vorher, dass wir jemanden Neues ins Team bekommen werden, aber lernte ihn, wie alle anderen, erst bei der Feier kennen. Dass Eskil sich mit allen gut verstand, löste die irrationale Angst aus, von meinem Posten vertrieben zu werden, nicht mehr relevant zu sein. Und auch, meine Freundin wieder zu verlieren, an jemanden, der mehr zu bieten hatte als ich. Ein Grund dafür, dass ich meine Wut an dem Tag im Alkohol versuchte zu ertränkten und Lina gab, was jeder von mir verlangte – Das Gefühl von Zusammengehörigkeit, Liebe und Vertrauen. Auch, wenn ich damit vermutlich einiges fehlinterpretierte. Damit begann es, dass ich nach dem Wochenende mich ins Büro setzte und versuchte, alles über ihn zu erfahren, was man im Staatsdienst finden konnte und sogar Erik mit ins Boot holte. Er fand Eskils dunklen Schatten, eine Informationen, die mich antrieb, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Am Hof bekamen es anfangs alle zu spüren, wie ich versuchte auf ekelhafteste Weise ihn zu verscheuchen, ihn aus meinem Gebiet zu verdrängen. Aber es half nichts, er nahm zwar Abstand, doch blieb. Damit stieg mein Interesse, die Lust auf das Boot zu steigen und ein neues Abenteuer auf unbekannten Gewässern zu starten. Und was soll ich sagen? Es fühlte sich gut an, die Reise dorthin war es zwar nicht wert gewesen, so hätte ich freundlicher sein können.
      Liebenswürdig stupste mich die weiche Pferdenase im Gesicht an, erinnerte mich daran, dass ich noch immer am Hof war und in der Box meiner Rappstute stand. Dicht drängte sie sich an mich heran und untersuchte genau, warum ich so sehr strahlte. Meine Hand fuhr über den Stern auf ihrer breiten Stirn entlang, bis zu den Nüstern, die vorsichtig an mir rochen. Dann nahm ich das Halfter vom Haken an der Tür ab, schloss es an der Seite und führte sie hinaus. Lange putzte ich sie, versuchte mich gedanklich an ihr zu halten und mich nicht erneut in Gedanken zu verlieren. Ich konnte mich aber nur schwer von meinem Lächeln trennen, das noch immer auf meinen Lippen lag und scheinbar auf der schwarzen Haut von Form glänzte.
      Unentschlossen betrachtete ich meine kleine Sammlung der Schabracken, die ich, im Gegensatz zu manch anderer hier in der Kammer, an der Hand abzählen konnte. Heute war meine Farbe Senfgelb, ganz klar. Ich nahm sie vom Bügel und griff dazu auch die passenden Bandagen und Glocken, als hätte es eine Bewandtnis, vollkommen durchgestylt in der Halle zu reiten. Es war für mein Selbstgefühl, mehr nicht. Für gewöhnlich würde ich keine Zuschauer haben, doch dass sich das bereits nach dem Warmreiten änderte, wusste ich noch nicht.
      > Vad gör du här?
      “Was machst du denn hier?”, fragte ich überwältigt und bremste meine Stute an der Bande ab. Mich blickte ein vertrautes Paar Augen an. Nur noch selten bekam ich es bei Tageslicht zu sehen und vor allem nicht unter solchen Umständen. Das Grinsen in meinem Gesicht wurde breiter und herzlicher. Einige Tränen kullerten über meine Wange und ich wollte nichts lieber als eine Umarmung.

      Lindö Dalen Stuteri

      Vriska
      Ausreiten – super Idee, ärgerte ich mich beim Aufsitzen in den braunen Sattel der Schimmelstute. Wieder einmal sprach ich den allerersten Gedanken aus, der mir in den Sinn kam, um mich aus einer unangenehmen Situation zu befreien. Dass Erik mir half, mit Maxou, hatte ich nicht überdenken können. Seufzend wendete ich den Blick vom Tor, vor dem Lina und Samu bereits auf den beiden Hengsten saßen und auf mich warteten, hinter mich. Unruhig trampelte die, beinah cremefarbene, Stute, setzte nur kläglich einen Huf vor den anderen. Sie bevorzugte den Weg nach hinten, anstelle sich der äußerst ausgeglichenen Schnee zu nähren, die aufmerksam mit den Ohren zuckte. Ich war erstaunt, wie behutsam mein Freund, der, ich unterstreiche das gern, wenig mit Pferden zu tun hatte, das Tier führte und ihr Zeit gab, um die Situation zu überblicken. Als Naturtalent konnte man das nicht bezeichnen, viel mehr kam ihm die eigene Besonnenheit zugute.
      Nach endlosen Anfragen, ob das Pony sich nicht doch lieber nach vorn laufen wollte, gelang es Erik sie zu mir zu führen. Interessiert schnupperten sie aneinander, bis Maxou auf quietschte und die Ohren anlegte. Umgehend hielt Schnee den Zwerg nicht für mehr relevant, schüttelte den Kopf und schnaubte ab. Auch sie drehte den Hals von links nach rechts, dabei klammerte die Kette am Halfter, die ich vorher durch das Nasenstück gebunden hatte. Der Tierarzt hatte mir dazu geraten für den Anfang kein Gebiss in ihr Maul zu machen, was ich angesichts der makabren Situation um ihre Gesundheit auch befolgte, obwohl ich es bevorzugt hätte, ihr eine Stange einzulegen. Eine Wahl hatte ich nicht, hoffte darauf, dass ich genügend Erfahrung hatte. Für mich war es die dritte oder vierte Runde mit Handpferd, also weit entfernt von genügend Erfahrung.
      „Bist du noch da, wenn wir wieder kommen?“, versuchte ich den Frieden zwischen Erik und mir zu bewahren.
      „Wer weiß, vielleicht brenne ich auch mit deinem neuen Gefährten durch“, sprach Erik verbissen, aber grinste zu sehr, um eine ernsthafte Antwort zu geben. Langsam nickte ich einmal.
      „Na gut, aber dann möchte ich, dass du weißt, dass ich froh bin, dich zu haben“, stammelte ich peinlich berührt und fummelte mit der Hand in Schnees kurzer Mähne herum.
      „Sei dir da mal nicht so sicher, Madame, außerdem – kann ich dafür nichts“, begann er eine unnötige Diskussion, in der er mir versuchte weiß zu machen, welche Faktoren dafür sorgten, dass wir einander trafen. Genervt rollte ich mit den Augen.
      „Nimm das Kompliment einfach an, davon wirst du nicht viele hören“, prustete ich eingeschnappt. Aber ihm böse sein, funktionierte nicht. Aufgesetzt schob er die Unterlippe vor die obere und schielte mit einem Hundeblick hoch zu mir. Auch, dass er sanft über meinen Oberschenkel strich, halft nicht. Stattdessen drückte ich meine Lippen auf seine, verspürte umgehend wieder das verräterische Ziehen in meinem Unterleib, das sich von dem Kribbeln im Magenbereich nach unten verlagerte. Noch bevor ich ihm das Glück meinerseits zum Teil werden lassen konnte, verließ das warme Gefühle meinen Mund und eine lockere Strähne seines verwüsteten Haars kitzelte meine Nase.
      „Aber ich werde mit dem Kleinen zum Tierarzt fahren“, sagte Erik dann, ohne von meinem Bein abzulassen. Stillschweigend nahm ich die Tatsache wahr, nickte kurz und setzte die Pferde in Bewegung. Samu hatte bereits einige Male in die Gasse geschaut und mir ein Handzeichen gegeben, dass ihre Pferde langsam ungeduldig wurden. Obwohl das Rolltor hoch und breit genug war, um mit zwei Pferden nebeneinander hindurchzureiten, drückte mich der Schimmel gegen die Seite und mein Knie schob sich unsanft am Holz entlang. Auch meine Schulter stieß schmerzhaft dagegen, aber dieses Gefühl konnte ich nicht auskosten, stattdessen stoppte Maxou immer wieder. Mit einem Zupfen an der Kette versuchte ich das sture Pony vorwärtszubekommen, doch sie streckte sich nur, verlagerte dabei das Gewicht immer weiter nach vorn. Vermutlich würden nur Millimeter fehlen und ein Windstoß, dass sie umkippte. Ein Luftzug kam nicht, stattdessen tippte Erik der Stute auf den Po, die erschrocken sich wieder bewegte. Sanft legte ich meine Beine an die Seite von Schnee, um sie in den Schritt zu setzen.
      “Na, ich bin ja mal gespannt, wie weit wir kommen werden”, hörte ich Lina zu Samu sagen, bevor sie an mich gewandt, hinzufügte: “Kann man dir helfen, oder kommst du klar mit deinem Pony?”
      “Geht schon”, antwortete ich abwesend und zupfte erneut am Strick. Nebenbei versuchte ich mehr oder weniger alle Schnüre in meiner Hand zu sortieren, bis ich entschloss, einhändig zu reiten. Schnee ließ sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen und folgte den beiden Hengsten, die vorausliefen. Maxou gab mir keinen Moment die verschneite Landschaft zu betrachten, umso stärker zog sie an dem Strick und versuchte sich hinter der Schimmelstute einzuordnen. Auch sie war nicht so ganz überzeugt davon, vermittelte der Begleiterin, mit einigen Schweifschlägen, Abstand zu halten. Allerhand hatte ich zu tun, die beiden in eine wegweisende Richtung zu lenken, dass ich gar nicht mitbekam, dass Lina und Samu plötzlich verschwanden. Die Spuren im Schnee halfen mit ebenfalls nicht, denn offensichtlich hatten auch schon Einsteller eine große Runde durch die Natur gedreht und sogar Rillen eines Sulkys zeichneten den Weg. Hilfesuchend versuchte ich auf Schneesturm zu vertrauen, die zu meiner Enttäuschung auch die anderen nicht mehr sah. Fröhlich wackelten die Ohren meiner beiden Pferde in den gesetzten Schritten durch die Schnee, der zunehmend mehr wurde. Den Weg hatten wir eindeutig verlassen, aber – Maxou kam aus sich heraus. Die kleine Palme auf ihrem Kopf, die Erik ihr aus unerklärlichen Gründen hinter dem Halfter gesetzt hatte und mich an die Achtzigerjahre erinnerte, wippte beinah aufmerksam. Ihr schmaler Hals wirkte leider noch schmaler, je mehr sie ihn von oben nach unten bewegte. Auch wenn Schnee nicht so viel mehr zu bieten hatte, zeigte sich eine klare Oberlinie am Mähnenkamm durch das intensive und vielseitige Training.
      “Prima”, lobte ich Maxou, die ohne stehenzubleiben über einen umgefallenen Baum gestiegen war. Misstrauisch zog sie den Kopf nach oben, wodurch das weiß in ihren Augen hervorkam, aber als sie das Leckerli in meiner Hand sah, öffnete sich die Fressenslucke. Ich traf nicht direkt ihr aufgesperrtes Maul, doch wie ein gefräßiger Hund, schnappte sie den Brick und zerknirschte diesen zwischen den Zähnen. Neugierig spitze auch die Schimmelstute Ohren, sah von der rechten Beinseite zu mir und bekam selbstverständlich auch ein Happen. Sie kauten beide genüsslich, bis sich die Antennen unruhig drehten und zuckten. Aus der Ferne ertönte Hufschlag, der immer lauter wurde. Zwischen dem Unterholz vor uns tauchte Samu auf dem hellen Hengst an, der eine schöne helle Musterung im Fell trug.
      “Hier seid ihr, Lina ist fast verrückt geworden, als ihr plötzlich verschwunden wart”, hauchte er außer Atem. Ich grinste und zuckte mit den Schultern. Bisher hatte ich es auch gut allein überstanden, dennoch folgte ich ihm, weiterhin im Schritt. Ich wusste nicht genau, ob Maxou sich in der Lage dafür fühlte und mit der Decke auf dem Rücken stellte ich es mir auch sehr unbequem vor. Deswegen ritten wir Samu mit Alfi nach und blickten wenig später in Linas erleichtertes Gesicht.
      “Zum Glück bist du wieder da, ich dachte schon es sei was passiert, ohne dass wir es gemerkt hätten”, atmete sie auf, “Ich hätte deinem Freund nur ungern erklärt, die samt Pony verloren zu haben.”
      “Ich wollte euch nur ungern nachrufen, vor allem, wenn ich anhand eurer Worte nicht einmal die Stimmung heraushören konnte”, zuckte ich erneut mit meinen Schultern. Irgendein Problem gab es schon wieder bei mir, eins, dass ich mir nicht genauer erklären konnte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass mir im Unterholz klar wurde, dass Niklas morgen mit mir reden wollte und mit hoher Wahrscheinlichkeit keiner davon wusste. Aber was soll es, ich brauchte ihn nicht mehr, zumindest redete ich mir das jeden Tag ein, wie ein Mantra.
      “Meinst du etwa, ich gehe aus reiner Höflichkeit mit dir ausreiten?”, hinterfragte sie, als verstünde sie nicht, woher mein Gedanke kommen sollte.
      “Offenbar –”, ich wollte gerade zu einer kräftigen Ansage ansetzen, verschluckte doch schon nach dem ersten Wort die restlichen. Maxou zuckte neben mir die Ohren zurück, ja, tut mir leid. Mein Ton war nicht nur unangebracht, sondern auch deutlich zu laut. Kräftig holte ich einen kalten Atemzug durch die Nase und sprach weiter: “Weiß nicht, aber ich verstehe, dass du Samu ewig nicht gesehen hast. Allerdings, um bei euren Gesprächen mitzumischen, scheitert an der Sprache. Ich bin schließlich nicht Erik.” Zum Ende wurde ich leiser, sogar stockend. An meiner Brust vibrierte es, dafür, dass ich versuchte immer zu sagen, dass mir mein Handy nicht wichtig war, vergaß ich in letzter Zeit viel zu oft, es am Stall zu lassen.
      “Oh, das tut mir leid”, entgegnete Lina bestürzt, “Ich vergesse manchmal, dass ich die Sprache wechsle. Warum hast du denn nicht eher was gesagt?” Samu machte derweil den Anschein als wäre sein Gehirn gerade heruntergefahren, denn er strich abwesend durch Alfis kurze Mähne. Meins versuchte sich ebenfalls daran, doch scheiterte schon allein der Vibration wegen, die beinah unaufhörlich meine Brust angriff. Ich schielte zur Jackentasche, aber versuchte mich der Sucht zu widersetzen.
      “Weil du mich schon die ganze Nacht ertragen musst?”, lachte ich und überlegte, ob es vielleicht ganz lustig wäre, am heutigen Abend auf Ivy anzustoßen. Selbstverständlich suchte ich nicht die Flucht in den Alkohol, um immer weiter meine Gedanken und Gefühle zu verdrängen, ich doch nicht. Mittlerweile rutschte ich immer häufiger in eine tiefe Selbstironie, die wohl kaum schlimmer werden konnte.
      “So unerträglich bist du nun auch nicht. Immerhin winselst du nicht die ganze Nacht”, schmunzelte sie.
      “Sagen wir es so”, lachte ich herzlicher, “es ist nicht, dass der Wunsch danach nicht bestünde.” Hätte Samu einen Kaffee in der Hand, würde dieser soeben auf Alfi ergossen sein. Wie von einer Zauberformel hatte ihn eines der Worte oder vielleicht auch die Kombination dieser, aus seinem Delirium erweckt.
      “Möchte ich wissen, worüber ihr sprecht?” Die Irritation deutlich ins Gesicht geschrieben blicke die blonde zwischen uns Hin und Her. Auch ich prüfte ihn, was in einem lauten Gelächter endete, unterstützt mit einem belustigten Kopfschütteln. Das Pony schnappte in die Luft, was eine kurze Verwirrung auslöste.
      “Das Konzept von Bienchen und Blümchen sollte dir etwas sagen”, versuchte ich Lina das Thema näherbringen, dass ihr eigentlich seit dem Grundschulalter bekannt sein sollte.
      “Ja, natürlich!”, entrüste sie sich, “Was glaubst du denn, wie alt ich bin?”
      “Good question –”
      Wusste ich wie jung sie war? Ich dachte einen Augenblick darüber nach, bis ich schließlich den Reißverschluss meiner Jacke öffnete und mein Handy griff. Sofort leuchteten die ganzen Benachrichtigungen auf, die teilweise von Instagram waren und meinem Verehrer. Nach einem kräftigen Atemzug blickte ich fragende Gesichter, aber ignorierte die beiden für einen Augenblick. Wie ich mein Handy halten konnte, wenn ich zur gleichen Zeit noch zwei Pferde hatte? Schnees Zügel hingen kontaktlos auf ihren Hals und links hatte ich noch Maxou in der Hand, die mittlerweile geduldig neben uns lief, als wäre sie ein Profi. Ja, ich war stolz auf das kleine Pony. Nach einander folgten meine Augen seine Nachrichten. Unser Kontakt war etwas eingeschlafen, was mich deprimierte, besonders in an bedacht darauf, dass ich bereits das erste Rätsel gelöst hatte, dass es irgendein Tag im November sein würde. So hoffte ich darauf, dass nicht mit Kiel duellierte. Vor meinen Augen eröffnete sich eine Aufgabe, in der ich nicht nur x errechnen musste, sondern direkt noch y und z, vorgegeben mit anderen Vektordaten. Nichts, was ich schnell auf dem Rücken eines Pferdes lösen wollen würde. Willkürlich schickte ich ihm ein Herz, schloss den Chat und öffnete das Mitarbeiterverzeichnis, um Linas Geburtstag herauszufinden. Auf den Tag genau drei Monate vor mir, im Januar und im selben Jahr. Gerade, als mein Handy in der Jacke verschwinden sollte, trudelte die nächste Benachrichtigung ein.
      “Wie soll ich das bitte deuten?”, schrieb er und erst jetzt wurde ich mir dessen bewusst. Schlagartig setzte mein Herz kurz aus, fing sich wieder und ich tippte mit meinem Daumen eine kleine Entschuldigung, löschte sie wieder und sendete schließlich eine andere Nachricht ab: “Wenn das zu viel war, es tut mir nicht leid. Ich brauche dich mehr als du denkst, also warte nur ab.”
      Mit einem selbstsicheren Lächeln steckte ich es schließlich weg und sah zu Lina, die wieder mit Samu in ein Gespräch vertieft war.
      “Sod off, du bist sogar älter als ich”, unterbrach ich ihr Gespräch.
      “Sehe ich so jung aus, dass man das extra überprüfen muss?”, grinste Lina.
      “Also für mich siehst du immer noch aus wie sechzehn”, trug Samu mir einem schiefen grinsen bei, worauf hin sie nur amüsiert den Kopf schüttelte.
      „Und passt damit perfekt in Niklas Beuteschema“, rutschte mir versehentlich über die Lippen, wodurch ein unangenehmes Schweigen einherging.
      “Vriska, erzähl doch mal was zu deinem Pony. Wo hast du ein Tier in einem solchen Zustand aufgegabelt?”, ergriff Samu die Initiative, das Schweigen zu brechen und sogleich das Thema auf ein anderes Terrain zu lenken. Etwas enttäuscht, dass Lina sich wieder in Gedanken verkroch, dachte ich darüber nach, wie ich es ihm verständlich machen konnte, ohne dabei wie ein radikaler Tierschützer zu klingen.
      “Hat Lina dir etwa nicht berichtet, in was für einem dreckigen Stall das arme Pony stand? Außerdem wollte Erik sie unbedingt ist”, seufzte ich und warf einen Blick zu Maxou, die immer entspannter wurde, ein Glück funkelte auch die große Halle durch die Bäume uns entgegen. Sogar die Sonne kam heraus, so durch den Schnee auf dem Dach hell glitzerte und kleine Lichtflecken durch die Baumkronen warf.
      “Nein, darüber wurde ich bisher nicht in Kenntnis gesetzt”, antworte er, “Sie war noch damit beschäftigt von ihrem eigenen Neuzugang zu berichten und von irgendeinem Fohlen, was ihr fachkundig festgestellte habt.”
      “Okay, also aus mir unbekannten Gründen treffe ich nur noch auf Tiere, die meinen Freund genauso anhimmeln, wie ich es tue. Dazu gehört auch der kleine Welpe, den ich am liebsten wieder loswerden wollen würde”, seufzte ich und merkte dabei Lina mitleidigen Blick. Ich wusste selbst, dass ich Fred, der vermutlich noch einen anderen Namen benötigen würde, behalten sollte, sofern er kein Zuhause hatte. So verhungert wie das Tier war, hatte diesen Gedanken jedoch schnell verworfen.
      “Sonst noch etwas, dass du wissen willst?”, versuchte ich die Konversation aufrechtzuerhalten. Viel lag mir auf der Seele, Dinge, über die kaum einer sprechen wollte, die ich vor allen versteckte und eigentlich nicht im Wald besprechen kann. Wieso ich überhaupt darüber nachdachte mich zu öffnen? Samu gab einem das Gefühl, dass es okay war, wie man empfand. Das ganze Schlechte so viel besser wurde, wenn man es aussprach – Dabei kannten wir uns kaum.
      Kalmar
      In der Reithalle
      Niklas
      Adrenalin schoss durch meine Venen, brachte meinen ganzen Blutkreislauf ins Wallen. Ich schüttelte mich, wischte die Tränen aus meinem Gesicht, die binnen Sekunden, Rinnsale auf meiner Wange bildeten und schließlich in den Kragen des Pullovers endeten. Durch den kleinen Luftzug der offenen Tür kühlte es meine erhitzten Wangen ab, die vermutlich Tomatenrot leuchteten.
      „Papa?“, sprach ich mit zitternder Stimme und hielt mich fest an den launigen Stoppel Haar meiner Stute, das Mähne darstellen sollte. Seine ebenso blauen Augen, wie sie jeder in der Familie hatte, funkelten im warmen Licht der Reithalle, das durch einen Sensor gesteuert wurde, um zu jeder Tageszeit dieselben Lichtverhältnisse zu schaffen. Wie von selbst schwang sich mein linkes Bein über die Kruppe meiner Rappstute, die noch immer mit gespitzten Ohren in Richtung unseres Besuches starrte, als könne sie nicht genau einschätzen, was er hier zu suchen hatte. Zustimmend strich ihr über den feuchten Hals und lief mit schmerzenden Beinen durch den federnden Sand. Für meinen Geschmack war der Boden zu weich, trug nur dazu bei, dass die Bewegung unnatürlich werden. Was soll’s. Meinen neuen Informationen nach würden wir ohnehin nur noch wenige Monate auf dem Gelände verbringen.
      Knarrend öffnete ich das Tor der Reithalle, um meinen Vater vor sein Angesicht zu treten. In der Brust normalisierte sich der Herzschlag, als hätte es gelernt, die süße Bürde mit stolz auf sich zu nehmen. Mit langen und gleichmäßigen Schritten folgte mir Form und stand dicht hinter mir, mit dem Kopf an meiner Schulter, als wäre sie mein Gewissen, das von der Seite zu mir sprechen würde. Aber ich konnte mich noch immer nicht von meiner Verwunderung befreien.
      > Vad gör du här?
      “Was machst du hier?”, versuchte ich das Rätsel zu lösen, das seit Minuten schwer auf der Atmung lag. Unbewusst strich meine Hand die Brust des Pferdes, immer wieder bis zum oberen Teil ihres Beins, ehe sie erneut am Halsübergang ansetzte.
      > Din mor talade till mig.
      “Deine Mutter hat mit mir gesprochen”, begann er zu erklären. Vertraut legt Vater seine Hand auf die Stirn meiner Stute, die kurz zurückschreckte, aber den ungebetenen Gast gewähren ließ. Es klang beinah wie ein Wunder, dass er mit meiner Mutter eine Unterhaltung und selben Atemzug auch mit mir. Der Zwischenfall im August war bereits nach Ewigkeiten ein Gespräch, dass mehr als vier Worte umfasste und nun verspürte ich wieder diesen Druck in meinem Körper, auch kam die Angst, etwas Schlechtes zu Ohren zu bekommen.
      > Hon berättade att du förlorade ett föl från din farfars häst.
      “Sie erzählte, dass du ein Fohlen verloren hast von dem Pferd deines Opas”, aus seinem Mund klangen die Worte so viel ernster und schmerzvoller, als ich es erwartete. Er war der Teufel. Jeder, der meinen Vater schon einmal kennenlernen musste, verspürte sofort eine Kälte, die den eigenen Körper durchzog, eine Gefühl von Hilfslosigkeit und Angst. Worte, die er von sich gibt, hatten Macht und Autorität, sich ihm in den Weg zu stellen, wagten nur die wenigen. Ich stellte ihn oft infrage, ein Punkt, weshalb wir vermutlich nur schwer miteinander klarkamen, zudem – Vater wusste von meinem dunklen Schatten, hätte es zu jedem Zeitpunkt unterbinden können, doch – Der Gedanke verschlug mir den Atem, so sehr schmerzten die brüchigen Erinnerungen an meine Kindheit. Ich schloss die Augen, schob meine Vergangenheit dahin, wo sie hingehörte. Schließlich stand die Zukunft hinter mir, fummelte interessiert mit der Oberlippe an meinem Ohr herum. Mit meiner Hand drückte ich ihr Maul von mir weg.
      > Stoppa.
      “Hör auf”, flüsterte ich. Form streckte sich vor vorn wieder zu meinem Vater aus, der ungewöhnlich lange das Pferd liebkoste, mit Streicheleinheiten.
      > Är det därför du är här?
      “Und deswegen bist du hier?”, hinterfragte ich misstrauisch. Es gab in seinem Leben keine guten Absichten, erst recht nicht, wenn es um mich ging. An den eingefallenen Wangen zuckte es kurz und er legte seine Hand auf meine Schulter.
      > Jag vet att du och jag inte kommer överens, men jag beklagar verkligen ditt husdjur. Jag visste från början att hon betydde mycket för dig.
      “Ich weiß, dass wir beide nicht gut miteinander auskommen, aber es tut mir aufrichtig Leid, mit deinem Tier. Dass sie die viel bedeutet, wusste ich von Anfang an”, tatsächlich wurde aus dem Zucken ein Lächeln. Das Universum schien es mit mir gut zu meinen. Wir unterhielten uns schließlich über Smoothie und Mama hatte ihm sogar von Bino erzählt, den er sich ansehen wollte. Mein Vater wirkte wie ausgewechselte, aber die Zweifel blieben. Vermutlich hatte Mama ihn am Morgen mal wieder herangelassen.
      Ich führte Form wieder auf den Sand, zog den Gurt am Bauch ein Loch enger und schwang mich in den Sattel. Dass ich sie wieder Warmreiten musste, erklärte sich von selbst. Aufmerksam folgte die Rappstute meinen Hilfen, machte sich mit ihrem Namen alle Ehre. Nachdem ich erst gezweifelt hatte, ob das mit uns beiden etwas werden könnte, war ich mir an dem Tag sehr sicher. Es machte Spaß, ohne großen Aufwand das Pferd durch die Lektionen zu führen, sie zu unterstützen, das Beste zu zeigen. Smoothie konnte sie nicht ersetzen, aber einen Gegenpol setzen und mir zeigen, dass auch es verdient hatte, im Spitzsport zu strahlen.
      Wir arbeiteten eine gute Stunde im Sand, schwebten vom ersten Hufschlag durch die Mitte in allen Gängen, schafften sogar eine ordentliche Galoppverstärkung, die ihr sonst sehr schwerfiel. Mein Verstand war klar, befreit. Stolz klopfte ich den verschwitzen Hals, an dem sich weißer Schaum gebildet hatte, durch die Zügel. Dabei streckte sich zufrieden. Erst in dem Moment bemerkte ich den weiteren Gast, der es sich auf der Tribüne bequem gemacht hatte, neben ihm saß Chris, vertieft in ein Gespräch mit meinem Vater. Plötzlich kehrte das heftige Herzklopfen zurück und die Knie am Sattel wackelten unruhig herum. Form drehte die Ohren zu mir nach hinten. Dabei schlug ihr Schweif, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Dafür hatte ich meine Füße aus dem Bügel gezogen. Aber im Kopf strahlten die Bilder wieder heller, die bei jedem hinüber sich intensivierten. Da saß er in seinem auffälligen hellblauen Pullover, der sehr engen schwarzen Reithose und sah mir direkt in die Augen. Auf seinen Lippen lag ein selbstsicheres Lächeln, das mich erneut in das Glücksgefühl brachte. Ich holte tief Luft und schluckte, während meine Finger die Mähne der Stute umspielten. Es schien, als würde das laute Gespräch meines Vaters verstummen, in den den Hintergrund geraten und sich meine Augen zu einem Tunnelblick bilden, der zielgerichtet auf Eskils Brust lag. Wie in einem schlechten Liebesfilm fühlte es sich an, als würde sich unser Herzschlag synchronisieren, aber der bloße Gedanken daran, kam mir falsch vor. Also nicht, dass etwas falsch daran wäre, viel mehr machten es die Umstände.
      Im Stall nahm ich den Sattel von ihrem Rücken und rollte die Bandagen fein säuberlich ab, bis nur noch die Unterlagen wie angeklebt am Röhrbein klebten. Lächelnd und voller Energie, die aus unbekannten Gründen nicht weniger wurde, brachte ich mein Zeug in die Sattelkammer. Einige Hölzer waren frei und halfter hingen unordentlich darüber geworfen, während an der Seite Turnschuhe nebeneinanderstanden, zwischen den Stiefeln. Nicht jeder nutzte unseren Umkleiden, sondern lagerte die Straßenkleidung hier drinnen.
      > Kan vi prata med varandra?
      “Können wir kurz miteinander sprechen”, tippte mich auf einmal Eskil von der Seite an. Warum? Alles musste immer besprochen werden, nervig. Ich seufzte, aber nickte.
      > På grund av tidigare? Jag är ledsen. Jag menade inte –
      “Wegen vorhin? Es tut mir leid. Ich wollte nicht –”, aber den Satz ließ er mich nicht beenden. Sein Zeigefinger lag auf meinen Lippen und die Augen kniff er zusammen, noch immer mit der Selbstsicherheit im Gesicht.
      > Det är inte det som är poängen.
      “Darum geht es nicht”, lachte er und nahm den Finger wieder von mir. Meine Augen suchten den Raum ab, aber schielten dabei auch aus dem Fenster. Es schneite wieder und durch das Licht der Wegbeleuchtung erblickte ich Phina, die mich böse angrinste und das Handy senkte. Dann hob sie die Hand, um mir zu winken und folgte dem Weg in den Ponystall.
      “Hallo?”, fragte Eskil erneut und holte mich aus dem kalten Starren heraus.
      > Phina såg oss.
      “Phina hat uns gesehen”, stammelte ich. Er drehte sich sofort zur Seite, doch schon vor Sekunden war die Dunkelhaarige verschwunden, samt der Beweise. Mir schossen abertausende Szenarien durch den Kopf, vor allem, wie Lina darauf reagieren würde. Ich sah an mir herunter, sah, wie meine Brust sich aufbaute und wieder entspannte in einem rasenden Tempo.
      > Och varför är det så dåligt? Hon kan inte ha sett något.
      “Was soll daran so schlimm sein? Sie kann gar nichts gesehen haben”, schüttelte er ungläubig den Kopf, wollte nach meiner Hand greifen, die schnell wegzog. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es ihm schlagartig nicht mehr interessierte, was ich alles belastendes gesagt hatte. Stattdessen grinste er.
      > Vad ville du ha? Jag har mer att göra.
      “Was wolltest du? Ich habe noch mehr zu tun”, stotterte ich und wechselte das Thema, um die Bilder in meinem Kopf loszuwerden. Ja, ich wollte mehr von dem Freiheitsgefühl, aber nicht so, wie ich es erreicht hatte. Falsch. Verwerflich. Abartig. Böse Stimmen störten die eigentliche Entspannung. Es wurde zu schnell, zu viel.
      > Jag kommer att ha lektionen med Vriska i morgon, men jag ska berätta det för er i förväg så att det inte blir någon diskussion.
      “Ich werde morgen den Unterricht mit Vriska durchführen, aber dir es vorher sagen, damit es keine Diskussion wird”, klärte Eskil mich auf.
      “Okay”, drehte ich mich auf der Stelle um, schnappte mir die bereits gefüllte Futterschüssel und lief hinaus zu Form, die fröhlich mit dem Kopf schlug. Hin- und hergerissen im Meer der Gefühle, versuchte ich das alles hinter eine Tür zu stecken, die nur selten öffnete. Dabei half mir, jede Kaubewegung meines Pferdes beobachten. Leise knirschten die Körper in ihrem Maul, wovon kein einziges auf dem Beton landete. Form war im Vergleich zu vielen anderen Pferde sehr sauber im Umgang mit ihrem Fresschen. Selbst ihre heiß geliebte Rote Bete färbte nur ihr Maul rot.
      Ich erschrak, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und fest zudrückte. Vater stand hinter mir. Mit intensiven Blicken versuchte er herauszufinden, aus welchen Grund ich mein Pferd dermaßen intensiv betrachte. Fragte, weshalb meine Augen ihr Maul fokussierten. Eine Antwort darauf fand ich nicht, holte stattdessen die Decke und brachte das Pferd schlussendlich in ihre Paddockbox.
      Ganz am Ende des Stalles hatte Bino seine Box. Er wirkte müde, aber mir war klar, dass er bocken würde, wenn ich ihm das Halfter anlegen würde und hinausführte. Sein Kopf hing locker und die Augen trüb. Es musste eindeutig ein Tierarzt her

