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Wolfszeit

Crystal Sky [10/20]

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Crystal Sky [10/20]
Wolfszeit, 4 Jan. 2022
AliciaFarina und Mohikanerin gefällt das.
    • Mohikanerin
      Hoffnung in Genf | 04. Januar 2022
      Monet / Erlkönig / WHC‘ Poseidon / Dix Mille LDS / Jora / Crystal Sky
      Hatte ich schon erwähnt, dass mir dieser Abreiteplatz einen gehörigen Schrecken einjagte? Um mich herum tummelten sich namhafte Reiter aus der gesamten DACH Region, dass ich kaum ein Auge auf meinen Hengst werfen konnte, ohne weiche Knie zu bekommen. Alicia hingegen wirkte wie ein Profi. Ihre Rappstute schritt durch den Sand, verzog keine Miene und hielt die Ohren konsequent bei ihrer Reiterin, selbst der hektische Hengst einige Meter entfernt war vollkommen uninteressant. Ja, Mo fand diesen Ort genauso angsteinflößend wie ich.
      Wir kamen zusammen aus einem verschlafenen Grenzort zur Schweiz, Chez Favre. Mit ein paar weiteren jungen Menschen teilten wir uns ein Stallabteil auf einem Gemeinschaftshof. Wo man nur hinsah, standen Pferde jeder Größe, Farbe und Rasse, dazwischen kleine Wege entlang der Zäune, teils aus Sand und zum anderen befestigt aus alten roten Steinen, wie auch die Gebäude. An den Ställen hing Efeu, der im Frühjahr weiß blühte. Idyllisch war es, doch der Schein trübte. Ständig entstanden unnötige Diskussionen um Gott und Welt und versteht mich nicht falsch, ich wusste nicht einmal welches Problem die Mädels im Stall neben uns hatten. An einem Tag hieß es, dass wir die Reithalle nicht sauber gemacht hätten, obwohl keiner von uns einen Slot gebucht hatte, und an dem nächsten waren wir es, die eine Decke geklaut hatten, die nach einigen Stunden dann doch wieder auftauchte. Bekamen wir eine Entschuldigung? Nein, natürlich nicht. Ich war es leid mich mit dem Stress zu befassen, aber einen Stall zu finden, von dem aus ich nur wenige Minuten nach Hause fuhr, gab es nicht.
      „Neele Aucoin mit Monet bitte in die Halle“, ertönte es aus den blechernen Lautsprechern auf dem Abreiteplatz. Alicia streckte noch die Daumen nach oben und grinste breit, bevor ich sie aus den Augen verlor. Reiten macht Spaß, sprach die leise Stimme in meinem Kopf. In der großen Reithalle verstummten die Zuschauer, die zuvor noch den jungen Mann Beifall gaben. Wir begegneten uns im Tunnel und obwohl kein Wort über meine Lippen huschte, sah ich hoch zu ihm, musterte sein Gesicht. Markant legte sich ein Schatten an seinem Hals vom Kiefer und auf den Lippen strahlte ein solch herzliches Lächeln, das mich ansteckte. In meiner Brust beruhigte sich das pochende Herz. Merci, flüsterte ich und verwahrte das rechte Bahn an der Seite meines Hengstes, während sich das Gewicht leicht zur Linken verlagerte. Einmal sah ich ihm noch nach, so wie er mir auch. Verhalten lächelte ich, wandte den Blick von ihm zum Sand und im nächsten Augenblick betraten wir den abgezäunten Reitplatz inmitten der Reithalle, okay, es war keine richtige Reithalle, sondern eine Messehalle, in der Sand auf den Boden geschüttet wurde.
      Monet schwebte durch den Sand und von einer Phase zur nächsten bekam ich das Gefühl, dass mein Pony Hengst immer größer wurde. Sein Rumpf erhob sich, wodurch durch die Hinterbeine immer weiter unter seinen Schwerpunkt kamen. Durch eine ganze Parade verkürzte sich der letzte Sprung und wir standen, still. Gelassen kaute er auf dem Gebiss, während ich langsam meine rechte Hand zu meinem Helm bewegte, um zu grüßen. Eine Dame von den Richtern lächelte freundlich, nickte und aus dem Halt trabte ich wieder los. Kaum sichtbar vermehrte ich die treibende Hilfe auf beiden Seiten des Pferdebauchs, versuchte mit nur leichten Zügelkontakt das Genick des Pferdes als höchsten Punkt zu behalten, wobei seine Ohren lustig nach vorn und hinten wippten. Je tiefer ich mich in den Sattel setzte, umso mehr setzte auch Monet seine Hinterhand. Im Zusammenspiel mit halben Paraden, den treibenden Beinen verkürzte ich seine Tritte. Kurz vor dem Erreichen der kurzen Seite verlagerte ich das Gewicht auf meine linke Seite und zupfte einmal an dem Gebiss. Punktgenau bog er ab. Den Großen hatte Monet einiges voraus – in den Kurven bekam er die Möglichkeit einige Tritte mehr zu nutzen, um durch die Ecke zu kommen, umso mehr Einsatz benötigte ich, ihn in der Biegung zu halten. Dafür reichte das minimale Verwahren an der Außenseite aus, um ihn an meinem inneren Bein zu wenden und dabei die Schulter nicht zu verlieren. Im Wechsel durch die ganze Bahn verstärkte ich die Tritte. Monet geriet mir dabei zu sehr hinter den Zügel. Unruhig schnaubte er. Aber wie gewünschten bekam er mehr Schwung, vielleicht etwas zu viel, denn ich spürte, wie sich sein Rücken unter dem Sattel verfestigte. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht tiefer in den Sattel, gab ihm Maul eine halbe Parade, um Schub aus der Bewegung zu nehmen. Sofort fußte die Hinterhand aktiver ab und vor mir, baute sich Mo wieder auf. Natürlich würde es Abzüge geben, aber das war mir wirklich nicht wichtig. Ich wollte mir selbst, und den Anderen, beweisen, dass ein Pony genauso gute Chancen haben kann wie ein Warmblut in der Grand Prix. Dass heute nicht der richtige Tag dafür sei und ich uns beide besser hätte vorbereiten sollen, wurde mir erst vor dem Publikum klar. Die Prüfung deswegen abzubrechen, würde daran nichts ändern. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich die 49 % auf der Anzeige aufleuchte. Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt, aber ich konnte die Zügel nicht loslassen, also blieb mir nur der Gedanke daran.
      In der Traversale nach verschätzte ich mich, einige Tritte zu früh kamen wir an der langen Seite an, womit wir uns erneut einen gehörige Punktabzüge einhandelten. Bei der nächsten passte es jedoch und ich flüsterte meinen Hengst leise ein Lob zu. Den Übergang zur Versammlung beherrschten wir im Schlaf und auch in den Halt. Wieder kaute Monet ruhig auf seinem Olivengebiss, während ich den Moment der Ruhe nutzte, um meine Energie wieder zu sammeln. Schreitend trat er fünf Schritte zurück, die ich mit meinen Beinen genau koordinierte. Sanft drückte ich kräftiger in den Bauch, ließ am Zügel nach und er trabte versammelt an. Dabei schnaubte er gelassen haben. Monet war ein Streber, durch und durch, aber der Weg dorthin ähnelte einer Wanderung über die Alpen – barfuß, im Winter.
      „Neele, du hast es geschafft“, freute sich Lotye Quiron, meine Trainerin. Mir fehlten dir Worte, in meiner Brust schlug das Herz Purzelbäume und auch Mo prustete laut. Also nickte ich nur langsam, während meine Hand über den verschwitzten Hals meines Hengstes strich. Von der Seite kam auch mein Vater dazu, der breit grinste und uns beide lobte.
      Wie hypnotisiert drehte ich viele Runden auf dem Abreiteplatz, sah leer zwischen die Ohren meines Tieres hindurch und versuchte mit niemandem einen Unfall zu bauen. Gekonnt wich Monet wie von selbst den anderen Reiterpaaren aus, drehte kleine Volten um sie herum und zwischen trabte er sogar an. Doch für mich gab es nur die Gedanken an die Prüfung. Wir hatten zwar in der Gesamtwertung keine hohe Punktzahl erzielen können, doch hätte mir einer gesagt, dass er mit seiner Passage 89 % erzielen würde, hätte ich gelacht. Nicht, weil es für unwahrscheinlich empfand, sondern aus der Unsicherheit heraus. Doch Monet hatte es geschafft. Für diesen einen kleinen Moment hatte sich die ganze Arbeit gelohnt, als die Tränen, die geflossen sind und Schweiß, all die schlaflosen Nächte und Gedanken, ihn abzugeben, aber es dann doch nicht getan zu haben.
      „Du warst großartig“, flüsterte ich Monet zu und gab ihm ein Kuss zwischen die Nüstern. Im Zeichen seiner Zuneigung drückte er seinen Kopf an meine Schulter und versuchte sich zu scheuern, kurz lachte ich und schob ihn zur Seite. Dann kam auch Lotye wieder, im Schlepptau Alicia und meinen Vater. Die drei schienen es gar nicht abwarten zu können, wieder zurück in die Nachbarhalle zu gehen, um den Hengst abzusatteln. Nur müde schleppte er sich uns hinterher, beachtete gar nicht die Stuten, die ihm lüstern anblickten, zum Glück meinerseits.
      Monet stand mit seiner Decke, und seinem schwarzen Sleezy, in seiner Box, mümmelte schläfrig sein Heu. Erst jetzt, wo alles erledigt war, spürte ich meine eigene Müdigkeit. Schwer lag mein Kopf auf den Schultern und nur mit Mühe konnte ich ihn oben tragen. Auch meine Augen fielen unkontrolliert zu, bis eine tiefe Stimme mich begrüßte und mit dem Finger auf meine Schulter tippte. Am ganzen Körper zuckte ich zusammen, rutschte einige Zentimeter tiefer in den Stuhl, ehe ich mich wieder aufrappelte und den groß gewachsenen, jungen Mann neben mir bemerkte. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass es der Herr auf dem Fuchs war, den ich beim Einreiten getroffen hatte. Auf seinen schmalen, rosigen Lippen lag ein höfliches Lächeln, das mich erneut aufmunterte zu grinsen. Ich schüttelte mich, realisierte dabei auch, dass meine eigentlich weiße Hose vollkommen verdreckt war und der Zopf nur noch locker herunter hing mit vielen Strähnen, die sich daraus verabschiedet hatten. So saß ich vor ihm, kaum zu glauben, dass mich überhaupt jemand ansprach.
      „Soll ich noch mal umdrehen und wieder kommen?“, scherzte er.
      „Ach, alles gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass mich heute noch mal jemand ansprechen wird“, gluckste ich unsicher, schob unaufhörlich die lockeren Strähnen aus meinem Gesicht hinters Ohr, „Aber was machst du hier?“
      „Um ehrlich zu sein, wollte ich dich auf einen Snack einladen, weil du dich so tapfer gegen die ganzen Warmblüter durchsetzen konntest“, reichte er mir seine Hand, um mir aus dem Stuhl zu helfen. So, wie ich vor ihm stand, bemerkte ich, dass er riesig war. Gut einen Kopf ragte er über meinen hinauf, was aber bei meinen Knappen eins sechzig nicht schwer war.
      „Sehr gern“, antwortete ich. Hektisch sah ich mich um, denn einfach zu verschwinden war nicht meine Art, doch von keinen meiner drei Begleitern entdeckte ich jemanden.
      „Vorher muss ich aber meinen Vater finden, warte hier“, huschte ich an ihm vorbei, worauf er wie ein begossener Pudel neben der offenen Box meines Hengstes stand und mir mit zusammen gezogenen Brauen nachsah. Vorbeizog ich an den Menschen, die sich in einigen Gängen tummelten, teilweise mit einem Glas in der Hand, in dem wohl Sekt oder Weißwein drin war. Aus den Gesprächen konnte ich nicht viel verstehen, denn auf einem internalen Turnier, herrschte allem voran ein reges Treiben von Menschen aus anderen Ländern. Wenn ich hätte raten müssen, war die Gruppe aus Polen, oder Tschechien. Oder ein beliebiges anderen Land aus dem Ostblock, so genau kannte ich ihre Sprachen nicht. Für mich stellte es schon eine Herausforderung dar, vier an der Zahl zu beherrschen. Ganz am Ende, dem Eingang, wo die Transporter hineinfuhren und parkten, sah ich meinen Vater rauchend zusammen mit meiner Trainerin.
      „Da seid ihr ja“, krächzte ich außer Atem und legte meine Hand stützend auf die Schulter von ihm. Er grinste und atmete tief aus.
      „Was bist du denn so aus der Puste, hast du ein Gespenst gesehen?“, alle Beteiligten lachten, nur ich nicht.
      „Nein, ich wollte mit jemanden etwas essen gehen und nur Bescheid geben, dass ich nicht mehr bei Monet bin“, gab ich klar zu erkennen. Alica kam auch von der Seite dazu, das Gesicht mit einem frechen Grinsen belegt.
      „Ach ja? Mit jemanden also?“, sprach sie verschmitzt.
      Ich nickte.
      „Du kennst die Regeln“, zog mein Vater verdächtig eine Braue nach oben, zog dabei an seiner Zigarette.
      „Ja, ja. Keine Sorge. Wir essen nur etwas“, rollte ich mit den Augen, „außerdem bin ich volljährig.“
      Erneut lachten die Beteiligten nur, Grund genug, um mich wiederzuverziehen, doch meine beste Freundin folgte mir neugierig.
      „Was willst du?“, fauchte ich sie scharf an, aber sie schwieg. Nur das Grinsen auf ihren Lippen wurde schmutziger. Erneut zogen wir vorbei an der Ostblockgruppe, die aus Polen stammten, denn auf einem der Schabracken vor der Box war ihre Flagge zu sehen. Die Weingläser standen mittlerweile leer auf einem kleinen Tisch und eine andere Flasche mit blauem Etikett stand dabei, die Shotgläser daneben nicht zu verkennen. Glücklich jauchzten sie. Die silberne Schleife verriet mir, dass wohl einer von ihnen den zweiten Platz gemacht hatten in der Senior Klasse. Als wir an ihnen vorbei waren, erblickte ich ihn, wie er noch immer vor der Box stand, aber nun mein Pony ausgiebig streichelte. Der Hengst hatte seinen Kopf an seine Schulter abgelegt und genoss es am Unterhals gekrault zu werden. Von solch großen Händen würde ich auch gekrault werden wollen, nein Neele, halt. Ich schüttelte den Kopf, hör auf, sagte ich mir.
      „Na, diskutierst du wieder mit dir selbst“, erkannt Alicia sofort und drückte ihren Finger in meine Seite. Schmerzerfüllt zuckte ich zusammen, blieb dabeistehen. Sie grinste noch immer schelmisch, als ich ihr nickend beschwichtigte.
      „Aber was willst du eigentlich?“, fragte ich erneut.
      „Ich will sehen, was du dir da angelacht hast und was ich bisher sehe, ist eindeutig über deinem Niveau“, lachte sie und öffnete den Zopf ihrer schwarzen Haare, die weitgefächert über ihre Schultern fielen.
      „Bei Freunden wie dir, braucht man wirklich keine Feinde“, rollte ich mit den Augen und zupfte mir einige Sägespäne aus den Haaren, die ich jetzt erst bemerkte.
      „Außerdem, was heißt ihr über meinem Niveau? Wen soll ich deiner Meinung nach den kennenlernen?“, funkelten meine Augen böse in ihre Richtung. Abermals richtete sie sich das üppige Dekolleté und knöpfte sogar zwei Knöpfe ihres Poloshirts weiter auf. Nein, meine beste Freundin war keine Matratze, wusste sich nur vor dem anderen Geschlecht zu präsentieren, mit dem, was sie hatte, ganz im Gegenteil zu mir. Bis auf meine Haare und dem Eyeliner hatte ich nichts Weibliches an mir. Am liebsten trug ich zu weite, schwarze Shirts, die ich aus dem Schrank meines Vaters klaute, bedruckt mit Metalbands vor meiner Zeit. Die Musik hörte ich nicht einmal, aber mochte die Prints. Äußerlich wäre ich vermutlich das, was man noch vor einigen Jahren als Emo bezeichnete, aber sonst traf nichts auf diese Bezeichnung zu. Weder hatte ich meine Pubertät damit verbracht, alles und jeden zu hassen, noch eine ernsthafte Erkrankung zu haben oder die dazugehörige Musik zu hören. Ehrlich gesagt hörte ich am liebsten Taylor Swift und Katy Perry, außerdem interessierte mich die Meinung Anderer nicht, wirklich. Wirklich, wirklich. Na gut, vielleicht ein wenig.
      „Nun, er sieht gesellschaftstauglich aus, was man von den Herren zuvor nicht sagen kann“, zuckte Alicia ihre Schultern.
      „Gesellschaftstauglich also? Was war denn so schlimm an Noah oder Artus?“, hackte ich nach. Sie zog mich am Arm, aber standhaft blieb ich an der Stelle verwurzelt, wollte dieses Thema erst geklärt haben, bevor wir zu ihm gingen. Ja, ich wusste seinen Namen zu dem Zeitpunkt noch nicht.
      „Man, Neele, müssen wir jetzt darüber diskutieren? Noah war hässlich wie die Nacht, kaum zu glauben, dass du mit dem so lange, so glücklich warst und Artus wollte nicht mal mit auf den Pferdehof, weil ihm das eklig war“, ratterte sie wie ein Dieselmotor beim Start herunter, zog erneut an meinem Arm. Da mir wirklich die Worte fehlten, folgte ich. Je näher wir kamen, umso emsiger pochte das Herz wieder in meiner Brust, was nicht dem Tempo geschuldet war, das Alicia an den Tag brachte.
      „Hey“, rief sie ihm laut zu und winkte. Freundlich gab er es zurück, trat aus der Box hervor und schloss sie langsam. Monet trat einige Schritte vor, um seinen Kopf auf dem Metall abzulegen.
      „Ich sehe, wir gehen nicht allein etwas essen?“, grinste er. Noch bevor ich es verneinen konnte, mischte sich Alicia ein: „Sehr gern komme ich mit.“
      Hörbar atmete ich aus, aber blieb stumm. Die Beiden kamen umgehend ins Gespräch, dem ich nicht folgte. Stattdessen lief ich einige Schritte, die zwischen meinem Pferd und mir lagen, um ihm das letzte verbleibende Leckerlis aus meiner Hosentasche zu geben. Vorsichtig fummelte er mit seiner Oberlippe auf meiner Handfläche herum, bis er erfolgreich das Stück aufgesammelte hatte und langsam zwischen den Zähnen zerkaute. Dabei strich ihm über den in Stoff verhüllten Kopf.
      „Warte, das bist du?“, hörte ich plötzlich meine beste Freundin lauthals rufen. Erschreckt, drehte ich mich zu den Beiden um, denn auch Monet hatte sich mit einem kleinen Sprung zur Seite Distanz geschaffen. Weit öffneten sich meine Augen.
      „Ist das wichtig?“, zuckte er mit den Schultern.
      Sofort nickte Alicia.
      „Ach ja?“, sagte ich überrascht und trat näher an die Beiden heran, die für meinen Geschmack zu sehr beieinander standen, aber so grob gesagt, hatte sie wohl mehr Chancen bei ihm, „wer bist du denn, dass meine beste Freundin einen derartigen Schock bekommt?“
      Ja, ehrlich gesagt war mir egal, wie er hieß oder welches Ansehen er in der Pferdeszene hatte, schließlich konnte er sich mit der Schleife küren, das erste männliche Wesen zu sein, dass mich freiwillig angesprochen hatte.
      „Eskil. Eskil Mattsson aus Schweden“, grinste er und gab mir die Hand. Auch mir blieb der Atem weg. Er hatte in der Grand Prix den ersten Platz belegt mit einer Top-Leistung von 90,57 %, hatte damit für die Schweiz einen internen Rekord aufgestellt. Da wunderte es mich nicht, dass sein Fuchshengst vorhin so sehr geschwitzt hatte. Wow, formte sich stumm auf meinen Lippen.
      „Dein Pferd ist so toll“, schwärmte Alicia und fragte ihn direkt tausend Sachen, die Eskil gar nicht so schnell beantworten konnte, wie sie auf ihren Mund ratterten. Währenddessen stand ich nur daneben, verkniff mir jegliche unsinnige Kommentare. Dafür bekam ich die Möglichkeit, den durchtrainierten jungen Mann genau zu mustern, wobei ich auch sein Anubis Tattoo auf dem Unterarm bemerkte. Langsam wanderten meine Augen am Arm entlang. Sein Bizeps zuckte leicht, als wüsste er nicht wohin damit und auf seine Schulter und der Nacken waren angespannt. Dann trafen sich unsere Blicke. Eskil lächelte so sanft, dass ich nur schlucken konnte und den Kopf zu Boden senkte.
      „Wenn wir hier weiter so herumstehen, werde ich wohl ein Pferd essen müssen“, mischte ich mich ein und erntete kleine Blitze, die mir Alicia mit ihren Augen zusandte.
      „Lieber nicht, dann ist noch jemand traurig“, lachte Eskil wieder einmal. So viel Frohsinn wie er hätte ich gern einmal.
      Auf der Fressensmeile gehörten wir zu den letzten Leuten, die verzweifelt versuchten etwas Essbares auszuwählen. Vom Publikum war kaum noch einer da, na gut, die Messe schloss auch in weniger als zwanzig Minuten und für die Reiter, sowie das Personal waren die Stände noch eine Stunde länger geöffnet. So konnten besonders die bekannten Leute der Laufkundschaft entgehen und in Ruhe alles besichtigen. Das internationale Event war von der Vielfalt nicht mit einer typischen Messe vergleichbar, aber es reichte aus, um die neusten Trends zu beschauen oder sich ein Beratungstermin zu unterziehen. Tatsächlich wurden es von Minute zu Minute mehr Leute an den Ständen, aber ich konnte mich erneut für keine Speise entscheiden. Alica lief wie ein Tiger hin und her, beachtete mich nicht einmal. Doch ich war froh, als Eskil sich zu mir stellte.
      „Du wolltest gerade noch ein Pferd essen, kaum zu glauben, dass du dich nun nicht entscheiden kannst“, legte er seinen kräftigen Arm auf meinen Schultern ab. Für einen Augenblick stoppte meine Atmung, ehe ich hörbar ein- und ausatmete. Frech schielte er zu mir hinunter.
      „Schon, aber irgendwie klingt das alles nicht nach dem, was mir vorschwebt“, seufzte ich. Auch meine Augen wanderten hoch zu ihm. Zugegeben, für einen Moment fühlte es sich an, als würden wir uns ewig kennen und diese Nähe, die zwischen uns lag, brachte mich zum Schwitzen. Ein Gefühl durch schwemmte meinen Körper und willkürlich kam in mir das Verlangen, meine Lippen auf seine zu drücken, obwohl ich mir auch gut vorstellen konnte, dass ein Mann wie er, nur vergeben sein konnte. Neele, sei ruhig.
      „Worauf hast du denn Lust?“, erkundigte sich Eskil. Wäre es unangebracht mit ‘auf dich’ zu antworten? Vermutlich. Kurz dachte ich nach und mein grummelnder Magen gab mir zu verstehen, dass ich lieber schneller einen Entschluss fassen sollte.
      „Pizza“, gab ich zu verstehen, und grinste. Er nickte, dann nahm er den Arm wieder von meinen Schultern und lief zu dem Stand, der sich zwischen den Hallen befand. Es gab tatsächlich Pizza hier. Erleichtert fiel mir ein Stein vom Herzen und schnellen Schritten folgte ich ihm, beim Bestellen musste ich zum Verdruss feststellen, dass mein Geld noch bei Papa in der Jackentasche war.
      „Du?“, tippte ich ihm mit meinem Zeigefinger vorsichtig in den Bauch. Natürlich kam direkt ein fühlbarer Widerstand und ich spürte, dass er seine Muskulatur anspannte. Sein Ernst? Immer mehr kam das Verlangen in mir hoch, aber ich wusste mich zu beherrschen, schließlich war Eskil nicht der erste hübsche Mann in der meiner Gegenwart.
      „Ja? Was ist los?“, flüsterte er.
      „Mir ist das wirklich unangenehm, aber ich habe mein Geld vergessen“, säuselte ich. Eskil lachte auf, schüttelte nur den Kopf und fühlte sich dann dazu berufen mir die Frisur noch mehr zu versauen und meine halbe Pizza zu bezahlen. Dankbar funkelte ich hoch zu ihm, hielt mich dabei an einem Oberarm fest. Ungezwungen grinsten wir einander immer wieder an, bis schließlich Alicia dazu kam und ich panisch wieder von ihm abließ. Wieder funkelten ihre Augen böse in meine Richtung, was mir zunehmend mehr Sorgen bereitete. Ich wollte nicht, dass wir wegen eines Typen uns stritten. Das gab mir den Grund, ihn ihr zu überlassen, auch, wenn am Ende des Tages er die Entscheidung treffen musste.
      Mit der Pizza in der Hand liefen wir alle zusammen zu den Tischen, die über eine Treppe auf einer Art Terrasse standen, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Abreiteplatz hatte. Tatsächlich ritten dort einige. In der Mitte waren zwei Sprünge aufgebaut, die jemand im Wechsel abänderte und hörbar Tipps gab, zumindest war es das naheliegendste. Die Sprache kam keiner der mir bekannt nahe, selbst nicht dem Polnisch, das vorhin meine Ohren vordrang.
      „Ich flippe aus“, flüsterte mir Alicia laut ins Ohr. Was hatte ich vor einigen Stunden, noch auf dem Platz sagt? Dass sie wie ein Profi sei? Diese Aussage würde ich nun revidieren. Je mehr bekannte Personen sie bemerkte, umso höher wurde ihre Stimme, so auch offenbar der Herr auf einem glänzenden Rappen, der ein furchtbar niedliches Abzeichen auf dem Kopf trug.
      „Wer ist das?“, wunderte sich Eskil und drehte sich um. Ich zuckte nur mit den Schultern. Schon allein aus der Tatsache heraus, dass ich mir Namen nur schlecht merken konnte, befasste ich mich zwar mit der Szene, aber Größen aus dem internationalen Sektor mussten erst ihren Platz in meinem Kopf finden. Einen kannte ich, auch wenn mir der Name just ist diesem Moment wieder verfiel. Er ritt eine Schimmel Stute mit blauen Augen und seine Arme – voll tätowiert, ein Traum, auch wenn es mich an Menschen aus dem Gefängnis erinnerte. Schön anzusehen, aber ein Gespräch wollte ich lieber nicht mit ihm führen, dafür wirkte er mit seiner Größe zu einschüchternd, die Breite seines Kreuzes und das restliche Auftreten trugen auch ihren Teil dazu bei. Und Geld hatte er, das verschwieg er nicht. Ah, da kam es mir wie ein Geistesblitz, sein Nachname war Olofsson, so wie der Stahl-Hersteller aus Schweden.
      „Jetzt sagt mir nicht, dass ihr nicht wisst, wer der hübsche junge Mann ist“, gab Alicia zu bedenken, doch Eskil und ich zuckten nur synchron mit den Schultern, „das ist Raphael Craig mit seinem Elite-Hengst Poseidon. Die Beiden springen extrem erfolgreich auf CSI*1 und seit einigen Turnieren sogar schon auf CSI*2. Auf den letzten hatten sie sogar jeden den Sieg auf ihrer Seite.“
      Ausgiebig erklärte sie uns, was der Kerl mit dem Hengst schaffte. Für mich waren die Begriffe des Niveaus schon zu schwer verständlich, denn das höchste meiner Gefühle zum Springen war ein Einsteiger Turnier. Doch da hatten Monet und ich uns ziemlich gut geschlagen, bei fünfzig Teilnahmen belegten wir den zwölften Platz.
      „Dann muss ich wohl doch morgen das Springen ansehen“, lachte Eskil und biss von meiner Pizza ab, die wie versteinert in meiner Hand hing.
      „Das ist meine“, zog ich verärgern das Stück wieder zu mir. Er wischte sich mit der Hand die rote Soße von den Mundwinkeln weg. Frech zogen sich die Wangen nach oben, wodurch sein markantes Kinn Schatten warf. Verträumt biss ich mir auf der Unterlippe herum, auch, um mich zu zügeln. Kaum war ich ihm wieder so nah, gingen die jungen Pferde in meinem Kopf durch. War er perfekt? Zumindest sehr dicht daran.
      „Ich springe morgen CSI*1, wirst du dann auch im Publikum sitzen?“, funkelten Alicias Augen groß. Unter dem Tisch trat sie mir unlieb gegen das Schienbein, denn von mir gabs es ausnahmsweise auch einmal einen bösen Blick. Es stieß mir noch immer sauer auf, dass sie mit biegen und brechen versuchte seine Zunft zu gelangen, obwohl wir eigentlich gute Freunde waren. Ja, ihr Ex-Freund Vachel, der bis vor der Trennung, der beiden ebenfalls bei uns mit im Stall stand, gehörte mit zu meinen engen Freunden, doch danach war es auch vorbei. Hatte ich ihr jemals erzählt, dass ich starke Gefühle für ihn hegte und deswegen sogar die Beziehung zu Noah beendete? Nein, natürlich nicht. Auch, versuchte ich mich stets zurückzuhalten, was ihn betraf, nur, um sie nicht in eine solche Situation zu bringen.
      „Neele, du wirst sicher zu sehen, oder?“, vergewisserte ich Eskil, woraufhin ich direkt nickte, „dann ja.“ Alles an dieser Antwort brachte mein Blut in Wallungen. Wie er meinen Namen aussprach, dass er es von mir abhängig machte, rundum – perfekt. Alicia gab darauf nur eine kurze Antwort und lehnte sich zur Seite, um Raphael, oder wie er hieß, genauer beobachten zu können.
      „Hast du meine Tochter gesehen?“, hörte ich meinen Vater zu Alicia sagen, als ich noch mit Eskil hinter den Boxen stand, abseits der wenigen Leute, die uns hätten sehen können. Dicht standen wir beieinander, meine Arme eng um seinen Hals geschlungen. Was tat ich hier eigentlich? Ich kannte ich so gut wie gar nicht, aber kam meiner Versuchung nach, wissen zu wollen, wie er schmeckte. Doch Eskil machte es mir nicht leicht. Etwas unbeholfen hielt er mich an der Hüfte fest, grinste mich jedoch breit an. Seine Augen gaben mir jedoch andere Signale. Flüchtig wichen sie mir aus, versuchten einen Weg herauszufinden. Aber um mir zumindest einen Augenblick des Erfolgs zu geben, drückte ich meine Lippen auf seine Wange und ließ von ihm ab.
      „Danke“, flüsterte ich nur und verabschiedete mich kurz. Er hob die Hand, die leicht zittrig die Finger bewegte.
      „Da bist du“, gab mein Vater erleichtert zu verstehen und schob mich am Pony vorbei in Richtung des Ausgangs. Nur wenige Kilometer entfernt hatte er für uns ein Hotelzimmer gemietet, in dem Alicia und ich uns ein Bett teilten. Er schlief einen Raum weiter.
      Als wir im Bett lagen, huschten all die Gedanken durch meinen Kopf. Es war ein Rausch der Gefühle, vollbracht durch unreflektiertes Verhalten und dem Verlust aller sinnigen Gesellschaftsregeln, die mein Vater so viele Jahre versuchte mir beizubringen. Bisher hatte ich es auch geschafft, als dieses einzuhalten, doch heute war etwas anderes. Vermutlich trug auch Alicia ihren Teil dazu, dass ich ihr beweisen wollte, dass ich in der Lage war einen attraktiven Kerl kennenzulernen. Leise seufzte ich.
      „Bist du noch wach?“, flüsterte sie mir zu.
      „Ja“, stimmte ich zu.
      „Es tut mir leid, dass ich mich heute derartig schlecht dir gegenüber verhielt. Ich habe mich so darüber geärgert, dass dich jemand angesprochen hat und nicht mich“, entschuldigte sich Alicia. Ein stilles Schniefen ging durch den Raum.
      „Ach, ist doch alles gut. Passiert, aber morgen wird es besser. Vielleicht spricht Raphael mit dir“, hörte man auch das Grinsen in meiner Stimmte.
      In Herrgottsfrühe klingelte mein erster Wecker, bei dem ich unmittelbar hochschreckte und mit meinen Füßen den kühlen Holzboden berührte. Über Nacht war das Fenster offen und hatte die, sonst erträgliche, Temperatur im Raum, um einiges heruntergekühlt. Schnellen Schritte verschwand ich im Bad unter der Dusche und noch bevor der zweite Wecker schellte, hatte ich mich abgetrocknet und das Zimmer verlassen. Mürrisch drehte sich Alicia im Bett.
      „Ich möchte nicht aufstehen“, murmelte sie leise und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Nichts da“, nahm ich lachend die Bettdecke wieder weg, „aufstehen!“
      Erneut sprach sie ins Kopfkissen, aber entschloss sich dann doch ins Badezimmer zu gehen. Ich setzte mich in der Zeit auf den Stuhl neben dem Bett und durchforstete die neusten Nachrichten rundum die Pferdewelt, eine große Eilmeldung war, dass die Weltreiterspiele verschoben wurden, da es Probleme bei der Planung gab und sie nun ein Jahr früher stattfinden sollten. Aufgrund des bereits festgelegten Termins musste jedoch ein neuer Austragungsort gefunden werden, wovon schon einzige in der engeren Auswahl standen. Mehr Informationen konnten bisher nicht herausgegeben werden. Ganz am Ende stand noch einige wichtige Mitteilung für mich. Ich hatte bereits Tickets, die auch für die neue Austragung gültig sein würden oder kostenlos storniert werden können. Erleichtert atmete ich aus. Dann scrollte ich weiter, besonders eine Schlagzeile verankerte sich fest in meinem Kopf: “Schwedische U25 Teamaufstellung so schwach wie noch nie.“ War Eskil nicht aus Schweden? Zumindest meine ich mich an ihre Flagge zu erinnern, die verhalten auf seiner weißen Schabracke glänzte. Im kaum beleuchteten Tunnel konnte ich es jedoch nicht genau erkennen. Kurz überflog ich den Artikel, der davon berichtete, dass immer mehr aus dem Kader wegen schlechtem Benehmen und Leistungen diesen verlassen mussten, einige interessante Kandidaten standen für die nächste Aufstellung zur Wahl, doch es war noch zu früh, um darüber zu spekulieren, wer die nächsten sein würden. Auch bei den Senioren gab es Schwierigkeiten ein vollständiges Team zu bekommen. Traurig, gab es so wenig gute Reiter? Ich kannte das Land als ein ziemlich erfolgreiches.
      „Bist du bereit“, sprang Alicia voller Motivation aus dem Badezimmer, nur mit mehreren Handtüchern um den Leib gebunden.
      „Im Gegensatz zu dir bin ich mit dem Turnier durch, aber ich freue mich, dass du so voller Energie bist“, grinste ich freundlich und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Es vibrierte, aber meine Neugier hielt nur kurz an, sodass ich gar nicht nachsah.
      „Mädels, seid ihr angezogen?“, fragte mein Vater durch den Türspalt, was ich bejahte. Dann schob er noch das letzte Stück auf und in neuer Frische stand er grinsen vor uns. Mit einem herzlichen ‘Guten Morgen’ grüßten wir einander.
      „So, dann kann es losgehen?“, vergewisserte er sich nach einem kurzen Gespräch darüber, wie die Nacht war.
      „Ja, auf in die Schlacht“, lachte ich und erhob mich aus dem Stuhl. Wir folgten dem langen Flur, der mit einem seltsamen blauen Teppich geschmückt war, nicht etwa auf dem Fußboden, nein, an der Wand. Schön sah es nicht aus, dafür dass dieses Hotel ganze vier Sterne unter dem Namen trug.
      „Lotye hat dir einen Platz im freien Training besorgt“, erzählte mir Papa, als wir einige Meter hinter Alicia zum Auto liefen. Verhalten nickte ich.
      „Danke“, murmelte ich noch. Besorgt sah er mich von der Seite an.
      „Freust du dich nicht?“, wunderte er sich umgehend. Von seiner Kleidung stieg der eklige, stickende Geruch von Schweiß und Zigarettenqualm in meine Nase. Wie konnten das seine Arbeitskollegen im Büro nur aushalten? Für mich war es schon schwer in dem weitläufigen Flur.
      „Doch schon“, seufzte ich, „aber eigentlich wollte ich nicht noch eine Nacht hier schlafen.“
      „Hättest du sowieso, weil ich euch nur hinüberfahre und dann ins Büro muss. Einige Planungen warten noch auf mich und wir brauchen den Zuschlag“, erklärte Vater. Wieder nickte ich wissend, dass die Arbeit immer in seinem Leben Vorrang hatte. Gut, da ich heute ohnehin keine Vorstellung hatte, passte es mir ziemlich gut. So konnte ich mein Erspartes für eine oder zwei Schabracken ausgeben. Vielleicht wurde ich auch fündig bezüglich einer weiteren Jacke für noch winterlichere Temperaturen, die im Hochland zum guten Ton gehörten.
      „Okay?“, vergewisserte er sich.
      „Ja, alles gut. Passt“, grinste ich und stieg ins Auto, an dem Alicia bereits sehnsüchtig wartete. Während der kurzen Fahrt war es still. Meine Freundin fummelte wild auf ihrem Handy herum und zeigte mir einige Bilder von der Dressur. Leider fand sie keins von Monet und mir, doch in kleinen Vorschau erkannt ich sofort Eskil mit seinem Fuchs wieder. Erlkönig hieß er, wenn ich der Bildbeschreibung Glauben schenken konnte. Hitzig riss ich ihr das Handy aus Hand und betrachtete alle sehr genau. Wie konnte jemand wirklich so gut aussehen und dermaßen freundlich? Ich verstand es nicht, wollte es vermutlich auch nicht. Stattdessen begann dieses undefinierte Kribbeln in meinem Bauchraum wieder die Oberhand zu ergreifen.
      „Das reicht doch jetzt“, flüsterte sie mir zu, aber war so zuvorkommend mir den Link zu senden, damit ich selbst noch einmal in Ruhe sehen konnte. Augenblicklich funkelte schon der Eingang vom Gelände durch die Windschutzscheibe, überall hingen violette Fahnen mit dem allseits bekannten Logo der FEI, die nicht weit von hier entfernt ihren Sitz hatten. Vorbeizogen wir an den langen Schlangen des Besucherparkplatz, direkt zur Schranke.
      „Kann ich euch hier herauslasen?“, fragte Papa nach, woraufhin ich schon die Tür aufdrückte und aus dem Fahrzeug stieg. Alicia wirkte von dem schnellen Rauswurf überfordert, aber stieg ebenfalls einige Sekunden später ins Freie. Oberflächlich verabschiedeten wir uns und schon brauste der schwarze Geländewagen an uns vorbei. Ich lief vor, da meine beste Freundin ohnehin nur mit meiner Hilfe den Weg finden würde. Mehrfach wurden wir mit unseren Ausweisen kontrollieren und kamen schließlich in der Halle an, in der alles vollgestellt war mit den Boxen. Der vertraute Geruch von Schweiß, Heu und Pferdeäpfeln stieg mir in die Nase und versteht mich nicht falsch, ich würde sogar sagen einen Crêpe erduftet zu haben. Mürrisch meldete sich mein Magen. Seit der halben Pizza hatte ich nichts mehr gegessen und da Alicia demnächst an der Reihe war, sollte ich wohl für uns beide noch etwas besorgen. Kurz prüfte ich die Tasche meines Kapuzenpullovers, in der mein Portemonnaie friedlich ruhte.