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 69.426 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
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      kapitel fjorton | 14. April 2022

      Einheitssprache / HMJ Divine / Legolas / Schneesturm / Outer Space / Sturmglokke LDS / Maxou / Dix Mille LDS / Binomialsats / Form Follows Function LDS

      Samu
      Ich beobachte, wie die winzigen Eiskristalle durch die Lichtkegel dir Lampen tanzten, die das moderne Gestüt in ein helles Licht tauchten, denn in der Theorie sollte meine Freundin jeden Augenblick hier eintreffen. Vriska hatte dazu angeregt, ob man nicht auf Ivys und meine Ankunft anstoßen solle und da Lina, noch ihren Freund erwartete, schlug sie sogleich vor, dass ich Enya auch einladen könnte. Ungeduldig schielte ich, auf die silbern glänze Uhr an meinem Handgelenk, denn allmählich kroch mir die Kälte in die Glieder.
      Nur einen Wimpernschlag später tauchte endlich der kleine silberne Wagen auf und kam neben dem Porsche, der Linas Freund zugehörig war, zum Stehen. Mit langen Schritten überquerte ich den gefrorenen Kies.
      “Du bist ja süß, hast du etwa die ganze Zeit hier draußen gewartet?”, grinste Enya als sie mich erblickte. Locker hing ihr ein Mantel über den Schultern, der mir erstaunlich bekannt vorkam und ihre Haare flossen darüber wie flüssiges Gold.
      “Jap, nur für dich mein Engel”, erwiderte ich und legte meine Hände an ihre Hüften. Eine vertraute Mischung aus ihrem blumigen Parfüm und den Gerüchen einer Tierklinik stieg mir in die Nase. Solch kleine, alltägliche Augenblicke waren es, die ich bisher in dieser Beziehung vermisst hatte, weil die Distanz diese verhinderte.
      “Niedlich, aber für mich brauchst du nicht erfrieren”, sprach sie sanft, “Du bist mir deutlich lieber, wenn du kein Eisklotz bist.”
      “Und damit du keiner wirst, klaust du meine Jacken?”, schmunzelte ich und zog sie ein Stück näher an mich heran. Keck grinste sie und fixierte mich mit ihren leuchtenden grinsenden Augen: “Was ist, wenn es so wäre?” Nur noch wenige Zentimeter lagen zwischen unseren Gesichtern und ich konnte ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren.
      “Dann wirst du mich wohl wieder auftauen müssen”, raunte ich ihr zu und legte leidenschaftlich meine Lippen auf ihre. Ungestüm erwiderte sie diesen, wurde fordernder und presste ihren schlanken Körper an mich. Ihre warmen, langen Finger in meinem Nacken, reichten aus, damit ihre Wärme auf mich überging und das Feuer in mir anfachten. Auf der Suche nach mehr, wanderten ihre Finger über meinen Körper, doch ich unterbrach diese Entdeckungstour, als sie den Saum meines Pullis erreichten.
      “Nicht hier”, schmunzelte ich und löste ihre sanft ihre Finger von meiner Brust. Schmollend schob Enya ihre Unterlippe nach vor und blickte mich mit großen runden Augen an, zu genau wissend, dass ihrem Hundeblick nur schwerlich Widerstand zu leisten war.
      “Na, komm, die anderen warten sicher schon”, sprach ich sanft und strich eine lose Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
      “Na gut”, gab sie nach, verwob die Finger mit den meinen und stahl sich dennoch einen flüchtigen Kuss von meinen Lippen, bevor wir in Richtung des Gebäudes schlenderten.
      “Konntest du Lina eigentlich so überraschen wie du wolltest?”, fragte sie neugierig, als wir in die Stallgasse entraten.
      “Ja, ich denke”, lächelte ich und rief mir Linas strahlendes Gesicht vor Augen, “die Überraschung ist eindeutig gelungen.” Einige Pferdeköpfe reckten sich neugierig über die Boxenwände, darunter auch der helle Kopf des Hengstes, der vordergründig Grund des heutigen Besuchs war.
      “Ist er das?”, fragte meine Freundin und blieb vor der Box des Hengstes stehen, welche sie bisher nur aus Erzählungen und Bildern kannte. Bestätigend nickte ich. Falls das noch möglich war, stellten sich die kleinen Ohren des Freibergers noch mehr auf, als Enya die Hand, die nicht in meiner lag, nach ihm ausstreckte.
      “Das ist aber wirklich ein Süßer und dann auch noch so freundlich”, lächelte sie und strich ihm über den Hals, “Und wenn ich mich so an die Bilder erinnere, scheint ihr ihn wieder gut hinbekommen zu haben, er sieht top gesund aus.”
      “Der Tierarzt in dir schläft wohl nie”, erwiderte ich lachend, ”aber das Lob darfst du nicht mir geben. Lina hat ihn ganz allein aufgepäppelt.” Legolas, der bis eben nicht zu sehen, war, hatte den Trubel vor seiner Box wohl mittlerweile mitbekommen und kam von seinem Paddock hinein getrottet. Aufgeschlossen beschnupperte er meine Freundin, die ihm sogleich auch Aufmerksamkeit zukommen ließ.
      “Und das wird dann wohl dein Legolas sein”, schlussfolgerte sie schließlich. Ivy, der scheinbar noch nicht ausreichend mit Beachtung beschenkt worden war, stupste nun mich an. Ich kam der Bitte des Hengstes nach und begann an seine Lieblingsstelle zu kraulen.
      “Ja, genau das ist er”, bejahte ich, “Wie war eigentlich dein Tag, mein Schatz? Schon das Allheilmittel gefunden?”
      “Ich fürchte, bis das gefunden wird, existieren wir nicht mehr”, erklang ihr wunderschönes Lachen, “dafür habe ich eine andere coole Nachricht.”
      “Die wäre?”, hakte ich nach, als Enya nicht weitersprach und ich nur freudig angrinste.
      “Meine Chefin sagte, ich darf bei der Studie mitarbeiten, die gerade in Planung ist und wenn das klappt, wird man in Zukunft belastungsbedingte Arthrose heilen können”, berichtet sie enthusiastisch und begann Details über das Krankheitsbild und die Studie zu erzählen, von denen ich gerade einmal dreißig Prozent folgen konnte.
      “Das klingt interessant und was genau macht ihr da?”, versuchte ich mehr darüber zu erfahren in einer Sprach, die auch verstand.
      “Das würde ich dir zwar gerne sagen, aber ich darf nicht. Da wirst du warten müssen, bis die Studie veröffentlicht –” Das letzte Wort verschluckte sie und blickte verwundert zu Divine, der den Kopf nach vorne reckte und immer die Oberlippe kräuselte, als ob er flehmen wollte, ohne die allerdings vollständig auszuführen.
      “Was macht er da?”, fragte sie, nachdem sie das Spektakel einen Augenblick beobachte.
      “Er versucht dir und mir mitzuteilen, dass jemand bitte etwas zu fressen in seine Schnauze stecken soll”, schmunzelte ich. Diese eigenartige Art zu betteln hatte der Hengst sich bereits in den ersten Woche angewöhnt, als Lina mit ihm arbeitete.
      “Das ist ja lustig, so eine Eigenart habe ich ja noch nie gesehen”, schmunzelte Enya, “Hast du denn auch was für ihn?” Kurz dachte ich darüber nach, sie daran zu erinnern, dass man ein solches Verhalten nicht fördern sollte, ließ aber davon ab. Schließlich ging Lina im Regelfall selbst auf das Betteln des Hengstes ein. Somit drückte ich meiner Freundin ein Leckerli in die Hand. Beinahe Krokodil artig schnappte der Hengst den Leckerbissen von ihrer Hand hinunter und verschlang ihn zufrieden. Selbstverständlich musste Legolas nicht leer ausgehen und bekam ebenso ein Leckerli.
      “Möchtest du noch weiter die Pferde kuscheln oder gehen wir hoch zu den anderen?”, erkundigte ich mich, als Enya erneut begann den Freiberger zu kraulen.
      “Wir können hochgehen”, lächelte sie und beendete die Streicheleinheit. Als wolle Ivy protestieren, stupste er sie an, doch wurde ignoriert.
      In der Küche wurden wir empfangen von einem köstlichen Geruch, der durch den Raum schwebte und dem Welpen, der sogleich schwanzwedelnd angerannt kam. Der andere Hund hob zwar den Kopf, blieb allerdings an Ort und Stelle liegen.
      “Hallo”, grüßte Enya freundlich in den Raum, bevor sie sich zu dem kleinen Tier hinunterbeugte, um auch diesen zu begrüßen. Freudig hampelte er umher, wedelte mit dem ganzen Hinterteil und wahr mehrfach kurz davor über die eigenen Pfoten zu fallen. Vriska stand am Herd, was der Ursprung des deliziösen Duftes war, während ihr Freund misstrauisch am Tisch saß und die Gewürze musterte. Vorsichtig drehte er sie auf den Kopf, wobei einige Krümel hinausfielen. Seltsamer Kerl. Nur Lina und Niklas schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, zumindest waren die beiden im Raum nicht zu entdecken.
      “Wo sind –”
      “Zimmer”, kam es vom Herd direkt eine Antwort, noch bevor ich die Frage überhaupt beendet hatte. Zugegeben, die Frage hätte ich mir auch nahezu selbst beantworten können, denn allzu viel Möglichkeiten bestanden nicht, wo beide hin verschwunden sein konnten.
      “Möchtet ihr auch etwas trinken?”, holte sie eine ungeöffnete Flasche Wein unter der Spüler hervor, nach dem sie eine geöffnete neben sich zu stehen hatte. Wie sagt man so gerne, einen Schluck ins Essen, einen in den Koch?
      „Für mich nicht, ich muss noch fahren“, lehnte meine Freundin höflich ab.
      „Nein, nimm du ruhig einen Wein, ich fahre später“, widersprach ich ihr. Ich fand, mit der Studie hatte sich das redlich verdient und sie möchte das Zeug ohnehin lieber.
      „Na dann, her damit“, revidierte sie ihre Aussage und drückte mir sogleich lächelnd die Autoschlüssel in die Hand, die auch sogleich in meiner Hosentasche verschwanden.
      „Fahren“, schüttelte sie ungläubig den Kopf und füllte ein ziemlich großes Weinglas auf bis zur Hälfte. Ihre Hand zitterte und verschüttete dabei einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit, die natürlich auf der grauen Hose von Erik landeten. Dieser sah skeptisch zu ihr hoch. Still stand er auf, legte für einen kurzen Augenblick seine Hände an ihre wirklich schmale Taille und flüsterte unverständlich in ihr Ohr. Aus ihrem leeren Gesichtsausdruck wurde ein erschrockenes Grinsen mit weit aufgerissenen Augen. Das Glas hatte mittlerweile einen beachtlichen Füllstand erreicht, bei ungefähr zwei Dritteln setzte sie schließlich die Flasche ab. Enya betrachtet ihr Getränk inständig, schien aus Höflichkeit keine Einwände zu haben. Schwankend drehte sich Vriska wieder zum Herd, schnappte die eigene Flasche und stieß mit ihr an. Als wäre es Wasser, setzte sie das Getränk an. Wenn sie so weiter macht, würde das zumindest für sie ein kurzer Abend werden, doch ich verkniff mir jeglichen Kommentar dazu. Schließlich sollte sie alt genug sein, um zu entscheiden, wie mit Alkohol umzugehen sei. Auch von meiner Freundin kam ein vielsagender Blick, der meine Gedanken widerspiegeln zu schien. Heute machten alle scheinbar einen ganz wunderbaren ersten Eindruck. Hoffentlich ließ sie sich davon nicht abschrecken, auch wenn ich sicherlich schon einmal anklingen ließ, dass dieser Kreis von Menschen nicht dem konventionellen Verständnis von normal entsprach, war das gebotene Bild sicher nicht den Erwartungen entsprechend.
      “Ach so”, schlug sich die kleine Blonde urplötzlich an den Kopf, stellte die Flasche zur Seite. Freundlich stellte sie sich zu Enya und gab ihr die Hand: “Ich bin Vriska und Erik ist gerade raus. Dachte, dass wir uns schon bekannt gemacht wurden”, lachte sie.
      “Nein, bisher kam es zu keiner Begegnung. Ich bin Enya, schön auch mal ein Gesicht zu den Erzählungen zu haben”, erwiderte meine Freundin ihrerseits freundlich den Händedruck.
      “Dann bleibt nur zu hoffen, dass du nur Gutes zu hören bekommen hast”, schüttelte Vriska langsam den Kopf, mit den Augen suchend nach einem Fixpunkt. Trymr, der unter dem Fenster lag auf einem Kissen, hob die Ohren an. Leise klopfte der Schwanz auf dem Fußboden.
      “Keine Sorge, Samu erzählt eigentlich immer nur Gutes über seine Freunde”, sprach sie offen und bedachte mich dabei mit einem milden Lächeln. Tatsächlich hatte Enya mit diesem Fakt nicht ganz unrecht, denn ich sah nicht den Mehrwert darin, die negativen Eigenschaften einer Person zu beleuchten, wenn es keine Relevanz hatte. Die Rute des großen Hundes klopfte unaufhörlich weiter.
      “Sind das eigentlich deine Hunde?”, richte Enya interessiert ihre Frage an Vriska und machte einige Schritte auf das Ungetüm zu, dessen Schwanz immer schneller schlug.
      “Genaugenommen, nein”, drehte sie sich von der Pfanne weg und holte den Rüden zu sich, “den Kleinen haben wir im Wald gefunden vor ein paar Tagen und wurde erst einmal als Fundtier gemeldet. Der hier kann sich nur schwer von mir trennen, aber Erik möchte ihn auch nicht loswerden, deswegen –” Es klang danach, als gäbe es sonst nichts zwischen den beiden, was sie aber niemanden erzählen kann. So sehr, wie sie mit den Augen zur Tür schielte und nur auf ihn wartete, lag es wohl kaum an Trymr. Ihr Lächeln unterstrich jedoch, dass es scherzhaft gemeint war.
      “Verstehe, wirklich schöne Tiere, die beiden”, bekomplimentierte Enya die Hunde, wobei indirekt der Wunsch mitschwang, selbst einen zu besitzen. Das Gespräch dazu hatten wir bereits geführt, doch ich war bisher nur wenig dafür zu begeistern gewesen. Zum einen nahmen die beiden Katzen schon ziemlich viel Raum in der Wohnung und vor allem dem Bett ein und zum anderen bestand das Problem darin, dass sie unbedingt einen Welpen wollte. Dabei sah ich das Problem, dass dieser die ersten Monate unter dauerhafter Aufsicht stehen sollte. Enya würde ihn nicht mit zur Arbeit nehmen können und den ganzen Tag im Stall mitzulaufen, würde ihn vermutlich überfordern. Allerdings glaubte ich nicht, dass Enya das Thema damit auf sich beruhen lassen würde, gerade dann, wenn der Fundhund das Gegenteil beweisen sollte.
      “Ich weiß nicht, Trymr ist schon ziemlich”, Vriska verstummte als auch Erik wiederkehrte in einer anderen Hose und sie musterte.
      “So, was ist er denn?”, lachte er und schien heute nur durch seine Anwesenheit jegliche Gespräche zu unterbrechen. Unruhig stammelte sie vor sich hin, bekam kein richtiges Wort mehr zustande. Stattdessen griff sie wieder zu Flasche, als wäre es die einzige Möglichkeit der Peinlichkeit zu entkommen, was ich mich wunderte. Ich hatte sie bisher als ein sehr offenen Menschen kennenlernt, der immer sagte, was im Kopf herumschwirrte, selbst bei schwierigen Themen.
      “Angsteinflößend”, sprach sie schlussendlich noch und holte aus dem Schrank mehrere Schüsseln, “vielleicht sollte einer von euch beiden Lina und Niklas holen. Wir wären bei den Turteltauben eine denkbar schlechte Wahl.” Es war schon ein wenig seltsam, dass Vriska den Hund immer, um sich zu haben schien, obwohl sie ihn beängstigen fand, aber was wusste ich bereits. Möglicherweise diente das einer seltsamen Art der Konfrontationstherapie? Während ich noch darüber nachdachte, kam ich Vriskas Bitte nach und folgte dem Flur bis zum Zimmer, welches die beiden Mädels bewohnten und klopfte sachte an die Tür.
      “Ja, komm rein?”, erklang Lina Stimme aus dem Raum und ich trat ein. Ich erblickte die beiden auf einem der Betten, sie auf seinem Schoß von seinen Armen umschlungen. In den kräftigen Armen ihres Freundes wirkte Lina noch kleiner und zarter, als sie es ohnehin schon war, aber strahlte förmlich von Glückseligkeit. Bis heute hatte ich absolut keine Ahnung, warum sie sich stets solch gegensätzliche Männer aussuchte.
      “Was gibt’s?”, blickte Lina mich erwartungsvoll an, was allerdings nur von kurzer Dauer war. Wie magnetisch wurde ihre Augen von Niklas angezogen, um ihn weiter anzuschmachten.
      “Eure Anwesenheit wird in der Küche verlangt, das Essen, ist gleich fertig”, überbrachte ich die Nachricht, die ich zu überbringen gebeten wurde.
      “Okay, wir kommen”, bestätigte Niklas mit einem Kopfnicken. Da keiner der beiden Anstalten machte, sich zu bewegen, verließ ich den Raum allein. Beim Schließen der Tür nahm ich wahr, dass er etwas zu Lina zu sagen schien, worauf sie lachend antworte.
      In der Küche war der Tisch mittlerweile gedeckt und bis auf Vriska, saßen bereits alle am Tisch. Selbstverständlich nahm ich neben meiner Freundin Platz. Wenig später kündigte der wild umher wuselnde Welpe auch das Eintreffen der Turteltauben an, die uns schließlich auch mit ihrer Anwesenheit beehrten. Während sich Trymr zurück auf die Decke gelegt hatte, um dem Störenfried möglichst aus dem Weg zu gehen. Stattdessen beobachtete er jeden Schritt der Menschen im Raum mit den hellbraun leuchtenden Augen.
      Aber – wie im Kalten Krieg lag ein Eiserner Vorhang zwischen den Parteien, die sich stillschweigend ansahen. Nur zwischen den Damen hingegen, wirkte es harmonisch, vermutlich der Tatsache geschuldet, dass Vriska nur noch Augen für Erik hatte. Und das konnte man wörtlich nehmen. Ständig versuchte sie ihren Freund zu umwerben, als wären alle anderen im Raum nicht existent, er hingegen bewahrte sich in Diskretion.
      Die Weinflasche umfasste nur noch einen letzten Schluck, der womöglich niemanden zufriedenstellen würde. Eine derartige Druckbetankungen konnte weder grundlos noch gesund sein. Auch Enya sendete mir unterschwellige Signale, dass sie es bedenklich fand. Gleichzeitig zuckte Lina nur mit ihren Schultern. Niemanden kümmerte es, wie sehr das Geschöpf in den Alkohol ertränkte, trotz ihrer Vorgeschichte, die bis auf meiner Freundin, jeder im Raum kannte. Dass nicht einmal ihr Partner sich dazu berufen fühlte, sie an einem Montag zu bremsen, überstieg meinen Horizont.
      Freundlich verteilte Vriska eine Portion nach der anderen, von einer Mahlzeit, die sie nicht näher erklärte. Eine Sache stand fest: Es sah nicht gut aus, aber roch umso besser. Mit meiner Gabel stocherte ich in dem grünen und braunen Matsch herum, versuchte einige Bestandteile genaue zu betrachten. Vermutlich waren das Kichererbsen und das, was alles sehr schmierig machte, könnte Spinat sein. Die kleinen hellbraunen Klumpen dazwischen hingegen kannte ich nicht, vielleicht Pastinaken? Entschlossen steckte ich mir den Mix in den Mund. Es schmeckte genauso gut, wie es roch. Als alle glücklich begannen zu essen, stellte Vriska die leere Weinflasche unter die Spüle.
      „Ich brauche Zeit für mich“, verabschiedete sich kurz, nach einem prüfenden Blick zu Erik, der nickte. Sie zupfte ihren zu großen schwarzen Pullover zurecht und schwankte zur Tür hinaus. Trymr folgte ihr sofort mit großen Trabsprüngen. Dann verstummten die Gespräche. Dezent klammerte das Besteck auf den Tellern, untermalt mit leisen Kaugeräuschen und dem leisen Wimmern des Welpens, der unter dem Tischen durch unsere Beine huschte. Die Stimmung schien, als hätte jeder einen guten Tag gehabt. Vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass Vriska den Raum verlassen hatte, fühlte sich die Luft angestaut von positiver Einstellung an.
      “Lina, ich habe vorhin im Stall deinen Hengst gesehen, den hast du ja echt wieder gut hinbekommen”, nahm Enya das Gespräch wieder auf und füllte damit die Stille im Raum.
      “Danke”, lächelte Lina, doch wie so häufig trat auch eine leichte Verlegenheit in ihren Ausdruck, “ich bin selbst ein wenig erstaunt, wie gut er aussieht und so ganz perfekt ist sein Zustand jetzt auch noch nicht.” Seit Jahren versuchte ich bereits ihr beizubringen, ein Kompliment einfach mal anzunehmen und sich darüber zu freuen, anstatt sich selbst klein zuhalten. Doch ihr den Wert ihrer Selbst erkenntlich zu machen, grenzte an einer Sisyphusarbeit, denn die Gründe dafür waren vielseitig und so tief in ihren Gedanken verwurzelt, wie eine Eiche im Boden.
      “Nein wirklich, er sieht fabelhaft aus, gerade wenn man den Ausgangszustand betrachtet, man sieht wie viel Arbeit du invertierst hast. Es wäre wünschenswert, wenn mehr Leute so viel Engagement für ihr Tiere zeigen würden. Aber was mich mal wirklich interessieren würde, wäre der weniger offensichtliche Gesundheitszustand. Wie war da denn die Ausgangslage?”, fragte meine Freundin die Frage, die ich eigentlich bereits früher erwartet hätte, denn sobald da Thema in Richtung Medizin ging war sie Feuer und Flamme. Auch mir hatte sie diese Frage schon gestellt, aber da Divines Gesundheitsmanagement zu hundert Prozent in Linas Händen lag, hatte ich ihr auch nicht mehr sagen können als das, was offensichtlich war.
      “Wie du dir sicher bereits denken kannst, war sein Zustand alles andere als Ideal, da waren die atrophierten Muskeln nur das kleinste aller Problem. Seine Leberwerte waren stark erhöht, dafür waren die Zink- und Selenwerte komplett im Keller inklusiver diverser anderer fehlender Spurenelemente und verwurmt, war der arme Kerl auch noch. Glücklicherweise hatte ich einen kompetenten Tierarzt zur Seite, sodass es ihm schnell wieder besser ging. Das Einzige, was noch nicht wieder ganz in Ordnung ist, sind die Hufe vorne, aber ich denke, das wird auch nicht mehr lange dauern, bis die Hornspalte vollständig rausgewachsen ist ”, erzählte Lina in erstaunlicher Genauigkeit. Es wirkte beinahe als hätte sie diese Informationen auswendig gelernt, was ihr ehrlich gesagt zutrauen würde. Wenn es um Ivy ging, überließ sie nichts dem Zufall.
      “Armes Pferd, gerade mit Leberwerten ist nicht zu spaßen. Da ist es umso schöner zu sehen, wie gut es Divine jetzt geht”, entgegnete Enya, die dem Bericht mit Begeisterung gefolgt war, “Ich möchte dich jetzt nicht nerven, aber eine Frage medizinischer Art hätte ich noch.” Sie hielt kurz inne, um Linas Reaktion abzuwarten, doch als diese interessiert nickte, setzte sie fort: ”Ich habe neulich in einem Fachartikel gelesen, dass Pferde mit Divines Fellfarbe oft schwerwiegende Hautprobleme haben. Hat ihr derlei Probleme?”
      “Als ich ihn bekam, hatten wir ein wenig mit einem Ekzem zu kämpfen. Allerdings meinte der Tierarzt, dass das auch mit den Nährstoffmängeln in Zusammenhang stehen könnte. Ich hoffe ja nicht, dass das wieder auftaucht”, antworte sie zuversichtlich. Ihre Hoffnung war nachzuvollziehen, zwar war ein Ekzem kein Weltuntergang, aber dennoch eine lästige Angelegenheit.
      Erleichtert atmete Erik aus, der zuvor stillschweigend an seinem Handy saß und es in der kleinen Pause zur Seite packte. Die brennende Erwartung in Enyas Augen steckte auch Lina an, als wüssten die beiden bereits, was nun folgen würde.
      “Zugegeben, das erinnert hier ein wenig an das Gespräch, was ich vor einigen Tagen in der Kita hatte, als alle Eltern von den bereits erlebten Krankheiten erzählten ihrer Kinder”, lachte er und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas Wasser, “aber ich bin froh, dass du zumindest ein Auge auf Maxou haben kannst, weil –” dabei sah er kurz zu Niklas, um sich schließlich wieder an Lina zu wenden.
      “Ihr diese Bürde mit dem Fall ans Herz zu legen, finde ich bedenklich. Also ich möchte jetzt nicht ihre Tierliebe oder Fürsorglichkeit infrage stellen, aber ich habe ein ungutes Gefühl mit ihr und dem Pony”, beendete er seine Ansage, ohne dabei die Tür aus dem Blick zu lassen, durch die sie jederzeit hätte schreiten können, oder viel eher wanken.
      “Bisher kümmert sie sich doch gut um Maxou, aber keine Sorge, selbstverständlich werde ich einen Blick auf das Pony behalten”, lächelte Lina entgegenkommend. Bei der Erwähnung des Ponys wurde Enya hellhörig und schloss sogleich neugierig eine Frage an: “Was ist denn mit dem Pony?”
      “Erst einmal wurden nur ihre Zähne gemacht und ein Hautpilz festgestellt, aber so schrecklich wie sie aussieht und vollkommen desinteressiert ist, außer an mir, wird da sicher noch mehr sein”, sagte er besten Gewissens und reichte ihr sein Handy. Auch ich schielte hinüber, schließlich wusste ich nicht einmal, wer Maxou war. Die Bilder zeigten eine helle Stute mit dunkeln Flecken Fell, die keinesfalls alle von der Musterung stammten. Auf einigen waren die Beine angeschwollen, auf anderen hing der Rücken deutlich durch und auf einem anderen, die Augen matt. Die zeitlichen Abstände konnte man nur schwer abschätzen. Gerade als Enya eins der Bilder näher anschauen wollte, kam eine Nachricht. Sofort griff Erik nach seinem Gerät, schob die Mitteilung mit dem orangen Logo am oberen Rand weg und schaltete den Flugzeugmodus ein. Mit zusammengekniffener Stirn blickte Niklas einmal zu Erik und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. Dann bekam sie es wieder.
      “Das arme Ding muss ja einiges mitgemacht haben”, murmelte sie, während sie die Bilder eingehend inspizierte, ”An eurer Stelle würde ich das Pony noch mal gründlich durchchecken lassen, das steckt definitiv mehr hinter als nur schlechte Zähne und ein Hautpliz.” Auch wenn meine Freundin es nur wage formulierte, war ich mir beinahe sicher, dass sie schon einige mögliche Diagnosen im Kopf hatte.
      “Selbstverständlich, ich war vorhin mit dem Kleinen in der Klinik und dort habe ich umgehend einen Termin für Maxou gemacht. Nächste Woche wird alles untersucht”, nickte er zustimmend. Es war ziemlich beachtlich, wie viel Mühe sich Erik mit dem Pferd gab, wo er bisher eher auf Abstand ging und anzunehmen war, dass er absolut keine Ahnung aufwies.
      “Dann wünsche ich viel Erfolg bei der Genesung”, lächelte Enya freundlich und schob das Mobilgerät über den Tisch wieder zu seinem Besitzer hinüber.
      “Danke, werde ich der Patientin ausrichten”, grinste Erik höflich zurück und widmete sich schließlich dem Gerät. Während Lina noch etwas mehr über Ivy schwärmte, schien Niklas nicht ganz zufrieden. Sein zuvor sehr entspanntes Gesicht, begann am Kiefer anzuspannen, sah andauernd zur Tür, als würde er auf Vriska warten. Unverständlich für mich. Sein kleiner Finger tippte auf dem Tisch herum, verursachte dabei ein leises, dumpfes Geräusch auf dem Holz. Erst als Lina ihm sanft über den Oberarm strich, ohne dabei die Unterhaltung zu stoppen, entspannte seine Hand.
      “Vielleicht solltest du dich darauf konzentrieren, was du hast”, fauchte er, “und dich dankbar zeigen, dass es überhaupt jemand mit dir aushält.” Erik sah von seinem Handy auf, musterte ihn mit erhobener Augenbraue und stand vom Stuhl auf. Er ließ sich nicht auf das Gespräch ein, schnappte sich stattdessen seine Jacke und verließ den Raum.
      “Was sollte das denn jetzt?”, rügte Lina ihren Freund sogleich, “Kannst du nicht mal einen Abend lang friedlich mit ihm in einem Raum bleiben?”
      “Das ist keine Frage von Können, viel mehr von Wollen. Aber dafür müsste er mehr Respekt zeigen”, flüsterte er, noch laut genug, dass die restlichen Leute in der Küche seine Antipathie mitbekamen. Unter dem Tisch regte sich der Welpe, der verschlafen sich aufrappelte und einige Schritte zur Tür tippelte. Leise winselte das Tier, bis Enya ihn zu sich rief und auf dem Schoß setzte.
      Ob des Frieden willens oder dem Mangel eines schlagkräftigen Gegenarguments, erwiderte Lina nicht, schien viel mehr nach einem Weg zu suchen, die Situation elegant zu übergehen. Suchend glitte ihre Augen durch den Raum, bis sie in dem Regal hinter sich etwas zu entdecken schien, was ihren Ansprüchen einer Ablenkung geeignet schien.
      “Hab ihr Lust auf ein Spiel?”, fragte sie in dem Raum und sprang sie gleichzeitig auf, um zielsicher nach einem Kartendeck zu greifen, welches auf dem mittleren Regalbrett lag. Dass aus der Runde kein Protest kam, schien ihr als Antwort zu genügen.
      “Sind euch allen die Regeln zu Vändti geläufig oder soll ich es erklären?”, erkundigte Lina sich während sie gleichzeitig begann sie Karten zu mischen, allerdings tat sie dies äußerst ungeschickt. Statt dass die Karten sich vermischten, wirkte es mehr als würde sie den Stapel, lediglich neu aufeinanderstapeln. Kurzerhand nahm Niklas ihr das Kartendeck aus den kleinen Händchen und mischte dieses selbst.
      Ich verneinte ihre Frage und auch Enyas Gesichtsausdruck zeuge davon, dass auch sie das Regelwerk nicht kannte.
      “Okay, eigentlich das Spiel simpel”, leitete Lina ihre Erklärung ein, während ihr Freund die Karten austeilte. Das kleine Fellbündel, welches noch immer auf dem Schoß meiner Freundin thronte, schnupperte neugierig an dem buntbedruckten Papier. Als er allerdings darüber schleckte, schien er festzustellen, dass die seltsamen Rechtecke nicht schmeckten und verlor das Interesse daran.
      “Gibt’s noch Fragen oder ist alles klar?”, beendete Lina ihren kurzen Vortag über das Regelwerk. Das Spiel war einfach, denn viele Regeln gab es nicht.
      “Jap, alles klar”, bestätigte ich und sortierte das Blatt in meiner Hand. Als auch meine Freundin bestätigend nickte, eröffnet Lina das Spiel mit einem ersten Zug, der nicht sonderlich spektakulär wirkte. Enya folgte mit einem geschickteren, der mich beinahe in die Bredouille brachte, noch vor dem ersten Zug nachziehen zu müssen, wenn ich nicht eine Zwei auf der Hand gehabt hätte. Niklas legte geschickterweise gleich vier hohe Karten, die nur schwer zu toppen waren.
      Das Spiel nahm seinen Lauf und die ganze Zeit wirkte es als würde Lina diese erste Runde gewinnen, doch kurz vor Ende wendete sich das Blatt durch einen gekonnten Zug von Niklas, mit dem er das Spiel für sich entschied.
      Von Runde zu Runde wurde alle routinierter. Wir lachten. Wir fluchten. Wir lachten noch mehr. Die Stimmung war herzlich und ausgelassen, ein Abend, den man so öfter haben konnte. Natürlich tat es mir auch leid, dass Vriska so schnell verschwand und Niklas noch Erik verscheuchte, der bisher zu dem Zeitpunkt nicht wieder aufgetaucht war. Welpe schlief tief und fest auf Enyas Schoß, bekam von dem ganzen Lärm nichts mit. Gerade, als für die nächste Runde die Karten ausgeteilt wurden, ertönte ein lautes Gerumpel von draußen, das seinen Ursprung im Flur haben wird. Gefolgt von dem Tippen der Hundekrallen auf den Fliesen kam Vriska wieder, von einem zum anderen Ohr grinsend. Die kleine Auszeit hatte ihr womöglich geholfen, neue Lebensenergie zu sammeln. Sie wankte zum Tisch und legte ihre Arme eng um Niklas Hals, der perplex erstarrte und Hilfe suchend durch die Runde blickte. Bei Lina setzte kurzzeitig die Atmung aus und schnappte einmal kräftig nach Luft.
      „Geh lieber deinen Freund suchen, als dir den nächstbesten zu greifen“, fauchte sie. Ihr Brustkorb bebte und ihn ihren Augen brannte neben Verzweiflung und Unbeholfenheit, auch Wut. Vriska grinste bloß, flüsterte etwas in sein Ohr, wodurch seine Augen noch größer wurden. Dann schluckte er einmal und nahm ihre Arme vorsichtig von seinen Schultern.
      “Keine Sorge Lina”, lachte sie freundlich und setzt sich auf den leeren Stuhl neben Enya. Trymr lag wieder auf seiner Decke, den Welpen anvisiert. Dieser hatte die Ankömmlinge nicht einmal bemerkt.
      “Ich habe eine lustigere Idee”, sagte Vriska und lächelte noch mal zu Lina, die noch immer nicht ganz zufrieden mit der Situation war. Aber in den Augen der beiden Mädchen wurde es entspannter, als gäbe es keinen Grund zur Sorgen. Was ihre Aktion jedoch sollte, konnte ich nicht nachvollziehen, besonders im Anblick der Umstände.
      “Ach ja?”, fragte Enya interessiert und lehnte sich zu ihr hinüber, um mehr auf ihrem Bildschirm erkennenzukönnen. Doch ihre Neugier wurde schnell gestillt. Vriska schob den Kartenhaufen vorsichtig zur Seite, damit die Reihenfolge beibehalten werden konnte. Dann legte sie ihr Handy offen auf die Tischplatte mit einem geöffneten Chat. In dem Augenblick kam auch Erik wieder, als hätte er es gerochen.
      „Genau im richtigen Moment“, scherzte Vriska und zog ihm zu sich herunter. Dieser musterte nur kurz den Chat.
      „Muss das wirklich sein?“, tadelte er mit gerümpfter Nase und blickte verräterisch zu Niklas, der nur kurz mit den Schultern zuckte, „du bist betrunken, geh lieber mit mir ins Bett.“
      „Ist doch lustig. Ich möchte endlich wissen, wer sie genauso glücklich macht wie du“, verteidigte Lina Vriskas Idee und nahm das Gerät. Beim Lesen der Nachrichten zeichnete sich eine aussagekräftige Mimik auf ihrem Gesicht ab. Immer wieder öffnete sie geschockt den Mund, lachte dann und hielt sich zwischendrin die Hand an die Nase. Auch Niklas, der zuvor in Verteidigung im Stuhl verweilte, schielte auf das Handy, schloss die Augen langsam und schüttelte den Kopf.
      “Also, ich bin das nicht”, fügte er noch hinzu und holte ebenfalls sein Handy heraus, als würde es Lina beweisen wollen. Diese winkte nur ab.
      “Aber du weißt, wer es ist”, protestierte Vriska. Er nickte.
      “Du kennst ihn gut genug, um dir keine Sorgen machen zu müssen”, musterte Niklas sie erneut, ohne den Blick von Erik abzuwenden, der noch immer verärgert seine Hand an Vriskas Rücken hatte und schließlich ihr Genick hielt.
      “Ich habe eine Vermutung”, legte Lina das Handy zurück in Mitte. Ihr Gesicht grinste vergnügt und noch mehr, als Erik eine Braue nach oben zog. Niklas schüttelte dabei noch intensiver den Kopf.
      “Sag’ es nicht”, flüsterte er kaum hörbar in ihr Ohr. Dann begann lautes Gelächter.
      “Du musst dir wirklich keine Sorgen machen”, untermalte Lina die Aussage ihres Freundes. Noch verwirrter sah Vriska sich um. Auch ich bekam eine Vermutung, ohne dabei genauer zu verstehen, worum es überhaupt ging. Enya erfreute sich an der Unterhaltung, aber wirkte genauso stutzig.
      “Engelchen, können wir nun bitte ins Bett? Mir ist das hier unangenehm”, versuchte Erik sie erneut zu überzeugen, nicht noch weiter aus dem Nähkästchen zu plaudern. Verständlich, mir würde es auch gegen den Strich gehen, wenn offenbar herrschende Missverständnisse vor versammelter Mannschaft aufgeführt werden. Anstelle sich der Bitte zu beugen, rief sie diverse Namen aus dem Gedächtnis ab, um Licht in den Nebel der Unbekanntheit zu bringen. Im Wechsel verneinten Niklas und Lina diese, was auch mich immer mehr auf den richtigen Pfad brachte.
      Erst nach einer geschlagenen halben Stunde beruhigte sich Vriska und widmete sich mehr ihrem Freund, der mit geröteten Wangen am Tisch saß. Seine Hände umspielten nervös die lockeren Strähnen ihres Zopfes. Dass ihr vermeintlicher Liebhaber gar keiner war, konnte sie sich wohl nicht vorstellen. Wir hatten stattdessen wieder die Karten zur Hand genommen und setzten die Runde fort, die ich mit großem Abstand gewann. Niklas fluchte, aber erfreute sich ebenfalls an meinem Erfolg.
      “Vielleicht solltet ihr auch hier schlafen”, wachte Vriska vom Schoß ihres Freundes auf, vollkommen benommen und mit Faltenabdrücken im Gesicht. Müde wischte sie sich Strähnen aus dem Gesicht und hangelte sich an der Schulter Eriks nach oben. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln, kein Wunder. Wir alle waren froh darüber, dass sie endlich verstummt war. Nicht, dass ein grundlegendes Problem bei ihr vorlag, viel mehr, war ihre unbedachte und verletzte Art Dinge zu besprechen, die uns zum Mittäter machten. Zumindest fühlte es sich so an.
      “Das wäre toll”, gähnte Enya und sah zu mir, worauf ich ebenfalls nickte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass die Zeiger zu weit vorgeschritten waren, um den entfernten Ort anzufahren. So konnte ich auch mit Lego noch einmal arbeiten.
      “Dann gehe ich mal das Bett beziehen”, torkelte Vriska los und verschwand aus der Tür, wieder verfolgt von dem Riesen.
      “Darf ich auch bleiben?”, tuschelte Niklas, worauf Linas Augen aufleuchteten. Seine Hand lag auf ihrem Bein, massierte sie langsam.
      “Natürlich”, flüsterte sie und drückte ihre Lippen auf seine. Aus der kurzen Berührung wurde ein leidenschaftlicher Kuss. Im Hinblick auf die halb leere Weinflasche, die sich Lina und Enya teilten, wurde ich mir ihrer Offenheit bewusster. Auch ich bekam verführerische Blicke, die ich nur zu gern erwiderte. In der Luft lag eine elektrische Magie, die vermutlich noch mehr von den beiden Turteltauben neben uns ausging. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie unangenehm es für Erik gerade sein würde und noch viel mehr, wenn es ins Zimmer hinüberging. Es fühlte sich an, als wären wir alle Protagonisten eines Teenager Film, mit jungen Leuten, die frisch ihre Sexualität entdeckten.
      Zur Erlösung kam auch Vriska wieder, die schwarze Kapuze über den Kopf gezogen und ihr Gesicht müde. Ihre Arme lagen eng am Körper.
      “Das Bett ist bezogen, eins weiter von unserem”, teilte sie emotionslos mit und musterte die beiden neben uns, die noch immer ihre Finger aneinander hatten. Sie rollte mit den Augen.
      “Wehe”, fauchte Vriska, ergriff Eriks Arm und zog vom Stuhl. Erwartungsvoll blickte er sie an, aber wurde stattdessen nur weiter durch den Raum gezerrt. Die Tiere folgten den beiden, auch wenn der Welpe nur ungern vom Schoß herunterwollte.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 34.983 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      Abschied in Spanien | 06. Mai 2022