      Eilig liefen wir durch die überfüllten Gänge, versuchten so schnell wie möglich unsere beiden Pferde zu erreichen, die im landeseigenen Abteil standen, darüber hing die große Drapeau Tricolorevon der Decke, die eine gute Orientierungsmöglichkeit boten. Neben uns waren die Ukrainer und Spanier. Auch Raphael entdeckte ich aus der Ferne, gab Alicia jedoch nicht Bescheid. Sie hatte genug damit zu tun bei meinen kleinen, aber flinken Schritten mitzuhalten und somit kam ich als Erstes bei den Boxen an. Monet wieherte mich neugierig an. Sofort schob ich die Tür zur Seite und umarmte meinen Hengst innig, der nichts besseres Zutun hatte, als an meiner Kapuze zu zupfen. Natürlich hatte ich in meiner Hosentasche bereits ein Leckerli für ihn vorbereitet.
      „Kannst du Croissants besorgen?“, funkelten mich die braunen Augen meiner besten Freundin von der Seite an, als ich gerade die Kraftfutterportionen der Pferde zubereitete. Kurz ließ ich die Eimer stehen.
      „Wie viel Klischee möchtest du noch sein?“, lachte ich und nahm die schwarzen Behälter wieder hoch, um sie in die jeweilige Box unserer Pferde zu stellen. Monet verschwand samt Ohren in seinem Frühstück. Überall klebte das Masch. Froh darüber, dass er den Sleezy trug, lächelte ich und warf noch einen Blick auf Dix. Die Rappstute fraß wie ein Schwein, überall verteilte sich das Kraftfutter im hellen Einstreu, wohingegen Monet es bevorzugte darin zu baden. Ja, ehrlich gesagt konnte keins unserer Pferde vernünftig Fressen.
      „Excuse-moi“, rollte Alicia mit den Augen und sortierte sinnlos die Sachen vor der Box, von einer Seite zur anderen, bevor ich sie am Arm griff und in den Stuhl drückte. Vollkommen außer Atem sah sie an mir hoch, die Augen glasig und ihr Eyeliner verwischte etwas. Sie hatte ein Talent dafür, nicht über die innerliche Anspannung zu sprechen, stattdessen suchte Alicia sich eine Beschäftigung. Vielleicht sollte ich ihr eine Freude machen, schließlich entdeckte ich Raphael bereits nur wenige Gänge weiter.
      „Ich gehe gleich“, sagte ich dann und lächelte freundlich. Hörbar nahm sie einige kräftige Atemzüge und auch ihre Augen wurden trockener. Für meine beste Freundin war es die erste CSI*1, aber sie verpasste keine einzige Veranstaltung, die von unserer Heimat erreichbar war. Also kannte Alicia die Atmosphäre besser, doch nun selbst zu den Teilnehmern zu gehören, wirkte nicht mehr so vertraut. Ihre Knie zitterten unaufhörlich.
      „Was ist, wenn was passiert?“, flüsterte sie mir leise zu.
      „Dann passiert es nun mal, kann man nicht ändern“, zuckte ich mit den Schultern, obwohl ich selbst bisher nicht verarbeiten konnte, dass ich Monet kaum vorbereitet hatte und damit die Wertung niedriger ansetzte, als es sein Niveau war. Ich wurde ihm nicht gerecht an diesem Wochenende, aber es standen noch viele Turniere an, wo ich unser Können Unterbeweis stellen würde. Lang und breit erklärte Alicia mir, was alles in dem Parcours passieren könnte, dass sie mit Dix für solche Fällte nicht trainiert hatte und nun den Start überlegte abzusagen. Wie war das noch mal? Profi? Ich lachte. Schockiert riss sie die Augen auf und blitzte finster in meine Richtung.
      „Du bist keine Hilfe“, maulte sie und schickte mich auf den Weg Essen zu besorgen. Wieder kämpfte ich mich durch die Mengen in den Gängen, vorbei an den Kanadiern, die nur drei Blöcke entfernt ihr Quartier hatten. Neugierig musterte ich die Jungs, wovon einer Raphael war. Angezogen von dem Charme der Männer blieb ich auf ganze Linie stehen. Einer ihrer erhob sich, lief zu seinem Brauner in der Box. Dann verstummte das Gespräch, als er meine starrenden Blicke bemerkte und mit einer fuchtelnden Handbewegung mich zu sich holte. Kalt lief mir ein Schauer über den Rücken. Alicias Worte hingen mir noch in den Ohren – Raphael war auf dem Weg nach ganz Oben, zu den Stars und Sternchen des Springreiterhimmels. Der Nächste reihte sich in meiner Liste an mit Männern, die mich bedeutungslos auf einem Turnieransprachen. Ich versuchte die Freundlichkeit in den Vordergrund zu stellen und nicht direkt an eine Hochzeit zu denken, schließlich war nicht jedes Gespräch eine Offenbarung der Liebe.
      Nacheinander stellte man uns einander vor, dabei tippte ich mit meiner Hand gleichmäßig am Oberschenkel, versuchte weder in Tränen auszubrechen, noch den Schleier aus Freundlichkeit zu verlieren. In meiner Brust wurde es lauter und lauter, aber den Blicken zur Folge hörte es niemand. Nur in meinen Ohren vibrierte und donnerte es laut, als befand ich inmitten eines Schlachtfeldes, zwischen den Schützengräben, die weit entfernt lagen und mir keinen Schutz mehr gewähren konnten. Zu lange hatte ich kein männliches Wesen, außer meinen Hengst, an meiner Seite, dass mir langsam oder sicher jedes Gespräch mit einem dieser wie ein Groschenroman vorkam. Etwas lag in dieser Halle in der Luft, dass mich wie ein unsichtbarer Mantel umzog und schließlich in mich hineinkroch, festgebissen an allem, was an Gefühlen vorherrschte. So stand ich hier, machtlos und überrumpelt. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie zu mir sagten und das scheiterte keinesfalls an der sprachlichen Barriere. Stattdessen fühlte ich mich erschlagen von all den Hormonen, die in diesen Gängen schwebten, mir die Sicht vernebelten und schlussendlich die letzten klaren Gedanken übernahmen.
      „Kann ich dir helfen?“, fragte Raphael zum wiederholten Mal, doch erst jetzt drangen die Worte wellenartig in meine Ohren. Ich schüttelte mich.
      „Es tut mir leid, mein Hirn musste neu gestartet werden“, lachte ich und schob eine Strähne aus meinem Gesicht. Auch die anderen setzten mit ein. Dann fiel mir meine Idee wieder ein. Kurz erläuterte ich meinen Plan, dem er höflich zustimmte. Anschließend verschwand ich, um die nötigen Sachen dafür zu besorgen. Den Ausschilderungen folgte ich, kam wieder an den Polen vorbei, die ihren Alkohol auf dem Tisch zu stehen haben. Versteht mich nicht falsch, es gab kein Problem mit der Nation, nur wunderte ich mich, dass ich die fünf nur beim Trinken von russischem Kochwasser sah. Meine Austauschschülerin vor sechs Jahren, oder waren es mehr, trank nicht so viel. Na gut, zu dem Zeitpunkt waren wieder minderjährig.
      Ungeduldig stand vor dem einzigen Bäcker, den ich in der Fressmeile fand, voll war es und auch auf den Tribünen wurden es zunehmend immer mehr. Aktuell fand das Pony Springen statt, dass nicht ansatzweise so viele Begeisterte fand. Schade eigentlich. Mehrfach erhaschte ich einen Blick auf die teils sehr jungen Reiter mit ihren Ponys. Die Zeiten klangen gut, auch wenn sich meine Erfahrung hierfür in Grenzen hielt. Besonders eins fiel mir sofort ins Auge. Der Palomino Hengst stolzierte wie ein König über den Abreiteplatz, während die kleine Dame im Sattel ihn nur schwer unter Kontrolle bekam. Im Galopp buckelte er einige Male, doch sie hielt sich tapfer.
      „Madame, ihre Bestellung“, wiederholte die Verkäuferin. Mist, ich sollte heute konzentrierter sein, wenn ich mir die geistige Abwesenheit nicht anmerken lassen wollte. Für meine beste Freundin wählte ich drei Croissants, mir hingegen reichte ein belegtes Baguette mit Käse und Salat, dazu einen Kaffee. In zwei verschiedene Tüten verpackte sie die wohlriechenden Backwaren und ich lief schnellen Schritte zu Raphael, der als freundlicher Überbringer der Nahrung agieren sollte. Aber noch bevor ich bei dem Kanadier ankam, lief ich unsanft in eine Person herein, dabei verkippte ich mein Heißgetränk über das weiße Hemd und die dazugehörige Hose.
      „Beauf“, fauchte er böse. Warte, die Stimme kam mir bekannt vor. Langsam hob ich den Kopf vom Boden nach oben.
      „Vachel?“, fragte ich vorsichtig, worauf hin er sich mir um den Hals warf. Ja, er war es. An meiner Haute spürte ich, wie die warme, braune Flüssigkeit sich nun auch auf mir verteilte. Etwas angeekelt zuckte ich zusammen. Bloß sein vertrauter Geruch sorgte dafür, dass ich mich wieder in meinem normalen Ich fand, der Neele, die zwar tollpatschig, aber fernab von dem ganzen Gefühlskram durch die Welt ging. Der Grund dafür stand vor mir, oder hing mir am Hals, als wäre nie etwas geschehen.
      „Was machst du denn hier?“, gluckste ich. Aus einer der Tüten nahm ich die Servietten, in der Hoffnung damit seine Kleidung wieder sauber zubekommen – ein unmögliches Befangen. In einer Millisekunde trafen sich unsere Finger. Ich schluckte. All die alten Gefühle sprudelten nach oben, als wäre monatelang Ebbe gewesen, doch jetzt, jetzt kam die Flut. Sie spülte das Alte wieder an die Oberfläche, Erinnerungen und Momente, die ich vergessen hatte oder wollte. Der Übergang war häufig fließend.
      „Eigentlich wollte ich mir einen Crêpe holen und dann mit Sky auf den Abreiteplatz, da wir morgen in der CDI*3 starten, aber offensichtlich“, zeigte er an sich herunter, „muss ich mich erst einmal umziehen.“
      „Dann hole ich dir deinen Crêpe und“, überlegte ich, aber Vachel wusste schon, was ich sagen wollte. Dafür kannten wir uns schon lang genug. Verstohlen lächelte ich, versuchte wie er, das Beste aus der Situation zu machen.
      „Und ich ziehe mich um. Kommst du dann zu unseren Boxen?“, auf seinen Lippen formte sich dieses Lächeln, dass mich vor vielen Jahren bereits verzauberte. Sanft zogen sich die Mundwinkel nach oben und die markanten Wangenknochen traten hervor. Aber meine Chancen waren schlecht. Ziemlich schnell wurde ich in seine Friendzone geschickt, dementsprechend erzählt ich ihm nie von meinen Gefühlen. Bis heute vermutlich eine sehr weise Entscheidung.
      „Da bist du endlich“, jauchzte Raphael, der ungeduldig mit dem Bein wippte. Hinter ihm zupfte Poseidon, der Hengst, der von Alicia so in den Himmel gelobt wurde, an seinem Heunetz. Zwischendurch erhob den Kopf, musterte mit seinen blauen Augen die Umgebung und spitzte interessiert die Ohren, als die Tüte mit den Croissants raschelte. Langsam trat er an uns heran, streckte soweit er konnte den Hals über die Tür. Raphael zeigte ihm die braune Papptüte und das Pferd hatte nur im Sinn einmal kräftig hineinzubeißen.
      „Viele würden das jetzt nicht mehr essen wollen, aber meine beste Freundin wird heulen vor Freude“, lachte ich. Auch er setzte mit ein, versuchte dabei die Tüte wieder aus dem Maul des Tieres zu bekommen. Die Ohren des Tieres bewegten sich verwirrend von vorne nach hinten, erst reichte man ihm die großartige Tüte und dann sollte er sie im nächsten Augenblick wieder hergeben. Ich würde genauso eingeschnappt reagieren wie der Gott. Wieder lachte ich.
      „Noch ist etwas da, also lass uns deine Freundin überraschen, schließlich habe ich noch anderes zu tun“, sagte Raphael entschlossen und lief voraus zu den Boxen. Mein Mund öffnete sich, um mich für die Störung zu entschuldigen, doch da hörte ich die genervte Stimme von Alicia und dem Gegenpart – Vachel. Fragend drehte sich der Kanadier zu mir um.
      „Am besten entführe ich den Hahn und du folgst mir“, schlug ich vor. Er nickte und überholte ihn. Wieder sah ich die polnischen Reiter, doch dieses Mal stand eine Wasserflasche auf dem Tisch. Die Hoffnung bestand, dass das Kochwasser zuvor noch vom Abend war.
      An den Boxen bemerkte ich Vachel als Erstes, hatte sich in der Zwischenzeit mit sauberer Kleidung ausgestattet. Das graue Oberteil saß eng an seinem Oberkörper, der durchtrainiert durch den Stoff blitzte. Sein verärgertes Gesicht wandelte sich zu einem sonderbaren und begierigen Lächeln, dabei sahen wir uns tief in die Augen. Die Flut kam näher ans Ufer, noch tiefere und versteckte Gefühle drückten sich durch den getrockneten Sand nach oben. Bevor es wie ein Tsunami über das Land trat, vernahm ich die sanfte Berührung an meinem Arm von Raphael, der von seinem kleinen Versteck in den Vordergrund trat. Schließlich drehte sich auch Alicia um. Unbeweglich standen wir vier voreinander, versuchten die Situation zu deuten, bis meine beste Freundin panisch losschrie, auf Französisch oder auch Deutsch, vielleicht etwas Italienisch, auf jeden Fall laut und unerträglich. Er reichte ihr die angebissene Tüte, worauf erneut unverständliche Worte durch die Halle schwangen.
      Zusammen mit Vachel ging ich ein Stück zur Seite, besser gesagt zu seinem Hengst, der um einiges entfernt stand. Vielleicht auch besser für alle Beteiligten. Dann stoppte er plötzlich und flüsterte: „Ist der Schnösel ihr Freund? Oder deiner?“ Über die Absurdität konnte ich nur lachen und schüttelte den Kopf.
      „Nein, das ist ein bekannter Springreiter, von dem sie ein riesiger Fan. Ich, als beste Freundin, habe nur dafür gesorgt, dass er ein Gespräch mit ihr führt. Also alles gut. Hängst du noch an ihr?“, überfiel ich ihn umgehend mit meinem ersten Gedanken. Er schluckte, aber verneinte.
      „Dafür war die Trennung zu schmerzhaft, um der gemeinsamen Zeit hinterher zu jammern. Aber war schön, dich zu treffen, sehen wir uns später noch einmal?“, sanft legten sich seine Worte in meinen Ohren ab. Ich vermisste die Zeit mit ihm, nicht nur wegen der Gefühlsduselei. Vielmehr waren wir so enge Freunde, dass der Verlust vermutlich noch schmerzlicher war, als die Trennung. Also ja, ich hatte nichts mit der Trennung am Hut, konnte mir der Umstände entsprechend vorstellen, wie er sich dabei fühlte. Auch, nach dem Alicia von einem zum anderen Tag beschloss, dass er deshalb aus dem Stall verschwinden sollte.
      Ich bekomme die Krise.
      Nervös fummelte ich in der Mähne meines Hengstes herum, versuchte mich all der Dusselei klar zu werden. Wünschte ich mich in dem Augenblick woanders hin? Ganz bestimmt, aber was ich noch nicht wusste: Der Wunsch würde sich schneller erfüllen, als es mir lieb war. Doch dazu wenden wir uns an einem anderen Tag.
      „Wo ist eigentlich dein gutaussehender neuer Freund?“, drückte Alicia noch tiefer in die Wunde. Seit unserer Ankunft versuchte ich ihn in den Mengen der Menschen zu entdecken, scheiterte aber auf ganzer Linie. Resigniert zuckte ich mit den Schultern und reichte ihr die Trense von der Boxenfront, wo sie an einem Haken hing.
      „Ach Neele“, jammerte sie beim Trensen, „jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Er wird sich schon anfinden, ansonsten finden wir jemand anderes für dich und dieses Jahr stehen doch noch einige Veranstaltungen auf dem Plan.“ Ihr kindliches Lachen zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Dann schnappte ich mir die nötigen Sachen wie Gerte und Abschwitzdecke. Für heute wurde ich als Turniertrottel vereinnahmt, sah mir demnach ihre Runde von der besten Position an.
      Auf dem Abreiteplatz wurde es immer mehr Reiter, daraus resultierte auch, dass der gegenseitige Respekt sich verringerte. Insgesamt waren fünf Sprünge aufgebaut, die Alicia nach einer intensiven Aufwärmphase mit Dix nacheinander nahm. Die Stute zog kräftig an, doch sie wusste ihr Pferd mit einer halben Parade und einem tiefen Sitz im braunen Sattel zu bändigen. Dix bremste und sprang im richtigen Moment ab, wie ein Vogel flog der Rappe über die bunten Stangen, touchierte jedoch mit dem rechten Hinterbein die oberste. Mein Atem stockte, aber als die Vorderbeine im Sand landeten und die Stange noch auf der Halterung lag, wurde mir ums Herz leichter. Normal setzte meine Atmung fort. Vor dem Sprung zwischen all den Anderen drückte ich meine Daumen fest gegen die Handinnenfläche. Es würde mir fehlen, wenn heute etwas passieren würde. Dann wurde es mir klar: Lotye, unsere Trainerin, war gar nicht da. Verzweifelt wühlte ich mich durch die Abschwitzdecke zu meiner Hosentasche vor, wischte mit meinem Finger über den gläsernen Bildschirm und klickte schlussendlich auf das kleine Hörer-Symbol. Zweimal piepte es und dann kam schon die Mailbox. Auch beim vierten, fünften und sechsten Mal hob sie nicht ab. Meine Atmung wurde schneller, das Blut brodelte in meinen Adern und schlagartig wurde mir heiß. Das kann doch nicht sein. Alicia sprang heute die erste CSI1 im Senior, eine Höhe von hundertfünfundzwanzig Zentimetern musste sie bestreiten bei zwei Durchgängen und zwölf Hindernissen. Schon allein diese Vorstellung jagte mir eine gehörige Angst ein. Ich hatte das den Parcours in der Hand, versuchte den Ablauf in meinem Kopf mit Monet zu springen. Eigentlich wirkte es ganz niedlich, doch mir war klar, dass keiner uns von uns beiden dazu in der Lage war.
      „Was denn mit dir passiert?“, fragte meine beste Freundin schockiert, die mit Dix vor mir anhielt.
      „Lotye geht nicht an ihr verdammtes Telefon“, fluchte ich. Sie begann zu lachen. Hatte ich was verpasst?
      „Du hörst wohl nicht richtig zu. Sie hat heute Training auf einem Gestüt hier in der Nähe, deswegen wird sie mich nicht betreuen. Da Dix schon sicher bis hundertvierzig springt, waren wir uns einig, dass das heute ein Kinderspiel wird“, erklärte Alicia. Ach ja? Ein Kinderspiel also? Vor einigen Stunden saß sie noch kreidebleich vor der Box ihrer Stute, wusste nicht, wohin mit den schlechten Gedanken und hatte dabei um Haaresbreite ihren Traummann verpasst, was dank mir doch noch funktionierte. Aber ich mochte Alicias Selbstsicherheit, wenn sie auf ihrer glänzenden Stute saß. Die beiden wirkten so harmonisch und vertraut, dass keiner sie auseinanderbringen könnte. Ein Vorteil, wenn man wie wir ein Tier viele Jahre begleitet und sich auf Partner-Pferd verlassen konnte, egal was passieren mag.
      Alicia war die zweite Teilnehmerin in der Prüfung, so hatte sie nur einmal die Möglichkeit den Parcours geritten zu trachten. Hintergründig spielte Musik, ich glaube es was das Titellied von Titanic, während aus dem schrillen Lautsprecher der Name des ersten Reiters ertönte. Es war der junge Pole, der gestern grölend durch die Gänge lief und versuchte Kleingeld zu bekommen. Vermutlich hatten sie im Rausch eine seltsame Wette abgeschlossen, oder einen Junggesellenabschied. Nur bei einer Sache war ich mir ganz und gar sicher – den Leuten werde ich aus dem Weg gehen. Wie ein hilfloses Reh galoppierte er sein Pferd an, das nervös den Kopf nach oben zog und dabei den Unterhals vordrückte. Vor dem allerersten Sprung ließ er das Tier los und mit einem guten Absprung begann der Parcours. Mit einem Stangenwurf und drei Sekunden zu langsam ritt er hinaus, strich seinem Pferd dennoch strahlend über den verschwitzten Hals.
      Alicia trabte bereits mit Dix durch den Sand und wartete auf ihren Start. Der Sprecher sagte die Beiden an: „Alicia Émile Jacques auf Dix Mille LDS, viel Erfolg.“ Dann verstummte die Halle. Ich stand direkt neben eine der großen Boxen aus denen noch immer Musik ertönte, vermutlich so leise, dass Reiter sie gar nicht wahrnahmen. Mir störte Gebrumme, aber für die fünfundneunzig Sekunden könnte ich das aushalten. Gigantisch galoppierte die Rappstute an, hatte ihre Ohren die ganze Zeit bei ihrer Reiterin. Sprung für Sprung nahmen sie wie die Profis. Aus der Kombination ging es auf geraden Weg zum Wassergraben, in meinem Kopf zählte ich die Galoppsprünge mit: eins, zwei, drei, vier, fünf, hopp. Stolz ballte ich meine Faust, wenn die beiden gezielt über die bunten Stangen flogen, ohne dass Dix eine von ihnen berührte. Stattdessen wölbte sie ihren Rücken, zog die Vorderbeine eng an den Brustkorb und wirkte dabei wie ein startendes Flugzeug. Nun kamen noch ein Oxer und danach ein Rick. Nervös bis ich mir auf der Unterlippe herum. Jede Zelle in meinem Körper wippte in der Bewegung meiner besten Freundin mit, fühlte die Hufe des Pferdes, die sanft durch den Sand glitten und jede Hilfe und Parade umsetzten, doch da. Alicia verschätzte sich bei dem Rick, Dix kam ins Stolpern, sprang zu früh ab. Stille. Hohl fiel die Stange zu Boden und die beiden handelten sich damit unnötige Strafpunkte ein. Aber sie strahlte breit, von einem Ohr zum anderen. Der Übermut kam am Ende durch, doch mit der rekordverdächtigen Zeit konnten sie einiges gut machen, abzuwarten blieb der zweite Ritt.
      „Das war fantastisch“, gab ihr Zuspruch.
      „Ja, Dix war wunderbar und ich“, natürlich wollte sie den Fehlerpunkt umgehend als ein riesiges Problem darstellen, aber ich unterbrach Alicia noch, bevor sie ausgesprochen hatte.
      „Und du warst auch grandios. Mein Gott, es war die erste Runde, nachher wird es besser“, strich ich Dix über den nassen Hals und wischte meine Hand an der Decke ab. Verstohlen nickte sie nur, ein Zeichen, dass sie ihre Ruhe wollte.
      „Ich setzte mich da an die Seite“, zeigte ich auf eine ruhige Stelle hinter dem Zaun, “wenn was ist, schrei“, freundlich zog ein Lächeln über die Lippen und legte die Decke auf dem Po der Stute ab. Auf Umwegen kam ich an der gesagten Stelle an. Noch immer war niemand dort zu sehen und setzte mich auf den grauen Teppichfußboden, der rundum in den Hallen verlegt war. All die Aufregung ihrer Prüfung fiel mit einem Mal von mir ab. Mein Handy sagte mir, dass Lotye mir eine Nachricht schrieb mit dem Inhalt: „Neele, ich bin auf einem Trainingstag. Es ist alles geklärt, viel Erfolg. Gruß Lotye“
      Abermals schwebte mein Finger über den Bildschirm, wusste allerdings genauso wenig wie ich, worauf er tippen sollte. Ich merkte die auffällige, zweistellige, weiße Zahl im roten Kreis neben dem Instagram Icon, was war denn da los. Neugierig öffnete ich die Anwendung und die Anzahl der Benachrichtigungen blickte kurz auf, ehe ich auf das Herz klickte. Viele mir unbekannte Leute versuchten mir zu folgen, da ich privat war, musste jede Anfrage separat beantwortet werden. Einige von ihren waren großbrüstige Bots, die umgehend ablehnte, doch ein Name fiel mir direkt ins Auge. Offenbar hatte Eskil schon gestern Abend versucht mir zu folgen. Mein Blick erhob sich, weg von der leuchtenden Anzeige und sah sich um. Noch immer keiner in der Nähe, somit konnte ich mir in Seelenruhe seine Bilder anschauen. Das Kribbeln im Bauch kam wieder, als ich die ganzen Oberkörperfreien Fotos sah. Hitze stieg mir in den Kopf und ich musste einen Augenblick nach Luft schnappen mit einem überspitzten Lächeln auf den Lippen. Sosehr ich auch versuchte diese Gefühle loszuwerden, gelang es mir nicht. Zwischen all den anzüglichen Bildern entdeckte ich auch welche von seinem Hund und einem braun gebrannten anderen jungen Herrn, der wohl sein bester Freund war. Als Standort war Portugal angegeben, hatte er da gelebt, oder lebte er da sogar noch? Je weiter ich mich durcharbeitete, umso fand ich über ihn heraus. Kaum zu glauben, wie leichtsinnig Menschen mit ihren Daten umgingen.
      Ich wusste, dass er in Portugal bei seinem besten Freund auf dem Hof lebte und dort mit dem Fuchshengst Erlkönig in der Dressur trainierte, nebenbei auch die portugiesische Arbeitsreitweise beherrschte. Sie holten und separierten Kühe auf einem großen, trocknen Feld. Ansonsten war er auch an dem Training anderer Pferde beteiligt. Das neuste Bild wurde in Schweden aufgenommen, vermutlich zog er zurück in seine Heimat. Ach, und er hatte eine Schwester, Jonina, die einen Isländer besaß.
      Auf meiner Schulter spürte ich eine warme Berührung und beunruhigt drehte ich mich um. Vor lauter Schreck fiel mir mein Handy aus der Hand – Eskil stand hinter mir und grinste.
      „Na, stalkst du mich?“, lachte er fröhlich. Schlagartig lief mein Gesicht rot an. Mit geöffnetem Mund versuchte ich eine Antwort zu verfassen, doch nur Luft verließ ihn.
      „Ganz ruhig, ich meinte das nicht so“, strich er mir durchs Haar.
      „Du … was … Hä … warum bis … Wo warst du?“, stammelte ich. Eine Hand fummelte nach meinem Handy, das offenbar in meinen Schritt gefallen war. Dennoch versuchte ich es herauszufischen, wobei mir Eskil schließlich zu Hilfe kam. Seine unglaublich großen, weichen Hände berührten meine. Unüberlegt strichen meine Finger auf seinem Handrücken entlang. Fasziniert betrachtete ich das Spiel seiner Knochen, die sichtbar unter der dünnen Haut hervorlugten und von Adern übersät Schatten warfen. Mein Gestammel verstummte und auch Eskil schwieg, unverändert lag das Lächeln auf den Lippen. Aus der Stille wurde erst ein Klopfen in den Ohren und dann ein Schreien, als würde mein Gewissen mitteilen wollen, dass er sich genauso sehr nach mir sehnte wie ich mich nach ihm. Doch von der anderen Schulter wurde ich daran erinnert, dass genau dieser gestandene Mann am Abend zuvor wie ein Häufchen Elend vor mir stand, als ich nur sehr dicht mein Gesicht an seinem hatte. Entschieden nahm ich meine Hand von seiner und stand vom Teppich auf. Mein Fuß kribbelte seltsam – Eingeschlafen.
      „Worauf warten wir hier?“, wechselte Eskil das Thema, nach dem mein kleines Tänzchen beendet war, womit ich versuchte das Blut wieder in die Gliedmaße zu bekommen. In meinem Kopf ratterte es, aus welchen Grund war ich noch einmal hier? Dabei huschte ein glänzender Rappe an uns vorbei, hielt und die Luft aus den geblähten Nüstern prustete in meine Richtung. Alicia! Deswegen. Unglaublich, dass in dem kurzen Rausch der Emotionen meine beste Freundin vollkommen verdrängt hatte.
      „Dein Prinz scheint dich wieder gefunden zu haben“, feixte sie. Mit einem kräftigen Schnauben schien auch Dix dieser Aussage zuzustimmen. Mir wurde umgehend wieder warm um die Wangen.
      „Was sagt die Wertung?“, fragte ich und drehte den Kopf Seite. Neben dem Zaun stand eine Anzeige mit dem aktuellen Ranking. Von vierundsechzig Teilnehmern waren neunundvierzig durch, dabei hielt sich meine beste Freundin wacker auf dem dreizehnten Platz, das hieß nichts Gutes, aber noch gab die Chance in der zweiten Runde aufzuholen. Bei einer Fehlerlosen könnte sie sich noch hoch, unter die Top-Zehn kämpfen und so gut ich sie kannte, wusste ich, dass sie die Zähne zusammenbiss. Was es mir an Ehrgeiz fehlte, machte sie wieder gut!
      „Sieht doch vielversprechend aus“, gab Eskil seinen Senf dazu.
      „Vielleicht sollte ich mal nach Monet sehen, der fühlt sich sicher allein so in der Box“, murmelte ich dann, als meine beste Freundin wieder ihre Stute in den Schritt versetzte und federnden Tritten durch den Sand stolzierte.
      „Wenn du möchtest, aber ich denke, dass er klarkommt. Neben ihm stand doch noch ein anderes Pferd“, brachte er mich zum Nachdenken. Vermutlich machte ich mir wirklich zu viele Gedanken. Dennoch verließen wir den Zaun vom Abreiteplatz, liefen wieder einmal zur Fressmeile. Obwohl ich wie ein Stein in dem weichen Bett des Hotelzimmers schlief, übergab mich zunehmend die Müdigkeit, ungünstig, wenn es heute noch ein langer Tag werden sollte. Während Eskil sich eine Gemüsepfanne bestellte, besorgte ich mir drei Stände weiter einen Kaffee, nach dem der vorherige auf der Kleidung von Vachel verschüttging. Intensiv nahm ich einen Atemzug an dem kleinen Loch des Plastikdeckels, verspürte, dass es die richtige Wahl war. Auch der Große hielt glücklich die Schüssel in der Hand. Neben der Tribüne suchten wir uns einen Platz, um das Springen beobachten zu können. Meiner besten Freundin schrieb ich Nachricht, die sie mit ‘k beantwortete. Kurz, aber passt.
      „In ungefähr zwei Stunden muss ich aber los“, seufzte Eskil, nach dem er aufgegessen hatte. Flattrig wippte mein Bein unter dem Tisch. Das Gefühl wanderte langsam in meinen Oberkörper, wodurch sich mein Magen ungewöhnlich leer und voll gleichzeitig anfühlte. Lieber Körper, ich wäre dir sehr dankbar daraus keine große Sache zu machen.
      „Wo geht es hin?“, blieb ich gefasst und nahm einen Schluck aus dem Becher.
      „Nach Hause, Schweden. Schließlich steht für Erlkönig und mich am kommenden Wochenende bereits die nächste Prüfung an“, sprach er herzlich. Ich nickte langsam, wissend, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
      „Welche?“, versuchte ich meiner Unwissenheit Einhalt zu gebieten.
      „Auch wieder eine CDI3*, in Stockholm. Wirst du auch da sein?“
      „Unwahrscheinlich“, murmelte ich und versuchte einen anderen Termin zu finden, an dem wir uns wiedersehen würden. Ich zückte mein Handy wieder aus der Hosentasche, las ihm die drei Turniere vor, an denen ich in diesem Jahr noch international mit Monet starten wollte, sofern keine andere Angelegenheit mir einen Strich durch die Rechnung machte. Leider überkreuzte sich keines davon mit seinen Plänen. Niedergeschlagen senkten sich meine Schultern, während sich die Hände an dem Pappbecher klammerten, der von außen deutlich heißer war, als von innen. Dann kam eine unangenehme Stille auf.
      Nach der Pause setzte sich der Start wie zuvor zusammen, damit hetzte der Pole mit seinem Pferd in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch den Sand. Dabei verweigerte das Tier jedoch und riss zwei Sprünge. Die Zeit war besser, aber die Ansammlung an Fehlerpunkten machten ihm diese Wertung zunichte. Sein Lächeln hingegen blieb unverändert. Als Nächstes ging damit meine beste Freundin an den Start. Dix trampelte ungeduldig auf der Stelle herum und beim Start legte sie einen gehörigen Sprung nach vorn an den Tag. Selbst von unserer Position so Abseits hörte ich das laute prusten und grunzen der Stute.
      Alicia schaffte es, die aufgeputschte Stute fehlerfrei durch den schweren Parcours zu lenken und dabei noch eine persönliche Bestzeit abzulegen. Damit würde sie auf jeden Fall unter die Top-Zehn rutschen, das spürte ich. Schnell rauschte ich die Treppen herunter, die laut unter meinen Schritten knarrten. Eskil folgte mir, um meine beste Freundin noch am Ausgang abzufangen. Sie ritt die verschwitzte Stute noch so lange durch den Sand, bis sich die Atmung mehr oder weniger normalisierte hatte. Dann half ich in guter Manier, die Steigbügel hochzulegen, den Gurt leicht zu lockern und das Zeug zu tragen. Alicias Kopf war noch von der Prüfung hochrot gefärbt, während der Helm eine genaue Spur auf ihrem dunklen Haar hinterließ.
      „Ich bin sprachlos und sehr stolz auf euch“, gab ich positiven Zuspruch, den sie nur mit einem Handwink hinnahm. Meine Bekanntschaft schwieg dabei, aber folgte dem Gespräch, half sogar beim Tragen. An den Boxen ging es ziemlich schnell. Ich bereitete eine weitere Portion Kraftfutter zu und Eskil nahm dem Pferd das Sattelzeug ab. In der Zeit nahm sich Alicia eine kurze Auszeit im Stuhl, schaffte es zu meiner Verwunderung sogar einzuschlafen. Fasziniert beobachtete ich, wie sie den Kopf an die Box gelegt hatte und sogar leise schnarchte. Wir ließen sie schlafen.
      „Wenn sie schläft, mag ich sie am liebsten“, spottete Vachel von der Seite, musterte dabei auch Eskil, der wieder voller Freundschaft meinen Hengst am Unterhals streichelte. Ich könnte ihnen stundenlang zu sehen und Mo sah es vermutlich genauso. Wenn ich nicht gerade mit der Stallarbeit beschäftigt war, kuschelten wir ebenfalls stundenlang. Ja, ich verbrachte jeden Tag, vom Morgen bis zum Abend auf dem Hof. Meinen Vater störte es nicht, so konnte er in Ruhe Bekanntschaften mit nach Hause bringen oder länger im Büro arbeiten.
      „Nicht so laut, sonst weckst du sie noch“, flüsterte ich ihm zu. Vachel drehte in seiner überheblichen Art die Augen, natürlich wollte er immer im Mittelpunkt stehen, das hatte er mit seinem bildschönen Schimmelhengst gemein.
      „Und er da? Dein Freund?“ Musste das sein?
      „Nein, ich bin …“, und dann unterbrach ich Eskil, der zu einer Antwort ansetzen wollte, „Nein, nur ein netter Kerl, den gestern kennengelernt habe. Eifersüchtig?“ Erleichtert holte er Luft, wodurch Vachels Grinsen noch strahlender wurde.
      „Und, bei dir? Hast du jemanden an deiner Seite?“, versuchte ich die Frage so beiläufig, wie möglich zu stellen. Wenn sich seinerseits, durch den Erguss des Kaffees, nichts geändert hatte, würde er meine Nervosität auf Alicia beziehen. Im Schlaf wendete sie sich auf dem Stuhl, aber wachte nicht auf.
      „Nicht direkt“, er überlegte, „hier und da mal etwas, sagen wir Kurzfristiges, aber nichts Festes.“
      Nebenher nickte ich ein paar Mal, ohne den Augenkontakt zu halten. Generell versuchte ich den Blick auf seiner strammen Brust zu halten, die Gründe dafür genauso vielfältig wie mein Kleiderschrank.
      „Was willst du eigentlich bei uns? Hattest du nicht geplant mit Sky, wenn du ihn noch hast, auf den Platz zu gehen?“, wechselte ich das Thema.
      „Ja, deswegen bin ich hier. Ich habe meine Bandagen vergessen“, grinste Vachel und schielte zu meiner Tasche, aus der die dunkelroten Fleece-Bänder lugten, zusammen mit den schwarzen Unterlagen.
      „Klar“, antwortete ich und reichte ihm alles. Mit der kleinen Stofftasche in der Hand bedankte er sich. Selbst Eskil drückte er beinah brüderlich an sich heran, ehe er sich auf den Rückweg zu seinem Pferd machte. Für mich hieß es nun abwarten, in zwei Stunden war die Siegerehrung der Prüfung, die Alicia mit Dix beschritten hatte.
      „Ach und noch etwas“, drehte Vachel sich auf halbem Weg um, trat dabei wieder wenige Schritte zu uns zurück, „Nachher ist eine Feier, ich erwarte euch.“
      Eskil runzelte seine Stirn.
      „Da werde ich wohl absagen müssen“, spottete er, „und den hübschen Kanadier verpasse ich auch.“ Prüfend sah er zu seinem Handgelenk, an dem eine silberne Uhr funkelte.
      „Ach alles gut, man sieht sich bestimmt noch mal wieder“, grinste ich aufmunternd und umschlang meine Arme um seinen Oberkörper. Mit einer Hand strich er mir über den Rücken, mit leichtem Druck kam ich näher an ihn heran. Sanft zog mein Lächeln sich durch mein Gesicht, dass ich an seiner Brust vergrub. Von seinem dunklen Oberteil stieg mir ein blumiger Geruch in die Nase mit einem Hauch Männlichkeit und Holz, sehr vertraut und angenehm. Kräftig zog ich die Noten in mich hinein, versuchte sie abzuspeichern, um auf sie in schwierigen Momenten abrufen zu können.
      „Musst du dann los?“, lösten wir uns voneinander. Eskil nickte. Kurz drückte wir uns erneut, bevor er winkend den gleichen Weg einschlug wie Vachel und zwischen den Boxen verschwand. Weg war er. Schwer wurde mir ums Herz, als hätte ich einen wirklich bedenklichen Verlust erlitten.
      Nervös tippte Alicia auf ihrem Handy herum, dass in ihrer Hand zitterte und jeden Augenblick drohte hinunterzufallen. Glücklicherweise standen wir im Sand, wodurch der Fall verkraftbar sein würde. Wir hatten uns das Ranking seit dem zweiten Ritt nicht mehr angesehen, viel mehr wollte sie den Moment erleben, in dem ihr Name unter Umständen aufgerufen wurde. Dann begann es. Stimmungsvolle Musik kam verhaltend aus den Lautsprechern. Die Töne marschierten wie die Teilnehmer, verstärkten die Lautstärke bis ein rhythmisches Klatschen im Publikum begann. Auch aus der Ferne bekam ich das Gefühl, dass Alicias Unruhe sich auf meinen Körper übertrug. Fest klammerte ich mich an die Brüstung, die dabei verdächtig quietschte. Eine Dame hinter mir flüsterte gemeine Sachen in das Ohr ihres Freunds, aber mein Selbstbewusstsein fühlte sich davon nicht betroffen.