      Monet / Dix Mille LDS / Jokarie / St. Pauli‘s Amnesia / WHC‘ Poseidon / Crystal Sky / Small Lady / Jora

      Bereits am Flughafen stellte ich fest, dass meine dicke Winterjacke eine schlechte Wahl für Spanien war. Ich hatte nicht einmal so weit gedacht, eine dünnere Jacke im Handgepäck mitzuführen. Stattdessen zog ich sie auf und krempelte den Pullover an den Armen nach oben. Alicia scherzte bereits in Genf am Flughafen.
      „Die Pferde sind schon vor Ort, also kommt“, kam Lotye mit wedelnden Zetteln in der Hand zu uns gelaufen. Sie flog mit den beiden zusammen, was für große Diskussion gesorgt hatte.
      „Wie geht’s Monet?“, fragte ich umgehend. Es war sein erster Flug, während Dixie schon gut um die Welt kam, zumindest in Europa.
      „Alles bestens.“ Meine Trainerin legte ihren Arm um mich herum. Sie wusste, dass es unser letztes gemeinsames Turnier für die nächsten zwei Jahre sein würde, denn auch ich konnte nicht abschätzen, wie es weitergeht. Papa hatte bereits zwischen den Zeilen verlauten lassen, dass er in Schweden ein hervorragendes Angebot bekommen hatte. Ich seufzte. Dann schloss auch Alicia sich an. Inmitten der Menschenmassen standen wir in der Eingangshalle des Flughafens und umarmten einander.
      „Mir fehlt das hier jetzt schon“, sagte ich. Die beiden nickten.
      „Aber lasst uns nicht Trübsal blasen, sondern Spaß haben“, munterte Lotye uns auf. Zusammen suchten wir den nächsten Laden auf, der Kaffee in großen Bechern verkaufte, gar nicht so einfach. Schließlich wurden wir vor dem Gebäude fündig.
      Der Geruch aus dem Becher war mäßig, kein Vergleich zu meinem herkömmlichen Getränk. Stattdessen roch dieser bitter und kratzig, aber am Ende machte es keinen Unterschied. Alicia suchte zur gleichen Zeit nach einem Fahrer, damit wir auf das Turniergelände kamen. Wir fanden heraus, dass es nicht weit von hier war, aber die sommerlichen Temperaturen und unser Gepäck erschwerten einen Spaziergang. Endlich fanden wir ein freies Fahrzeug, dass uns zu dem abgesperrten Gelände brachte. Es lag abseits von der Stadt, aber direkt am Strand.
      „Ist das etwa?“ Mir blieb der Mund offen stehen, als ich das abgezäunte Dressurviereck direkt am Strand sah, umgeben von einer langen Tribüne.
      „Oh! Ich möchte auch am Strand reiten“, schwärmte Alicia.
      „Keine Sorge, das Springen findet auch dort statt“, beruhigte Lotye sie. In ihren Augen sah ich die Erleichterung. Wäre es nicht so gewesen, hätte meine Freundin mir wohl noch Wochen in den Ohren gelegen.
      Am Tor setzte man uns ab und mit den Ausweisen durften wir die Schranke durchqueren. Zwischen zwei Hotels im typischen andalusischen Baustil waren Zeltboxen aufgebaut, während auf einem großen Parkplatz die Transporter ordentlich in einer Reihe standen.
      „Lasst uns erst mal die Sachen wegbringen und dann gehen wir zu den Pferden“, sagte unsere Trainerin, als Alicia und ich schon an den Zelten entlang tigerten und unsere Nummer suchten.
      „Na gut“, gab ich nach. Wir betraten eins der Hotels und checkten ein. Die Einganghalle war nicht groß, aber hell. Durch eine bodentiefe Fensterfront konnte man den Pool sehen, an bereits ein paar Leute entspannten in der Sonne. Ich meine sogar, mir bekannte Gesichter gesehen zu haben, aber ich könnte mich auch irren. Bevor ich sie genauer inspizieren konnte, zog mich Alicia mit zum Fahrstuhl. Unsere Zimmer lagen in der vierten Etage und verfügten über einen kleinen Balkon mit Meerblick. Meine Freundin ließ ihre Tasche neben der Tür stehen und rannte sofort raus. Um Haaresbreite verfehlte ich ihr Gepäck, konnte mich noch am Türrahmen halten.
      „Hallo? Bist du bescheuert?“, fluchte ich und setzte gezielt meine Beine daran vorbei. Aber Alicia hatte recht. Die Aussicht war ein Traum.
      „Schau mal“, zeigte sie nach links, wo man den Reitplatz teilweise erkennen konnte, während der Rest von den überdachten Tribünen überdacht war.
      „Ich bin froh, doch mitgefahren zu sein“, sprach ich mit einem unberührten Lächeln auf den Lippen.
      „Eindeutig!“, schloss sie sich an. „Und wir suchen für dich einen besseren Kerl als Vachel!“

      Bei den sommerlichen Temperaturen am Mittelmeer, die selbst im Herbst aktuell bei knapp zwanzig Grad Celsius lagen, konnte ich nicht in der langen Jogginghose bleiben. Mir vorher zu informieren, funktionierte nicht. Stattdessen bediente ich mich bei Alicia, die gefühlt ihren ganzen Kleiderschrank dabei hatte. Mit einer Hotpants bekleidet, einem Tank Top und einer leichten rosafarbenen Jacke darüber stiefelte ich zu Monet. Um meinen Hals trug ich die Karte, die mich für alle Bereiche berechtigte, außer den VIP, schließlich war ich nicht Raphael, die Alicia mit ihren Adleraugen bereits ausgespäht hatte und verschwand. Mir egal, schließlich wollte ich endlich meinen Hengst sehen! Er stand im mittleren Zelt, irgendwo weiter hinten, berichtete mir Lotye zuvor. Sie blieb in ihren Zimmern und war wirklich erschöpft von der Reise, was ich ihr nicht verübeln konnte. Tausenden Fragen über den Transport lagen auf meiner Zunge, lösten dabei ein ungestilltes Kribbeln aus, dass sie wie kleine Elektro-Schocks in Richtung meines Nackens ausbreitete.
      In der Gasse standen einige Menschen herum, die ich beim ersten Sichten noch nie gesehen hatte. Nur das Gesicht einer großen Blonden kam mir bekannt vor, vermutlich in einem Video. Aber mich interessierte im Augenblick nur mein Pony, das schon seinen Kopf aus der Box regte und sich mit der Zunge die Lippen leckte. Zwischen den ganzen Warmblütern wirkte er wie ein Baby, das hier nichts zu suchen hatte. Kurz fühlte auch ich mich so, die Gespräche um mich herum verstummten urplötzlich, als ich bei ihm anhielt. Liebevoll tätschelte ich seinen Hals und kramte aus der Jackentasche ein Leckerchen heraus. Gierig nahm er es von meiner Hand.
      „Die denkt doch nicht wirklich, dass sie was mit dem reißen kann“, hörte eine zu jemandem sagen. Diese lachte.
      „Wohl kaum. Vielleicht gehört sie zu dem Ponyreiten morgen“, feixte die andere.
      Ich drehte mich nicht mal zu ihnen um, zu sehr schmerzte es mich. Auch Monet schien die Worte verstanden zu haben und stupste mich voller Inbrunst an. Ein zartes Lächeln huschte über meine Lippen. Fürs Erste entschied ich, ihm das Halfter umzulegen und eine Runde über den Veranstaltungsort zu drehen. Nach dem Flug musste er sich sicher mal die Beine vertreten, vor allem, wenn er nun für mehrere Tage nur in der Box stehen würde. Sicher sehnte er sich schon nach seiner Weide.
      Die beiden Mädels verzogen sich aus dem Zelt und ich verließ es ebenfalls, nach dem ich den feinen Staub aus seinem Fell entfernt hatte. Folgsam lief er am Strick neben mir her. Wir folgten dem Weg. Überall standen Schilder, wo man mit einem Pferd hin durfte und wo nicht, dem kamen wir nach. Nach und nach trudelten mehr Transporter ein und am Horizont senkte sich die Sonne in Richtung mehr. Ein wunderschönes rötliches Licht spiegelte sich auf der malerischen Oberfläche, tauchte dabei hellen Häuser am Hafen in warme Töne. Ich musterte jede Fassette am Himmel, während Monet nur Augen für das Grün am Boden hatte. Es schmerzte inzwischen doch. Wieder kam Vachel in mein Gedächtnis, wie er ganz trocken sagte, verlobt zu sein. Unbegreiflich war das alles für mich, noch nie hatte ich von der Dame gehört, die Alicia zu kennen schien. Im Stall verhielt ich mich normal ihm gegenüber, nur er suchte Abstand, was ich verstand. Eigentlich hätte es offensichtlich sein müssen, was für Gefühle ich ihm gegenüber pflegte. Wir lagen oft am Abend auf der Couch, ich in seinen kräftigen Armen und er strich mir den Bauch. Es war zu schön, um wahr zu sein.
      Lange standen wir noch an der Uferpromenade. Ich hatte mich mittlerweile auf den Boden gesetzt und fröstelte. Wir bekamen Gesellschaft. Schritte näherten sich und sogar mein Pony hob den Kopf. Leise brummte er, wodurch auch in mir die Neugier Funken sprühte. Allerdings nur für den Hauch einer Sekunde. Ich verfluchte ihn, aber was wollte Vachel überhaupt hier? Sky hatte bis Februar erst einmal Pause und erst dann wollte er mit der Qualifikation für diese wirklich großen Dressurturniere bekommen, bei denen man Punkte bekam. Die ganzen Arten der Turniere durchblickte ich noch nicht, aber ich war ohnehin glücklich genug, dass Monet sich mit Warmblütern messen konnte.
      „Hey“, sagte ich mit zu Versagen drohender Stimme. Dabei versuchte ich ein Lächeln aufzusetzen, dass mir nur mäßig gelang. Er hingegen strahlte und löste damit ein Schlagzeugsolo in meiner Brust aus. Die Hände steckten locker in der leicht nach oben gekrempelten Anzughose, darüber, ein wirklich sehr enges Poloshirt. Ich schluckte.
      In meinem Kopf leuchtete ein Szenario auf, wie er sich zu mir runterbeugte, die Lippen trocken und die Augen glasig. Eine Strähne hatte sich hinter meinem Ohr gelöst, die er vorsichtig zurücklegte und die Hand am Kiefer behielt. Das Trommeln in meiner Brust wurde stärker, bis sich schließlich alles löste und unsere Münder aufeinanderlagen.
      Natürlich passierte das nicht, stattdessen blieb er auf Abstand bei mir stehen. Vachel drehte die Daumen und schien nicht so ganz entschlossen, was er bei mir wollte. Einen wirklichen Grund dafür verspürte ich nicht, nur die Enttäuschung, dass wir einander so fern waren.
      „Ich wollte nur sagen, dass ich hier bin. Damit“, Vachel hielt für einen Wimpernschlag inne, „es nicht seltsam ist, wenn du mich mit Giada siehst.“
      „Alles klar.“ Zustimmend nickte ich, als wäre ich dankbar über diese Geste, auch wenn es in mir ganz anders aussah. Schließlich wusste ich nicht einmal, wer sie war, doch offenbar ritt sie auch. Nach Alicias Reaktion hatte ich mir das bereits denken können, aber ich wollte mich damit ehrlich gesagt, nicht auseinandersetzen.
      Stumm stand er noch Minuten lang bei mir, wischte mit dem Fuß den Kies von einer Seite zur anderen, während Monet den Kopf wieder ins Grün gesteckt hatte.
      „Ich werde dann mal wieder gehen“, sagte Vachel.
      „Okay“, sprach ich abwesend. Mein Blick lag wieder auf dem Meer, das die Sonne verschluckt hatte.
      „Wir sehen uns noch“, verabschiedete er sich.
      „Bestimmt.“
      Lange saß ich noch neben der Palme und Monet graste weiter. Immer wieder tauchten andere Menschen mit ihren Pferde auf und ließen sie ebenfalls am Gras zupfen, aber nur kurz, als wäre es eine Süßigkeit, wovon das Tier zunahm. Grauenhaft. Ich hatte währenddessen mein Handy hervorgezogen und schrieb Eskil: „Wenn du das sehen könntest, warte“, dann machte ich ein Bild. Am Himmel leuchteten ein paar Wolken in ehrlichen Violetttönen und spiegelten sich auf der bewegenden Wasseroberfläche.
      „Erlkönig hätte sich sicher über etwas mehr Heimatgefühl gefreut“, antwortete er und erzählte mir mehr über seinen Hengst. Dieser stammte auf Portugal. Auch dort müssten aktuell dieselben Temperaturen herrschen, wie am Mittelmeer, überlegte ich. Dann suchte ich danach. Tatsächlich war etwas kühler, durch irgendwelche andere Wasserströme schätzte ich, aber Geografie war ein Rätsel für mich.
      Monet stand wieder in seiner Box und war wenig überzeugt von dem Heu, ändern konnte ich nichts. Für mich stand auch Essen auf dem Plan. Ich folgte dem steinigen Weg zurück ins Hotel, durch die Einganghalle und kam im Speisesaal an. Die Tischen waren zahlreich besetzt, überall aßen Leute, tranken und sprachen. Und obwohl ich nur wenige verstand, wirkten alle sehr fröhlich. Obwohl mich die Gesellschaft zwischen glücklichen Menschen stets in den Bann zog, verlor ich immer mehr den Hunger. Es drehte sich, kniff unsanft in der Magenregion und wanderte wie eine Schlange nach oben. Auch der Anblick der Weinflaschen ekelte mich.
      „Neele, hier“, winkte Alicia, nach dem ich schon den ganzen Raum abgesucht hatte. Unser Tisch war ebenso zahlreich besetzt, auch mit einem Typen, den bisher noch nie gesehen hatte. Freundlich hob ich die Hand als Begrüßung und setzte mich stumm zu Lotye.
      „Für mich ist es mehr Spaß an der Freude“, setzte der Unbekannte das Gespräch mit meiner Freundin fort. „Schließlich ist Karie alles andere als typisch.“
      Offenbar sprach er über sein Pferd.
      „Ach, sah doch super aus beim Training“, sagte Alicia mit funkelnden Augen. Mit dem Typen aus dem Nebenstall war es nur eine kleine Liebelei, wie sie mir vor einiger Zeit erzählt hatte. Es tat ihr aber nicht einmal leid, dass ich dementsprechend vernachlässigt wurde. Sie dachte nie weiter als ein Meter Feldweg, dennoch wünschte ich mir Rücksicht. Mich wunderte es aber nicht, dass sie wieder jemand anderes im Auge hatte. Währenddessen sortierte sie mit der Gabel die Lebensmittel um, ohne etwas davon zu essen. Das vertrieb mir noch mehr den Appetit.
      „Und, mit Monet ist alles gut?“, schmunzelte Lotye.
      „Ja, ich habe ihn grasen lassen“, erklärte ich kurz.
      „Sehr schön“, sie nickte, „morgen um neuen Uhr würde ich noch mal mit dir die Kür durchgehen, schließlich ist am Abend schon deine Prüfung.“
      Tatsächlich hatte ich diese Tatsche vollkommen verdrängt in meinem Gedankenzirkel. Schon morgen war die Prüfung. Obwohl es in Genf nur schlecht für uns lief, sah sie das Potenzial in uns beiden und auch das Training half und bei der Verbesserung, allerdings hatte ich da noch ein positives Bild im Kopf. Jetzt leuchtete nichts in mir, es war ein Ringen um Trauer und Enttäuschung. Lotye wusste das alles nicht. Bestmöglich überspielte ich das Grauen.
      Die anderen am Tisch aßen auf, während ich stumm dabei saß und weiter Nachrichten tippte, mit Eskil. Ich hatte mich gegen Essen entschieden, obwohl meine Trainerin versuchte, dass ich zumindest eine Kleinigkeit zu mir nahm. Das Buffet hatte einiges zu bieten, nur mir drehte noch immer der Magen.
      „Wir gehen noch zur Bar, kommst du mit?“, fragte Alicia. Lotye sah kritisch zu mir.
      „Nein, ich brauche Ruhe für morgen“, sagte ich und sie verschwand mit dem neuen Typen.

      Im Bett, es müsste tief in der Nacht gewesen sein, wachte ich kurz auf. Alicia stolperte ins Zimmer und brachte eine unbeschreibliche Wolke an Gerüchen mit – Schweiß, Alkohol, Zigarettenqualm und Deo, alles strömte durch den Raum. Es roch so widerlich, dass ich beim Wachwerden mich erinnerte. Ich stand also auf und öffnete als Erstes das Fenster, schon dafür auch die Vorhänge beiseite.
      „Wie spät ist es?“, fragte Alicia heiser und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Sieben Uhr“, murmelte ich. Mir war schlecht. Ob es von der Luft im Raum kam oder dem fehlenden Abendessen, konnte ich nicht genau einordnen. Beides vermutlich. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Wir waren nicht zum Feiern hier, erst recht nicht, wenn noch keiner eine Prüfung geritten war. Auch unter der Dusche überlegte ich noch lange, was sie in der oben solchen Teufelskreis zog, aber mir fiel beim besten Willen kein Grund ein. Nach dem Zähne putzen, zog ich mir die blaue Reithose an, ein frisches Poloshirt und griff noch meine Jacke, bevor ich leise den Raum verließ zum Frühstücken. Lotye wartete am Eingang auf mich.
      “Guten Morgen”, lächelte sie freundlich und legte die Hand auf meine Schulter. “Ich hoffe, dass du Hunger mitgebracht hast.”
      “Guten Morgen. Nicht wirklich”, ich seufzte, “Alicia roch wie eine Kneipe und jetzt habe ich Kopfschmerzen.”
      “Was ist denn mit ihr los?”, fragte sie kritisch nach, als hätte ich Ahnung. Ich zuckte mit den Schultern. Sie nickte nur verständnislos und zusammen suchten wir einen Tisch.
      “Oh, bei Vachel sind noch zwei Plätze frei”, sprach meine Trainerin und lief schnellen Schrittes dazu. Natürlich wusste sie um unsere Situation nicht, was ich auch dabei belassen wollte. “Ist hier noch Platz?”
      “Ja, setzt euch”, sprach er freundlich und klopfte mit der Hand auf die Tischplatte. Meine Beine bewegten sich nicht, hielten mich wie ein Zweikomponenten-Kleber auf dem Boden. Die Finger zitterten, während es bis in meinen Hals klopfte. Wahrlich verschlug es mir den Atem und Hunger. Lotye sprach kurz mit ihm, aber suchte danach das Buffet auf. Eindringlich trafen mich ihre Blicke, als würde sie mich erinnern wollen, dass Essen wichtig war.
      “Wie lange möchtest du noch herumstehen?”, hakte Vachel nach, obwohl sein Gesichtsausdruck zufolge, er wusste schon, was das Problem war.
      “Ich weiß nicht”, sagte ich unentschlossen. Dann setzte ich mich ihm gegenüber. Wehmut überkam mich bei jedem Wort, das wir wechselten, obwohl ich mich versuchte von meinen Gefühlen zu entreißen. Der Kampf war aussichtslos, aber mit jedem Atemzug der meine Luft durchströmte, zog ich neue Kraft in meinen schlappen Körper. Selbst die wunderschöne Aussicht aufs Meer und die Palmen machte es nicht erträglich.
      “Das ist doch idiotisch.”
      “Wie bitte?”, fragte Vachel nach. Mist! Hatte ich das gerade laut gedacht? Schockiert hielt ich mir die Hände vor den Mund, als hätte ich sonst was gesagt, allerdings konnte ich auch nicht genau einschätzen, wie viel der Gespräche in meinem Inneren nach außen traten.
      “Ach nichts”, versuchte ich vom Thema abzulenken, als ich meinen Augen nicht trauen wollte. Eine blonde, langbeinige Dame kam näher an den Tisch heran, mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Sie musterte mich ebenfalls. Egal, was ich sagen würde, sie hatte mich bereits verurteilt. Ich hatte ihr nichts Böses getan, als ein Welsh Pony zu besitzen. Dass ich als Einzige in dem Jungen Reiter Grad Prix kein Warmblut unter dem Sattel hatte, sprach sich offenbar herum wie ein Buschfeuer.
      “Was macht der Ponyreiter hier?”, zischte sie und kam näher zu uns. Ihre Hände fasten auf seine Schultern, wanderten dann langsam über seine Brust. Sie küssten sich. In mir zog sich abermals alles zusammen. Wo blieb Lotye? Suchend wanderten meine Augen von links nach rechts, aber ich fand sie nicht.
      “Giada, das ist Neele”, erklärte er.
      “Ah”, sie schnappte verächtlich nach Luft. „Kommst du, mein Herz?“
      „Eigentlich nicht, wieso?“, fragte Vachel verwundert. Er verstand genauso wenig wie ich, wieso sie sich nicht einfach mit zu uns setzte.
      „Caro wartet schon auf uns, komm doch bitte“, setzte sie noch eine Schippe darauf. Sie sprach vermutlich von der Brünetten, die mit Zelt lungerte. Es dauerte nicht lange, dann verabschiedete Vachel sich. Ihm war die Diskussion ebenso unbequem wie mir.
      „Viel Erfolg“, sagte er noch beim Vorbeigehen und verschwand mit ihr. Verloren saß ich weiter am Tisch. Was tat ich hier eigentlich? Meine Hände stützten meinen Kopf.
      „Neele, du hast immer noch nichts gegessen“, mahnte Lotye.
      „Man. Ich habe keinen Hunger, mir ist schlecht!“, schimpfte ich jämmerlich.
      Ihre Stimmung wechselte im nächsten Augenblick. Sie legte das Besteck klappernd zur Seite und richtete ihre Augen zu mir. Die Ernsthaftigkeit löste sich in Luft auf.
      „Was ist los? Bist du so aufgeregt?“, fragte sie fürsorglich.
      „Ja, auch“, ich seufzte und erzählte ihr alles von Vachel, von hinten bis vorn und die Gesichtszüge entglitten immer wieder. Besonders sauer stieß ihr das Verhalten seiner Verlobten hier am Tisch auf.
      „Kann doch nicht wahr sein“, brummte sie kopfschüttelnd.
      „Leider schon, aber was soll‘s?“, sagte ich teils enttäuscht, teils erleichtert.
      „Lass den Kopf nicht hängen, nimm dir ein Brötchen und dann üben wir noch mal die Übergänge, dann machst du die platt!“, lachte Lotye. Sie war nur einige Jahre älter als ich, Ende zwanzig, und konnte entsprechend nachvollziehen, wie es mir ging. Für sie gab es nur die Pferde, auch wenn sie schon vereinzelt mal einen Kerl ans Land gezogen hatte. Wie sie sie sagte, es passte nie. In meinem Alter stand Lotye am Scheideweg, ob sie ihr Geld in ein teures Turnierpferd steckte oder in Trainerscheine, nach dem ihr Hengst urplötzlich einer Kolik erlag. Ich war froh über ihre Entscheidung, denn der begleitete mich schon einige Jahre und hatte sehr daran gefeilt, dass ich mit Monet so weit kam.
      Ihrem Rat mit dem Brötchen kam nach und aß sogar zwei, damit fühlte sich die Leere in meinem Magen bereits besser. Dann schnappte ich mir noch eine große Wasserflasche und verließ den Raum mit Lotye zusammen. Wir sprachen mittlerweile die Aufgabe durch, welche Abfolgen besonders schwierig für mein Pony und mich waren. Im Zelt wurde es zunehmend mehr Leute, doch der Gang war breit genug, dass man noch zu seinem Pferd durch kam.
      „Die?“, flüsterte Lotye in mein Ohr, als Giada auftauchte, mit ihrem Anhängsel. Ich nickte unauffällig.
      „Dann sehen wir mal“, sagte sie entschlossen und zog das Handy hervor. Natürlich startete sie auch bei den jungen Reitern und war nur drei Starts vor mir dran. Das Grummeln in meinem Magen begann wieder.
      „Vielleicht sollte ich zurückziehen“, rückte ich direkt mit meinen Bedenken raus, noch bevor ich überhaupt auf dem Pferd saß.
      „Schwachsinn“, schimpfte sie lächelnd. Monet spitzte seine Ohren und streckte sich in ihre Richtung, als würde es Leckerlis bedeuten. “Siehst du, selbst er ist überzeugt.”

      Wenig später war der Unmut über die ganze Situation wie verflogen. Jeder federnde Schritt durch den weichen Sand setzte Glückshormone frei, die mir ein Lächeln auf die Lippen legten. Fröhlich strich ich Monet immer wieder über den Hals und fummelte an den Strähnen herum, die später noch Zöpfe werden wollten.
      „Mehr zurücknehmen, damit er von hinten kommt“, sagte Lotye durch das Funkgerät in meinen Ohren. Mit einer halben Parade nahm ich seinen Rahmen deutlicher zusammen und trieb gleichmäßig am Bauch. Der Hengst richtete den Rumpf auf, trat dabei gezielter unter. Erneut lobte ich ihn. Wir setzten das Programm fort mit Verkürzungen im Trab und auch Galopp. Die Seitengänge legten wir hauptsächlich zum Lockern ein, denn in der Box bekam er nicht Auflauf den er sonst hatte und am langen Zügel trabte er locker in der Dehnungshaltung. So konzentriert mein Pony in allen Möglichkeiten der Reitkunst für die Prüfung vorzubereiten, bemerkte ich nicht, dass der Platz immer leerer wurde und sich am Zaun eine Traube gebildet hatte. Selbst im Schritt fiel es mir erst sehr spät auf, genauer gesagt, als ich die Bügel überschlug und abritt. Ich sah in überraschte und glückliche Gesichter, als hätte Monet Kapriolen geschlagen.
      „Was wollen die alle?“, fragte Lotye durchs Mikrofon.
      „Dich in der Prüfung gewinnen sehen“, ich sah zu ihr und sah ein strahlendes Grinsen über ihr ganzes Gesicht.
      „Aber man muss doch nicht immer gewinnen“, merkte ich beiläufig an. Wir hatten das Training gebraucht, vordergründig ich, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Obwohl ein Sieg etwas Schönes wäre, konnte ich mir nicht vorstellen, das wir uns zwischen den fünfundfünfzig Teilnehmern diesen ergattern konnten. Es war auch nicht mein Ziel. Ich wollte nur unter die ersten zwölf kommen und da sah ich uns. Monet hatte in dem tiefen und feinen Sand sehr zu kämpfen, dennoch war ich nach dem Training zuversichtlich.
      „Du willst nicht gewinnen?“, hakte Lotye nach, als wir im Stall Monet den Sattel abnahmen und im Anschluss zur Waschbox liefen.
      „Nein. Das Ziel wäre deutlich zu hoch gesteckt, wenn ich an die neunundvierzig Prozent in Genf denke“, erklärte ich ruhig.
      „Aber du würdest dich dennoch freuen?“, eine Augenbraue hob sich bei ihrer Frage.
      „Natürlich! Ich würde vermutlich heulen vor Freude, aber ich möchte mit einem guten Gefühl in das Programm gehen und wieder heraus. Dafür ist kein Sieg von Nöten.“
      „Sehr reflektiert“, stimmte sie mir zu.
      Vor der Waschbox hatte sich eine Schlange gebildet. Unruhig trampelten Pferde von Links nach Rechts und auch Monet wirkte von den Tieren sehr abgelenkt. Seine Ohren bewegten sich hektisch in alle Richtungen, der Kopf nach oben gestellt und der Strick bis zum zerbersten gespannt.
      „Gibt es noch eine andere?“, fragte ich meine Trainerin. Diese nickte und auffällig folgten wie ihr. Am anderen Ende des Platzes fanden wir diese tatsächlich, leer und einsam lag sie vor uns.
      „Faules Pack“, lachte ich.
      „Ja, die wollen sich doch heute alle nicht mehr bewegen. Ich habe sogar gesehen, dass einige schon Groomer haben.“ Sie meinte damit Leute, die die Pferde für den Reiter beschäftigten und betreuten.
      „Sowas werden wir nie brauchen“, dachte ich laut nach und Lotye lachte.
      „Du reitest auch nur ein Pferd, aber teilweise sind die Leute mit mehreren Tieren hier im Auftrag der Besitzer. Sie arbeiten.“ Gespannt lauschte ich ihrer Erklärung. Obwohl Turniere für mich kein Neuland waren, kannte ich besonders die Atmosphäre bei den wirklich großen Veranstaltungen nicht, Lotye hingegen begleitete viele Leute, deswegen musste sie auch gleich verschwinden. Sie hatte noch drei weitere Reiter vor Ort.
      „Danke dir!“, rief ich ihr noch nach und begann das Silber Shampoo aus seinem schneeweißen Fell zu waschen, das bis auf einiger Punkte, beinah rein war.
      Von Kopf bis Fuß tropfte das Wasser an und herunter, aber es fühlte sich erfrischend an. Was nicht vom Schweiß getränkt war, wurde durch Monet nass. Schon am Vormittag herrschten über fünfzehn Grad, was ich aus dem Gebirgsvorland im Herbst nicht kannte. Ich flocht ihm kleine Zöpfe und begann sie zu vernähen, als jemand dazu kam, mit einem Schecken. Das Pferd musterte meins, das interessierte brummte.
      „Lass das“, zischte ich Monet an. Der zuckte mit dem Kopf und das Metall klapperte aneinander.
      „Ach, ist doch alles gut“, sagte der Mann, der dazu kam. Dieser war riesig, gut aussehend, aber tätowiert, die Arme voll von oben bis unten. Ich meinte, ihn schon mal gesehen zu haben, aber nicht auf einem Turnier, sondern in einem Video, das Alicia mir gezeigt hatte. Regungslos sah ich ihn an, der Schlauch plätscherte fröhlich vor sich hin und mein Pony wusste auch nicht so genau, was ich tat. Der Herr grinste weiter und tätschelte dabei den weißen Teil des Halses vom Pferd.
      Erst als Monet sich schüttelte und abermals das Wasser an mir verteilte, erwachte ich aus der Starre. Größtenteils war meine Kleidung abgetropft, aber das wusste er, natürlich zu ändern.
      „E-Es tut mir leid“, stammelte ich verlegen. Ich spürte, wie die meine Haut glühte, obwohl die Knie zitterten vom kühlen Wasser und Luftzug, der an mir vorbeihuschte.
      „Was tut dir leid?“, musterte er mich und lachte dabei. Sein Lachen war herzlich und offen. Ich mochte sein Lachen, die gleichmäßigen tiefen Atemzüge, bei denen ein Ton auftrat, der nicht passender hätte sein können zu seiner Stimme und Äußerlichkeit. Wie ein Virus fühlte ich mich davon angesteckt und musste nun auch über meine dämliche, jugendliche Art Lachen.
      „Ich bin Neele“, beschloss ich mich vorzustellen, anstelle ihm zu erklären, dass es mir peinlich war, vollkommen durchnässt vor ihm zu stehen.
      „Juha, aber jeder sagt einfach Ju“, stellte er sich vor. Der Händedruck fühlte sich gut an, wie schon sein Lachen zuvor, rückten mehr Glückshormone in meinem Gehirn zur Arbeit aus. Sie setzten damit weitere Prozesse in Kraft und die blöden Gedanken vom Frühstück rückten immer weiter in den Hintergrund.
      „Nett, dich kennenzulernen“, strahlte ich.
      „Ebenfalls.“
      Wir tauschen die Plätze, aber verschwand nicht sofort mit Monet. Stattdessen unterhielten wir uns. Ich erfuhr, dass seine Stute nicht nur unheimlich gut aussah, sondern auch ein Sankt Pauli Pferd war, erstes Grades. Den Rapphengst kannte man Weltweit, vor allem, da er nur wenige Nachkommen hatte. Die Besitzerin wollte nicht, dass es wie bei Totilas enden sollte mit der Genverteilung. Stattdessen wählte sie die Stuten gezielt aus und schaffte damit einen kleinen Kult. Fasziniert lauschte ich seinen Erzählungen. Er kannte sich wirklich aus mit Pferden, aber wirkte auch, als würde er Eindruck schinden wollen. Später endete die Unterhaltung eruptiv. Alicia kam, noch ziemlich verschlafen, zu uns gelaufen, mit Dixie am Halfter. Die Stute trat mit bebenden Nüstern neben ihr her, reckte den Kopf nach oben.
      „Ach, was haben wir denn hier?“, schmunzelte sie. Auf ihren Lippen lag ein schmieriges Lächeln.
      „Ein geschecktes Pferd“, antwortete Ju schlagfertig.
      „Seh ich“, lachte sie, „aber ich meinte, euch beide.“ Ihre Augen wanderten hin und her, nur wir wussten nicht so recht, was sie uns damit sagen wollte.
      Ich half meiner besten Freundin, ihre Stute fertig zu machen. Im Gegensatz zu mir lag vor ihr ein entspannter Tag. Sie wollte gleich noch auf den Platz, den ein paar Sprünge wurden dort aufgebaut, für die Reiter der morgigen Prüfung. Auch Ju kam mit und immer mehr Reiter wurden es im fließenden Licht der Mittagssonne. Mich hatte man zum Stangen aufheben beauftragt, obwohl es noch genügend andere Menschen am Zaun gab. Einige bekannte Gesichter begrüßten mich, darunter auch Raphael mit seinem blauäugigen Hengst, der Amy, Jus Stute, die Show stahl. Mit Leichtigkeit sprang dieser über den niedrigen Sprung, der kaum höher als ein Meter war. Zur Gymnastizierung war dieser, wie Alicia mir erklärt hatte und wieder bei ihrer neuen Bekanntschaft landete. Damit stand ich allein da, hob immer wieder die Stange aus dem Sand. Wie konnte es eigentlich sein, dass die Pferde diese immer wieder rissen, aber auf dem Platz beinah das Doppelte an Höhe erwartete? Besonders Alicias Typ, der wohl Mateo hieß, hatte seine Fuchsstute nicht wirklich im Griff. Es waren Freudensprünge, wie man mir im Nachhinein erklärte. Er hatte Karie zuvor rasiert und damit kam auch unerwartete Energie aus dem schweren Warmblut, richtig. Sein Pferd passte genauso wenig in das Bild eines Startes hier vor Ort. Ich versuchte mehr Informationen zu bekommen über ihn, aber es wurde mir verwehrt.
      „Neele, komm, setz‘ dich mal auf Amy“, sagte Ju später zu mir. Ich gluckste verwirrt herum, aber schwang mich schließlich auf die Stute. Amy war bequem und nicht nur das, nein, das Pferd schwebte durch den Sand. Ju gab mir mehrere Anweisungen, die ich herzlich annahm und schließlich setzte ich sie sogar über den Sprung. Es war eine Leichtigkeit für das Tier. Sie lief Gehorsam an den Hilfen, reagierte schon auf den Gedanken.
      „Das war toll“, bedankte ich mich bei Ju und schlang sogar meine Arme um ihn. Für mich war springen nichts, aber dass mir ein beinah fremder junger Mann sein Pferd anbot, geschah auch nicht alle Tage.
      „Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich, als wir zurück ins Stallzelt liefen.
      „Aus Schweden, offensichtlich“, lachte er und zeigte auf die Flagge an seinem Ärmel. Wie blöd war ich eigentlich? Demonstrativ fasste ich mir an den Kopf, während Amy genüsslich auf ihrem Gebiss kaute.
      „Oh“, glitt es über meine Lippen. Obwohl ich mittlerweile jede Facette seines Körpers genau unter Lupe genommen hatte, entging mir dieses kleine Detail. So oberflächlich es auch klingt, er war wirklich heiß. Ein Grund mehr, wieso es im Inneren raste und Alicia mich ignorierte. „Offenbar zieht mich das Land magisch an.“
      „Sachen gibt's. Aber wie kommst du darauf?“, hackte er nach. Ich erzählte ihm alles, von Eskil in Genf und auch dem Umzug auf das riesige Gestüt. Nervös drückte Ju seine Lippen zusammen als würde er etwas sagen wollen, aber lauschte weiterhin meiner Erzählung bis ich zum Ende kam. Zur gleichen Zeit nahm er den Sattel vom Rücken und machte einen der Zöpfe neu.
      „Dann sehen wir uns wohl bald öfter“, grinste er verlegen und ich denke, dass die Röte auf seinen Wangen nicht durch die Temperaturen allein kamen.
      „Ach ja? Wieso denn das?“, fragte ich verwundert nach. Schweden war riesig und meine Zeit begrenzt. Außerdem konnte ich nicht ahnen, was mich dort erwarten würde. Auf den Karten lag das Gestüt mitten im Nirgendwo, umgeben von Wald und Wasser.
      „Wir stehen dort als Einsteller.“
      Mir rutschte das Herz in die Hose und ein flaues Gefühl legte sich auf meinen Magen, während Amy aus einer blauen Schüssel ihr Mittag genoss. Ich tätschelte sie am Hals, in der Hoffnung, wieder einen normalen Herzschlag zu bekommen. Ju war der Hammer: Offen, lustig und höflich. All diese Eigenschaften hatte Vachel auch, aber es gab einen Unterschied. Zumindest hoffte ich das.
      „Hast du eine Freundin?“, rutschte es mir ungeschickt über die Lippen. Selbst er zog eine Braue hoch.
      „Das kam unerwartet, aber nein. Schon länger nicht mehr“, erklärte Ju. „Interesse?“
      „Ähm“, stammelnd schnappte ich nach Luft, aber winkte ab.
      „Das war ein Scherz.“
      „Ich frage nur lieber vorher“, dann beugte ich mich näher an ihn heran, „meine letzte Bekanntschaft war urplötzlich verlobt und nannte alles einen Ausrutscher. Das ertrag ich nicht noch einmal. Ich bin so jemand nicht.“
      Die Wände könnten Ohren haben, deshalb drehte ich mich mehr als herum, um alles im Blick zu haben. Wir waren, bis auf einen Spanier, allein. Dieser fütterte sein Pferd und beachtete uns nicht.
      „Ich bin so jemand nicht“, wiederhole Ju nüchtern. „Das höre ich oft.“
      „Gut, die Wortwahl stimmte nicht ganz“, entschied ich, die Situation umgehend klarzustellen. „Ich meinte damit, dass ich in keine Beziehung funken möchte, deshalb habe ich mich umgehend von ihm angewendet.“
      „Okay.“ Ju schien weiterhin nicht mehr interessiert an einer fortlaufenden Unterhaltung. Stattdessen brachte er die Stute in die Box. Stillstand ich bei ihm und betrachtete jeden seiner Schritte, hatte ich was Falsches gesagt? Meine Hände fummelten das Shirt nach unten, aber gehen wollte ich auch nicht. Noch eine Weile stand ich da, bis Ju sich verabschiedete.
      „Eine Freundin wartet noch“, erklärte er und verschwand durch den Ausgang.
      Erst dann setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Bis zur Prüfung lagen noch Stunden vor mir und Monet nun auch nervös zu machen, sollte kein Plan sein. Also begutachtete ich das Gelände. Auf dem Prüfungsplatz ritt eine junge Dame auf einem Schecken in der Pony Dressur. Das Tier stand gut an den Hilfen, keine Höchstleistungen von den beiden, aber nett anzusehen. Also lief ich weiter und bemerkte den kleinen Markt, der nicht weit von Tribünen aufgebaut war. Schabracken lächelten mich an, allerdings lag mein Geld auf dem Zimmer.
      „Kann ich mir diese zurücklegen lassen?“, fragte ich den Verkäufer, dieser nickte und schrieb meinen Namen auf. Bis zum Abend hatte ich Zeit, gut.
      Auf dem Gelände gab es nicht viel zu sehen, dennoch drängten Menschenmassen durch die liebevoll eingerichtete Marktstraße. Auch einheimische Händler standen dort, boten Essen und Getränke an. Beinah verloren irrte ich umher, bis schließlich vor unserem Hotel stand. An der Seite warteten Reporter, blickten auf den kleinen Bildschirm der Kameras und schenkten mir nicht mal einen Hauch von Aufmerksamkeit. Man kontrollierte meinen Ausweis und ich kam in den kühlen Vorraum an der Rezeption. Nach einem kurzen Wortwechsel bekam ich die Schlüssel fürs Zimmer. Im Fahrstuhl schossen so viele Gedanken durch meinen Kopf, dass ich nicht mit in der richtigen Etage ausstieg und heimatlos durch die Flure irrte. Zu meinem Bedauern traf ich bekannte Gesichter.
      „Was willst du hier?“, zischte Giada, als wäre ich auf dem Weg zu Vachel.
      „Ich suche mein Zimmer“, jaulte ich förmlich und sah mich weiterhin eilig um. Die Zahlen stimmten nicht, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Nach der 1052 folgte eine 389, sehr willkürlich.
      „Hier ist es nicht“, sagte sie unverändert.
      „Schatz, jetzt lass doch mal in Ruhe“, mischte Vachel sich schließlich ein. Sie rollte die Augen, gab zu meiner Überraschung keine Widerworte. Da zog sich auch meinerseits eine Braue nach oben. Mir war nicht ganz wohl, also drückte ich wieder hektisch die Taste für den Fahrstuhl, der nicht kommen wollte.
      “Wo musst du denn hin?”, sagt er und begutachtete meinen Schlüssel. Mit seinem Finger malte er in der Luft herum, bis ein erleuchtendes Stöhnen seinen Mund verließ. Selbst dieses kleine Geräusch löste in mir das Feuerwerk aus, das eigentlich in Kisten verstaut war. Es brodelte und kochte, die kleinen Funken der Zündschnüre sprangen auf weitere über, sodass in wenigen Sekunden jede noch so kleine Zelle unter der Haut kribbelte.
      “Also weißt du, wo ich hin muss?”, zitterte meine Stimme bei der Frage.
      “Ja”, er nickte zustimmend und setzte den erste Fuß in den Fahrstuhl, “oder willst du auf einmal nicht mehr in dein Zimmer?”
      Flink folgte ich ihm und Giada stand kopfschüttelnd da. Aus ihren Augen sprühten Blitze in meine Richtung. Sie ertrug es nicht, dass er mit mir sprach oder ich sogar existiere. Ich spürte, dass es heute noch einen riesigen Streit geben würde, aber ich wollte doch nur in mein Zimmer.
      „Das hier.“ Vachel schmunzelte. Meine Orientierungslosigkeit bei hohem Stress kannte er schon.
      „Danke“, sagte ich und überspielte die aufgewühlte Stimmung im Inneren.
      Er legte seine Hand auf meinen Arm. Sofort brach das nächste Feuerwerk aus und ich schloss die Augen. Es könnte so einfach sein, aber nein. Ich landete im größten Drama, das man sich hätte vorstellen können. Um uns herum wurde es still, nur mein Herzschlag drückte unangenehm am Hals und irgendwo an der Decke hörte man das Flimmern eines Leuchtmittels.
      „Ist noch was?“, stammelte ich.
      „Ja.“ Vachel seufzte. „Aber können wir das … Drinnen besprechen?“
      Im Zimmer schloss ich die Tür und lief mit weichen Knien zum Tisch hinüber, an dem er sich gesetzt hatte. Er wirkte zerbrechlich und rastlos, ihm machte es vermutlich zu schaffen, dass es mit uns beiden wieder stiller wurde. So viel hatte er für mich getan, mich unterstützt, wieder aus dem Loch geholt und was die Pferde angeht mal ganz zu schweigen. Wir waren perfekt füreinander, aber das Kapitel endete schon vor Wochen. Alles, was noch blieb, war die Enttäuschung.
      „Ich liebe sie nicht“, brach es aus ihm heraus und er vergrub sein Gesicht in den Händen.
      „O-oh okay?“, tastet ich mich langsam heran, denn ich wollte nicht schweigen.
      „Es ist schwer zu erklären. Wir haben uns auf dem Turnier kennengelernt, ihre Eltern haben Geld und“, Vachel atmete durch, bevor das unaussprechliche folgte. Ich wusste, worauf er hinaus wollte, aber ich ließ ihn sprechen. „Sie sorgen dafür, dass Sky noch bei mir ist. Ich hatte große Probleme nach der Trennung von Alicia, nein, eigentlich schon in der Beziehung. Meine Ausbildung hat ein Haufen Geld gefressenen, dann das Auto, Skys Behandlung, weil er Druse hatte und die Scheidung meiner Eltern. Luise nervt auch immer mehr.“ Tränen drangen aus deinen Augen hervor. Mindestens die Hälfte davon wusste ich nicht und bezweifelte auch, dass er Marin davon erzählt hatte. Vielleicht öffnete Vachel sich Giada gegenüber, aber das Weib machte nicht den Eindruck, überhaupt Gefühle zu besitzen.
      „Ich geriet in finanzielle Schwierigkeiten, deswegen verkaufte ich Sky. Giada Eltern sind hohe Leute im Reitsport und haben mir das Angebot gemacht, dass ich einen geringen Teil von Sky zu behalten, ihn weiter reiten dürfte, aber sie trugen fortan die Kosten. Es war für sie unbegreiflich, wieso ich zu euch wollte“ beendete er seine Erzählung. Das Schluchzen wurde immer intensiver, bis ich es nicht mehr ertrug und meine Arme um seinen Hals schlag. Vachel erwiderte die Umarmung. Dann platze Alicia rein, sah uns schockiert an.
      „Was denn hier los?“, stammelte sie erbost. „Ich dachte, dass ihr beide klug genug seid und Abstand nimmt.“
      „Alicia, bitte. Halt die Klappe“, fauchte ich. Eigentlich war es nicht in meinem Sinne ihr so den Ernst der Situation zu vermitteln, doch ihr Gesicht lockerte sich umgehend, als Vachel sie mit roten Augen anblickte. Hinter ihr fiel die Tür zu. Niemand sagte mehr etwas, nur noch sein Schluchzen dröhnte dumpf durch das Hotelzimmer. Ich konnte ihn nicht aufmuntern, nur für ihn da sein, denn was sollte die Lösung dafür sein? Würde er nicht mehr mit Giada zusammen sein, wäre auch Sky für immer verloren. Weder er noch ich hatte das Geld. In dem Augenblick kam mir die Idee.
      „Was ist, wenn ich Papa nach Geld frage?“, schlug ich vor. Innerhalb von Sekunden erhob Vachel seinen Kopf.
      „Denkst du, dass er das macht?“
      „Worüber sprecht ihr?“, mischte sich auch Alicia wieder ein. Ruhig erklärte er ihr alles, worauf hin sie meine Idee befürwortete. Papa kannte meine Freunde mindestens genauso lange wie ich und war für gewöhnlich sehr hilfsbereit. Wie viel dieses Pferd für uns alle bedeutete, konnte man gar nicht in Zahlen zusammenfassen, dennoch war ich mir sicher, dass es im Rahmen der Möglichkeit stand. Lange schmiedeten wir noch Pläne und in Vachels Augen leuchtete wieder Hoffnung. Voller Tatendrang griff ich nach meinem Handy, als die Tür sich öffnete. Lotye blickte überrascht uns alle an.
      „Schön, dass ihr euch wieder vertragt, aber Neele, du solltest eigentlich Monet fertig machen“, mahnte sie. Die Augen huschten zur Uhr, Mist! In knapp dreißig Minuten war mein Start. Ich rannte ins Badezimmer, zog mich um und lief zusammen mit meiner Trainerin zum Zelt. Zu meiner Überraschung blickte mich Monet alpinweiss und gesattelt an, einzig seine Kandare hing am Haken vor der Box.
      „Ich hatte Hilfe“, funkelte Lotye und Ju trat von der Seite heran.
      „Wir wussten nicht, wo du bist, deshalb habe ich kurzerhand geholfen“, grinste er. Herzlich bedankte ich mich und sprang in die Box, um noch den Zaum zu befestigen. Lotye reichte mir meinen Helm. Noch einen tiefen Atemzug nahm ich, dann musste ich nur noch funktionieren. Wie von selbst trug mich mein Pony auf dem Abreiteplatz, auf dem sich viele Reiter tummelten. Zwischen all den riesigen dunklen Pferden war Monet der Hingucker. Es wurde gekichert. Ein Vater sagte am Zaun zu seiner Tochter: „Die traut sich aber was.“ Dann lachten sie. Aber für Prüfungsangst gab es keinen Platz in meinem Kopf, obwohl schon auf den ersten Blick jeder einen besseren Eindruck machte, als ich. Ich wollte Spaß haben und keinen Sieg, das sagte ich mir immer wieder, bis mein Name aufgerufen wurde von einer Dame am Zaun. Die Reiterin vor mir hatte den großen Platz betreten und damit musste ich mich als Nächstes für den Start vorbereiten. Ich war nur einige Runden locker getrabt und etwas galoppiert. Für mehr hatte ich keine Zeit, aber ich glaubte an Monet und mich.
      Lotye hakte den Strick am Gebissring an. Ju folgte uns.
      „Musst du nicht zu deinen Freunden?“, fragte ich mit zittriger Stimme nach.
      „Müssen tue ich nichts und offensichtlich brauchst du mich“, grinste er zuversichtlich. Obwohl meine Trainerin es bevorzugte ihre Schützlinge allein vor Prüfung zu haben, grinste auch sie. Offenbar war er ihr sympathisch und sie sah darüber hinweg, ihn wegzuschicken. Netterweise entfernte er die schwarzen Gamaschen von den Beinen und brüstet noch mal über. Dann waren wir so weit.
      Giada hatte hohe Maßstäbe gesetzt und lag momentan auf dem ersten Platz, wie hätte es auch anderes sein können. Allerdings blieb die Vermutung, dass Vachel wohl noch mit Alicia oben im Zimmer saß, denn keinen der beiden konnte ich, am Rand entdecken der Tribünen. Ein letzten hilfesuchenden Blick lenkte ich zu Ju, der seinen Daumen in die Luft streckte. Die Musik ertönte und auf der Vorbereitung neben dem Viereck galoppierte ich den Hengst an. Erst vor der Ecke, bevor ich Eintritt, versammelte ich ihn und hielt schließlich auf den Mittelpunkt an. Selbstverständlich platzierte er die Füße nebeneinander und kaute entspannt auf dem Gebiss, keine wippende Unterlippe, nur aktives Ohrenspiel. Mit einem leisen Schnalzen trieb ihn wieder in den Trab, setzte mich tiefer in den Sattel, um ihn zu versammeln. Dabei reichte der Gedanke. Meine Muskeln sendeten die richtigen Impulse und ich konnte immer mehr in dem Takt der Musik versinken. Aus der Versammlung kam eine Verstärkung, dann wieder zurückholen, auf die Mittellinie – Traversalverschiebungen. All diese Lektionen und Bahnfiguren ritt ich nacheinander ab, fühlte mich dabei wie auf Wolken im weichen Sand, der Meeresbrise in der Nase. Es war schöner als Urlaub, auch wenn ich unter dem Jackett ziemlich schwitzte, wünschte ich mich nirgendwo anders hin. Ich spürte, wie das Strahlen in meinem Gesicht auf die Zuschauer übertrug, die gespannt meiner Passage folgten, die das Pony perfektioniert hatte. Auch in der darauffolgenden Piaffe konnten sich die Warmblüter noch etwas anschauen. Gleichmäßig reagierte er auf meine Hilfen und setzte willig die Übergänge zur Passage um. Dabei war ein deutlicher Unterschied zu erkennen, nicht nur in Kadenz. Wie es noch heute in der Reitkunst praktiziert wird, tänzelte er auf der Stelle, ohne dabei langsam vorwärts zusetzen. Lotye legte großen Wert darauf. Nach dem Mitteltrab folgte die vorherige Abfolge der Lektion, nur auf der anderen Hand, bevor ich ihn sanft in den starken Schritt zurückholte. Monet trat fleißig voran, schnaubte einmal ab, hielt sich dabei wie von Selbst. Der Zügelkontakt hatte bei ihm nur ein äußerliches Erscheinungsbild. Hier und da erinnerte ich ihn durch leichtes zupfen, wie er das Genick stellen sollte, doch ansonsten achtete er auf die Gewichts- und Schenkelhilfen. Willig galoppierte er rechts an und zeigte sich von seiner besten Seite. Eine seiner Stärken lag im starken Galopp, der durch die ganze Bahn folgte. Obwohl wir uns auf einem zwanzig mal sechzig Viereck befanden, konnte Monet eine deutliche Rahmenerweiterung zeigen, die in den weiten Sprüngen gipfelte. Leider kam nun der schwierigste Teil für uns. Ich verpasste die erste Hilfe für den Wechsel und büßte dabei an Punkten ein, auch der Übergang zur Versammlung war nicht ganz sauber. So drückte ich ihn zu schnell zurück, dass er mit dem Kopf schlug und seine Ohren anlegte. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber davon ließen wir uns nicht einschüchtern.
      Wie in der Halle, sagte ich zu mir und erinnerte mich an das Training im strömenden Regen, als Papa mich abholte und erzählte, dass es nach Schweden gehen würde. Krampfhaft drückte sich mein Kiefer zusammen, aber die Galopptraversale nach links saß auf dem Punkt genau. Wohingegen die Pirouette noch deutlicher sein hätte können. Im Programm waren sechs bis acht Sprünge vorgesehen, wie mein Pony nicht schaffte, stattdessen wurden es zehn.
      „Du hast es gleich geschafft“, erinnerte ich Monet. Bei C angekommen bogen wir nach links ab und dabei spürte ich, dass die Kraft in den Hinterläufen abnahm. Meine Motivation galt gleichermaßen mir. Fröhlich sprang der Hengst auf der Mittellinie die gewünschten Serienwechsel. Einmal verpasste ich die Hilfe und so wurden es anstelle der zwei Sprünge drei. Und erst, als wir nach der erneuten Abfolge zu dem Sprung zu Sprung wechseln kam, verspürte ich, welche Herausforderungen wir uns zumuteten. Nur einmal waren wir alle Teile am Stück durchgeritten und das lag weit in der Vergangenheit. Ungefähr vor zwei Monaten müsste es gewesen sein, kurz nach dem Reit in Genf. Gleichwohl ritten wir noch die restlichen Aufgabenteile zu Ende und kamen nach der Passage von X zu G an, hielten an und grüßten. Das Publikum tobte, während mir vor Erleichterung Tränen die Wange herunterliefen. Wir hatten es wirklich geschafft. Beinah fehlerfrei schafften wir das Programm und ich konnte nichts mehr tun, außer meinem Pferd liebevoll den Hals zu tätscheln.
      „Na das kann sich doch sehen lassen“, grinste mich Ju beim Ausreiten vom Platz an und zeigte dabei auf die Leinwand. Wir hatten zwar nicht Giada eingeholt, aber dennoch mit 71,23 % eine persönliche Höchstleistung aufstellt und kletterten damit auf die dritte Platzierung.
      „Danke“, sagte ich erschöpft.
      „Am besten geht ihr beide jetzt zum Abreiteplatz“, gab Lotye ihren Senf dazu und tätschelte ebenfalls seinen verschwitzten Hals. „Ich habe jetzt zwei andere Leute zu betreuen, bis später.“
      Dann verschwand sie den Weg entlang zum Vorbereitungsplatz. Ju stand weiterhin neben mir, hielt den Strick und halte im Gebissring der Kandare ein.
      „Keine Sorge, ich lass dich nicht zurück“, sprach er und führte Monet. Erst jetzt bemerkte ich meine zitternden Hände, wie meine Knie sich am Sattel drückten und die Füße vor Aufregung im Bügel schlotterten. Das Pony folgte ihm. Kein einziger Impuls kam von mir, eher saß ich wie eine Dreijährige auf dem Rücken und sprach kein Wort. Auch nach einigen Runden im Schritt auf dem überfüllten Reitplatz, kam mein Selbstvertrauen nicht zurück. Was stimmte nur nicht?