      Auf dem ersten Platz landete eine Reiterin aus Deutschland mit zwei fehlerlosen Runden und zwei atemberaubenden Zeiten, kurz dahinter folgte ein Brite und tatsächlich, bevor die Hoffnung verflog, kam Alicia. Kurz prüfte ich die Wertung. Mir fiel auf, dass der Herr, der vor ihr im Ranking war, durch die Ausrüstungskontrolle gefallen ist. Glücklich strahlte sie zu mir und meine sogar die Freudentränen in ihrem Gesicht zu sehen, als sie den Preis entgegennahm. Aus allen Richtungen flackerte helles Licht untermalt mit einem unaufhörlichen Klicken der Blende.
      „Herzlichen Glückwunsch“, drückte ich mich fest an meine beste Freundin heran, die schluchzend vor mir stand und noch immer nicht die Situation fassen konnte. Sie hatte es wirklich aufs Treppchen geschafft! Stolz liefen wir weiter und eigentlich müsste man darauf anstoßen, doch keiner von uns beiden genoss Alkohol.
      „Wollen wir dann noch Raphael zu sehen? Der müsste doch demnächst an der Reihe sein“, versuchte ich Alicia wieder in die Realität zurückzuholen. Entgegen meiner Erwartungen schüttelte sie mit dem Kopf. Verwirrend drückte ich die Brauen zusammen.
      „Ich würde viel lieber shoppen gehen“, strahlte sie und wechselte in der Box ihrer Stute die Kleidung von weiß zu dunkelblau. Eigentlich wollte ich seinen Ritt sehen, aber ich konnte ihr den Wunsch nicht ausschlagen. Deswegen schnappte ich mir meine Tragetasche und zusammen gingen wir zu der Halle, in der die Stände mit Pferdezubehör aufgebaut waren.
      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 69.700 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende August 2020}
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    • Mohikanerin
      Herbst im Wald | 18. Januar 2022

      Monet / Crystal Sky / WHC' Poseidon / Jora / Walking On Sunshine / Herkules

      Woche um Woche zog an mir vorbei, wie ein Schwarm Gänse Richtung Süden, die der klirrenden Kälte des Gebirges entflohen. Die letzten wärmenden Sonnenstrahlen versteckten sich hinter einer Wolkenwand, als ich nachdenken zum Himmel hinaufblickte und mich fragte, wann wieder bessere Tage kommen würden. Um mich herum wurde es still. Eigentlich sollte ich mich gerade auf dem Weg nach Lyon befinden, doch hatte ich meine Teilnahme abgesagt. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, aber für mein Pferd musste die einzig sinnvolle Entscheidung getroffen werden. Bevor du dir damit anfängst Sorgen zu machen, nein. Monet geht es gut! Der besten Gesundheit erstrahlt sich der potente Hengst, tollte wie kleines Kind über die gefrorenen Weiden und ließ sich von den niedrigen Temperaturen nicht unterkriegen. An seinem Kopf und Beinen trug er den ersten Winterpelz, den ich am restlichen Körper bewusst entfernte. Im Vergleich zu den Warmblütern in den Ställen um uns herum, verwandelte sich Monet zu einem Eisbären.
      Alicia war nicht da. Damit meinte ich nicht ihre physische Abwesenheit, sondern als Freundin. Ja, es hatte damit Zutun, dass vor einiger Zeit ein junger Herr in den Stall nebenan zog. Von Anfang an verstanden sie sich gut, doch mir wurde er nicht einmal vorgestellt. So kam es dazu, dass wir uns Tag für Tag seltener sahen, ich ihre Stallarbeit übernahm und an diesem Tag die Box leer vorfand, ohne dass es eine Nachricht gab. Ich hatte ihr geschrieben, mehrfach, aber Alicia hielt es nicht für nötig mir zu antworten. Niedergeschlagen erhob ich mich auf dem weißen Plastikstuhl, der zu einer Sitzreihe vor unserem Gebäude gehörte und vermutlich einen der wichtigsten Orte für mich darstellte. Viele Abende verbrachten wir hier, lachten, scherzten und genossen die freie Zeit. Das wird schon wieder, flüsterte meine innere Stimme. Aber was sollte wieder werden? Dass ich erneut wegen eines dahergelaufenen Typen auf die Erleuchtung meiner besten Freundin wartete, dass er nicht gut genug für sie war? Langsam reichte es.
      In der kleinen Küche, die zum Stallabteil gehörte, stellte ich gerade die Waschmaschine mit unseren Abschwitzdecken an, als mein Handy auf dem Tisch begann zu tanzen. Durch die Vibration und dem nervigen Klingelton schüttete ich zu viel Waschmittel in das Fach, verlor den Halt auf meinem Hocker und landete sanft in einem weiteren Haufen dreckiger Decken hinter mir. Dennoch tat mir der Ellenbogen weh, mit dem ich mich abfing. Fluchend stand ich auf und lief zum Tisch. Erneut verlangte das Gerät meine Aufmerksamkeit. Wen war es denn so wichtig, mich zu erreichen? Vachel leuchtete auf dem schwarzen Grund. Zittrig hielt ich mein Handy in der Hand. Tausend Gedanken strömten durch meinen Kopf. Was wollte er? Wieso schrieb er mir nicht, oder hatte er mir geschrieben? Sollte ich rangehen? Noch bevor ich eine gewissenhafte Entscheidung traf, drückte mein Daumen auf den Hörer.
      “Hallo?”, sagte ich automatisch. Meine Knie schlotterten und ich entschied einen weiteren Fall aus dem Weg zu gehen, in dem ich auf die Holzbank Platz nahm.
      “Bonjour, freut mich, dass du doch noch abhebst”, lachte er in seiner Eigenart.
      “Tut mir leid, dass ich nicht den ganzen Tag an meinem Handy hänge”, antwortete ich echauffiert. Eigentlich war es gelogen, denn seitdem ich Alicia nicht mehr, wie ein Schoßhund folgte, kam oft Langeweile auf. Ich erwischte mich dabei immer Zeit auf Instagram zu verschwenden, denn auf Facebook gab es seit Jahren nichts Interessantes mehr, nur Hass und Hetze. Dabei entlockte sich auch der Wunsch, mehr Einfluss zu haben. Vermutlich war meine ganze Generation davon geprägt im Internet Macht auszuüben, Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch worüber sollte ich schon berichten? Wie ich jeden Tag den Stall säuberte, die Pferde auf ihre Paddocks brachte und das Chaos der anderen wieder ordnete? Wohl kaum interessierte das jemanden.
      “Neele, bist du noch da?”, fragte Vachel.
      “Ja, ich habe nur nachgedacht”, äußerte ich wahrheitsgemäß.
      “Worüber denn?”, ich hörte, dass er in der Stimme grinste. Krampfhaft hielt ich mich an der Tischkante fest, wollte nicht wieder die Nerven verlieren, wie bei seinem Ritt in Genf. Als würden Sky und Vachel die ganze Welt gehören, schwebten sie durch den Sand, von einem Buchstaben zum nächsten. Still beobachtete ich, träumte davon, auch einmal in meinem Leben unter solcher Ehrfurcht bestaunt zu werden, aber selbst nur Augen für meinen Partner zu haben. Für das Treppchen hatte es nicht gereicht, aber für mich waren die beiden das größte, was auch Alicia zu kommentieren wusste. Begeistert war sie nicht, dass ich ihren Ex-Freund haargenau musterte und dabei die Welt um mich herum vergaß. Gut, vielleicht war das auch der Moment, als es zwischen ihr und mir spannungsreich wurde. Kopfschüttelnd verschwand zu den Pferden und ignorierte mich vollkommen. Schließlich kamen wir doch in ein Gespräch, wo ich mir die Schmerzen von der Seele redete, aber sie schwieg. Überwältigt von den ganzen Gefühlen wollte Alicia Abstand, den hatten wir jetzt.
      “Mist”, fluchte ich kaum hörbar. Wieder dachte ich über ihn nach und müsste darauf auch so antworten, aber verkniff ich mir diese Antwort. Stattdessen sagte ich hörbar: “Dies und das, was halt so ansteht.” Super Neele, klingt glaubwürdig.
      “Ach ja? Aber wieso ich überhaupt anrufe”, ein lauter Atemzug dröhnte aus den Membranen in mein Ohr, “Bist du in Lyon?”
      “Ähm”, stammelte ich wirr. Die klare Antwort darauf wäre nein, einfach nein. Ich saß in der warmen Küche vor der Heizung und vertrieb mir die Zeit mit unnötigen Telefonaten, oder vielmehr einem.
      “Also nein”, lachte Vachel herzlich. Ich nickte. Ach, das konnte er gar nicht sehen, deswegen erwiderte ich: “Genau. Ich bin im Stall und Alicia ist ohne mich gefahren mit ihrem neuen Typen.” Das war zu viel. Es ging ihn gar nichts an, was mit meiner besten Freundin war oder mit wem sie ihre Zeit verbrachte.
      “Dann hättest du zwei Stunden für mich zur Verfügung?” Innerlich schrie es laut auf. Das Blut formte sich zu einem reißenden Fluss, der sich durch meine Adern drückte und dabei nichts mehr als Unheil anrichtete. Immer präsenter wurden die alten Gefühle für ihn, obwohl ich mich etwas Neues öffnen wollte. Da Eskil jedoch nur sporadisch antwortete und wir uns seit dem Turnier nicht mehr gesehen hatte, war es kaum möglich, ihn in mein Bewusstsein zu pflanzen. Aber ich dachte oft an ihn, seine Wärme und kühne Art. Auch er machte mich glücklich, nur nicht, wie Vachel es tat.
      “Ja”, kam es viel zu schnell aus mir heraus, als hätte ich mich seit Tagen auf diese Frage vorbereitet, um im richtigen Moment zu antworten.
      “Hervorragend, dann lade ich Sky ein und komm zu dir rübergefahren”, jauchzte er und im Hintergrund ertönte das Klacken einer Autotür, die sich zu öffnen schien. Dann hörte ich Hufschlag, fremde Stimmen und ein seichter Wind fegte am Mikrofon entlang, bildete dabei einen rauschenden Unterton.
      “Wo steht ihr eigentlich?”, versuchte ich noch einen Augenblick länger das Gespräch am Leben zu halten.
      “In Saxel, also dauert nicht lange”, antwortete er nach einer kurzen Pause, “brauchst du noch etwas, oder kann ich mein Pferd einpacken.”
      Ich verneinte und dann ertönte ein dumpfes Piepen – aufgelegt. Auf der Karte betrachtete ich den Weg hier her, vierzehn Minuten. Diese kurze Zeitspanne lag zwischen ihm und mir. Bis dahin musste ich mir etwas anderes übergezogen und Monet von der Weide geholt haben. Schnell griff ich nach seinem Strick, den ich vorhin nur über den Strohballen geworfen hatte, der in der eigentlichen Pferdedusche stand. Im Winter benötigten wir die ohnehin nicht, deswegen störte es keinen von uns. Flink lief ich über den mit roten Steinen gepflasterten Weg, entlang der kniehohen Zäune, die einen kleinen Garten des Nachbarstalls einfriedeten, bis ich schließlich an der Reithalle rechts abbog und schon Monet in einer hellgrünen Weidedecke sah. Freundlich rief ich seinen Namen. Der Kopf erhob sich und kadenzierte zum Zaun, wobei er laut wieherte und die Mähne durch die Luft wirbelte. Ihm folgte sein Partner, Willi, das Shetlandpony von Marie. Ihr großer Wallach stand einige Meter von den Ponys entfernt und zupfte die letzten Halme Gras.
      “Wir gehen gleich ausreiten”, berichtete ich Monet bei der Rückkehr zum Stall. Neben uns verlief der Hauptweg parallel. Ein silberner Pick-Up VW rollte dort entlang mit einem Anhänger angehangen. Das würde dann Vachel sein. Harsch zog ich zweimal am Strick und versuchte noch vor dem Gespann den Stalleingang zu erreichen, beinah gleichzeitig hielten wir auf dem Vorplatz. Das elendige Brummen des Motors verstummte und aus dem Fenster der Fahrertür grinste mich breit der junge Mann an, den ich zu vergöttern schien. Eigentlich waren meine Gefühle nicht so vordergründig wie es klang. Natürlich sah zu ihm auf, was nicht nur der Körpergröße geschuldet war, vielmehr faszinierte mich seine natürliche und lockere Art sich Problemen zu stellen, die Angst in den Hintergrund zu stellen und wertungsfrei an Dinge heranzugehen – so wie jetzt. Niemals hätte ich mich getraut ihn anzurufen und dann gefragt, ob er Zeit hätte für einen Ausritt. Aus dem Anhänger erklang ein klägliches Wiehern, das Monet sogleich mit seiner hohen Stimme erwiderte. Der Klang rauschte in einem Echo durch die Schneisen der Gebäude. Durch seinen Hufschlag wurde auch Sky aktiver, trampelte auf dem Holzboden herum, dabei wackelte das Gespann verdächtig.
      “So viel Freude”, lachte Vachel und schloss die Fahrertür hinter sich.
      “Natürlich, schließlich braucht ihr drei Männer auch mal eine nette Dame in eurem Leben”, spottete ich. War das zu viel Selbstsicherheit?
      Während er seinen Schimmel die Klappe hinunterführte, band ich das Pony an der Stange im Vorraum an. Immer wieder wieherte Monet herzzerreißend, als wusste er genau, dass sein großer Freund wieder in erreichbarer Nähe war.
      “Auch ich freue mich”, flüsterte ich in sein plüschiges Ohr und beobachtete, wie der Herr seinen Hengst hineinführte. Schwungvoll trat ein Huf nach dem anderen auf den Boden, bevor der Hufschlag erlosch und durch tiefes Brummen abgelöst wurde. Intensiv schnupperten die Pferde aneinander, wobei mein Pony sich Aufmerksamkeit verschaffte und das Vorderbein in der Luft schwang. Kurz klappte ich mit meinem Handrücken gegen seine Brust und aufgeregt schnaubte er auf. Dann war wieder Ruhe. Vachel band Sky einige Meter entfernt auch an der Stange an. Erst dann erfolgte unsere, leider sehr kurze, Begrüßung. Er legte einen Arm um mich und drückte uns aneinander. In meine Nase stieg ein sanfter Duft seines Aftershaves, etwas Herbes hatte es an sich, ohne dabei ätzend zu kratzen. Trotz oder gerade wegen der winterlichen Temperaturen im Stall stieg Wärme in mir auf, die den Motor in meinem Körper antrieb. Für einen Augenblick länger wünschte ich die Position an ihm halten zu können, doch wurde mir dieser verwehrt.
      Schritt für Schritt versuchten die Pferde sich näherzukommen, so zupfte Monet vergnügt am losen Ende Skys Strickes, bis sich der Knoten löste. Im ruhigen Moment lief der Hengst los und stellte sie an den Heuballen, neben dem meiner bereits stand. Doch für das Pony gab es nur eine Sache, die wichtiger war als Fressen und das war Spielen. Immer wieder schnappte er nach dem Ohr des Schimmels, der ebenfalls bereit dafür war, Monet an der Mähne zu ziehen und dabei einige der Gummis zu lösen, die ich erst am Morgen fein säuberlich geflochten hatte. Warum Vachel seinen Hengst nicht einsammelte? Er telefonierte vor der Tür mit einer Bekannten, die er die hohe Stimme am anderen Ende der Leitung bezeichnete, und mir war es egal, ob sich Sky verselbstständigte. Viele Fluchtmöglichkeiten gab es nicht und dafür musste er an mir vorbei. Da es sich noch um Stunden handeln könnte, zog ich mein Handy heraus, tippte wild auf dem Bildschirm herum und landete schlussendlich auf einem beliebigen Online-Pferdemagazin. Als ob ich mir merken konnte, wann ich auf welcher Seite war, ich bitte euch, nein. Doch eine Schlagzeile blieb mir wie im Kopf verankert, die ein Nagel, der den Balken im Dach hielt. „Kanadisches Team erfreut sich an neuen Mitgliedern“, stand dort schwarz auf weiß. Eingangs wurden die bisherigen Mitglieder gezeigt, wovon Raphael einer war und Jordan mit seiner Stute Jora. Dann folgten mir unbekannte Gesichter, fernab davon, dass mir bis auf die beiden aufgezählten keiner im Gedächtnis blieb. Einer von ihnen war Jace, ein düster dreinblickender junger Mann mit einer hübschen Palomino Stute in der einen Hand und zur anderen ein buckskinfarbener Hengst. Vom Whitehorse Creek, wo er lebte und arbeitete, hatte Vachel vor Jahren seinen Schimmel gekauft und angesichts dessen beschäftigte ich mich so lange mit dem Artikel oder besser gesagt, Jace. Es wurde berichtet, wie er ins Team kam, zumindest das dank eines kleinen Turniers einer aus dem Vorstand auf ihn aufmerksam wurde, seltsam, findet ihr nicht auch? Sollten nicht die Turnierergebnisse wichtiger sein als die Leistung an einem Tag? Kopfschüttelnd scrollte ich weiter und als ich ihn auf der Stute durch den Sand reiten sah, verstand ich allerdings, warum er gewählt wurde. Gesetzt fußte das Pferd die Hinterbeine ab, erhob sich empor vom Boden, erschienen, um im Glanze der Sonne zu tanzen. Kein Funken von Zweifel sah man ihm im Gesicht an und so verglühten auch meine. Nicht, dass ich wieder begann nach jemanden zu schmachten, vielmehr erfüllte es mich mit Ehrfurcht der Leistung gegenüber. Solch hochtrabende Ritte, dem Vertrauen zwischen Pferd und Reiter sah man nur noch selten. Der Normalfall war es, dass die Grundlagen nur nebenher gearbeitet wurden und die schweren Lektionen einen höheren Stellenwert betrugen. Natürlich konnte so nur schwer der Ausbildungsskala gefolgt werden oder einem erhofften Menschenverstand. Seufzend steckte ich mein Handy samt Artikel zurück in die Hosentasche. Sky versuchte mit aller Kraft den letzten noch verbliebenen Zopfgummi aus der Mähne meines Hengstes zu entfernen. Sicherlich telefonierte Vachel bereits geschlagene zwanzig Minuten. Den Pferden wurde langweilig und ebendiese Tiere wollten sich bewegen, erst recht, wenn der Sattel bereits auf dem Rücken lag.
      Es dauerte noch weitere zehn Minuten, bis sich der gnädige Herr zurückbesann, weshalb er überhaupt gekommen war. Mit Falten in der Stirn beäugte seinen Schimmel, der auf den Kapalgelenken im halben Heuballen lag und dabei einen Heuhalm nach dem anderen fröhlich verschlang. Zur Ablenkung hatte auch Monet einen Haufen bekommen. Die leisen Kaugeräusche der Pferde beruhigte mich ungemein. Nein, ich war nicht eifersüchtig auf seine Bekannte, nur hätte er sie auch später zurückrufen können.
      “Danke, dass du gewartet hast”, nickte Vachel zu mir und versuchte mit voller Kraft, das ihm überlegende Tier aus der reichhaltigen Futterquelle zu entfernen.
      “Hatte ich eine Wahl?”, äußerte ich mich gleichgültig. Vachel schwieg, als wollte er sich auf keine weite Diskussion einlassen, obwohl es die nicht mit mir geben würde. Innerlichen rollte ich mit den Augen, verschränkte die Arme und fing mich im selben Moment noch ab, um nicht von der Aufstiegshilfe zu fallen. Aus der Position hatte ich die perfekte Sicht auf das Gesehen. Wie im Kampf zwischen David und Goliath, doch in dem Fall war das Pferd der mutige Junge, dem es nicht scheute, sich der Herausforderung zu stellen. Energisch zog am Halfter, das zu zerbersten drohte und gefährlich laute reißende Geräusche von sich gab. Vachel ließ los und sah sich im Stall um, als suche er nach etwas, um Sky aus der Verteidigung zu locken. In der Ecke stand eine Gerte, die er sogleich griff und mehrmals auf den Boden knallen ließ. Kurz drehten sich die Ohren des nervenstarken Hengstes, der augenblicklich weiterfraß. Nur Monet sprang zur Seite, riss den Kopf nach oben, sodass das Weiß der Augen hervorlugte und Blitze in Richtung des vermeintlichen Angreifers flogen. Auch Druck gegen die Brust mit der Gerte half nicht. Sky blieb fest verankert im Heu liegen. Überall verteilten sich die Halme in der chaotischen Mähne und man könnte meinen, das Pferd gehöre zur Dekoration.
      “Möchtest du auch etwas trinken?”, fragte ich des Pferdes Widersacher, der mich nur anknurrte. Dann halt nicht, zuckte ich mit den Schultern und verschwand in der Küche. Unschlüssig durchsuchte ich die Schränke, öffnete eine Tür nach der anderen, die ich, so leise wie es mir möglich war, wieder schloss und weitersah. Ich wollte etwas Warmes, aber, kurz sah ich hinter mich zur Uhr, für einen zweiten Kaffee war es zurück. Als sei es Gottes Wille, funkelte mich der Kasten Milch an, der unter der Spüle stand. Im Oberschrank hatte ich Kakao erblickt, also nahm ich noch eine Tasse, mischte alles zusammen und erwärmte es in der billigen und von außen sehr demolierter Mikrowelle. Ja, ich gebe es zu, mit Stühlen jeder Art falle ich öfter um. Nervig piepte es neben mir und im nächsten Augenblick meldete sich auch das andere Gerät zum Dienst. Bei der Waschmaschine wusste ich, dass sie wieder verstummen würde, aber der Küchenhelfer hielt nur wenig von solch pfleglichen Verhalten. Meine Hand rammte ich förmlich in den Öffnungsmechanismus und die Tür sprang mit entgegen. Kleine Wölkchen stiegen in die Luft empor, als mich der Geruch von warmer Schokolade in die Nase stieg. Prüfend lugte ich durch die schmale Tür hinaus in den Vorraum, unverändert mümmelte Monet sein Heu und Vachel, der mittlerweile wie Rumpelstilzchen um sein Pferd wetterte, versuchte Sky zu motivieren aus dem Paradies aufzustehen, oder eher aufzuerstehen?
      Als würde die Zeit rennen, hatte ich die Decken aufgehängt und die letzte Ladung in die Maschine verstaut. Resigniert kam Vachel zur Tür rein, überall an seiner Kleidung waren Heuhalme verteilt und auch in seinem dunklen Haar steckten einige. In seinem Gesicht trug eine leichte Röte, die seine auffälligen Tränensäcke noch mehr betonte.
      “Ich hätte jetzt doch etwas zum Trinken, bitte”, lächelte er mich erschöpft an.
      “Okay”, nickte ich und zeigte ihm die mangelnde Auswahl, aus der er einen Kaffee wählte. Laut knirschte die Maschine los nach dem Einschalten, verlangte einen Schluck Wasser, ehe die dunkle Flüssigkeit durch die Drüsen lief. Vachel hatte sich zu mir gesellt und stand dicht an meiner Seite. Sein Schweißgeruch vermischte sich mit dem würzig-nussigen Aroma des frischen mahlenden Kaffees, der wie ein sanfter Luftzug zwischen uns schwebte. Während seine Röte im Gesicht verschwand, übertrug sie sich auf mich. Mein Blick wendete sich zu ihm nach oben, ehe ich wieder hinunter auf den Steinboden sah, wenn auch er zu mir schielte. Im Rachen wurde es immer trockener, sodass ich mir den ersten, und angemerkt heißen, Schluck des Getränks genehmigte.
      “Hast du noch mehr Zeit?”, sprach Vachel leise und hob die warme Keramiktasse aus meiner Hand heraus, um sie auf dem Tisch abzustellen.
      “J-Ja”, stammelte ich. Einen Schritt trat er näher an mich heran und versuchte den klügsten Weg zu finden aus der unangenehmen Situation herauszukommen. Unangenehm, weil ich nicht wusste mit diesen Schüben alter Gefühle umzugehen, die glühende Flamme loderte mittlerweile wieder und begann sich wie ein Buschfeuer auszubreiten. Aber er wirkte ebenfalls interessiert, zumindest schien es der Glanz in seinen Augen zu vermitteln. Wie von selbst bewegten sich meine Hände an seinen Oberkörper, sammelten behutsam einen Halm nach dem anderen ab, die sie einfach zu Boden fallen ließ. Unsere Blicke hielten dabei aneinander fest und vermutlich war es der innigste Moment, den ich je mit einem Mann seines Kalibers erlebte. Dabei fühlte es so befreiend an und auch ungezwungen.
      Es dauerte gar nicht lang, dann hingen nur noch wenige Halme in seinen Haaren, die ich eher ungern berühren wollte. Vachel legte einen hohen Wert auf seine Frisur, ein möglicher Grund wieso er das Hirn eher selten zu schützen vermag. Wir standen so dicht aneinander, dass ich nicht nur den Mix der Gerüche mit jedem Atemzug verinnerlichte, sondern auch sein Herz hörte. Es schlug ebenso schnell wie meins und als er mit den Händen meine Hüfte umfasste, war es vorbei mit meinem Verstand. Langsam näherten sich seine Lippen und in meinem Kopf begann eine Aufräumaktion. Es fühlte sich an, als würden die schlechten Erfahrungen mit ihm verbrannt werden in einem riesigen Lagerfeuer. Nebenher wurde das Gute an eine Pinnwand gehängt, um präsent vor dem inneren Auge zu sein. So nah spürte ich ihn nie zuvor. Aber was soll ich sagen? Sie berührten sich nicht, also nicht, wie man es sich bei einem Kuss vorstellte. Sanft knabberte ich an seiner Lippe. Die Stimme in meinem Kopf meldete sich aus dem Feuer raus, schrie, wie eine verbrennende Seele im Fegefeuer. Mit den Händen drückte ich mich, soweit ich konnte von ihm weg, trat dabei einen Fuß vor den anderen, verlor den Halt und landete dieses Mal schmerzlich auf meinem Steißbein. Auch mein Knöchel begann das noch wallende Blut sich anzusammeln, pochte dabei unangenehm.
      “K-Kann ich dir helfen?”, kam Vachel wieder zu Worten und reichte mir dabei Hand.
      Meine Augen bewegten sich in Zeitlupe von seinen Schuhen nach oben, entlang an seiner von Erregung gezeichneten Hose, zur breiten Brust, an der die Schultern gekränkt herunterhingen. Auf seinen geschwungenen Lippen lag ein wehmütiges Lächeln, das wie getroffen von meinen nachdenklichen Blicken sanfter und einladender wurde, dass ich das Angebot nicht ausschlagen konnte. Ich ergriff die Hand, die vor nicht allzu langer Zeit noch an meiner Hüfte lag und stand im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen. Das Steißbein schmerzte zwar noch, aber würde mir das keine weiteren Sorgen bereiten. Getroffen von der unangenehmen Situation, die, wie von den Hormonen gesteuert, in der Luft lag, begann ich dümmlich zu lachen. Dabei schüttelte ich den Kopf. Wer schaffte es schon dem Jugendschwarm so nah zu kommen, dann aber doch einen Rückzieher zu machen und dabei zu stolpern? Ja, das war eine typische Geschichte von mir.
      Vachel schnappte sich die abgekühlte Kaffeetasse und zusammen gingen wir zurück in den Vorraum des Stalls. Erst jetzt wurde mit klar, dass Sky hätte jeden Moment nutzen können, um in Seelenruhe aus der Tür herumzuspazieren und wer weiß schon wo, zu landen. Doch der Schimmel lag noch immer vergnügt im Heu. Mittlerweile trug er am ganzen Körper Halme, als hätte er sich darin gewälzt und weiter gefressen. Der Haufen von Monet war so gut wie aufgefressen. Mit gespanntem Strick fummelte er mit der Oberlippe die letzten Reste auf und verrenkte sich dabei augenscheinlich sehr.
      „Und du bist dir sicher, dass das Schimmeltier wirklich der erfolgreiche Star auf dem Platz ist?“, brach ich mit spöttischem Unterton die Stille. Vachel wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, verschluckte sich jedoch an dem Kaffee und begann kräftig zu husten.
      „Ich bin genauso geschockt wie du“, lachte ich und lief zu Sky. Aufmerksam spitzte er die Ohren, auch mein Pony sah gespannt zu mir. Mit den Augen prüfte er meine Hände, als erwarte er ein Leckerli, dafür, dass er noch angebunden an Ort und Stelle verharrte. Ich schüttelte nur mit dem Kopf und er senkte seinen sofort, um eventuell doch noch den einen oder anderen Halm ergreifen zu können. Zu Sky kniete ich mich hinunter.
      “Du musst jetzt leider aufstehen”, flüsterte ich und hakte den Strick am unteren Ring des Halfters ein. Zweimal zupfte ich energisch, dann stand er schon neben mir. Dann schüttelte der Schimmel einige lose Halme ab, die restlichen verleibte sich Monet ein.
      “Offenbar nimmt mich hier niemand ernst”, schnaubte Vachel von der anderen Seite.
      “Also, alles wie immer?”, lachte ich, als wäre nie etwas in der Küche vorgefallen. Auch er überspielte das gekonnt.
      “Du hast recht, entschuldige”, schüttelte er ebenso amüsiert den Kopf.
      Tatsächlich schafften wir es dann doch nach Ewigkeiten, die Pferde zu satteln und im Schritt den Weg Richtung Wald antraten. Skys Augen fielen immer wieder zu, verständlich. Ich wäre auch müde, wenn ich beinah eine Stunde im Heu gelegen und dabei mich vollfressen hätte. Umso fröhlicher tippelte das Pony unter mir vorwärts. Neugierig sah er von links nach rechts zu den Weiden, zwischen denen wir hindurchritten. Nur wenige Pferde standen draußen und zumeist trugen diese ihre Decken, wie auf einer Modenschau auf dem grünen Teppich der Natur. An den Hängen am Horizont färbte sich das Blattwerk der Laubbäume in ein verhaltenes Orange. Feucht glitzerten sie in der Sonne und ich könnte mir, neben dem Winter, keine schöne Jahreszeit vorstellen, als den Herbst. Je länger wir dem Sandweg zu dem naheliegenden Wald folgten, umso mehr Laub sammelte sich. Raschelnd strichen sie mit den Hufen durch die gefallenen Blätter und Monet lief wie ein spielendes Kind hindurch.
      “Bist du dir wirklich sicher, dass wir hier richtig sind?”, fragte Vachel zum wohl zehnten Mal, als wir einem schmalen Pfad, zwischen den Bäumen an einem Hügel hinauf, folgten.
      “Ja, vertrau mir”, lächelte ich ihn hinter mir zu und lehnte mich wieder nach vorn. Aufmerksam fußte Monet ein Bein nach dem anderen ab, hielt dabei den Blick auf den Weg gerichtet. Langsam lichtete es und die Sonnenstrahlen lugten zwischen den Bäumen hervor. Nur noch wenige Meter fehlten, bis wir auf einer der höchsten Erhebungen im Umfeld ankamen. Für gewöhnlich graste hier oben eine Herde Schafe eines Hirten aus dem verschlafenen Örtchen, in dem unserer Feriendomizil hatten, obwohl das die falsche Bezeichnung für das riesige Haus war. Ich lebte dort, allein. Also mehr oder weniger. An den Wochenenden kam mein Papa auch hier raus, um den Stress der Großstadt hinter sich zu lassen, ansonsten verbrachte Alicia mit mir die Zeit, was seit ihrer neuen Bekanntschaft nicht mehr der Fall war. Eigentlich lebte ich mit meinem Vater in der Wohnung in Genf, wo er im selben Haus das Architekturbüro hatte. Seit ich allerdings die Schule abgeschlossen hatte, mit der Matura, war ich dauerhaft in Frankreich. So nach an der Grenze konnte ich für Monet einen günstigeren Stellplatz finden, was zwar generell in Bezug auf das Veterinäramt einige Verwaltungshürden mit sich brachte, aber geklärten werden konnte. Deshalb entschied ich auch in dem Ferienhaus zu bleiben. Papa gefiel der Gedanke nicht, hatte sich allerdings schnell daran gewöhnt und ich kam hervorragend allein klar. Dass wir eine Putzkraft beschäftigten, trug ebenfalls dazu bei. Von den insgesamt vierzehn Räumen, fragt nicht, wozu man so viele benötigte, nutzte ich drei – die Küche, eins der großen Schlafzimmer und das dazugehörige Bad. Natürlich klingt das ziemlich versnobt, das sehe ich ein, aber ich konnte auch nichts dafür, dass mein Vater zu den erfolgreichsten Architekten des Jahrzehnts gehörte. Ich nutzte nur die Vorteile, die sein Ruf mit sich brachte, auch wenn es mir natürlich keine auf dem Turnier gab. Aucoin kannte man, aber ich statt im Wettbewerb genauso gut dar, wie alle anderen Teilnehmer.
      “Wir sind da”, atmete ich erleichtert aus, als Monet die ersten Schritte setzte durch das knöchelhohe Gras auf der Wiese. Am Himmelsrand thronte die Spitze des Kirchturms aus dem nächstgrößeren Dorf, das einige Kilometer hinter Chez Favre lag und auch unseren Stall konnte man von hier aus klein leuchten sehen. Die schwarzen Dächer der Gebäude fielen sofort zwischen all den roten auf. Das alles war mein Zuhause und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen als hinter zuschauen, während die Sonne sich langsam dem Horizont nährte.
      “Es ist wunderschön”, sprach Vachel leise und geblendet von der Schönheit des Landstrichs. Viele Minuten saßen wir im Sattel. Die Pferde grasten friedlich und in mir erstrahlte der Gedanke nach seiner Hand zu greifen. Nervös fuhren meine Finger durch die losen Strähnen der Mähne Monets, als wüsste ich nicht, was man sonst mit den Gliedmaßen tat. Auffällig oft vibrierte es in meiner Hosentasche, aber unbeeindruckt ignorierte ich das Elektrogerät, das schon so genug Lebenszeit stahl.
      “Wie du”, rutschte es mir raus, was mir erst einige Augenblicke später klar wurde. Ich dachte, dass es nur so laut in meinem Kopf war, doch als Vachel seine Hand auf mein Bein legte, wusste ich, dass ich es nicht nur ein Gedanke war. Beschämt, schluckte ich und biss irritiert auf meiner Unterlippe herum. Die konnte nichts für meinen Fauxpas. Warm wurde es mir ums Herz und ich versuchte alles, nicht zu ihm zu sehen. Seine präsenten und äußerst drängenden Blicke entgegen mir nicht aus dem Augenwinkel, aber ich wollte und konnte es nicht wahrhaben, dass der Tag wirklich so ablief.
      “Seit wann geht es dir so?”, unterbrach er die drückende Stille, die wie eine Nebelwand aus dem Wald kroch.
      “Müssen wir darüber reden?”, sah ich schließlich doch zu ihm. Sanft lächelte Vachel einseitig und seine Augen sprachen zu mir, als wollte er mir sagen: “Du musst dich nicht dafür schämen.” Aber ja, ich schämte mich natürlich dafür, noch viel mehr, da es schon vor Jahren um mich geschehen war, ich die letzten Wochen und Monate wirklich glaube, dass sie einfach verschwunden waren. Doch es kam anders. Bei dem Zusammenstoß in Genf wurde alles wieder aufgewärmt, als wartete nur alles darauf, ihn endlich wiederzusehen. Wusste jemand davon? Nein, ich hatte nie mit jemanden gesprochen.
      “Vielleicht sollten wir zurückreiten, wenn du noch im Hellen zu Hause sein möchtest”, stammelte ich und zog den Zügel nach oben. Genervt grunze Monet einmal, aber lief beim ersten Kontakt mit meiner treibenden Hilfe los. Ich gab Vachel nicht einmal die Möglichkeit zu widersprechen, sondern folgte dem eigentlichen Weg nach hier oben. Man musste nicht wie wir zwischen den Bäumen entlang auf dem Trampelpfad. So gab es links neben uns einen breiten Weg, auf dem sonst der Jäger entlangfuhr, um zu seinem Hochstand zu kommen, der am Rande der Wiese stand. Am Abend waren hier Rehe unterwegs und mit etwas Glück sah man auch Wölfe, die er selbstverständlich in Ruhe ließ. Still folgte Vachel, aber Sky schien nur wenig überzeugt sich von dem Grün zu trennen. Ich hörte, wie er mit seinem Hengst schimpfte und unregelmäßig ertönte das Geräusch, wenn Leder aneinander rieben. Ich war nur wenig davon beeindruckt und ritt, ohne zurückzuschauen mit meinem Pony durch den Wald. Überall knarrte und knackste es, aber weder Mo noch ich blickten uns um, schließlich trabte er an. Bremsen wollte und konnte ich nicht, zu sehr war ich darauf bedacht, nach vorne zu schauen, um Vachel loszuwerden. Seine Abwesenheit verwandelte mich in ein altes Ich von mir, ein Ich, dass ich nicht mehr war und nicht ertrug. Ja, meine Pubertät stellte sich nicht anderes dar als das vieler. In der Regelzeit beendete ich die Schule mit einer durchschnittlichen Note, hatte meine Freundesgruppe, aber fand mich nur selten auf einer Hausparty. Es hätte schlimmer sein können, eventuell auch besser.
      Erst als die Zäune am Weg sichtbar wurden, kam Monet in den Schritt zurück. Aufgeregt prustete der Hengst, schnaubte ab und schüttelte den Kopf. Die Zügel klimperten leise am Gebiss und neben uns kamen einige der Jungpferde angetrabt. Erst in dem Moment bewegte ich den Kopf zur Seite, sah, dass die Tiere uns folgten und hinter uns ertönte Hufschlag auf dem Waldboden. Obwohl mein Herz bereits raste, fühlte es sich an meinem Hals an, als würde die Hauptschlagader in wenigen Minuten aufplatzen.
      “Du hattest es plötzlich eilig”, scherzte Vachel erschöpft und strich seinem Hengst über den schwitzten Hals. Auch dieser war außer Atem, schüttelte sich mit einem Grunzen, bis sich die Verspannung mit einem losgelassenen Schnauben löste. Der dumpfe Hufschlag wurde klarer, nach dem nur noch eine Kurve uns vom Eingang zum Stall trennte. Ich ignorierte ihn weiterhin, bemerkte stattdessen, dass ein weiteres Auto vor dem Gebäude stand und ein aufgeregter, hellbrauner Hund lief an den niedrigen Zäunen entlang.