      Missgünstig beobachtete ich Giada bei ihrer letzten Runde über den Reitplatz. Sie hatte den zweiten Platz belegt, denn der letzte Teilnehmer, ein Portugiese, überholte sie.
      „Die steht zum Verkauf“, funkelten Alicias Augen, als die hübsche Schimmelstute im lockeren Zügel einhändig galoppierte.
      „Und was willst du damit?“, antwortete ich nüchtern, ohne den Blick von Giadas Hengst zu nehmen, der nervös auf der Stelle tänzelte und die Schleife an seinem Zaum überhaupt nicht wohlgesonnen war. Immer wieder gab sie heftige Paraden, zog dabei auch am Kandarenzügel.
      “Was ist denn mit dir los? Der sechste Platz ist doch wunderbar”, jammerte Alicia weiter. Ich hatte ihr nicht mehr zugehört, hing in Gedanken nur an meiner Schwäche und Unfähigkeit fest, insbesondere, weil Vachel so ein Modepüppchen ertragen muss.
      “Nichts”, murmelte ich und erhob mich aus dem Sitz. “Es ist mir nur egal, ob das Pferd zum Verkauf steht oder nicht. Das kostet bestimmten Millionen und die habe ich nicht.”
      “Du redest gerade über Sky, habe ich recht?” Alicia hatte auf den Punkt getroffen, natürlich ging es um diesen Schimmel und nicht die hübsche Andalusier Stute, die noch immer sehr aufmerksam an den Hilfen ihres Reiters lief, der ebenfalls grob die Sporen in die Seite stemmte. Es gab überhaupt keinen Grund, aber soll jeder machen, ich konnte daran nicht viel ändern.
      “Ja”, antwortete ich. Dann seufzte ich abermals.
      “Das wird schon, aber wir können auch nicht so viel tun. Er hat sich das selbst eingebrockt”, erinnerte sie mich. Das Gespräch verstummte umgehend, denn von der Seite kam der blonde Typ wieder an.
      “Kommt ihr mit? Ich habe uns einen schönen Platz am Wasser gesucht”, fragte er.
      “Natürlich”, strahlte Alicia und sah zu mir.
      „Nein, ich bin müde“, antwortete ich.
      „Ju ist auch da“, versuchte er mich zu überzeugen, aber ich blieb dabei. Also verabschiedete sich beide, ich verblieb allein am Zaun. Da kamen mir wieder Alicias Worte entgegen. Eskil suchte doch eine Stute? Schnell machte ich noch ein paar Bilder und schickte sie ihm, bevor der Typ vom Platz verschwand, mit den anderen beiden Platzierten. Auf der Tribüne lichtete es sich, denn nun war Pause, ehe die Abendvorstellung um 21 Uhr begann.

      Am nächsten Morgen las ich erst Eskils Antwort. Die Stute sei nicht sein Beuteschema, aber er kenne jemanden. Um ihm zu helfen, setzte ich mir auf den Plan, den Herren zu finden und mehr Informationen zu bekommen, aber dafür musste ich erst einmal aufstehen. Langsam tastete ich das Bett ab, stellte fest, dass ich allein war.
      „Ach Alicia“, murmelte ich und setzte die Füße nacheinander auf den Holzboden. Leise knarrte die in Jahre gekommenen Dielen bei jedem Schritt, die mich direkt ins Bad führten.
      Ein nächster sinnloser Tag würde anstehen, auch wenn heute Vachel ritt. Mit gemischten Gefühlen stand ich unter Dusche.
      „What are you waiting for“, sang ich die Musik aus den Lautsprechern mit, wollte so gern mehr von meiner besten Freundin haben. Sie war offen, wusste, was sie wollte und nahm es sich. Ich schwieg stattdessen und verkroch mich, eigentlich sollte damit Schluss sein, aber Veränderungen stellten mich immer vor eine Herausforderung. Egal, ich hatte mein Laptop dabei und würde sicher, ein schönes Plätzchen finden, zum Videos schauen.
      Frisch geduscht, schlüpfte ich meine Reitsachen und lief aus dem Zimmer heraus. Heute ging es meinem Magen schon besser und ich entschied allein etwas zu frühstücken. Kurz nach Zehn saßen kaum noch Leute im Speisesaal, den die erste Prüfung hatte bereits begonnen. Ich suchte mir keinen Tisch, sondern direkt am Buffet einen Teller. Unentschlossen tigerte ich um die Auslage. Einige Brötchen lagen noch da, die aber größtenteils an ihrer knusprigen Oberseite eingedrückt waren und bei den Körnerbrötchen fehlten die meisten dieser. Also nahm ich mir einen leichten Salat und Ei, dazu noch einen Joghurt mit Erdbeeren. So gesund aß ich nicht einmal zu Hause! Dann trugen mich die Füße nach draußen. Am Himmel stand bereits die Sonne und zauberte ein warmes Licht auf das Meer, das sich in den Fenstern spiegelte. Im Gegensatz zu drinnen, waren hier fast alle Tische belegt und als meine Augen so wanderten, winkte mich jemand zu sich, Raphael saß mit einigen anderen an einem großen Tisch direkt an der Umrandung der Terrasse. Wie von selbst, mit einem Grinsen auf den Lippen, lief ich hinüber.
      “Guten Morgen”, grüßte ich alle und setzte mich neben eine junge Dame, die wohl seine Freundin sein musste, so verliebt wie sie ihn anstarrte und über den Witz kicherte. Wenn ich das Alicia erzähle, wird sie sicher traurig sein, aber sie hatte sich ohnehin verdünnisiert. Bestimmt verbrachte sie die Nacht bei dem Typen, der eigentlich ganz freundlich war.
      “Guten Morgen, ich glaube, wir haben uns noch nicht kennenlernen dürfen. Ich bin Quinn”, entgegnete sie direkt freundlich und stellte sich in dem Zuge auch direkt vor.
      “Nett dich kennenzulernen”, reichte ich mir die Hand, “man kennt mich als Neele”, grinste ich höflich.
      “Dann warst du das gestern mit dem kleinen weißen Pony in der Dressur, richtig? Ich finde es richtig cool, dass du die Konkurrenz mit den Großen aufnimmt”, entgegnete sie anerkennend.
      “Da muss ich Quinn zustimmen, es sollte mehr von deiner Sorte geben. In meinen Augen sahst du mit deinem Pony deutlich harmonischer aus als so manch anderer”, stimmte Raphael seiner Vorrednerin mit einem breiten Lächeln zu.
      “Auf YouTube habe ich schon einige Ponys in den hohen Klassen gesehen. Es ist nun mal blöd, dass es die schwierigen Lektionen nicht separat gibt. Wer will denn sein Leben lang im leichten Niveau reiten?”, untermalte ich den Standpunkt und schob einen Löffel voll mit Salat mir in den Mund.
      “Niemand, der Sinn und Verstand hat”, nickte Quinn zustimmend, bevor sie einen großen Schluck aus dem weißen Porzellan nahm. Noch eine Weile diskutiert wir darüber, wie sinnlos die Ausschreibungen der Weltorganisation waren, in der sich sogar vom Nebentisch ein Richter einmischte, der unsere Meinung teilte. Der Herr hatte sogar mich gestern benotet, wie ich im Nachhinein erfuhr.
      „Und, was steht bei euch heute auf dem Plan? Oder reitet ihr erst morgen bei den Großen mit?“, fragte ich später, schließlich wusste ich nicht wie Alicia über jeden Bescheid. So war Raphael in meinen Augen irgendwas zwischen Anfang oder Ende zwanzig, wohingegen seine Freundin auch minderjährig sein könnte, ohne jemandem etwas vorzuwerfen. Wenn sie das überhaupt war, doch an dem Gedanken hielt ich fest. Letztere blickte fragend zu ihrem Freund, der offenbar für die Tagesplanung verantwortlich war.
      “Heute Abend steht das drei Sterne Springen an und bis dahin heißt es Poseidon bei Laune halten. Ich denke, zu diesem Zweck werden wir später ans Wasser gehen und was hast du so vor?”, erläuterte der Dunkelhaarige den Tagesablauf.
      “Auf den Flug morgen warten”, ich seufzte und wollte eigentlich kein Mitleid erregen, allerdings drückte Jordan seine Unterlippe vor die Obere. Quinn drehte sich auch zu ihrem Freund, der die Augenbraue liftete. Aufklärungsbedarf. “Aber alles gut, Alicia spring nachher auch.”
      “Das klingt ja nicht gerade begeistert. Ist springen nicht so deins?”, hakte Raphael behutsam nach, ohne gleich zu aufdringlich zu sein zu wollen.
      “Ich möchte mich jetzt nicht unbeliebt bei euch machen, aber es sind in jedem Ritt dieselben Sprünge, die in der richtigen Reihenfolge überquert werden müssen, so schnell wie möglich. Spätestens nach dem vierten Reiter, weiß man schon, was kommt, erst wenn was passiert, wird es interessiert. Aber ich möchte nicht, dass jemanden etwas passiert”, erläuterte ich. Mir war bewusst, dass es sehr oberflächlich von mir war, schließlich ritten in den festen Dressurprüfungen das gleiche Programm.
      “Alle gut, ich denke, wir können nachvollziehen, was du meinst, schließlich wird der Nervenkitzel nicht an die Zuschauer transportiert”, schmunzelte Jordan amüsiert.
      “Genau”, nickte ich. „Solang seid ihr auch keine Konkurrenz, nur nette Menschen, die man mal trifft.“ Beinah rutschte mir ‚Freunde‘ heraus, was ich im letzten Moment noch verhinderte.
      “Nur nette Menschen, hast du das gehört. Da ist mal jemand, der nicht deinem Charme erliegt, Rapha”, feixte Jordan und schlug Teamkameraden spielerisch auf die Schulter. Angesprochener schüttelt nur schmunzelnd den Kopf: “Hör nicht auf den, der ist nur neidisch, dass er keinen Fanclub hat.”
      „Raphael, da muss ich dich leider enttäuschen. Ich musste mich nicht an dir satt sehen, denn Alicia kann gar nicht genug von dir bekommen“, platze es lachend aus mir heraus, „da trete ich lieber dem Jordan Fanclub bei. Kleine, aber feine Gemeinschaft.“ Demonstrativ zog ich den Kugelschreiber aus meiner Jackentasche heraus, den ich immer bei mir trug, und schrieb auf eine Serviette so etwas wie einen Mitgliedsausweis für mich.
      “So sieht’s aus, Qualität statt Quantität”, sprach der junge Mann und bedachte mich dabei mit einem schiefen grinsen.
      “Als würde ich etwas dafür könnte, wer mir alles nachrennt”, erklang ein warmes Lachen aus Raphaels Brust. Einzig Quinn schien nicht ganz zu wissen, wie sie reagieren sollte, überspielte es allerdings mit einem höflichen Lächeln.
      “Keine Sorge, ich renne dir nicht nach, auch wenn man einen anderen Eindruck im Augenblick haben könnte”, versuchte ich Quinn zu beruhigen, als Raphael ein gegenteiliges Bild zu zeigen.
      “Alle gut, mich stört das nicht, auch wenn es so wäre”, zuckte er mit den Schultern und schob den Stuhl nach hinten, um aufzustehen, “Ich hol mir noch nen Kaffee, soll ich sonst noch wem was mitbringen? Dir vielleicht?” Bei der letzten Frage blickte er spezifisch Quinn an, die ihm auch sofort ihre leere Tasse über den Tisch hinweg reichte.
      „Nein, alles gut“, winkte ich ab, blickte dabei auf den leeren Teller. Hunger hatte ich keinen mehr, aber als Beschäftigung während des Gesprächs, wäre es dennoch cool gewesen. Essen aus Langeweile stellte mich immer wieder vor Gewissenskonflikten.
      „Und du? Reitest du auch?“, fragte ich Quinn, als ihr Freund verschwunden war.
      “Grundsätzlich ja, aber hier bin ich nur zur Begleitung”, antwortete sie offen.
      “Ach, das ist aber schön. Da freut sich dein Freund sicher”, grinste ich und bemerkte, wie Jordan seine leuchtenden Augen aufriss und ein verschmitztes Lächeln aufsetzte.
      “Mein Freund?”, frage Quinn ein wenig irritiert, bis ihr einige Sekunden später ein Licht aufzugehen schien.
      “Oh, du denkst Raphael und ich … also nein, wir sind nicht zusammen”, korrigierte sie das Missverständnis, richtete leicht verlegen den Blick zur Tischplatte. Beinah hätte ich nach dem ‘Warum’ fragen wollen, aber da wurde mir klar, dass es mich weder etwas anging, noch passend wirkte.
      “Entschuldige meine forsche Art”, sagte ich, “manchmal trete ich in böse Fettnäpfchen.” Mit besten Gewissen versuchte ich die gedrückte Stimmung wieder aufzuheitern, aber dafür sorgte Raphaels Rückkehr wie von allein. Er reichte seiner Nicht-Freundin die Tasse, die sie umgehend umklammerte und versuchte daraus zu trinken, aber noch deutlich stieg der Dampf heraus auf. Etwas Missgunst kam nun doch in mir hoch, aber ich überspielte es mit einem freundlichen Lächeln.
      “Wie ist das eigentlich mit so einem hellen Pferd, ist das nicht anstrengend das sauber zuhalten? Gerade jetzt so auf Turnier?”, erkundigte sich Raphael und machte es sich wieder auf seinem Stuhl bequem.
      “Ach, ich wasche ihn und die meiste Zeit trägt er seinen Sleezy”, erklärte ich ganz selbstverständlich, als gäbe es nichts Einfacheres im Leben. Mit seinem Rappen kannte er die Probleme natürlich nicht.
      “Interessant, ich glaube, bei Jora würde so etwas nicht lange dran bleiben”, lachte Jordan, “Sie schafft es schon sich aus Decken herauszuwinden, wie so ein Wurm.”
      “Dann wäre das vermutlich eine unkomfortable Situation”, merkte ich an und er nickte zustimmend.
      “Deine Stute ist auch einfach besonders. Dass aus der mal ein vernünftiges Sportpferd wird, hätte auch keiner geglaubt, so Verhaltens-kreativ wie sie ist”, trug auch der Dunkelhaarige grinsend seinen Teil zu der Konversation bei.
      “Aber die reine Anwesenheit auf einem Turnier, macht es auch nicht zum vernünftigen Sportpferd”, scherzte ich in den Dunst hinein. Schließlich hatte ich Jora nur einmal gesehen und das war gestern auf dem Platz, auf dem die Stute von Alicias Typen sich deutlich kreativer vorwärtsbewegte.
      “Wenn du heute Abend zum Springen kommts, wirst du schon noch sehen, was sie so drauf hat. Auch wenn wir noch nicht ganz so gut sind wie Rapha mit seinem Gott”, entgegnete der junge Mann ganz von sich und seinem Pferd überzeugt.
      „Ich weiß nicht, ob ich so lange das Hüpfen von A nach B ertrage“, gab ich provokant zurück, mit dem Hintergedanken es mir in jedem Fall anzusehen, schließlich würde Alicia mich dazu zwingen.
      „Deine Entscheidung, ob du dir das Beste entgehen lässt“, zuckte Jordan mit den Schultern. Dennoch lag ein schelmische Glitzern in seinen Augen, „Aber eigentlich ist das Pflicht für Exklusiv-Mitglieder des Fanclubs.“ Um die letzten Worte zu unterstreichen, tippte er auf die bemalte Servierte vor mir.
      „Tendenziell hat er recht, allerdings möchte Amy bewundert werden und nicht der Bauerntrampel“, ertönte eine bekannte Stimme hinter uns und beinah synchron drehten wir uns um. Ju kam, zu uns gelaufen, mit einer hübschen, groß gewachsenen, blonden Dame, gegen die ich wohl keine Chance haben würde. Allerdings erhellten seine Worte meinem Kopf, dass er keine Freundin habe. Für den Augenblick stockte meine Atem, aber ich versuchte gelassen zu bleiben. All das Drama um irgendwelche Typen, stieg mit langsam zu Kopf, meine Gefühle waren unreflektiert und willkürlich. Konnte ich nicht einfach etwas gefasster sein und klarkommen wie jeder andere auch?
      „Leider muss ich zu Jordan halten und seinem Bauerntrampel, der mit hoher Wahrscheinlichkeit dich schlagen wird“, schmunzelte ich besagtem zu, bevor mein Blick wieder zu Ju fiel.
      „Ach, Jungs, sicherlich gibt es für euch alle genug Bewunderung, ihr seid ja nicht alle gleichzeitig auf dem Platz“, schaltete Quinn sich in das Gespräch. Sie schien sichtlich amüsiert von dem Wetteifern der Jungs und ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Aber genauso sicher war ich mir, dass sie ihren heimlichen Favoriten bereits hatte, denn auch jetzt huschten ihrer Augen immer wieder zu Raphael, obwohl die Brünette das Gespräch mit dem Blick verfolgte.
      „Abwarten“, zuckte Ju mit dem Schulter.
      „Also ich wäre auf jeden Fall da sein“, schmiegte sich die Blonde noch enger an seine Brust und klimperte vertraut mit den Augen. Damit strich ich in meiner gedanklichen Liste die nächste Person weg. Ein Gefühl der Einsamkeit und Leere überkam mich urplötzlich, aber ich musste durchhalten. Morgen Nachmittag ging der Flug zurück und dann würde ich schon fast bei Eskil sein.
      „Dann scheint meine Anwesenheit wohl nicht nötig“, wiederholte ich, nur dieses Mal mit mehr melancholischen Unterton. „Schließlich verstehe ich das nicht mal.“
      „Das erkläre ich dir“, setzte sich Ju ohne zu fragen neben mich und im Wechsel sprach jeder am Tisch über die Disziplin. Unregelmäßig schielte ich zu ihm hinüber. Ich spüre, wie sich die Leere füllte, mit einem Gemisch aus Freude und Sehnsucht. Es stach, es drückte und schnürte mich den Atem ab. Sehnsucht, ein Gefühl, das ich so oft verspürte, aber nur schwer einordnen konnte. Ich sehnte mich nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Mit all den elitären Reitern am Tisch zu sitzen fühlte sich echt an, aber es war nur eine Moment aufnahm. Ein Moment, der jederzeit verfliegen könnte, ohne wirklich dagewesen zu sein. Schwer ums Herz traf es auch ein prickelndes Stechen im Bauch, das sich intensivierte, wenn sich die Blicke von Ju und mir trafen. Er bot mir so viel mehr Vachel, allem voran: Ruhe, Geborgenheit – Dabei kannte ich ihn kaum. Es war die Art, wie ihr zu mir stand, Dinge erklärte und nicht davor zurückschreckte, wenn ich einen blöden Witz machte.
      “Malst du dann auch ein Schild?”, unterbrach Jordan meinen Gedanken. Irritiert wanderten meine Blicken zwischen den Parteien, die mich wie ein gespannter Bogen auf mich gerichtet waren.
      “Was für ein Schild?”, fragte ich vorsichtig. Alle lachten, nur Jordan schüttelte amüsiert den Kopf. “Wir brauchen klare Regeln im Fanclub.”
      “Am besten beginnen wir mit dem Transfer zu mir. Schließlich konnte Neele schon in den Genuss kommen, mein edles Ross zu besteigen”, gab Ju seinen Senf dazu. Das Gelächter platzte aus allen Nähten. Mittlerweile waren wir allein auf der Terrasse, dass keiner am Nebentisch sich gestört fühlen konnte. Mein Gesicht nahm einen leichten rosafarbenen Teint an und ich vergrub es hinter meinen Händen. Das Balzverhalten der jungen Männer überforderte meine Gefühlswelt.
      “Man gewöhnt sich daran”, legte Phina, wie sich die Blonde später vorgestellt hatte, ihre Hand auf meinen Arm.
      “Ich glaube nicht”, murmelte ich.
      “Wer gefällt dir denn besser? Ju oder Jordan?”, nahm sie kein Blatt vor den Mund, aber ich musste nach Luft schnappen, wie ein Fisch am Trocknen. Für einen Augenblick verstummte es am Tisch, alle starrten mich intensiv an, aber ich fühlte mich wie in der Schule, wenn man Vokabeln aufsagen sollte. Das quälende Gefühl der Unwissenheit jagte mein Blut durch die Adern. Aber ich rappelte mich auf.
      “Von welchem Standpunkt aus?”, hakte ich nach und musterte beide intensiv, als würde ich eine Checkliste erstellen. Ju lag vorn, ganz klar. Jordan war zwar sympathisch und deutlich attraktiver als sein charmanter Kollege, dennoch für meinen Geschmack, zu selbstbewusst. Vielleicht sogar selbstverliebt.
      “Das Gesamtpaket, wer von den beiden macht den besten Eindruck?”, lächelte Quinn freundlich und spezifizierte ihr Interesse.
      „Ihr setzt mich ziemlich unter Druck, wisst ihr das?“, schüttelte ich spielerisch enttäuscht mit dem Kopf. „Aber dann muss leider Schweden den Punkt bekommen, schließlich empfing er mich nach der Prüfung. Zudem wäre es blöd, wenn ich es mir damit vermassel, schließlich muss ihn bald öfter sehen.“
      Ein verklemmtes Grinsen legte sich auf seine Lippen und ich spürte, wie sich seine Hand auf meinen Oberschenkel legte. Ich schluckte, aber wollte es mir nicht anmerken lassen, wie meine Finger zitterten. Deswegen schloss ich sie ineinander und drückte die Unterarme leicht auf die Holzplatte.
      „Ju! Die kleine ist scharf auf dich“, feixte Phina beinah diabolisch.
      „So habe ich das gar nicht gesagt“, verteidigte ich mich mit zittriger Stimme. „Nur, dass er deutlich mehr effort zeigte als Jordan.“
      “Lasst Neele doch einfach in Frieden, ihr müsst doch nicht aus allem einen Wettbewerb machen”, rollte Raphael mit den Augen, dem die Diskussion langsam zu bunt zu werden schien.
      “Danke”, murmelte ich und wollte am liebsten im Boden versinken vor Pein. Tatsächlich schob sich mein Po etwas tiefer in den Sitz, aber Jus Hand hielt mich fest, damit ich nicht im Dreck landete.
      “Vielleicht sollten wir dann langsam auch zu den Pferden”, versuchte Phina die Situation zu entschärfen.
      “Richtig”, nickte Raphael und erhob sich von seinem Stuhl, “Kommst du Quinn? Poseidon wartet sicherlich schon.” Eifrig nickte seine Begleitung und leerte den Rest ihrer Tasse, bevor sie sich ebenfalls erhob.
      “Einen schönen Tag euch noch”, verabschiedete sie sich freundlich, bevor sie sich an Raphaels Seite heftete und die beiden in Richtung der Stallzelte verschwanden. Ohne etwas zu sagen, sprang auch Phina ihnen nach. Plötzlich saß ich allein mit Ju auf der Terrasse, mit dem Blick zum Meer und wenn man den Kopf etwas senkte, dann konnte man den aktuellen Reiter auf dem Platz sehen.
      „Vielleicht sollte ich auch langsam“, stammelte Ju unentschlossen, nach einigen Minuten der Stille.
      „Okay.“
      Er stand auf.
      Ich blieb sitzen, wie anklebt.
      „Na komm schon, Monet möchte sich sicher auch die Beine vertreten“, munterte er mich auf, als würde er spüren, dass in mir ein Roman geschrieben wurde.
      Nun war ich die, die seinen Arm um sich trug. Mich erfühlte es mit Stolz, als wir zu den Ställen lief, obwohl uns niemand Beachtung schenkte, nur Giada schaute nicht schlecht. Sie stand bei ihrem Hengst und Vachel hielt diesen fest, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Der Kleidung zur Folge hatte er ihr auch das Pferd sauber gemacht. Leise knurrte sie, was ich aber nicht genauer verstanden hatte.
      „Ich würde dann hinüber zu Amy gehen“, sagte Ju, aber ich hielt ihn sanft am Arm zurück.
      „Kannst du bitte bleiben, bis die weg sind?“, funkelte ich mit meinen Augen. Grinsend stimmte er zu und begrüßte Monet. Dieser stand in seinem hübschen rosafarbenen Ganzkörperanzug in der Box und mümmelte am Heu. Lotye hatte ihn wohl gefüttert, den so viel bekam er sonst nicht von mir. Davon könnte vermutlich tagelang fressen.
      Ich führte ihn aus der Box und entfernte erst einmal seinen Anzug. Mürrisch brummte Monet, als das Ding an den Ohren hängenblieb und er für länger als sonst nichts sehen konnte. Ju, der sich auf meine Putzkiste gesetzt hatte, kam dazu und half mir. Befreit, schüttelte Monet sich und die dicke, kurz geschnittene Mähne fiel wellig auf beide Seiten.
      „Die müsste mal wieder geschnitten werden“, stellte ich, flüsternd zum Pferd, fest.
      „Der Arme“, bemerkte Ju schmollend, „dabei sieht er so viel niedlicher aus.“
      „Du hast doch Amy auch die Mähne abgesäbelt.“
      „Leider muss ich dich enttäuschen, aber das war ich nicht, sondern die Tante vom Beritt“, bemerkte Ju ziemlich abfällig, aber ich konnte es nachvollziehen. Mich hätte es auch genervt, das eigene Pferd plötzlich verändert zu sehen.
      „Tut mir leid“, zog ich meine Aussage zurück. Aber er lächelte nur warm. Das Prickeln sprang wie in der Luft elektrisiert zu mir hinüber und unsere Blicke trafen sich wieder. Etwas sagte mir, dass zwischen ihm und mir noch so viel mehr gab, als den gleichen Pferdehof. Schon aus dem Grund musste ich meine jungen Pferde in der Brust zügeln.
      Endlich verzogen sich Giada und Vachel aus dem Stall, nach dem ich wieder mal Getuschel vernahm. Offenbar war ich das große Thema hier, ohne sonderlich einen Beitrag zu leisten.
      „War das besagter Typ mit Freundin?“, hackte Ju nach.
      „Ja, leider“, seufzte ich.
      „Ach, ist doch alles in Ordnung. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Aber jetzt, braucht mich mein Pferd.“

      Am Abend saß ich nervös auf der Tribüne, direkt neben dem Eingang. Gerade zeigte Raphael auf seinem Poseidon, wofür sie oft trainiert hatten. Mit Leichtigkeit peilten sie ein Sprung nach dem anderen an, ließen dabei nicht nur jede Stange an Ort und Stelle liegen, sondern setzten eine nur schwer zu schlagende Zeit an. Begeistert sprang ich auf, als seine Runde beendet war und er im Schritt vom Platz ritt. Seine Nicht-Freundin empfing ihn mit hochroten Kopf, als hätte sie auf dem Rappen gesessen. Die beiden wirkten so vertraut und glücklich miteinander, dass abermals Missgunst in mir aufkam. Es lag nicht daran, dass Raphael ein sympathischer und gut aussehender junger Mann war, der auch reiterlich neue Maßstäbe setzte, sondern er interessierte sich für jemanden, der selbiges zurückgab.
      Der nächste Starter sprang bereits, aber ich beachtete ihn nicht sonderlich. Jordan war demnächst an der Reihe, weshalb ich die Tribüne verließ und auf dem Vorbereitungsplatz nach ihm Ausschau hielt. Obwohl es mit dem Fanclub nicht mehr als blöder Scherz war, würde es ihn sicher freuen. Mein Eindruck trübte. Zwei Damen standen kichernd am Rand und unterhielten sich rege mit ihm, während seine Stute ungeduldig zur Seite tänzelte und dabei mit dem Schweif schlug. Ihre Ohren lagen im Genick und immer wieder schnappte sie nach anderen Pferden, wenn diese Vorbeiritten. Vermutlich ein Teil davon, was vorhin am Tisch berichtet wurde. Damit hatte sich meine Idee erledigt. Ich drehte mich gerade weg, als die hübsche gescheckte Trakehner Stute ihren ersten Huf neben uns setzte und ihr Reiter zu mir sagte: „Schön, dass du da bist.“
      Eiskalt lief es mir den Rücken herunter, aber sofort wandte ich mich ihm zu und strahlte über beide Ohren.
      „Natürlich, ich möchte doch wissen, was dein Papier kann“, scherzte ich. Er drückte seine Ferse in den Rumpf seiner Stute, die sich gehorsam vorwärtsbewegte. Aufmerksam folgten meine Augen den grazilen Schritten, auch im Trab und Galopp machten beide eine gute Figur. Nebeneffekt meines Besuchs am Vorbereitungsplatz war, dass ich Jordans Ritt verpasste, aber die Zeit sah im Nachhinein betrachtet, einwandfrei aus. Er rutschte damit auf den aktuellen vierten Platz.
      Endlich wurde Ju aufgerufen und ich lief mit ihm zusammen an den Einlass. Ein älterer Herr folgte uns unauffällig, der sich später als Herr Holm vorstellte und sein Trainer war.
      Im gleichmäßigen Galopp begann er den Parcours und das Rick überquerte Amy wie eine Elfe. Nach fünf weiten Sprüngen folgte ein Oxer. Ju holte sein Pferd zu früh zurück, wodurch sie deutlicher weiter springen musste, aber diesen Fehler ihres Reiters ausglich. Immer wieder kam es zu Wackelpatien, in denen die beiden eine Stange berührten mit den Hinterläufen. Diese blieb liegen bis auf einmal. Ju verschätzte sich abermals mit den Abständen, was zum Verhängnis in der Kombination wurde. Amy kam mit den Vorderbeinen gegen die obere Stange. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber es jubelte trotzdem, als er durchs Ziel ritt. Die Zeit konnte sich sehen lassen, aber mit den vier Fehlerpunkten rutschte er auf den achten Platz. Am Ausgang empfing ich ihn freudig, doch er beachtete mich nicht. Stattdessen ritt Ju stillschweigend an mir vorbei und zog genervt am Zügel herum.
      „Denk nicht so viel nach, Juha kann speziell sein. Er braucht jetzt Ruhe und Zeit für sich“, erklärte mir Herr Holm. Zustimmend nickte ich und kletterte durch den Zaun vom Gang hinaus, lief zurück auf meinen Platz, der noch immer leer war.
      Die restlichen Teilnehmer sah ich mir noch an, auch wenn ich Alicia nicht entdecken konnte. Was auch immer es mit dem Typen auf sich hatte, offenbar gehörte ich nicht mit in die Rechnung. Hinter mir sprachen zwei Menschen über Jus Ritt, kritisierten ihn bis aufs Äußerste.
      „Vielleicht solltet ihr das erst einmal reiten, bevor ihr so das Maul aufreißt“, drehte ich mich verärgert um. Wie Autos blickten die beiden in meine Augen und verstummten.
      Bei der Siegerehrung musste sich Raphael mit dem dritten Platz zufriedengeben, denn ein Deutscher und ein Belgier hatten ihn vom Thron verdrängt. Ein Hauch von Wehmut schwang in mir, aber als ich sein Strahlen und das von Quinn erblickte, verschwand es. Laut jubelte ich, freute mich wirklich für ihn. Den Moment wollte ich so gern mit jemanden teilen, aber ich hatte niemanden. Lotye war außerhalb meiner Sichtweite, Alicia ging vermutlich ihrer Natur nach und Ju verschwand wie von Erdboden.
      Just in dem Moment fiel mir wieder der eigentliche Plan vom Morgen ein: Ich wollte für Eskil mehr Informationen über die Stute besorgen. So gut ich konnte, kämpfte ich mich durch die Ränge heraus und folgte dem Weg zu den Zelten. Es dauerte nicht lange, bis ich bei den Stuten das Schimmeltier entdeckte, das hektisch mich anblickte und weiter den Kopf ins Heu steckte. Ein Zettel hing davor mit oberflächlichen Informationen und einer Email sowie Webadresse. Mit einem Foto leitete ich all das an ihn weiter und schoss noch mehr vom Pferd. Die Stute war mir gegenüber sehr skeptisch, zuckte immer wieder zusammen, wenn sie gegen meine Hand kam und legte bei jeder meiner Bewegungen die Ohren an.
      „Gefällt sie dir?“, kam ein Mann freundlich zur Box gelaufen.
      „Schon, ja, aber ein Freund von mir ist interessiert, deswegen bin ich hier“, erklärte ich höflich und wie ein Wasserfall begann er über die Stute zu Sprechen. Sie hieß Small Lady und war, wie bisher angenommen, ein Andalusier. Ihre Abstammung sagte mir nichts, aber klang nach sehr talentierten Pferden. Lange lauschte ich seiner Erzählung, die immer weiter abdriftete und schließlich bei dem Gestüt endete, auf dem er lebte und seinen Eltern gehörte. Die Stute gehörte zu einem der wenigen Andalusiern dort, weshalb sie ein anderes Zuhause finden sollte.
      „Scheren vermutlich“, antwortete ich, als er fragte, wohin sie denn kommen sollte.
      „Ah, das ist cool. Mein Ex-Freund lebt dort jetzt“, quasselte er frohenmutes weiter, aber ich konnte nicht mehr genau zuhören. Immer wieder nickte ich, bis er endlich zum Ende kam. Dennoch bedankte ich mich für die ganzen Informationen, bevor ich so schnell wie möglich aufs Zimmer ging.
      Der nächste und letzte Tag kam viel zu schnell. Die halbe Nacht schaute ich eine Dokureihe über Tiere in Afrika, bis ich einschlief. Auch nach dem Schlafen setzte ich an der Stelle fort. Alicias Ritt verlor ich aus den Augen, denn sie hatte auch diese Nacht auswärts geschlafen. Auf meine Nachrichten gab es keine Antworten. Zum Frühstück ging ich nicht, genoß viel mehr das schöne Wetter auf dem Balkon.
      „Wo ist denn Alicia?“, fragte ich Lotye nervös, als ich mit einem Koffer vor der Rezeption stand und nicht so wirklich wusste, mit mir anzufangen. Sie seufzte.
      „Also, sie fliegt mit mir morgen, entschied sie gestern.“ Aufmunternd klopfte Lotye meine Schulter, aber das brauchte auch nichts. Abermals stand ich allein da, nur weil Alicias Interessen offenbar einen höheren Stellenwert hatten, als meine. So hätte ich auch schon früher nach Hause fliegen können. Im Stall verabschiedete ich mich von meinem Pony und stieg im nächsten Augenblick in das Taxi zum Flughafen. Auf einmal fühlte ich mich so unglaublich unwichtig, dass all die Glücksgefühle sich in Luft auflösten.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 76.797 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Oktober 2020}
    • Mohikanerin
      Dressurkurs / Dressur E zu A | 30. Oktober 2022

      Fieberglass / Vyctor / Girlie / Dix Mille LDS / Steinway HMK / Don Carlo / Keks / Lifesaver

      In einer gefüllten Halle tummelte sich die erste Gruppe von Reitern, die ihre Pferde aufwärmten. Entspannt saß ein Trainer in der Ecke, tippte unachtsam auf seinem Handy. Die Pferde waren bunt durchmischt – ein hübscher Fuchs mit großer Blesse trottete aufmerksam voran, dahinter folgte eine Reiterin auf einem Schimmel. Ein weiterer Fuchs wurde bereits am langen Zügel auf dem Zirkel getrabt. Der Hengst schnaubte gleichmäßig und ein deutlich weiter geschimmelter Hengst schaute interessiert den anderen Teilnehmern nach.
      Nach dem Aufwärmen begann die Arbeitsphase. In der Abteilung wurde getrabt und Schritt geritten, dazwischen viele Bahnfiguren, um den Takt und Losgelassenheit zu verbessern. Die einfachen Elemente der Dressur saßen bei den Teilnehmern, weshalb auch Anfänger-Lektionen eingebaut wurden. Als Fotograf stand ich auf der Tribüne, um schön Erinnerungen für die Besitzer und Reiter festzuhalten.
      Eine dreiviertel Stunde später kam die zweite Gruppe dazu, bestehend aus Stuten. Eine interessant getupfte Stute, mit weißen Punkten auf braunen Fell, schaute irritiert durch die Halle. Hingegen war die Rappstute vollkommen gelassen und die andere Stute mit Punkten ebenso. Letztlich kehrte noch verspätet eine braune Stute in den Sand, die ebenso entspannt voranschritt.
      Die Einheit bestand aus den gleichen Elementen, wie die vorherige. Natürlich waren die Ansätze des Trainers individueller angepasst an den Reiter und Pferd, sodass es trotzdem Unterschiede gab. Ich schaute weiterhin zu, um nach der Mittagspause erneut meinen Posten einzunehmen.

      © Mohikanerin // 1567 Zeichen
    • Mohikanerin
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      kapitel trettioåtta | 30. Oktober 2022

      May Bee Happy / Maxou / HMJ Divine / Einheitssprache / Monet / Dix Mille LDS
      Mitternacht LDS / L‘Épirigenys LDS / Fire to the Rain LDS / Nachtzug nach Stokkholm LDS / WHC‘ Email / Ready for Life


      DONNERSTAG, 10:16 UHR
      Kalmar

      Vriska
      Vier Rennen später, die mehr oder weniger erfolgreich verliefen, standen wir in Kalmar. Es war nicht mehr dasselbe. Noch immer sah ich mich um, einzig, um ihm aus dem Weg zu gehen. Zu sehr ängstigte mich die Vorstellung ihm in Begleitung seiner Freundin anzutreffen, deshalb war ich froh, dass ich nicht als einzige von uns am Hofturnier teilnahm. Nichtsdestotrotz sah ich jedes seiner Rennen, auch wenn er es im Moment bevorzugte in den Norden Schwedens zu fahren und dort Platzierungen abzusahnen.
      Happy stand friedlich neben dem Transporter und zupfte am Heu, wohingegen Lina wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend rannte. Es gab keinen Grund dafür, nur die Aufregung an sich. Der Zeitplan lag zurück, schon in den Kinderprüfungen dauerte es länger und ich rechnete mit einem Zeitverzug von etwa einer Stunde.
      “Vriska, ich glaube, ich kann das nicht”, jammerte sie unbegründet und zupfte an der Haarpracht ihres Hengstes herum. Das junge Pferd war aufmerksam, behielt alles mit seinen dunklen Augen im Blick, aber war insgesamt noch ziemlich entspannt.
      “Dann packen wir jetzt dein Pferd ein und ich fahre es nach Hause”, antwortete ich unbeeindruckt. Den Blick richtete ich nicht auf, sondern scrollte weiter auf meiner Instagram-Timeline hinunter.
      “Ja”, nickte sie hektisch, “fällt sicher niemandem auf, wenn ich fehle.”
      “Bestimmt hat Samu binnen Minuten vergessen, dass du je existiert hast, Sam und Mateo wissen auch schon nicht mehr, wer du überhaupt bist. Da hast du vollkommen recht”, seufzte ich und steckte das Handy weg. Die Ohren meines Fuchses stellten sich auf, als ich näherkam und den Strick löste vom Metall.
      “Ja, Na ja … vielleicht nicht sofort, aber”, plapperte sie wirres Zeug, brachte nicht einmal einen vollständigen Satz hervor, da schien sie sich bereits in ihrem wirren Gedankenkonstrukt verloren zu haben. Seit Tagen, nein, Wochen ging es so. Lina konnte nicht wirklich erwarten, dass ich noch Verständnis für ihre Aufregung hatte. Den Strick befestigte ich wieder.
      “Willst du etwas zum Essen, Alkohol? Irgendwas? Egal, was, ich besorge es dir oder tue es, solang du dann ruhig bist”, versuchte ich eine Lösung für ihr Verhalten zu finden.
      “Den Knopf zum Vorspulen”, schossen die Worte aus ihrem Mund. In einer willkürlichen Bewegung klammerte sie sich an ihr Pferd, welches daraufhin die irritiert die Ohren anlegte.
      „Dann muss kurz nach Zeitsprungknoten schauen“, sprach ich kalt und setzte mich in einer seltsamen Position auf den Boden, blickte in den Himmel und tat so, als würde ich Zeichen empfangen – von wem auch immer.
      „Also, ich habe zwei Punkte empfangen. Entweder den Tag, an dem du wieder zu deinem Vater ziehst oder an dem Ivy von mir gegessen wird“, erklärte ich und verschränkte die Arme, als würde ich auf eine Auswahl warten.
      “Was?” Voller Entsetzten starrte sie mich an und krallte ihre Finger noch fester in den Mähnenkamm ihres Hengstes.
      “Entschuldigung, ich war nicht lang genug in der Schule, um Zugriff auf mehr Knoten zu haben und wenn du so weiter machst, wird Ivy das heute nicht überstehen”, versuchte ich weiter ihre Vernunft zu finden.
      “Iiiich bin schon still”, entgegnete sie eingeschüchtert und schien wirklich bemüht darum, ihre nervöse Energie im Zaum zu halten.
      „Du sollst nur nicht dein Pferd misshandeln“, lächelte ich aufmunternd, „also was willst du tun? Dir die anderen anschauen, wo anderes herumlaufen“, dann seufzte ich, denn ich kannte alternativ eine Stelle, wo niemand sein würde. Vermutlich wäre es ihr da am liebsten, aber ob ich das ertragen konnte, wusste ich nicht.
      “Nein, möglichst ohne Menschen würde ich bevorzugen”, sprach sie, löste die Finger von Divines Hals und strich ihm entschuldigend über sein Fell. Sofort gingen die Ohren wieder nach vorn und er stupste sie freundlich an, als wolle er ihr vermitteln, dass es keinen Grund für solch eine Aufregung gab.
      Ich seufzte, aber akzeptierte die Entscheidung. Also schloss ich das Tor des provisorisch aufgebauten Zauns, in dem die Pferde standen. Zusammen liefen los, an der Hecke vorbei, bis wir an der Trainingsbahn ankamen. Keiner der Dressurtrottel würde sich jemals hierher verirren und die Traber mieden ebenfalls jede Veranstaltung hier oben, dementsprechend waren wir allein. Einige Meter stand eine Bank, ein Balken lose, aber sonst noch in der Struktur vorhanden. Es war still, nur die Geräusche der Autobahn und Natur drangen an uns heran.
      „Ja, das ist gut“, beurteilte Lina die Umgebung. Argwöhnisch testete sie die Stabilität der Sitzgelegenheit, bevor sie sich darauf niederließ, die Stille auf sich wirken lassend.
      „Freut mich“, murmelte ich nur, denn nun war ich wie von einer Tarantel gestochen. Meine Finger fummelten am Saum der Jacke, während mein Blick über die Weite schweifte. Wenn ein Geräusch ertönte, drehte ich mich sofort in die Richtung, aber fand für keines dieser eine Erklärung.
      „Bin ich so ansteckend?“, horchte die Kleine nach, die zumindest für den Moment eine ganze Stufe entspannter wirkte. Zumindest zeugten die Finger, die endlich zum Stillstand gekommen waren, dafür.
      Hektisch schüttelte ich den Kopf.
      „Es ist nur so“, ich nahm einen kräftigen Atemzug, „ich war hier lange nicht mehr.“
      Bewusst wich ich ihren Augen aus. Seit Wochen hatte ich dieses Schweregefühl, wie in diesem Moment, nicht mehr auf den Schultern gehabt, sondern schürzte mich in allerhand Arbeit. Diese fehlte inzwischen wieder. Zugleich kam mir auch die Situation an sich nicht entgegen, sodass Zweifel erneut in den Vordergrund rutschten. Sorge, um die lausige Anfänger Dressur hatte ich nicht, wie auch? Happy lief zuverlässig auf dem schweren Niveau und ich war mittlerweile auch in der Lage, die Abfolgen zu reiten. Dennoch war meine Lizenz nicht weit genug datiert, um höhere Prüfungen zu reiten. Lina warf einen prüfenden Blick auf ihre Umgebung.
      „Geht's dir gut?“, fragte sie vorsichtig, als sie den Zusammenhang zwischen dem Ort und meinen Verhalten erfasste.
      „Was heißt schon gut?“, lachte ich kurz auf, schüttelte den Kopf und hob die Hände. Wie eine gefangene Raubkatze streifte ich über den feuchten Sand der Bahn. „Man lebt in den Tag hinein, nimmt die Dinge, wie sie kommen und macht weiter. Ein guter Tag ist, wenn ich erst im Bett an ihn denke und Happy Fortschritte macht oder Maxou.“
      Mit ihren großen Rehaugen sah Lina zu mir hoch. Es gab nicht viel, was sie über die generellen Umstände mit Basti wusste, nur, dass wir einander nicht mehr sahen, trafen oder schrieben. Ich schätzte, dass Nour und Lars es aus anderen Quellen erfuhren, mich jedoch im Frieden ließen, dass sie nichts wussten. Der Stalltratsch auf den Rennen würde sicher genügend Informationen an die Oberfläche spülen, sodass jeder wusste, dass Basti wieder mit seiner Ex zusammen war. Geschichte wiederholt sich, sagt man so schön und ich traf offenbar jedes Mal aufs Neue dieselbe Sorte Mann – fehlte nur noch ein Kind, dann wäre das Muster vervollständigt.
      “Mmm, klingt nicht so als habest du gegenwärtig besonders viel Freude”, stellte sie nüchtern fest.
      “Korrekt”, brachte ich gereizt heraus.
      “Ist ja gut”, sagte, sie beschwichtigend, ”du wirst dir keine Sorge machen müssen, ihm zu begegnen, schließlich ist die Trabercrew nach Malmö aufgebrochen, wenn ich mich recht erinnere.”
      “Da wirst du nicht ganz falsch liegen”, bemerkte ich. Das Pochen in meiner Brust wurde merklich ruhiger, auch wenn der nächste Schwall an Anspannung aufkam, dass ich nicht selbst wusste. Obwohl ich Bastis Teilnahmen verfolgte, hatte ich im Stress meines ersten Turniers mit Happy, wohl etwas übersehen. Allein der Umstand brachte mich zum Grübeln. Kam ich langsam über ihn hinweg oder war es die Ruhe vor dem Sturm?