      “Yola, was machst du denn hier?”, sagte der Kerl hinter mir genauso überrascht, wie ich es war, über seine Aussage. Er sprang aus dem Sattel und der Hund trabte schwanzwedelnd zu uns. Freundlich begrüßte er das Tier, aber u ihm, nur kurz sah mich das Tier an. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, ehe ich ebenfalls abstieg. Obwohl ich umgehend in den Stall wollte, blieben meine Füße wie angewurzelt stehen, trugen mich nicht zu meinem Ziel. Von dem dunkelblauen Fahrzeug öffnete sich die Fahrertür. Eine groß gewachsene dunkelhaarige Dame stieg aus und lächelte in Vachels Richtung. In meiner Brust schlug erneut das Herz schneller, als es mir lieb war. Neele, jetzt reiß dich endlich zusammen, schrie mich die Stimme in meinem Kopf an. Sie hatte recht. Es nützt nichts, wenn ich mir über alles und jeden so sehr Gedanken machte, vor allem, wenn ich die Möglichkeit bekam, offen über meine Gefühle zu reden. Entschlossen setzte ich die Füße vom Boden ab, einen Schritt nach dem anderen zum Stall. Darin bemerkte ich die beiden Pferde von Marie, die jedoch nicht in Sichtweite war.
      Monet stand abgesattelt am Anbinder, fraß friedlich seine Schüssel voll mit Müsli, als Vachel nun endlich auch kam. Nur für den Hauch einer Sekunde blickte meine Augen vom leuchtenden Bildschirm auf, musterten seinen Körper und kurz darauf den hellen Hund, ehe ich die Aufmerksamkeit zurück auf Instagram lenkte. Er sagte etwas zu mir, hörte jedoch nicht hin. Zu sehr hatte mich das alles verunsichert, mich von meiner Bahn des Lebens gelenkt und Weichen verstellt. Ich musste nachdenken, die Gedanken sammeln, um schließlich in neuer Frische auferstehen zu können.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 33.385 Zeichen
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    • Mohikanerin
      Dressur L zu M | 20. Februar 2022

      Forbidden Fruit LDS (Fifine) // Snúra (Milena) // Fahrenheit LDS (Demi) // Lady Moon (Jamie) // LMR Royal Champion (Silvia) // Crystal Sky (Vachel)

      Junge Leute hatten seltsame Idee, so auch Chris Schwester, die nun auch ein Pferd besaß. Die hübsche Stute lief bereits auf einem sicheren M Niveau, also musste nur noch an Kleinigkeiten gefeilt werden, wenn sie bei dem seltsamen Online-Wettbewerb eine Platzierung haben wollte. Den Ablauf konnte ich mir nur schwer vorstellen, aber die Kleine würde sicher wissen, was tat. Also lasen wir gemeinsam die Aufgabe durch, tatsächlich war es eine Kür.
      “Schau mal, sagt dir diese zu?”, zeigte ich ihr eine aus dem Fach. Wir verfügten über eine große Auswahl an Küren, so traf auch sie eine Wahl.
      “Wäre es möglich, dass ich auch teilnehme?”, kam Milena dazu, die bereits Snúra gesattelt hatte.
      “Was sagt denn Frau Wallin dazu?”, fragte ich überrascht, dass es offenbar ein beliebtes Konzept war, dass auch ein Gangpferdereiter daran Interesse hatte. Milena nickte und machte den Weg zur Reithalle frei.
      Für die erste Einheit setzte ich den Schwerpunkt auf Übergänge jeder Art, um die Konzentration der Paare zu fördern. Daraus resultierten Seitengänge im Schritt und Trab. Den Galopp mit fortlaufenden Lektionen ignorierten wir für den Tag. Damit arbeiteten wir auch die nächsten Tage, bauten mehr Bahnfiguren ein, große und kleine Volten, bis wir zwei Tage vor dem Nennschluss die M-Küren übten.
      “Ist es möglich, dass du Snúra noch deutlicher im Trab zurücknimmst?”, fragte ich Milena, die ihr Pferd besser kennen sollte. In meinem Kopf eröffneten sich noch immer die hektischen Trabschritte der Ponys, die in ihrem Nervensystem deutlich mehr Ideen für Gangarten haben. Doch sie nickte und mit halben Paaren versammelte sie die Scheckenstute im Trab, dass sie zwischen den anderen in der Ponyklasse mithalten könnte. So auch Chris Schwester, der es nur fehlte, dem Pferd eigene Entscheidungen abzunehmen. Fruity lief wie von selbst, die gewünschten Lektionen mit minimalen Hilfen. Für die nächste Zeit musste dringend daran gearbeitet werden, aber bis zur Aufnahme konnte es nicht mehr werden. Da ich nichts von Technik wusste, holte ich mir ein paar der jungen Leute dazu, die zumindest ihr Handy bedienen konnten.
      Chris kam am nächsten Tag, vormittags ritten wir ruhig die Kür einmal durch, um am Nachmittag die Videos aufzunehmen. Dabei begann es mit der Ausrüstungskontrolle. Die Pferde wurden ringsum gefilmt, das Gebiss gezeigt und schließlich das Outfit des Reiters. Dann ging es für seine Schwester als Erstes los. Im versammelten Trab ritt sie auf der Mittellinie an, hielt bei X und grüßte in die Kamera. Nach dem Starten in derselben Gangart hab ein Schulterherein, Travers, starker Trab, versammelten Galopp, fliegenden Wechsel und Übergang zum Halt. Wie von selbst spulte die Stute die Anforderungen ab. Ich versuchte die Fassung zu bewahren und behielt mir im Kopf vor, dass es nur so ein Internet-Ding war, nichts wirklich Wichtiges. Ich würde ihr mit einem guten Willen 61 % geben, aber nur, wenn ich beide Augen zudrücke.
      Milena mit der Isländer benötigte für die Figuren mehr Schritte, aber die Linienführung war genauer. Sie hatten hart an der halben Pirouette gezeigt, also arbeiteten wir sie mit in die Kür ein. Aus dem versammelten Trab folgte eine Verstärkung und eine Traverse nach rechts. Nach der Volte kam noch ein Halt, eine Trabversammlung, Schulterherein und Milenas liebevoll erarbeitet Pirouette halb rechts, halb links und direkt im Trab weiter, auch im Galopp zeigte die Stute keinen Passansatz, was ich mich noch immer erstaunte. Die Wechsel saßen nicht ganz, aber dafür war es fast vorbei. Aus dem Galopp hielt sie das Pferd an, verabschiedete sich und beendete damit die Aufgabe.
      “Super ihr beiden, dann sehen wir uns am Sonntag im Gemeinschaftsraum, um uns die anderen Aufnahmen zu sichten, der anderen Teilnehmer”, schlug ich vor. Die Mädchen stimmten zu und ritten die Pferde entspannt ab.
      Tatsächlich hatte diese Aktion einen größeren Output als ich dachte, als ich zu spät kam, waren alle Stühle besetzt, so kamen sogar unsere beiden Kampfhähne, Niklas und Eskil, saßen nebeneinander. Unsicher musterte ich die beiden, nickte einmal und ließ widmete sich dem riesigen Fernseher. Siebzig Teilnehmer gab es bei der Veranstaltung, unglaublich. Offenbar hatte dieses Konzept mehr Anhänger als erwartet, umso spannender war die Auswahl der Mannschaft. Untereinander stimmten sie ab, welches Video gesehen werden sollte, und damit entstand eine interessante Auswahl. Als Erstes sahen wir eine junge Dame auf einem Schecken – Silvia auf Royal Champion. Mit einem hohen Maß an Kontrolle trabte sie in der Versammlung zur Mittellinie, grüßte und dann startete ein wundervolles Piano solo. Die Kamera schwenkte. Ungewöhnlich bekannt kam mir die Szenerie vor. Es war das Whitehorse Creek, wo wir vor einigen Monaten waren. Optisch machte es sehr viel her. Die Lichterkette war angeschaltet und am Himmel dämmerte es. Die Musik passte perfekt zu jeder Figur, als hätten sie monatelang nur dafür geübt. Der Galopp war schwungvoll und die weichen Übergänge von der Versammlung in die Verstärkung ein Traum.
      “Kann mir einer Erklären, wieso ihr das nicht schafft”, schnaubte ich leicht enttäuscht. Leises Getuschel begann und andere verzogen vor Scham das Gesicht, nur einer hatte etwas dazuzusagen.
      “Vielleicht liegt es am Trainer und nicht an uns”, sagte Vriska mit verschränkten Armen und zu selbstsicher. Ich zuckte nur unbekümmert mit den Schultern, was wusste sie schon.
      “Ich denke eher, dass du das Problem bist”, zickte Phina sie an.
      “Mädels, ihr wart alle gemeint, keiner mehr als der andere, also wir haben hier zwei Personen, die es besser schaffen, aber knobelt selbst”, startete ich wieder das Video, aber wieder unterbrach mich jemand.
      “Niklas und Eskil, so schwer ist das nicht”, schnaubte Gea. Dann konnten wir weiter sehen. Silvia bekam, verdiente 78 % und als Nächstes folgte Jamie auf Lady Moon, ebenfalls in der Location. Die Stute erschien unsicher und an der Linienführung sollte noch gefeilt werden. Aber der Galopp saß mit einem Takt, die Stute trug sich und federte mit genauso viel Feingefühl. Die Seitengänge glitten wie die Finger durch den Schnee und bei den Wechseln verschlug es mir den Atem. Wir mussten einiges aufholen, wenn die nächste Saison erfolgreicher werden sollte und nicht nur unser Alphamännchen Siege erzielte.
      Im Anschluss folgten noch ein junger Mann auf einem Schimmel, ebenfalls gesegnet mit viel Talent. Warum sah man die Leute nie auf Turnieren? Vielleicht waren auch meine Augen verfälscht, aber Vachel auf Crystal Sky sollte ich schon mal gesehen haben, Genf? Bern? Ich weiß es nicht, irgendwo unter Deutschland auf jeden Fall, als Eskil zu uns kam. Was sollte ich groß sagen? Der Sinn dieser Videos war es, zu analysieren, woran es scheiterte und wo es deutliche Verbesserungen geben müsste, aber die bisherigen waren einwandfrei. Natürlich noch nicht perfekt, sie jedoch als schlechte Beispiele zu nehmen, würde unfair sein. Deswegen setzte ich mich zu den anderen und folgte nur noch den Clips. Der junge Mann zeigte wie auch Milena eine halbe Pirouette auf beiden Händen, die 90 % erzielte, aber der Außengalopp war keiner. Also konnte ich doch noch ein Gespräch mit der Truppe aufbauen. Jeder sollte die Hilfegebung erklären, bis schließlich eine letzte Reiterin kam, auf einem ziemlichen Koloss. Es sah aus wie ein Friese, aber der Kopf und das Genick deutlich feiner. Der Rest ziemlich kräftig. Aber sie wirkten zusammen sehr unbeholfen, die Fifine auf Fruity.

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      Essen im Karton | 14. April 2022

      Monet / Crystal Sky / Dix Mille LDS

      Du bekommst viereckige Augen, wenn du so viel auf den Bildschirm starrst, pflegte mein Vater stets zu sagen, obwohl er nichts anderes den ganzen Tag im Büro tat. Natürlich wäre eine Argumentation angebracht, aber er mochte Scherze. Ich saß auf der Couch und blickte auf besagten Laptop, der auf meinem Schoß stand. Es blitzten zahlreiche Bilder nacheinander auf, die zusammen ein gleichmäßiges Video ergaben, eins, das ich mir seit Stunden ansah, immer wieder von vorn begann und mich von nichts ablenken ließ. Zwischendurch hatte das Haustelefon geklingelt, das ich, wie so oft, erfolgreich ignorierte. Das Handy lag seit Tagen ohne Akku auf meinem Schreibtisch, irgendwo zwischen losen Blättern, die noch an meine Schulzeit erinnerten und bisher keinen Platz gefunden hatte. Ich überlegte sie zu entsorgen, gleichzeitig schmerzte aber, die schönen Erinnerungen in den Recyclingkreislauf zu übergeben.
      Es klopfte. Mit einem Seufzer stellte ich das Laptop auf den Glastisch, richtete meine, mit Tomatensoße vom Mittagessen, befleckte Hose und lief zur großen Haustür. Nur schwerfällig öffnete sich das riesige Teil. Eigentlich wusste jeder, dass ich Besuch über den Nebeneingang empfing. Tellergross riss ich meine Augen, als ich die Person erblickte, die mit einem peinlich berührten Lächeln vor mir stand und leicht geröteten Wangen.
      „Dich hätte ich nicht erwartet“, stöhnte ich aus dem Schreck heraus, die Stimme so, dass es klang, als wäre ich enttäuscht. Keinesfalls war ich dies, aber überrascht.
      „Herzallerliebst, wie man dich kennt“, sagte Vachel und hielt mit einer Hand die Tür fest. „Ich habe mir Sorgen gemacht, auch nachdem Alicia nicht gewusst hatte, was mit dir los sei.“
      Ich schluckte. Hatte er wirklich bei ihr nachgefragt, obwohl er sich der Kontaktstille bewusst sein sollte?
      „Tut mir leid. Ich wollte dir keine Umstände machen“, erklärte ich. „Willst du hereinkommen?“
      „Wenn du dich dann umziehst?“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte sein Gesicht.
      „Das würde dir wohl gefallen?“, merkte ich ebenfalls spitz an, aber machte den Weg frei. Mit Begeisterung sah er sich in dem weitläufigen Haus um, blickte hoch zur Galerie, die zu meinem Zimmer führte. Ich betrat den Moment die Treppen.
      „Du wartest hier“, sagte ich und rannte ins Ankleidezimmer. Etwas überfordert vom Anlass seiner Ankunft sah ich die Kleidung durch. „Was soll ich denn anziehen?“
      „Reitsachen“, rief er ebenso laut wie ich, aber abgelenkt. Natürlich, Vachel wollte sicher wieder ausreiten. Also zog ich so schnell ich konnte eine dunkelblaue Reithose an, ein dazu passendes Oberteil und eine roséfarbene Weste. Im selben Tempo stürmte ich wieder hinunter und sah ihn auf den Bildschirm blicken, die Hände lässig in den Hosentaschen.
      „Gibst es einen triftigen Grund oder hast du mich einfach vermisst?“ Wieder dieses verdammte Lächeln auf seinen Lippen! Meine Wangen färbten sich zu der Farbe der Weste und ich wich den Blicken aus. Den Laptop klappte ich und steckte ihn in die Seite der Couch.
      „Als ob ich dich vermisst habe“, zischte ich leise, „das war Zufall. Ich habe mir FEI Dressurveranstaltungen angeschaut.“
      “Alles andere wäre auch undenkbar, stimmt’s?”, lachte er.
      “Du hast es erfasst.”
      Vom Schlüsselbrett nahm ich den Hausschlüssel und schloss hinter uns ab. Kurz überlegte ich, ob auch alle anderen Türen zu waren, aber klar. Seit Tagen hatte ich das Haus nicht verlassen, worüber auch mein Pferd sich ärgern würde. Noch viel mehr, dass ich ihn heute dann stören würde. Vor dem Haus stand nur sein übertrieben großes Fahrzeug, ohne Anhänger.
      “Wo ist denn Sky?”, wunderte ich mich.
      “Der steht bei euch am Stall”, erklärte Vachel, ohne den Blick von der Straße zu verlieren. “Schon seit einigen Tagen.”
      Warum stand das Goldstück bei uns? Auf einem Hof voller seltsamer Menschen, die es liebten, einander zu zerfleischen, es bevorzugten, hinter dem Rücken anderer zu sprechen anstelle Probleme aus der Welt zu schaffen. Nur Lotye hatte sich dem Mist nie hingegeben und kam regelmäßig für Trainingseinheiten vorbei.
      Langsam fuhr dem gepflastertem Weg entlang. Durchs Fenster sah ich bereits die ‘Premiumreiter’ auf dem großen Reitplatz. Wir nannten sie so, da sie nur darauf achteten, wie sie auf dem Pferd aussahen. Ihnen fehlte das Verständnis der Tiere gegenüber. Es sollte funktionieren und eine Lektion nach der anderen Abspielen. Auf der Weide gegenüberstanden die beiden Pferde von Marie, zupften an den kleinen verbliebenen Grashalmen.
      “Warum bist du hier?”, fragte ich offen heraus, als wir den Stall betraten. An der Ecke stand sein Turnierschrank. Eine niedliche Kinderzeichnung von seinem Hengst hing daran, verziert mit blauen Glitzersteinen. Vermutlich von seiner kleinen Schwester, die er nicht so oft sah. Zumindest hatte Vachel nichts mehr erzählt von ihr.
      “Marin hat über Nacht den Stall verlassen. Es gab einige Unstimmigkeiten mit der Hofbesitzerin und deshalb bin ich auch gegangen”, erklärte er.
      Sein Schimmel streckte sein Maul durch die Gitter, leises Brummen ertönte, je näher wir kamen. Auch Monet streckte sich und wieherte mit einem hohen Ton. Jeder von uns holte sein Pferd aus der Box heraus und putzte in aller Ruhe. So dreckig war Monet seit Jahren nicht mehr. Neben dem normalen Staub hatte er Grasflecken am Bauch, Po und den Hinterbeinen.
      “Was hast du nur gemacht?”, flüsterte ich ihm zu, aber bekam, bis auf einen Seufzer, keine Antwort.
      “Pferde können nicht sprechen”, erinnerte mich Vachel und wechselte dabei die Seite seines, um auch dort den Dreck zu entfernen. Sein Schimmel wies deutlich weniger Flecken auf, Glückspilz.
      “Ja, ja. Ich weiß. Aber sprichst du nie mit Sky?” Angestrengt fuhr ich mit der Bürste immer wieder durchs Fell, aber es wurde nicht besser, zum Glück auch nicht schlimmer.
      “Natürlich, ich erzähle ihn immer von meinem Alltag”, grinste er.
      “Ach, was passiert da so spannendes?”, nutze ich den Moment, um mehr über Vachel zu erfahren. Lang, mit viel Rattenschwanz, erklärte er mir, wie wichtig seine Arbeit sei. Was er genau tat? Das hatte ich bereits wieder vergessen, auf jeden Fall etwas, ohne Pferde. Aber ich hörte ihm zu, zumindest vernahm ich seine weiche Stimme in meinen Ohren. Egal, was er sagte, es klang toll und wie sich seine Lippen dabei bewegten, ein Traum. Ich spürte wieder dieses Kribbeln von unserem Kuss, aber wie ein Messerstoß wurde es mir nicht gewehrt, mehr zu fühlen. Schließlich hatte ich Vachel geghostet. Den Grund dafür lag weit außerhalb der Denkzone.
      “Das ist toll”, warf ich zwischendrin ein, wenn sich die Erzählung nach etwas Positiven anhörte. Dem stimmte er erfreut zu und verlor sich weiterhin darin. Nebenbei hatten wir die Pferde gesattelt und aus dem Stall geführt.
      “Und, was willst du machen?”, kam plötzlich diese eine Frage, die auch mein Vater zu gern stellte.
      “Gute Frage”, erwiderte ich, ohne zu überlegen. “Mit den Reitstunden für kleine Kinder bin ich eigentlich zufrieden.”
      “Aber möchtest du nicht auch andere Dinge erleben?”
      “Wieso? Ich meine ja, ich reite nicht ansatzweise so gut wie du und meine erste und einzige internationale Prüfung liegt Wochen zurück, aber ich bin zufrieden mit dem, wie es ist”, dabei bemerkte ich, dass wirklich nie Gedanken daran verschwendete, wie ich ohne das Geld meines Vaters leben würde oder könnte. Ich wollte ihn auch nicht verlieren, im Stich lassen oder Ähnliches. Es war gut, wie es ist. Wieso sollte ich daran etwas ändern?
      “Jetzt sag so etwas nicht.” Da war es wieder! Dieses Lächeln. Langsam wurde es unerträglich, ihn anzuschauen. So richtete ich mich im Sattel auf, den Blick fest durch die Ohren meines Ponys und trabte an. In gleichmäßigen Schritten und den Kopf nach unten gesenkt, schliff er durch den Sand. Überall lagen bunte Blätter von den Laubbäumen auf dem Weg. Es raschelte vertrauenswürdig unter seinen Hufen. Vachel kam uns problemlos nach. Kurz vor der Abbiegung zum See hielten wir an.