      13 UHR

      Endlich tauchte Samu auf. Mir gingen die Ideen aus, wie ich Lina hätte weiter beruhigen sollen. Nachdem es Zeit wurde unseren Ruheort zu verlassen, kam auch ihre Anspannung wieder. Es übertrug sich auf Ivy. Ihr Hengst lief auf dem Paddock Kreise, wippte mit dem Kopf und seine lange Mähne schwang in der Luft mit. Happy zog es magisch an. Der Fuchs sprang gegen den Zaun, immer und immer wieder, bis ich schließlich sein Halfter zu fassen bekam.
      “Alles gut”, sprach ich beruhigend auf das Tier ein. Die Ohren zuckten in alle Richtung. Aber ich hatte ihn in der Hand, für einen Moment versuchte er noch sich zu befreien, bis er spürte, dass ich bei ihm war.
      “Wir schaffen das”, flüsterte ich ihm und legte vertrauensvoll meine Lippen auf seinen weißen Nasenrücken.
      Der Himmel lockerte auf. Kleine Sonnenstrahlen kämpften sich durch die dicken Wolken. Wärme kam auf, dass ich meine Jacke auf die Beifahrerseite des Autos legte.
      “Tut mir leid”, entschuldigte sich Lina, die auf den Zehenspitzen auf und ab wippte, was ihr Pferd nicht gerade ruhiger werden ließ.
      “Linchen, runterfahren”, sprach ihr bester Freund sanft zu ihr und hielt sie an den Schultern am Boden. Divine ließ ein leises Wiehern erklingen, was mehr klang, wie das Blubbern eines Motorrades. Als in der Entfernung allerdings jemanden mit einem fremden Pferd vorbei Schritt schraubte sich der Ton mehrere Oktaven in die Höhe.
      “Außerdem solltest du langsam mal dich fertig machen, in einer halben Stunde beginnt die Prüfung”, erinnerte ich sie auf direkten an unseren Grund, wieso wir hier seit den frühen Morgenstunden herumstanden. Geschickter wollte und konnte ich mich nicht ausdrücken. Dafür regte sie den Fuchs zu sehr auf, der ohnehin unter Strom stand wegen der ganzen anderen Pferde. Für ihn war es nicht leicht, auch wenn ich bisher nicht herausfinden konnte, deshalb er so war.
      “Was in einer halben Stunde schon!” Wie ein aufgescheuchtes Huhn, bewegte sie sich fort und holte ihren Putzkasten hervor. Kaum hatte sie diesen abgestellt, bewegte sie sich zu ihrem Pferd und wollte es einfangen. Ivy kam zwar zu ihr gelaufen, doch zuckte nervös, wie er war immer wieder mit dem Kopf weg.
      “Samu, Hilfe”, sah sie verzweifelt zu dem großen Blonden hinüber.
      “Ich sag’s dir erneut, du musst dich ein wenig beruhigen”, sagte er kopfschüttelnd zu ihr, kam ihr aber dennoch zu Hilfe. Ruhig sprach er mit dem hellen Pferd und strich ihm langsam über den Hals. Im Gegensatz zu seiner Besitzerin wurde er ruhiger und ließ sich schließlich von Samu aus dem kleinen Paddock führen.
      “Soll ich direkt mit Happy mitkommen?”, bot ich an.
      “Ja”, nickte Lina heftig mit dem Kopf, sah dabei aus, wie eine dieser Wackeldackel, die Senioren auf ihrer Kofferraumabdeckung stehen hatten, neben der Popapierrolle.
      “Gut, dann entspann dich. Ich bin da”, wiederholte ich noch mal, bevor ich Happy an ihr vorbeiführte und auf der anderen Seite des Transporters befestigte. Er schnaubte gelassen ab, dann putzte ich ihn. Dreckig war er nicht, nur etwas Staub löste sich aus dem Fell und nach zehn Minuten holte ich den alten und ziemlich zerkratzten Dressursattel aus der kleinen Sattelkammer. Nach der schwarzen Pflegecreme sah er zumindest weniger zerkratzt aus. Das Modell stammte aus unserer Ansammlung von Pferdezubehör, schließlich kam mein Reitpad nicht dem Regelwerk nach. Die Form störte der Nennstelle, obwohl ich für die vier Minuten Prüfung sogar bereit war, Bügel zu befestigen.
      Das dicke Korrekturpad glich den Großteil aus. Aber wie gesagt, lange trug er das Ding ohnehin nicht. Die Länge war perfekt und die Kammer passte ich selbst an. Samu brachte Lina derweil ihren nagelneuen Dressursattel, der natürlich wie angegossen auf dem Hengst lag. Etwas Neid lag schon in meinem Blick, als ich das gepflegte Leder betrachtete, das poliert im Licht glänzte. Der Prozess des Bürstens hatte offenbar den Adrenalinspiegel ein Stück weit heruntergebracht. Die Kleine wuselte nur noch mit halber Geschwindigkeit um ihr Pferd herum und bis auf das übliche Anlegen der Ohren, ließ der Hengst sich artig satteln.
      „Lass mich das mal machen“, nahm Samu ihr die Trense aus der Hand.
      „Meinst du, ich kann das nicht selbst?“, blickte sie ihn irritiert an.
      „Doch, aber willst du etwa so auf Pferd steigen“, wies er seine beste Freundin auf den Umstand hin, dass sie noch in der Jogginghose umherlief, welches sie aufgrund der niedrigen Temperaturen am Morgen zusätzlich anzog. Ebenso die Stiefel und der Helm befanden sich noch nicht an ihrem Körper.
      Vielleicht wäre es auch für mich ratsam gewesen, das Pferd mit einem Überzieher zu reinigen. Stattdessen zierte der Stoff an meinem Oberschenkel unterschiedliche Streifen und Formen aus Staub. Selbst das Jackett vom Nationalteam trug ich schon, womit ich redlich blöd bei vorkam. Mein Name stand auf der Brust und am Ärmel, auf Schulterhöhe, das Logo des Landes. Eskil hatte mir dazu geraten, aber bei einer lokalen Veranstaltung mich derartig herauszuputzen, wirkte lächerlich. Zum Schluss löste ich noch die Startnummer vom Halfter und befestigte diese an der Trense. Happy zuckte, als das Plastik nah in seine Sicht kam, aber mit ruhigen Worten, entspannte sich dieser.
      „Bereit?“, lächelte Samu aufmunternd, als Lina vollständig bekleidet neben ihn trat. Divine war bereits getrenst und ebenso den Gurt hatte der Finne nachgezogen.
      „Optisch ja. Mental … ich weiß nicht“, entgegnete sie zurückhaltend und strich ihrem Hengst über die helle Stirn, bevor sie Zügel entgegennahm. Ich hingegen warf meine über den Hals und schwang mich, mithilfe eines Tritts, in den Sattel. Schnell reichte ihrem Turniertrottel mein Handy für ein Bild. Es landete mit einer Markierung zu Lina in meiner Instagram-Story, bevor Samu es in den Schrank packte. Es galt Handyverbot beim Reiten, was ich natürlich sonst nicht einhalten könnte.
      „Das ist nur die Nervosität, das wird gleich besser, wenn du auf dem Pferd sitzt“, ermutigte er die Kleiner weiterhin. Verhalten nickte sie, als würde sie ihn nicht hundertprozentig trauen, doch sie folgte ihm widerstandslos, als er den Weg zum Abreiteplatz einschlug. In kleinen, tänzelnden Schritten tippte der sonst so ruhige Freiberger seiner Reiterin hinterher, wieherte sogar einer Stute hinterher, die uns entgegenkam und drehte die Ohren, wie zwei Antennen auf der Suche nach Empfang.
      Skeptisch beäugte ich die beiden, wie sie durch den Sand rollten. Sie zupfte willkürlich am Zügel herum, als hätte sie alles vergessen, was jemals im Reitunterricht besprochen wurde. Obwohl ich die Aufgabe bei mir sah, Lina durch ihr erstes Turnier zu begleiten, hatte ich ganz andere Probleme. Wie unter Storm zuckte der Fuchs bei jedem Geräusch zusammen und konnte keinen Schritt auf den Sand setzen, ohne diesen genauestens zu prüfen. Durch
      leichten Kontakt am Bein trieb ich ihn vorwärts. Langsam, aber sicher wurde er warm mit der Situation, auch, weil die rossige Stute vom Platz verschwand.
      „Ach super, du sitzt schon auf dem Pferd. Ich wollte dich gerade holen gehen“, grinste Eskil, der am Zaun auftauchte.
      „Er war sehr nervös auf dem Paddock, deshalb wollte ich ihn genügend vorbereiten“, erklärte ich und strich dem bereits geschwitzten Hengst über den Hals.
      „Vorbildlich. Wie ist er heute?“, hakte er nach.
      „Hart am Maul, abgesehen von seiner Nervosität, fleißig und temperamentvoll, wie man ihn kennt“, schätzte ich ein.
      Eskil nickte.
      Es folgten Anweisungen zur Vorbereitung, die im Schritt und Trab umsetzte. Langsam, aber sicher löste sich Happy. Er streckte den Hals und seine Schritte wurden weicher auf dem eher harten Untergrund, sodass ich entspannt im Kopf den Ablauf durchging.
      Lina hatte es schwieriger mit ihrem weißen Pferd. Ihre Aufregung übertrug sich auf das junge Tier und es war ein einziges Auf und Ab der Gefühle. Wenn er auf Idee kam, sich zu lösen, ergriff sie panisch den Zügel, als würde Ivy wegspringen. Natürlich tat es vor Schreck, dass die Kleine hektisch am Gebiss zog. Eskil und Samu versuchten die beiden zu bändigen, aber kamen mit ruhigen Worten nicht voran. Ich hoffte noch immer darauf, dass Niklas von selbst zum Abreiteplatz kam, aber das wäre genauso unwahrscheinlich, wie Basti anzutreffen. Mit leichter Gewichtsverlagerung bewegte ich Happy vom Platz hinunter und folgte der Menschenmasse, die sich zum großen Reitplatz bewegte, auf der die Prüfungen geritten wurden. Da stand er, unterhielt sich mit einer betuchten jungen Dame, kaum älter als ich. Angetan von ihm fuhr sie sich durch die langen schwarzen Haare und kicherte. Aus den Wortfetzen entnahm ich nichts, was lustig war.
      „Romeo, deine Freundin braucht dich“, rief ich ihm leicht verärgert zu. Tatsächlich reagierte Niklas und löste sich sofort von der Dame. Böse Blicke prasselten auf mich ein, aber die Verurteilung aller, kannte ich schon und lebte damit. Happy faltete die Ohren immer näher in den Nacken, als er sich auf uns zubewegte.
      „Was stimmt mit dir nicht?“, zischte Niklas mich an.
      „Das solltest du dich selbst fragen, aber komm bitte. Lina flippt gleich aus“, sagte ich stumpf.
      „Und was soll ich dann tun?“, fragte er schwer von Begriff.
      Ich rollte mit den Augen.
      „Einfach für sie da sein. Samu und Eskil sind keine große Hilfe“, erklärte ich.
      Niklas entglitten die Gesichtszüge.
      „Kili ist da?“, verunsichert huschten seine Augen von links nach rechts und wie angewurzelt hielt er an. „Dann kann ich dort nicht hin.“
      „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Kannst du dich bitte nur für den Moment normal benehmen“, versuchte ich ihn zur Vernunft zu bringen, sehr ironisch, denn sonst musste mein Umfeld, das mit mir tun.
      Er holte kräftig Luft und folgte mir schließlich. Wie vom Teufel gejagt, legte er einen Jog hin, als man aus der Ferne schon Ivy über den Platz fetzen sah. Der Hengst wirkte unkontrolliert und vollkommen verängstigt, Lina im Sattel ebenfalls. Happy, den das wieder aus der Ruhe brachte, hielt ich zurück. Wir blieben auf Abstand.
      Im Schritt führte Niklas seine Freundin zum Reitplatz. Sie strahlte, auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, dass es einzig an der Anwesenheit ihres Partners lag. Einige Meter dahinter lief Samu, ebenfalls gut gelaunt und zu gleichen Maßen erleichtert. Freundlich nickte er mir zu.
      Samu
      Verwunderung trat ein, als ich feststellte, dass Vriska nicht mit zum Reitplatz kam. Eigentlich hatte ich gedacht, sie würde Interesse daran hegen, wie Lina sich machen würde. Na ja, vielleicht hatte sie auch einfach mit ihrem Fuchs zu tun, der nicht gerade einen zufriedenen Eindruck machte.
      “Na, wie geht es unserer Kleinen?”, kam Samantha gut gelaunt auf mich zu. Dicht darauf folgte auch ihr Bruder, der, soweit ich mitbekam, von seiner Schwester als ihre Begleitung verpflichtet wurde.
      “Könnte deutlich besser sein. Lina steht vollkommen unter Strom”, gab ich ihr den Lagebericht. Lina und ihr Freund befanden sich etwas abseits, bewegten sich in kleinen Kreisen. Die Tatsache, dass sich ihr Start sich um wenige Minuten verzögerte, hatte ihr Stresslevel sofort wieder ansteigen lassen, was sich auch auf ihren Hengst auswirkte. Nervös, mit kurzen, kleinen Schritten lief das helle Tier voran, die Augen weit aufgerissen, ständig in der Erwartung eine ruckartige Anweisung zu erhalten. Das letzte Mal, dass ich meine beste Freundin dermaßen außer Rand und Band erlebt hatte, war schon etliche Jahre her und hatte einen deutlich bedeutenderen Hintergrund.
      “Wer kam eigentlich auf die bescheuerte Idee, sie mit ihrem Hengst starten zu lassen?”, fragte sie mit einem kritischen Blick auf die Situation.
      “Sie selbst”, kam Mateo mir mit einer Antwort zuvor, “Nach dem ersten Training war sie hellauf begeistert von dieser Idee.”
      “Und keiner von euch zwei hat ihr gesagt, dass das vielleicht nicht die klügste Idee ist? Sie hätte doch auch Hanni nehmen können”, hakte die Blonde voller Unverständnis weiter nach.
      “Oh doch, jedes Mal, wenn es zur Sprache kam”, seufzte ich. Hätte ich geahnt, dass sie sich bereits bei so einem kleinen Turnier dermaßen aufregen würde, hätte ich ihr Divine aktiver ausgeredet.
      “Und was ist mit dir, Mateo”, scharf blickte die junge Frau ihren Bruder an, “du siehst so schuldbewusst aus.” Das Trio stand mittlerweile wieder still, sofern der Hengst diesen Zustand zuließ. Ihren Blick hatte sie auf den Platz gerichtet, auf denen ihr junger Vorreiter gerade die letzten Figuren der Aufgabe präsentierte, dabei nickte sie immer wieder unsicher. Daraus schloss ich, dass Niklas versuchte ihren Fokus auf die zu bewältigende Aufgabe zu lenken.
      “Sie sieht immer so glücklich aus, wenn Ivy Fortschritte macht”, verteidigte Mateo sich, versuchte es nicht einmal abzustreiten.
      “Dummkopf, gerade du solltest es besser wissen”, rügte die junge Frau ihn und stieß ihm fest in die Seite. Doch der Ärger würde auch nichts mehr nutzen, das Kind war schon in den Brunnen gefallen. Wie auf das Stichwort erklang verhaltener Applaus und der Junge verließ mit seinem Pferd die Bahn.
      “Du schaffst das”, lächelten die beiden Geschwister Lina aufmunternd zu, als diese in Begleitung ihres Freundes zum Eingang des Reitplatzes ritt. Auch ich wünschte ihr viel Erfolg, doch das nahm sie schon kaum noch wahr. Es knackt in den Lautsprechern, dann erklang eine Männerstimme, die Linas Auftritt anmoderierte.
      “Denk daran, für die nächsten Minuten gib es nur noch dich und dein Pferd, dann schaffst du das, mein Engel”, trug der Wind die Worte hinüber, die Niklas ihr mit auf den Weg gab. Lina nickte, atmete ein letztes Mal tief durch und trieb ihren Hengst an. Aufgeschreckt machte der Freiberger einen Satz nach vorn, wobei seiner Reiterin kurzzeitig das Lächeln entglitt, doch als sie bei X hielt, währte sie wieder einen perfekten Anschein. Etwas ruckartig trat Ivy wieder an, fand aber schnell einen gleichmäßigen, wenn auch etwas hastigen Rhythmus.
      “Schau nur Sammy, so schlecht sehen die beiden doch gar nicht aus”, sprach Mateo zu seiner Schwester. Genau im selben Moment parierte Lina zum Schritt. Artig folgte der Freiberger den Hilfen, hab sich in der niedrigeren Gangart angekommen, allerdings hinaus, weil seine Reiterin ihm nicht schnell genug den Zügel freigab.
      “Fordere das Glück nicht hinaus, das wird sie dir nicht verzeihen”, schmunzelte sie.
      “Wird sie auch nicht müssen”, gab er überzeugt wieder, “Lina wird mit einem Schleifchen nach Hause gehen.” Lina war mittlerweile beim Galopp angekommen, eine der Sachen, an denen sie in den letzten Wochen am intensivsten gearbeitet hatte. Das wurde auch sichtbar. Gesetzt setzte das helle Pferd in großen Sprüngen über den Sand und wirkte für sein Körperformat erstaunlich leicht. Den Rest der Aufgabe ritt Lina ohne größere Fehler, womit sie meiner Einschätzung nach bei einer 6er oder 7er-Wertnote liegen sollte. Mit einem Gruß an die Richter beendete sie die Prüfung. Mit den Zügeln fiel auch die Anspannung und ein echtes Lächeln breite sich auf ihrem Gesicht aus. Auch mich durchfloss das Glück und ich war stolz auf sie, dass sie sich ihren Ängsten entgegenstellte. Sprunghaft wie ein Welpe, löste Samantha sich vom Zaun und lief hinüber zum Ausgang, wo Niklas bereits auf seine Freundin wartete. Mateo und ich folgten ihr etwas gemächlicher. Überglücklich fiel Lina ihrem Hengst um den kräftigen Hals, kaum hatten seine Hufe das Pflaster berührt.
      “Gut gemacht”, lobte Niklas sie und tätschelte beiläufig die Schulter des Tieres. Lina wollte etwas entgegnen, doch Samantha fiel ihr freudig ins Wort: “Ich wusste, du kannst das.”
      “Das klang vorhin aber noch anders”, beschwerte sich ihr Bruder.
      “Mateo, dränge dich nicht immer in den Vordergrund”, winkte Samantha ab und stopfte Divine ein Leckerli in die Schnauze, “Wenn das kein Schleifchen für euch gibt, müssen die Richter schon blind sein.” Der Schweizer verdreht die Augen um, murmelte etwas wie: “Weiber.” Der Umgang der beiden Geschwister brachte mich zum Schmunzeln. Sie erinnerten mich an meine Geschwister und mich.
      “Danke”, nahm Lina das Lob ziemlich bescheiden entgegen, ”Ihr tut ja gerade so, als hätte ich Olympia gewonnen, aber so gut war es sicher nicht.”
      “Engelchen, sieh mich an”, sprach Niklas und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel, um ihre Aufmerksamkeit sicherzustellen, “Du hast etwas erreicht, wofür es zwar kein Schleifchen gibt, aber das viel mehr Wert. Du bist über dich hinausgewachsen und darauf darfst du ruhig stolz sein.” Damit sprach er genau das aus, was ich ihr ebenfalls sagen wollte. Egal, was die Richter sagen würden, Lina hatte heute mit Abstand den größten Erfolg erzielt.
      “Oh”, stieß Samantha nach einem Blick auf ihre Uhr aus, ”Ich würde unheimlich gerne sehen, wie du dein Schleifchen bekommst, aber wir müssen allmählich Einheitssprache vorbereiten.” Mit diesen Worten stürzte sich die Blondine in die Vielzahl an Menschen, die beschäftigt um den Platz herumwuselten.
      “Sieht man dich später?“, richtete Mateo eine Frage an Lina.
      „Selbstverständlich komme ich mir mein Pferd anschauen“, grinste sie. Während der blonde Haarschopf des Schweizers in der Menschenmasse verschwand, hingen meine Gedanken noch an Lina Wortlaut fest. Ging es dabei um tatsächliche Besitzverhältnisse oder entstammt das aus der Gewohnheit heraus.
      „Samu, du kannst aufgehört so anstrengend nachzudenken, Rambi ist tatsächlich meiner. Na ja, zur Hälfte“, sprach sie, als habe sie meine Gedanken wahrgenommen. Ihr Freund schien nur wenig verwundert über diese Information. Wie konnte es nur sein, dass alle es bereits wussten, nur ich nicht? Bereits seit einigen Wochen hatte ich das Gefühl, dass Lina mir nicht mehr so viel erzählte, wie früher und immer öfter Dinge unter den Tisch fallen ließ.
      „Ich hätte mir ja denken können, dass du jeder Gelegenheit nutzt, schon wieder ein Pferd zu kaufen“, schmunzelte ich.
      „Was heißt den hier schon wieder?“, beschwerte sie sich sogleich, „Rambi ist das erste Pferd dieses Jahr! Außerdem möchte ich betonen, dass ich weder Ivy noch Redo so wirklich gekauft habe.“ Das Pronomen bekam dabei besonders viel Betonung. Dieser Fakt stimmte zwar, aber änderte nicht wirklich etwas daran, dass der dunkle Freibergerhengst bereits das dritte Tier in ihrem Besitz war. Wenn sie in dem Tempo weitersammelte, würde sie alsbald, sämtliche Freiberger in ganz Schweden besitzen, da konnte ich wohl sagen, was ich wollte. Sofern sie irgendwo die Zeit und das Geld finden würde, würde sie sich wohl noch unzählige weitere Tiere zulegen.
      “Schon gut, sammle du mal deine Pferde”, lächelte ich milde. Pferde sammelt, gefiel sie mir deutlich besser als in den Zeiten, in denen sie sich von der Welt isoliert. Allmählich fanden sich weitere Reiter ein. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Siegerehrung gleich beginnen würde. Lina bemerkte diesen Umstand ebenso und begann nervös die Zügel zu kneten. Natürlich spiegelte Ivy das Verhalten seiner Reiterin sogleich, begann wild mit den Ohren zu zucken und verkündete mit lauter Stimme seine Anwesenheit.
      “Ganz ruhig, den schweren Teil hast du doch bereits geschafft”, sprach Niklas leise mit ihr, eine Hand bewusst an ihrem Oberschenkel platziert. Ob es seine Worte oder der Körperkontakt waren, die ihre Wirkung entfalteten, war mir schleierhaft, doch ihre Energie veränderte sich deutlich. Es war nicht allein, dass sie ruhiger zu werden schien, nein, es schwang eine Nuance von etwas anderes mit. Die ersten Reiter betraten mit ihren Pferden den Sand, womit sie nun langsam folgen sollte, auch Ivy schien dieser Meinung, denn unruhig wechselte er von einem Fuß auf den anderen.
      „Na, los, hol dir dein Schleifchen“, forderte ich sie freundlich auf. Die Kleine nickte, löste ihren Blick von dem ihres Freundes und lenkte den Freiberger auf den Platz. Neugierig und überfordert zugleich setzte das junge Tier die Hufe in den Sand und reihte sich wie fremdgesteuert hinter einem großen Rappen ein, bevor sich alle Teilnehmer ordnungsgemäß auf der Mittellinie aufstellen. Der erste Platz ging an ein junges Mädchen mit einem langbeinigen, zierlichen Fuchs, der rein der Optik her sicherlich einer langen Linie von Lampenaustretern entstammte. Die Reiterin trieb ihr Pferd bereits wie üblich einige Schritte nach vorn, da erblickte ich einen Mann hektisch von den Richterhäusern herüberrennen. Eine kurze Pause entstand, bis die Dame, die die Siegerehrung leitete, verkündete, dass ein Fehler vorlag. Der große Fuchs hatte bei der Ausrüstungskontrolle Lahmheit angezeigt und wurde damit disqualifiziert.
      „Ich freue mich, ihnen nach dieser Korrektur den Sieger verkünden zu dürfen. Der erste Platz geht somit mit einer Note von 7,8 an Lina Valo mit HMJ Divine“, sprach die Dame und Applaus erklang. Vor Staunen fiel Lina das Lächeln aus dem Gesicht und die Augen wurden groß. Offenbar hatte sie nicht mal mit dem zweiten Platz gerechnet, geschweige denn dem Ersten. Eilig trieb sie den Freiberger nach vorn, der jedoch scheuen zurückwich, als er das bunte Ding erspähte, was man ihm an den Kopf stecken wollte. Mit ein wenig Geduld seitens der Dame und gutem Zureden von Lina, prangte die blau, gelbe Schleife schließlich doch am Pferdekopf. Voller Stolz führte sie die Ehrenrunde an, als alle Plätze verteilt waren und drehte in vollem Tempo die zwei Runden um das Viereck. Erschöpft, aber glücklich kehrte sie schließlich zurück zu uns.
      „Ein Bild für die Presse?“, fragte ich sie, worauf hin sie nickte. Freudestrahlend schmiegte sie an den Hals des hellen Pferdes und auch Ivy zeigte sich von der besten Seite.
      „Zeig mal“, verlangte sie schließlich nach dem Handy, um die Bilder zu begutachten.
      „Oh Gott, ich kann es noch gar nicht glauben, dass das wirklich passiert ist“, strahlte sie und swipte durch die Bilder, die ich während der Siegerehrung aufgenommen hatte, „Wie ist das möglich? Das kann nicht die Realität sein.“
      „Ja, das ist die Realität, wie sie realer nicht sein könnte“, bestätigte ich ihr, „und möglich, Lina, ist, weil du diese Fähigkeiten schon lange besitzt. Du musst dich nur trauen, der Welt das zu zeigen. Nächstes Mal probierst du vielleicht noch dein Pferd nicht so in Unruhe zu versetzen.“
      „Wer hat denn behauptet, dass es ein nächstes Mal gibt?“, hakte sie nach. Ich rechnete bereits damit, dass sie trotz des Erfolges noch eine ablehnende Haltung gegenüber weiteren Turnieren haben würde.
      „Das Schleifen an deinem Pferd und ich“, entgegnete ich schmunzelnd. Gerade als Lina eine zögerliche Antwort entgegen wollte, gab das Gerät, welches sie noch immer in der Hand, eine melodische Tonfolge von sich.
      „Samu, deine Freundin“, stellte Lina fest und drückte mir das Handy zurück in die Hand. Eilig nahm ich den Anruf an und entfernte mich ein paar wenige Schritte.
      „Hey, Schatz. Seid ihr noch auf dem Turnier?“, erklang die helle Stimme meine Freundin.
      „Ja, Lina ist gerade erst fertig geworden“, berichtete ich auf ihrer Frage hin. Während ich das Gespräch mit meiner Freundin fortsetze, bedeute Lina mir in einer skurrilen Zeichensprache, dass Niklas und sie schon gehen würden, um Ivy trocken zu reiten und aufzuräumen. Glücklich strahlte die Kleine, als sie ihr erschöpftes Pferd vom Platz weg ritt.
      Vriska
      Happy hatte sich angestrengt. Beinah wie ein alter Hase schwebte, er durch den Sand, obwohl er mit seinen sieben Jahren alles andere als alt war. Er schlug sich wacker unter den neuen Einflüssen, wodurch wir auch ein Schleifchen mit nach Hause nahmen. Doch für den Moment durfte er seine verdiente Portion Hafer genehmigen, während alle anderen auf sich warten ließen. Neugierig steckte Ivy seine Nase zum Paddock nebenan, aber der Fuchs maßregelte das junge Pferd sofort. Ich mischte mich nicht in die Angelegenheit ein, schließlich war auch mir aufgefallen, dass das Pferd von Lina nur mäßig gut mit persönlichem Raum umging. Aber es war ihre Erziehung, nicht meine. Anstelle mir weiter die Gemeinheiten anzusehen, öffnete ich die Sattelkammer des Transporters, um endlich mein Handy herauszuholen. Diverse Benachrichtigungen leuchteten auf dem Sperrbildschirm, viele Antworten auf meine Story und allerlei Likes.
      „Wer ist die andere? Der Fuchs ist so toll. Welchen Platz habt ihr? Wie lief es? Soooo viel Glück!!“, waren einige der Nachrichten, die erschienen. Nur eine passte nicht ganz in das Muster: „Wunderschön.“
      Skeptisch verzog ich das Gesicht und klickte auf das Profil. Bereits bei dem Namen ‚b_goeri1912‘ regte sich etwas in mir. Wie eine Walze überrollten mich verdrängte Gefühle. Das kleine Herz in meiner Brust schlug hochfrequentiert, als wäre ich einen Marathon gerannt. Auf der privaten Profilübersicht zitterte mein Daumen, unsicher, wie ich all das aufnehmen sollte. Warum schrieb er mir und vor allem, warum wusste ich nichts von seinem Profil? Lars folgte ihm, Nour ebenfalls. Sie hielten es beide nicht für nötig, mir diese Tatsache mitzuteilen, stattdessen ließ man mich im Ungewissen.
      Aber es trieb mich eine unbekannte Kraft, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Eilig nahm ich die Nachrichtenanfrage an und verfasste eine Nachricht, nicht genug, um mich zu erleuchten. „Danke“, war alles, was ich von mir gab, keine Emoji, kein Zeichen sonstiger Zuneigung. Ich wollte mich dafür ohrfeigen, dass ich in alte Muster verfiel, aber er bedeutete mir so unglaublich viel. Kein Fehler in Form von ‚zu offensichtlich schreiben‘ durfte mir unterlaufen. Unbeschreiblich fühlte sich der bloße Gedanke an ihn an, wenn auch zu mindesten gleich großen Teilen schmerzhaft.
      Sofort steckte ich das Mobiltelefon in meine Tasche, stellte zuvor noch ‚Nicht stören‘ ein, um eine Reaktion seinerseits nicht direkt mitzubekommen. Mit weichen Knien lief ich zurück zum Pferd, das seine Schüssel geleert hatte und nun auf seine Abfahrt wartete. Auch ich konnte es nicht abwarten, endlich wieder zu Hause zu sein und am besten für immer zu schlafen. Es warteten allerdings zwei Pferde auf mich – mein Pony und ein Berittpferd.
      „Was grinst du eigentlich so?“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme von der Seite, die sich nicht einmal mit Schritten angekündigt hatte. Panisch drehte ich mich zur Seite. Niklas stand da in seiner engen Jacke, die mir vorhin nicht einmal aufgefallen war. Sie war so eng an den Schultern, dass nur eine falsche Bewegung dafür sorgen könnte, dass die Nähte rissen. Allgemein sah er heute, nach langer Zeit, besonders ansehnlich aus. Vermutlich, weil er wieder sein Basecap trug.
      „Das geht dich nichts an“, zischte ich und drehte mich weg, um keine weiteren Fantasien zu verfallen.
      „Ach Vriska, möchtest du mir nicht verraten, wer nun schon wieder dein Herz erobert hat?“, ließ er mir keine Ruhe.
      „Nochmal, falls du nicht meiner Sprache mächtig bist: Es geht dich nichts an“, wiederholte ich mich, hörbar genervt. Ihn kümmerte dies nur wenig und kam sogar noch einen weiteren Schritt auf mich zu. Der Wind trug eine Wolke seines Aftershaves an mich heran und unwillkürlich flackerten in Vergessenheit geratene Bilder vor meinem inneren Auge auf. Bilder, aus anderen Zeiten; Bilder, die mir Schauer über den Rücken jagten; Bilder, die ich in dem kurzen Moment als erstrebenswert erachtete.
      „Lars also, verstehe“, nickte Niklas plötzlich, als hätte er mich durchschaut.
      „Nein, bist du verrückt? Wir sind nur Freunde“, klärte ich die Umstände auf. Seinem Blick zur Folge glaubte er mir nicht, aber stellte es auch nicht in Frage. Bestimmt hatte Lina ihm mehr verraten. Doch, wusste er auch von Mateo? Der schwirrte vorhin ebenfalls auf dem Gelände, aber wenn ich Niklas genauer beäugte, stellte ich fest, dass er gute Laune hatte und kein Anflug von Eifersucht spürbar war.
      „Warum interessiert dich das überhaupt?“, änderte sich meine Stimmung, denn ich würde ihn, so schnell wohl nicht loswerden.
      „Einfach so“, sprach Niklas nüchtern und beobachtete Happy, der wahllos Grashalme zupfe. Das Metall des Verschlusses klapperte bei jeder Bewegung. „Was ist das eigentlich für einer?“
      „Niklas, ich möchte mich nicht mit dir unterhalten“, sagte ich schließlich, was mir durch den Kopf ging. Irritiert blickte er zu mir.
      „Warum nicht?“, fragte er vorsichtig.
      „Nicht dein Ernst, oder? Erst bist du fies zu mir und erwartest jetzt, dass ich die Fakten aus meinem Leben darlege. Frage doch Lina, wenn es dir so am Herzen liegt.“ Mir gefiel die Unterhaltung nicht. Es löste Zweifel in mir aus, die alle Lebensbereiche betrafen.
      Endlich verschwand er und ich riskierte einen kurzen Blick auf mein Handy. Wider Erwarten war dort eine Benachrichtigung von ihm, nein, sogar zwei. Ich blickte hoch, prüfte meinen Fuchs und versank wieder in meiner Welt, in der Basti mein Drachentöter war.
      „Wie lief das Turnier?“, fragte er, nachdem ihm meine Danksagung gefallen hatte. Ohne groß über eine Antwort nachzudenken, stürzte ich zur Sattelkammer, um die Schleife zu holen, die Happy und ich ergatterten. Wenn er sich nicht erschrocken hätte, vor dem umfallenden Blumentopf, hätten wir blau-gelb gehabt. Voller Elan nahm ich die Schleife und lief zu Happy. Von der Siegerehrung selbst gab es keine Bilder, aber ein furchtbares Selfie konnte ich mit dem Fuchs nachholen. Er richtete den Kopf auf, als ich näherkam und schon war das Bild im Kasten. Ich grinste über beide Ohren, der Zopf auseinandergefallen. Mir fielen tausenden Gründe ein, was heute zu einem guten Tag machte, auch wenn ich noch nicht wusste, dass es noch besser werden würde.
      Kaum war das Bild abgeschickt, sah Basti es.
      „Toll! Ich wusste, dass du das schaffst“, schrieb er. Quietschend, hielt mir das Telefon an die Brust. Für einen Wimpernschlag fühlte es sich so an, als wäre er bei mir. Dann vibrierte es wieder.
      „In zwei Stunden sind wir zurück.“
      Ich runzelte die Stirn und las die Nachricht wiederholt durch. Aber ich hatte nichts zu verlieren, also hakte ich nach: „Okay. Und was möchtest du mir damit sagen?“
      „Ich weiß nicht“, antwortete er zögerlich. Die Punkte kamen und gingen, bis schließlich diese drei Worte auftauchten.
      „Willst du mich sehen?“, entschloss ich, ihn zu fragen.
      Es dauerte eine Weile, bis ich mehr Informationen hatte. Währenddessen brachte ich meine Gegenstände zurück in den Transporter. Mir kam Samu entgegen, wie immer mit einem Lächeln geschmückt. Aber er schwieg, als wäre es ihm peinlich.
      Teile meines Teams, und deren Anhänger, waren verschwunden. Nur ich saß bei den Pferden. Rambi hatte gerade seinen Auftritt, auf den alle beinah sehnlichst hin fieberten. Bei mir stand keiner am Zaun, nur Menschen, die ich nicht kannte. Aus unerfindlichen Gründen kümmerte es mich nur wenig, dennoch verspürte ich leichte Zweifel, wieso ich Lina überhaupt mit zum Turnier nahm. Ich schlug die Beine übereinander und setzte mich bequemer auf die Bank. Aus der Tasche zog ich zittrig das Handy hervor. Hoffte, dass er mich sehen wollte und gleichzeitig auch nicht.
      „Ja.“ Leuchtete auf dem Bildschirm. Wieder quietschte ich laut wie ein Kind bei Disneyland.
      „Ich werde vermutlich im großen Stall sein“, fasste ich meine Pläne für den Tag oberflächlich zusammen. Es gab genügend Pferde, die ich bewegen könnte, nur um bis spät in der Nacht, da zu sein.

      EINE STUNDE SPÄTER
      Lindö Dalen Stuteri

      „Du kannst Happy schon auf die Koppel stellen“, rief mir Bruno zu, als ich den Hengst vom Transporter hinunterführte. Er war der letzte darin, denn aus mir unerfindlichen Gründen konnte Lina nicht schnell genug ihr Pferd wegbringen. Selbst Rambi verschwand in ähnlich rasanter Geschwindigkeit aus meinem Sichtfeld, als läge heute etwas in Luft.
      Brunos Outfits zur Folge waren sie vor kurzer Zeit ebenfalls erst angekommen, denn er trug noch die Hose seines Dresses, darüber die Stalljacke, die deutlich besser gefüttert war als die Übergangskleidung von Mira.
      „Okay, mache ich“, antworte ich. Vollkommen verschwitzt drückte der Fuchs seinen Kopf an meine Schulter, um sich zu kratzen. Aber ich schob ihn weg, schließlich wollte ich meinen Freiraum haben und trocken bleiben. Auch auf die kleinen braunen Haare konnte ich verzichten.
      „Gut, du bist noch da“, stellte Tyrell wenig Minuten später fest und kam aus dem Stallgebäude heraus. „Ich habe mit seinen Besitzern telefoniert.“
      Ein großer Klumpen formte sich in meinem Hals und ich schluckte einige Male, um diesen loszuwerden. Dennoch klammerte er sich fest, wollte nicht verschwinden. Nicht einmal ankommen konnte man, bevor Schreckensnachrichten überbracht wurden. Vermutlich hatten sie unsere Teilnahme via Livestream verfolgt. Obwohl es nur eine lokale Veranstaltung war, wollte der Reitverein unbedingt, dass es im Internet übertragen wurde. Für mich machte es keinen Unterschied.
      „Sie haben sich gegen das Verpachten entschieden“, seufzte er, „aber behalten wollen sie ihn auch nicht. Deswegen stand die Frage im Raum, ob du Interesse hättest.“
      Hatte ich das gerade richtig gehört? Happy könnte mein sein, auch wenn es bisher, wie ein Luftschloss durch meinen Kopf geisterte, hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Ich fand kaum Zeit, um mich ausreichend um Maxou zu kümmern. Wie sollte ich da noch ein zweites Pferd nehmen, das Betreuungsbedarf hat? Zudem hatte auch sie ausreichend Potenzial für Turniere und unsere Praktikantin ritt ebenfalls mit ihrem Pony schwere Prüfungen.
      Der Fuchs war mir sympathisch, aber nach einem erfolgreichen Turnier, ihn direkt zu kaufen, kam mir wie eine Schnapsidee vor. Auch, wenn ich ein Pferd benötigte, um Team zu bleiben. Im Zwiespalt gefangen, tänzelte ich auf der Stelle, während Happy den Kopf zum Boden gesenkt hatte und am Wegesrand am Gras zupfte.
      „Wie viel wollen sie denn?“, hakte ich nach.
      „Für dich wären es vierhundertfünfzig Tausend, Verhandlungen möglich“, sagte mein Chef unberührt. Kein kleiner Betrag, aber für den hohen Ausbildungsstand nicht unüblich. Parallel überschlug ich den Betrag in Pfund im Kopf
      „Wann muss ich mich entscheiden?“, fragte ich noch.
      „So schnell wie möglich, aber am besten in den nächsten drei Tagen“, dann verstand Tyrell mit den Worten, überfordert und wirr im Kopf stand ich neben dem Fuchs, der mich an der Schulter anstupste. Es klang beinah so, als hätten sie schon einen Käufer, was mir angesichts der Situation höchst unwahrscheinlich vorkam.
      „Ich weiß doch auch nicht“, wisperte ich ihm zu. Treu blickte er mich mit seinen dunklen Augen an und sah beinah so aus, als würde er mir zuzwinkern. Er wollte bei mir bleiben. Für mich standen zu viele Fragezeichen im Raum und musste es dringend mit erfahrenen Leuten besprechen.
      In vollkommener Entspannung stolperte er mir nach. Die Sonne nährte sich dem Horizont und blendete mich, bis ich Sonnenbrille aus meinen Haaren geschoben hatte. Auf den kleineren Weiden, nur für die Herren der Schöpfung errichtet, grasten bereits Walker und Plano. Auch Happy nahm die anderen beiden wahr, denn er hob den Kopf und stellte sogleich den Schweif auf. Mit meiner Hand am Halfter versuchte ich den tänzelnden Jungen zu beruhigen, doch das satte Grün interessierte ihn nicht mehr. Von hinten kam Schritte und bevor ich genauer inspiziert hatte, wer mir zu Hilfe kam, stand der Hengst auf der Weide. Am Zaun lief er auf und ab, allerdings schenkte ihm niemand die Aufmerksamkeit, die er sich erhoffte.
      „Da habe ich dich wohl im richtigen Moment entdeckt“, grinste mich Basti selbstgefällig an.
      „Ohja, ohne dich hätte ich den wilden Zossen nicht in den Griff bekommen“, scherzte ich.
      „Na ein Glück“, gab er halb ernst zu verstehen, „hast du dann noch was auf dem Plan? Schließlich bin ich viel zu früh.“
      „Eigentlich nicht, nur meine Stute wartet auf mich“, erklärte ich. „Und ein Berittpferd, aber die kann ich auch morgen arbeiten, wenn du was geplant hast.“
      Zusammen liefen wir in den Stall, meine indirekte Frage blieb unbeantwortet. Mit ausschweifendem Blick sah er an den meterhohen Decken hinauf, stoppte immer wieder, um das Bauwerk genauer zu betrachten. Für einen Moment hielt auch ich an, aber lief weiter, als er lediglich vor sich brabbelte und kein Wort zu mir sprach. Maxou stand bereits an der Front und blickte mich mit gutmütigem Blick an. Sanft strich über ihre Nase, holte sie schließlich heraus und lief zum Anbinder. Weit war Basti nicht gekommen, stand noch immer an derselben Stelle und musterte unsere mittlerweile gewachsene Sulky Sammlung.
      „Was denn das?“, kam er wieder zu sich und sah abfällig die helle Stute an.
      „Maxou, mein Pony“, erklärte ich.
      „Okay und die hast du, seitdem du klein bist, oder was?“, hakte er kritisch nach, als gäbe es irgendein Problem.
      „Fast, in bin seit einem halben Jahr nicht gewachsen, also ja, seitdem ich klein bin“, scherzte ich. Nun beäugte das Pony ihn skeptisch, streckte den Kopf seitlich zu ihm und fummelte am Oberteil herum. Selbst als er einen Schritt zur Seite setzte, um dem Krokodil zu entkommen, streckte sie sich noch weiter.
      „Ich verstehe, aber was hast du vor mit ihr? Irgendwelche Ziele?“, hielt Basti die Konversation aufrecht.
      „Da ich sie mit meinem Ex teile, wird sich das noch zeigen müssen. Aktuell sind wir noch im Aufbau und entweder ich reite sie auf Turnieren, oder wir finden eine nette Familie“, erklärte ich wahrheitsgemäß. Allerdings überhörte er den größten Teil und ihm lag nur eine Frage auf dem Herzen: „Und was ist das mit deinem Ex?“ Seine Augen waren weit aufgespannt, als wäre ich hier die Seltsame in der Situation, obwohl er vor seiner Freundin geflohen war.
      „Kompliziert“, seufzte ich. Eine Braue zog er nach oben.
      „Kurz um, Freundin, Kind und spontan kennengelernt“, erklärte ich.
      „Aber ihr wart zusammen?“, hakte er ungläubig nach.
      „Ja, eine gewisse Zeit. Er hielt es dann für wichtig, zwei Beziehungen gleichzeitig zu führen, ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen. Dann bin ich erst mal nach Hause, um mir klar darüber zu werden“, sprach zu Ende und legte das Putzzeug zu Seite. Maxou fand den Herren noch immer interessant. Er hatte es aufgegeben, sie davon abzuhalten.
      „Und dann denkst du wirklich, dass ich hier sein sollte?“, rümpfte Basti die Nase und wanderte mit dem Blick zu mir. Das Funkeln in seinen Augen erlosch, als wäre etwas in ihm verstorben. Ich spürte eine gewisse Distanz zwischen uns, die vorher nie präsent war.
      „Wieso nicht?“, fragte ich verwundert nach.
      „Nun. Was denkst du denn?“, stellte er eine Gegenfrage, anstatt meine zu beantworten.
      „Ich weiß es nicht?“
      „Mäuschen“, Basti holte tief Luft und trat etwas näher an mich heran, „mit mir wird es genau dasselbe. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber weil Nelly schwanger ist, sind wir wieder ein Paar.“
      Vor Schock fiel mir die Bürste aus der Hand. Maxou sprang in Panik zur Seite, aber bemerkte dann, dass es nur Plastik war, das den Beton zierte. Offenbar hatte ich ein Gespür dafür entwickelt, nicht nur das verrückteste Pferd haben zu wollen, sondern auch Männer mit Kind und Freundin. Absurd, wenn man so darüber nachdachte. Der Zufall meinte es nicht gut mit mir, aber man konnte nie etwas für die eigenen Gefühle.
      „Cool“, nickte ich teils enttäuscht, teils verärgert.
      „Soll ich gehen?“, fragte Basti nach einer Weile der Stille.
      „Ist mir egal“, zickte ich ihn an.
      „Wow, diese Begeisterung. Immerhin spiele ich mit offenen Karten“, ließ er sich nicht auf eine Diskussion ein.
      „Ich finde dich toll, aber unter diesen Umständen will ich dich nicht weiter kennenlernen“, säuselte ich enttäuscht und drehte mich von ihm weg. Etwas in der Richtung schwebte mir schon seit Tagen durch Kopf, dennoch gab keinen Grund, diesen Gedanken auszusprechen.
      Um den Schmerz an mir vorbeiziehen zu lassen, ging ich ein Stück zur Seite. Aber er schien ganz anderer Meinung zu sein. Ich vernahm seine Schritte, roch seines Parfüms, bis er meine Haare zur Seite schob und langsam seinen Mund am Hals ansetzte. Ein dichter Nebel legte sich vor meine Gedanken und ich war binnen Sekunden nicht mehr Herr meiner Sinne. Kräftige, aber nur durch leise Töne untermalte Atemzüge verließen den minimal geöffneten Mund, als wäre ich ein Fisch an Land. Den Grund seiner plötzlichen Nähe konnte ich nur erahnen, doch es war besser, als ich es mir je vorstellen konnte. Wie in Trance schloss ich die Augen und gab mich seiner zärtlichen Berührung hin, fernab jeglicher Umstände. Es war, als würde ein Traum in Erfüllung gehen, denn obwohl all die Fakten durch meinen Kopf schwebten, wollte ich ihn. Und noch viel wichtiger: er mich.
      „Du bist gemein“, stöhnte ich leise und hielt mich fester an ihm. Ich spürte, wie ein Lächeln über seine Lippen zog, ohne dabei von mir abzulassen. Langsam erforschten meine Hände seine Arme, die er mittlerweile um mich geschlungen hatte. Obwohl Basti nicht ansatzweise so kräftig war wie Lars, spürte ich das Zucken seiner Muskulatur, als hätte er seit Wochen auf diesen Moment gewartet.
      Bevor ich geistig vollkommen ausstieg, nährten sich glücklicherweise rasant kurze Schritte und stoppten bei uns. Überrascht und zu Teilen peinlich berührt, wendete sich Basti von mir ab. Lina stand grinsend bei uns, zusammen mit Niklas, dem die Gesichtszüge entglitten. Die Männer starrten einander vollkommen schockiert an, dass mir klar wurde, dass auch die beiden eine Vorgeschichte haben mussten. Wie ich Niklas kannte, konnte es keine gute sein. Noch bevor eine gehässige Anmerkung die Lippen verließ, stupste Lina ihren Freund an, der den Mund wieder schloss und schwieg.
      “Guten Abend”, grüßte sie freundlich meinen Besuch, ganz ungeachtet der Situation. Maxou, derer Anwesenheit ich für eine Sekunde vergaß, reckte ihren Kopf vor, um die weiteren Menschen vor ihrer Nase zu inspizieren. Leise klimperte der Reißverschluss, als das Pony mit der Lippe an Linas Jackentaschen herumspielte.
      „Oh, hallo“, verhaspelte sich Basti mehrfach, bis die eigentlich simple Begrüßung klar zu hören war. Ich schmunzelte mit schielenden Augen zu ihm nach oben, während er bewusst allen Blicken auswich und sich am Kopf kratzte. Die Backenzähne drückte er aufeinander, sodass sich der Kiefer deutlich auf den Wangen zeichnete. Vorsichtig und eher zart tastete ich nach seiner Hand, die nervös an seiner Hose fummelte. Kaum berührten wir einander, zuckte er kurz, bevor er fest entschlossen nach dieser griff und seine Finger in meine glitten.
      “Schön dich hier zu sehen”, lächelte sie freundlich, “und Vriskas Pony hast du offenbar auch bereits kennengelernt.” Besagtem Tier hielt sie, nachdem es unablässig an ihrer Tasche gefummelt hatte, ein Leckerli vor die Schnauze. Zögerlich beschnupperte das Pony das getrocknete Gemüse auf ihrer Handfläche, klaubte es auf und kaute darauf herum wie auf einem Kaugummi.
      „Ich bin auf der Flucht und hier sucht mich keiner“, festigte sich Bastis Stimme und Persönlichkeit wieder. Auffällig rollte ich mit den Augen.
      “Ja, ein solcher Stall kann schon ein gutes Versteck sein”, scherzte Lina. Die Neugierde konnte ich deutlich in ihren Augen glitzern sehen, doch sie hielt sich zurück und unterließ die weitere Nachfrage. Kaum verflüchtigten sich die Worte in der Luft, lösten sich das Pärchen ebenfalls auf. Erleichtert atmete Basti durch.
      „Nun, wo waren wir mit dem Pony stehen geblieben?“, holte er mich umgehend zurück in die Situation.
      „Eigentlich wollte ich in die Halle, oder wollen wir in den Wald und wir spannen dir was an?“, bot ich an.
      „Nein, besser nicht, aber eure Jungpferde würde ich mir anschauen wollen, wenn ich schon mal da bin“, lächelte er aufrichtig. Ich nickte und löste die Stricke. Maxou wirkte heute unkonzentriert, wie ich, sodass Reiten vermutlich eine schlechte Idee war. Gemeinsam liefen wir zum Tor hinaus, den Kiesweg entlang zum Waldrand. Noch immer fegte ein rauer Wind übers Land, auch wenn die Sonne ihr Bestes gab, uns aufzutauen. Das Pony folgte mir mehr oder weniger motiviert und nahm sich dem Schicksal an. Zwischendurch schielte ich zu meinem Besuch über den Hals der Stute hinweg, der auch nur schwer den Blick von mir nehmen konnte. Für den Hauch einer Sekunde dachte ich darüber nach, was sein plötzliches Erscheinen und Interesse weckte, aber entschied mich daran zu erfreuen. Nicht alles musste ausgesprochen werden, um es wahrzuhaben.
      Angekommen an der Weide kündigte Maxou durch schrilles Wiehern und bereits an. Im Eiltempo kamen die jungen Pferde zum Zaun und bestaunten das seltsam anmutende Tier neben mir. Sogleich setzte auch Basti sich in Bewegung, um die bunte Menge zu begutachten.
      „Die ist aber toll“, sagte er zu Mitternacht, einer hellen Schimmelstute von vor knappen drei Jahren. Ihren Kopf stellte sie anmutig auf, die Augen und Ohren wachsam. Von der Seite kam auch Piri mit Ini dazu. Nur Stokki fehlte, die sonst auch bei ihnen war. Vermutlich hatte die Rappstute sich zurückgezogen, nichts Ungewöhnliches für das eher scheue Tier.
      „Wenn du jemanden kennst, wir wollen sie verkaufen“, erklärte ich so gleich.
      „Warum? Sie sieht doch ganz ordentlich für den Rennsport aus“, beurteilte er ihr Gebäude nach kritischem Blick.
      „Wir haben ausreichend Pferde und nicht jedes kann bei uns bleiben. Außerdem fehlt uns die Zeit, so viele Jungtiere vorzubereiten“, stellte ich gleichgültig fest. Keine der Stuten lag mir offen gesagt am Herzen. Einzig die Arbeit sah ich, die bei jedem dieselbe war und manchmal sogar viel Geduld forderte.
      „Dann steckt sie woanders ins Training“, zuckte Basti mit den Schultern.
      „Natürlich, wenn man sich das leisten kann.“
      „Willst du mir erklären, ihr nagt am Hungertod bei so einem Gelände?“
      Genervt rollte ich mit den Augen und blickte zu Maxou, die sich den Halmen am Wegesrand widmete.
      „Ganz so schlimm ist es nicht, aber wir verkaufen nun mal lieber, als alles zu behalten und zu fahren. Es war schon ein ziemlicher Schock, als Folke mit Hedda zurück zu euch wollte. Die Alfvén sind tolle Menschen, aber die Zeit reicht vorn und hinten nicht. Besonders mit den zusätzlichen Beritt- und Dressurpferden. Die Kleine von vorhin fährt nicht und fühlt sich vielen der Pferde in Ausbildung nicht gewachsen. Warum, denkst du, springe ich von einem zum nächsten?“, teils niedergeschlagen, teils erschöpft legte ich die Arme auf dem Rücken meiner Stute ab. Unter mir bebte die hektische Bewegung des Pferdes, das nicht ruhig stehen konnte beim Grasen.
      „Das wusste ich nicht“, kam Basti kleinlaut zu verstehen, „also halte ich dich gerade auf?“
      „Nein!“, widersprach ich ihm sofort und fiel ins Wort. Skeptisch wandelte sich sein Gesichtsausdruck.
      „Aber du hast doch gerade gesagt, dass“, setzte er an, bevor ich zum wiederholten Mal dazwischen grätschte: „Ich weiß, was ich gesagt habe, aber du hast damit gar nichts zu tun.“
      Noch eine Weile legte ich ihm meine Lebensumstände dar, denen er interessiert folgte. Auf dem Rückweg schauten wir auch bei den Hengsten vorbei, bei dem ihm besonders eins der Warmblüter ins Auge fiel. May war ein harmonisch gebauter Brauner, den Tyrell auf einer Auktion erstand, mit dänisch-deutscher Abstammung. Er hatte sowohl eine Dressur- als auch eine springbetonte Abstammung und könnte in der Vielseitigkeit seine Wurzeln finden, nicht unüblich für ein schwedisches Warmblut. Zudem hoffte unser Chef auch, dass einer der jungen Leute ihn für Turniere interessant finden könnte, denn ich hatte von Anfang an ausgeschlossen, das zu übernehmen. Die Dreijährigen blieben noch ein bis zwei Jahre, bevor überhaupt angefangen werden würde. Die Leistungsprüfung konnten wir getrost ungeritten durchführen oder eben verschieben.
      „Wie sieht es aus? Hast du Hunger?“, fragte Basti, als ich Maxou die Decke umgelegt hatte und zurück in die Box brachte. Eine hervorragende Frage. Mein Magen knurrte verächtlich und zog dabei unangenehm an der Haut. Aber das wirkliche Gefühl, das sonst in den Gedanken herumkreiste, lag irgendwo tief verschollen in den imaginären Papierbergen. Beinah panisch schon ich alles zur Seite, um eine Antwort zu finden, verstrickte mich jedoch immer mehr, dass Minuten vergingen.
      „Alles okay?“, berührte mich Basti an der Schulter. An seinem Ausdruck erkannt ich, wie verzweifelt ich ausgesehen haben muss, bei einer eigentlich simplen Frage.
      „Ja, ich weiß es nur nicht“, seufzte ich in Trauer verfallen und wich seinem liebevollen und fürsorglichen Blick aus.
      „Schon gut, wir können auch zu dir“, bot er stattdessen an.
      „Ähm“, kam ich in Verlegenheit, „Lars ist aber vermutlich da.“
      Langsam nickte Basti, als wüsste er nicht so genau, was er stattdessen mit mir tun sollte. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen, schließlich traf man nicht alle Tage auf einen Scherbenhaufen wie mich. Während er nach Lösung suchte, räumte ich meine Dinge zusammen und stellte sie zur Seite. Auch die Putzbuchten fegte ich noch aus, bevor das Licht im Stall zunehmend auf Nachtmodus schaltete.
      „Ich schätze, wir sind beide müde und sollten Weiteres auf einen anderen Tag verlegen“, sagte er schließlich. Leicht enttäuscht, aber der Situation angemessen, nickte ich.
      „Darf ich dich umarmen?“, fragte ich unsicher.
      „Natürlich“, strahlte er und legte seine Arme um mich. Ich schloss die Augen, versuchte den Moment für immer festzuhalten, als gäbe es Grund zur Annahme, dass wir einander nie wieder sehen würden. Von ganz fern kam das Gefühl natürlich nicht, aber im Chaos schob ich dieses zur Seite und konzentrierte mich tief auf seinen Herzschlag, der wie wild an meinen Ohren dämmerte. Er war ebenso erregt wie ich, aber überspielte es gekonnt mit einem leichten Klopfen auf meinem Rücken.
      Als er sich von mir löste, kam der verdrängte Gedanke wieder, aber ich schwieg. Zusammen liefen wir zu seinem Auto und ich sah ihm nach, als der Motor ansprang und er zum Tor hinaus verschwand.

      © Mohikanerin, Wolfszeit // 56.842 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Mitte April 2021}
    • Mohikanerin
      Turnierübung / Dressur A zu L | 30. November 2022

      Dix Mille LDS / Steinway HMK
      Verita / Lifesaver / Miss Leika / LMR Ice Rain / Chocolate Churro

      Überall waren Pferde, natürlich. Auf einem Turnier war dies nichts Ungewöhnliches. Interessiert blickte ich mich um. Ein großer und bekannter Dressurreiter befand sich in der Stadt, von überall strömten die Menschen wie Ameisen auf das Festgelände. Der heutige Tag war eine Übungspräsentation. Besagter Dressurreiter gab uns Hilfestellungen für die richtige Prüfung in zwei Tagen. Auch ich konnte mir einen Platz ergattern. Wir waren im letzten Block, sodass ich mir noch die Ritte anderer Leute anschauen durfte. Besonders interessant fand ich eine Fuchsstute, die mit ihren kurzen Beinen aber recht kräftigen Rumpf förmlich durch den Sand schwebte. Die leichte Prüfung wurde auf dem großen Platz geritten, weshalb sie ziemlich an Weg gut machen musste, um von einem zum anderen Buchstaben zu kommen. Andere Pferde waren da wirklich im Vorteil, so auch die Truppe vom WHC, die man beinahe als Profis bezeichnen konnte. Sie neckten einander, aber beim Vorreiten war es ruhig. Sie hatten die Tiere gut im Griff. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie in der richtigen Prüfung alle Plätze belegen würden.
      Der nährte sich immer weiter dem Ende. Alle Pferde konnten die gewünschten Lektionen und Figuren in der leichten Dressurprüfung im mittleren bis guten Noten-Bereich absolvieren, weshalb das Gefühl aller für die kommende Prüfung positiv gestimmt war.

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    4 Jan. 2022
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    Note: EXIF data is stored on valid file types when a photo is uploaded. The photo may have been manipulated since upload (rotated, flipped, cropped etc).


  • Dixie ist 7 Jahre alt.

    Aktueller Standort: Selbstversorger-Hof, Chez Favre [FRA]
    Unterbringung: Box [10h], Weide [14h]


    –––––––––––––– s t a m t a v l a

    Aus: Bree (FR) [Französischer Traber]
    MMM: Unbekannt ––––– MM: Unbekannt ––––– MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt ––––– MV: Unbekannt ––––– MVV: Unbekannt


    Von: Architekkt (SE) [Standardbred]
    VMM: Unbekannt ––––– VM: Unbekannt ––––– VMV: Unbekannt
    VVM: Unbekannt ––––– VV: Unbekannt ––––– VVV: Unbekannt



    –––––––––––––– h ä s t u p p g i f t e r

    Zuchtname: Dix Mille LDS
    Rufname: Dixie
    Farbe: Rappe
    [Ee aa]
    Geschlecht: Stute
    Geburtsdatum: April 2013
    Rasse: Standardbred [STB]
    Stockmaß: 163 cm

    Charakter:
    aufgeregt; neugierig; wissbegierig: unter Druck gelassen; verfressen

    * wurde als Jährling verkauft
    * Dixie wurde nie für Trabrennen qualifiziert


    –––––––––––––– t ä v l i n g s r e s u l t a t

    [​IMG] [​IMG]

    Dressur L [L] – Springen L [L] – Fahren A [M] – Rennen A ['S] – Distanz E [A] – Gangreiten E [M]

    Ebene: International

    Februar 2022
    Gruppentraining, Springen E zu A

    März 2022
    Training, Springen A zu L

    Juli 2022
    2. Platz, 340. Gangturnier

    August 2022
    2. Platz, 342. Gangturnier
    2. Platz, 343. Gangturnier
    2. Platz, 345. Gangturnier
    3. Platz, 346. Gangturnier

    September 2022
    3. Platz, 349. Gangturnier
    2. Platz, 351. Gangturnier
    2. Platz, 353. Gangturnier

    Oktober 2022
    Dressurkurs, Dressur E zu A

    November 2022
    Turnierübung, Dressur A zu L

    Februar 2023
    Grundlagen, Fahren E zu A

    März 2023
    Einführung, Rennen E zu A


    –––––––––––––– a v e l

    [​IMG]

    Gekört durch SK 485 im April 2023.

    Zugelassen für: Traber aller Art; CH-Sportpferd
    Bedingung: Keine Inzucht
    DMRT3: CA [Viergänger]
    Lebensrekord: -
    Leihgebür: 357 J. [Verleih auf Anfrage]

    Fohlenschau: 0,00
    Materialprüfung: 7,70

    Körung
    Exterieur: 8,09
    Gesamt: 7,92

    Gangpferd: 7,96


    –––––––––––––– a v k o m m e r

    Dix Mille LDS hat 1 Nachkommen.
    • 2016 Three Miler (von: Meltdown)
    • 20xx Name (von: Name)


    –––––––––––––– h ä l s a

    Gesamteindruck: gesund, im Training
    Krankheiten: keine
    Beschlag: Falzeisen [Stahl], Voll


    –––––––––––––– s o n s t i g e s

    Eigentümer: Alicia Émile Jacques [100%]
    Pfleger: x
    Trainer: x
    Züchter: Lindö Dalen Stuteri, Lindö [SWE], Tyrell Earle
    [geb. in Deutschland]
    VKR / Ersteller: Mohikanerin

    Punkte: _gekört

    Abstammung [2] – Trainingsberichte [6] – Schleifen [8] – RS-Schleifen [0] – TA [2] – HS [2] – Zubehör [2]

    SpindHintergrund

    Dix Mille LDS existiert seit dem 04. Januar 2022.