      “Wo lang?”, fragte ich aus der Puste und musste einmal tief Luft holen.
      “Wie du möchtest, aber einmal um den See, ist doch eine schöne Runde”, merkte er an. Also setzten wir die beiden Hengste wieder in Bewegung. Das Thema ‘womit möchtest du dein Lebensunterhalt verdienen’ war vom Tisch. Hier und da kamen wir auf ein anderes Thema, aber landeten immer wieder bei den Pferden. Wir verloren uns so sehr darin, dass wir die Weggabelung verpassten zum Hof und vor der Landstraße standen.
      “Ähm, hier war ich ewig nicht”, merkte ich verwirrt an. Ich kannte die Stelle, aber wie wir zurückkamen, wollte mein Hirn nicht ausspucken.
      “Ich habe hier kein Netz. Was sagt dein Handy?”
      “Das sagt ‘ich liege zu Hause’”, lachte ich, aber war klug genug, um ein Schild zu lesen. Wir waren am Ortseingang vom Dorf des Stalls. Also folgten wir hintereinander der ruhigen Straße. Selten fuhren hier Autos am Nachmittag, seitdem es einen kürzeren Weg zur Schweizer Grenze gab. Die Einwohner genossen ihre neu erlangte Ruhe in vollen Zügen.
      „Danke“, schmunzelte ich. Wir waren am Hof angekommen, hatten die Pferde abgesattelt und fütterten sie. Maries beiden standen bereits in der Box, nur von ihr war weit und breit nichts zu sehen. Ihr Fahrrad lehnte an der Wand und auch das von Alicia. Dann ertönte Gelächter aus dem Nebengebäude, dass man ausnahmslos den Mädels
      zu ordnen konnte. Instinktiv duckte ich mich, obwohl es unmöglich war, dass sie wie eine Schnecke ihre Augen ausfahren konnten, um um die Ecke zu schauen.
      „Ja, mir hat es auch gefallen“, gibt Vachel nicht weiter auf mein seltsames Verhalten ein. „Das können wir jetzt öfter machen.“
      „Könnten wir, ja. Aber ich muss schauen, ob mein Arbeitspensum das zulässt“, grinste ich wagemutig und schnappte mir eine Forke. Monets Box sah aus - unbeschreiblich. Seit Tagen hatte niemand sauber gemacht, eigentlich frech, da ich so oft auch die Boxen der anderen reinigte, dass ich es ebenfalls erwartet hatte. Immerhin hatten sie ihn, augenscheinlich, auf die Weide gebracht.
      Ich brachte mein Pony wieder in sein sauberes Bettchen. Sofort legte er sich mit seiner Stalldecke ins Einstreu und war vollständig mit den Spänen übersät.
      „Du hast da was“, flüsterte Vachel mir verräterisch ins Ohr und zupfte aus meinem Haar ebenfalls welche. Sanft berührte dabei seine Hand meinen Hals. Mir stoppte der Atem durch einen Knoten, der sich von einer zur anderen Sekunde gebildet hatte. Wie eingefroren, verharrte ich an Ort und Stelle.
      „Oh, danke“, gluckste ich mit kratziger Stimme.
      „Kein Problem“, sagte er freudestrahlend und beobachtete ebenfalls, wie sich Monet immer wieder in seiner Box wendete.
      Ohne mit Alicia und Marie gesprochen zu haben, stieg ich wieder in das Auto von Vachel und wurde von ihm nach Hause gefahren. Lange überlegte ich über weiteres vorgehen. Aber die Entscheidung nahm er mir ab.
      “Hast du Lust auf Pizza?”, fragte er.
      “Wer nicht?”, grinste ich.
      Am Haus stiegen wir aus und betraten es. Es war dunkel, wie draußen. Zellen hofften darauf, dass Papa heute kommen würde, aber nichts. Nicht einmal unsere Haushälterin befand sich drinnen, natürlich. Nach einander schaltete ich die Lichter an, bis es wieder wohnlich wirkte. Im selben Zuge ließ ich die Rollladen herunter, um mehr das Gefühl von Privatsphäre zu haben. Zur gleichen Zeit tippte Vachel auf seinem Handy herum und wählte für jeden eine Pizza aus.
      “In zwanzig Minuten sollte sie da sein”, informierte er mich.
      “Möchtest du eine bequemere Hose oder so?”, fragte ich höflich nach.
      “Gern.”
      Wieder rannte ich die Treppen hoch, wechselte mein eigenes Outfit und bediente mich an dem Kleiderschrank meines Vaters. Es müsste ihm passen, ihre Größenunterschiede sollten nicht groß sein. “Das oder das?”, fragte ich von der Galerie herunter und zeigte zwei verschiedene Hosen. Er zeigte auf eine, die er direkt zugeworfen bekam.
      “Essen!”, rief ich und stürmte von der Couch auf zur Tür. Mit Mühe hatte ich das riesige Ding offen und nahm die beiden Kartons entgegen. Auf dem Schlüsselbrett stand auch eine Schüssel mit Kleingeld. Daraus gab ich der jungen Dame einige Münzen, bevor die Tür hinter mir zu viel.
      “Ist es zugeschnitten?”, fragte Vachel. Ich öffnete vorsichtig den oberen Karton.
      “Ja”, sagte ich, ohne den Blick davon zu verlieren vom dampfenden Essen vor mir. Erst als ich am Tisch saß, bemerkte ich ihn. Ich schluckte. Wieder kam dieser Knoten. Beinah wären mir die Kartons aus der Hand gefallen, wenn er sie nicht abgefangen hätte.
      “Gefällt dir, was du siehst?”, flüsterte er wieder in mein Ohr, zu dicht, aber nicht, dass es mich störte. Es verunsicherte mich im positiven Sinne.
      “Die Pizza sieht gut aus, ja”, lenkte ich von seinem freien Oberkörper ab.

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      Leben in Umstellung | 18. April 2022

      Monet / Crystal Sky

      Der Regen trommelte auf das Dach der Halle. Monets Ohren drehten sich bei den grässlich lauten Geräuschen von links nach rechts, während Lotye in der Mitte der Reitbahn stand und mir versuchte etwas zu erklären. Mich verunsicherte Regen, vor allem, wenn er so laut war. Ich spürte, wie mein Herz in der Brust raste und die Aufregung sich auch auf mein Pony ausdehnte. Er riss seinen Kopf unkontrolliert nach oben, verkürzte die Tritte und drückte dabei immer wieder mit Tempo.
      „Planet Erde an Neele, hören sie mich?“, scherzte Lotye und lief neben mir eher. Schwerlich nickte ich.
      „Gut, dann lass die Zügel los“, sagte sie.
      „Aber dann rennt er mir weg“, stammelte ich. Es fehlte mir noch, dass im Sand landete.
      „Los lassen!“
      Ich hob meine Hände und die Zügel lagen auf Monets Hals, der erleichtert abschnaubte. Mit einem leichten Klopfen lobte ich ihn. Die Schritte normalisierten sich und er streckte den Kopf nach unten.
      „Siehst du. Du warst so verkrampft, dass er nur den Druck loswerden wollte. Neele, du weißt doch selbst, wie empfindlich Monet ist“, erinnerte mich Lotye. „Okay, dann erst mal noch zwei Runden im Schritt auf der ganzen Bahn, dann trabst du an. Wir müssen an deinen Traversalen üben.“
      Sie drehte sich wieder zu Vachel, den ich vollständig ausgeblendet hatte. Mit Sky unter dem Sattel schwebte er durch den tiefen Sand, der hässliche Spuren an den hellblauen Bandagen hinterließ, die ich vorhin gebunden hatte. Monet trug elegantes Schwarz mit kleinen Steinen. Das Set war limitiert und ich hatte ewig suchen müssen, bis ich es schließlich in einem kleinen Laden gar nicht weit vom Stall fand.
      In der Bahn hatte Lotye einige Stangen hingelegt, damit in den Rhythmus für die Zick-Zack-Traversalen fand, wenn der letzte Hinterhuf abfußte nach der Stange, stellte ich ihn um. Zwischen den Kegeln zurück in die Gerade und bis zur nächsten Stange wieder in der Traversale zur anderen Seite geritten. Monet reagierte fein, aber ich bekam meine Beine nicht schnell genug sortiert. So verpasste ich die Kegel und kam hinter der Stange an. Aber auf der anderen Hand hatte ich den Dreh raus.
      „Genauso Neele“, lobte mit Lotye zufrieden. Auch ich strich dem Hengst über die Schulter. Ich machte den Weg frei, damit auch Vachel das Muster reiten konnte - im Galopp. Er musste sich aber auch immer wieder beweisen.
      In den letzten Tagen holte Vachel mich jeden Tag von Zuhause ab, um zu den Pferde zu fahren. Seit gestern fehlte Dixie im Stall. Ich schämte mich. Hätte ich Alicia fragen sollen oder zumindest meinen Schwarm? Er würde sicher wissen, wo sie sich herumtrieb.
      Ein letztes Mal trabte ich Monet an, der allerdings in den Galopp wechselte. „Na gut, dann beweise dich.“ Wie ein Champion sprang er einen nach dem anderen. Sanft reagierte Pony auf meinen Schenkel, den ich geschickt an den Bauch legte und im Takt trieb. Sky hatte uns bereits vorgemacht, wie es aussehen sollte und beinah mit selbiger Anzahl sprang Monet das Muster.
      „Sieh mal einer an! Die Neele kann doch was“, scherzte Vachel und reihte sich neben mir ein. In seinem Gesicht zuckte das herzerweichende Lächeln, das mich abermals verzauberte und in seinen Bann zog. Ich konnte mich nicht von Abwenden. In meinen spürte ich wieder Wärme aufkommen, bestimmt war ich knallrot.
      „Es kann nicht nur der große Vachel Erfolge erzielen“, stieg Lotye ins Gespräch ein.
      Sie wirkte zufrieden und strich meinem Hengst den Hals beim Mitlaufen. Natürlich war ich stolz auf mein Pony und auch mich, allerdings diese kleine Lektion bestritten zu haben, lässt sich nur schwer mit seinen Prüfungen vergleichen.
      Missmutig sah ich durch das große Tor nach draußen. Noch immer schüttete es Eimern und ich bevorzugte es, nicht nass zu werden. Auf dem Plattenweg hörte man Reifen durch die Pfützen fahren. Das Gummi kam mit quietschen zum Stehen, die Tür öffnete sich und fiel im nächsten Moment wieder knallend zu. Schnellen Schrittes kam jemand im Schutze des Hauses in die Halle gerannt.
      “Papa?”, sagte ich verwundert, “was machst du denn hier?”
      Er schüttelte sich und fuhr mit der Hand durchs kurze, feuchte Haar. Dann richtete er sich das lockere Jackett.
      “Hallo Herr Aucoin”, lächelte Vachel und reichte ihm die Hand. Auch Lotye begrüßte ihn. Ohne jegliche Floskeln kam Papa direkt zum Punkt: “Kann einer von euch Monet mitnehmen? Neele muss sofort mitkommen.” Seine Stimme klang genauso ernst, wie sein Gesichtsausdruck es ausstrahlte. Vachel nickte, aber ich war nur mäßig begeistert, trotz des Regens.
      “Wieso?”, beschwerte ich mich und hielt die Zügel fest in meiner Hand.
      “Wir klären das im Auto, komm jetzt bitte. Ich möchte nicht diskutieren”, antwortete er.
      Unwillig gab ich Vachel die Zügel und strich meinem Pony noch mal durch die Mähne. Dann folgte ich flink ins Auto. Papa hatte bereits ein Handtuch auf den Sitz gelegt, damit keine Haare und Dreck auf dem gepflegten Polster kamen. Die Schuhe klopfte ich ab und schlug die Tür zu. Stumm startete er das Auto und fuhr brausend vom Gestüt. Mehrmals versuchte ich ihm mehr Informationen zu entlocken, doch Papa schwieg. Nervös tippte er mit dem Daumen auf dem Lenkrad, während aus dem Radio mir unbekannte Musik dudelte, die nicht einmal gut klang. Diese Entwicklung der elektronischen Tönen konnte ich nicht verstehen, ich hörte viel aus anderen Zeiten.
      Wir überquerten die Grenze und kamen schließlich vor dem Bürogebäude zu stehen, in dem er arbeitete. Die Straßen waren leer. Der Regen hatte sich deutlich verringert. Erst als wir an seinem Schreibtisch standen, sagte Papa etwas.
      “Schau mal”, zeigte er auf den großen Monitor des Computers und ich blickte mir die diversen Zeichnungen an, 3D Arbeiten und Beschreibungen. Die Pläne waren riesig und ausgefeilt.
      “Ist das ein Pferdehof?”, fragte ich überrascht und scrollte immer wieder näher heran, um mehr Details zu erkennen.
      “Der Ausbau von einem, ja”, grinste Papa. Dann leuchtete mich ein Datum an: 09.11.2020. Das war in Rund einem Monat. Meine Augen flogen weiter durch die Beschreibung. Weitere Worte erfasste ich: Baubeginn, Betreuung und Organisation. Ich schluckte.
      “Was bedeutet das?”, seufzte ich und zeigte mit dem Finger auf meine Sichtung.
      “Nun.” Papa legte seine Hand auf meine Schulter und klopfte mehrmals. “Ich werde den kompletten Bau beaufsichtigen als Architekt.”
      “Also werden wir nach”, erneut huschten meine Augen über den Bildschirm, “wo auch immer gehen?”
      “Schweden. Das Bauprojekt ist in Schweden”, als er davon sprach, öffnete er im Browser eine Karte, zeigte mir genau, wo dieses riesige Projekt entstehen sollte. Von Oben war dort kaum etwas zu sehen, viele Bäume standen auf der kleinen Halbinsel. Umgeben von Meer erstreckte sich nur ein ersichtlicher Strand und einige wenige Häuser. Kaum vorstellbar, dass da sich überhaupt jemand hin verirrte.
      “Sicher, dass das die richtige Adresse ist?”, hakte ich skeptisch nach.
      “Ja, die Satellitenaufnahmen sind alt.” Papa klickte auf den Display zurück, um in der PDF ganz an den Anfang zu gehen. Dort waren Drohnenaufnahmen von einem sehr modernen Gestüt zu sehen, nicht vergleichbar mit unserem Hof. Lange verloren wir uns darin und ich freute mich sehr für ihn, dass er so einen großen Kunden ans Land ziehen konnte.
      “Schade, dass wir uns dann nicht mehr sehen”, senkte ich entmutigt den Kopf und ließ mich auf den Drehstuhl fallen.
      “Wie kommst du darauf?”, er blickte vom Monitor weg, “du kommst mit.”
      Mir fiel die Kinnlade herunter. Unverständlich stammelte ich vor mich hin. Wild kamen Buchstaben auf meinem Mund, bis mein Vater mich antippte und mein Verstand zurückkehrte.
      “Ich kann doch nicht mitkommen! Schließlich habe ich ein Pferd”, formulierte ich wohl die einzige Sache, die mich hier hielt.
      “Neele, jetzt sei vernünftig. Monet kommt nach, ich habe das bereits organisiert und er wird eine Woche später folgen. Nur unser Haus ist noch nicht fertig, wenn wir ankommen”, erkläre er.
      Es entwickelte sich eine Diskussion, die immer mehr an meiner Standfestigkeit verlor. Ich war hier aufgewachsen, kannte jeder Ecke, jeden Baum und jeden Weg und das nun hinter mir zu lassen, fiel mir bereits in Gedanken schwer. Tränen rannten an meinen Wangen herunter, bis Papa mir tatsächlich erklärte, dass auch Alicia mit kam. In dem Augenblick verstummte ich. Eine gefühlte Ewigkeit hatte ich nicht mit ihr gesprochen und auch jetzt fehlten mir die Worte. Er wusste davon, allerdings auch, dass sie aktuell zu einem Lehrgang auf einem Gestüt in der Nähe war. Außerdem erfuhr ich, dass er mir einen Praktikumsplatz dort ermöglicht hatte, ich also nicht untätig sein würde. Damit begann mein Herz zu leuchten. Auf der Rückfahrt informierte ich mich über den Hof. Es war der Lindö Dalen Stuteri, der neben Rennpferden auch Dressurpferde beherbergte, die nach klassischer-akademischer Reitweise trainiert wurden. Der Eigentümer stellte sich als Deutscher heraus, der Schüler bei allen lebenden Reitmeistern war und nach ihrer Philosophie trainierte. Sehr viel konnte ich von ihm lernen, was noch größere Vorfreude auslöste. Obendrein befanden sich auch Islandpferde mit auf dem Gelände, die wohl sein Bruder führte. Die Plüschtiere kannte ich nur vom Hörensagen. Einige standen mal bei uns im Nebenstall.
      Am Abend aßen wir noch zusammen und Papa blieb sogar über Nacht. Bei einem schönen Film setzten wir uns auf die Couch. Ich trank meinen alkoholfreien Wein und er hatte sich einen guten Tropfen, wie er immer zu sagen pflegte, aus dem Keller geholt. Tatsächlich hatte er gekocht, eine Seltenheit, dabei konnte Papa das so gut. Noch diverse andere Sachen erzählte er über Schweden, ich spürte, dass er genauso sehr sich darauf freute, wie ich es mittlerweile tat.
      Im Bett reagierte ich auf Vachels Nachrichten. Er hatte mir Bilder von Monet geschickt, wie er in seiner Box friedlich das Heu zupfte.
      “Danke”, tippte ich. Sofort kam eine Antwort.
      “Möchtest du, erzählen, was so wichtig war?”, kam er ohne Umschweife zum Thema. Erfreut spannten sich meine Lippen an und formten dabei ein Lächeln. Noch tiefer drückte ich mich ins Kissen und erzählte ihm vollständig von dem Gespräch. Es dauert, bis er sich dazu äußerte. Kein einziges Mal wechselte sein Status auf offline. Aber ehe mein Handy durch eine Vibration bei mir meldete, befand ich mich bereits im Halbschlaf. Ich schob es unter das Kopfkissen und befand mich wieder im Traumland.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 10.325 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Anfang Oktober 2020}
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    • Mohikanerin
      Abschied in Spanien | 06. Mai 2022

      Monet / Dix Mille LDS / Jokarie / St. Pauli‘s Amnesia / WHC‘ Poseidon / Crystal Sky / Small Lady / Jora

      Bereits am Flughafen stellte ich fest, dass meine dicke Winterjacke eine schlechte Wahl für Spanien war. Ich hatte nicht einmal so weit gedacht, eine dünnere Jacke im Handgepäck mitzuführen. Stattdessen zog ich sie auf und krempelte den Pullover an den Armen nach oben. Alicia scherzte bereits in Genf am Flughafen.
      „Die Pferde sind schon vor Ort, also kommt“, kam Lotye mit wedelnden Zetteln in der Hand zu uns gelaufen. Sie flog mit den beiden zusammen, was für große Diskussion gesorgt hatte.
      „Wie geht’s Monet?“, fragte ich umgehend. Es war sein erster Flug, während Dixie schon gut um die Welt kam, zumindest in Europa.
      „Alles bestens.“ Meine Trainerin legte ihren Arm um mich herum. Sie wusste, dass es unser letztes gemeinsames Turnier für die nächsten zwei Jahre sein würde, denn auch ich konnte nicht abschätzen, wie es weitergeht. Papa hatte bereits zwischen den Zeilen verlauten lassen, dass er in Schweden ein hervorragendes Angebot bekommen hatte. Ich seufzte. Dann schloss auch Alicia sich an. Inmitten der Menschenmassen standen wir in der Eingangshalle des Flughafens und umarmten einander.
      „Mir fehlt das hier jetzt schon“, sagte ich. Die beiden nickten.
      „Aber lasst uns nicht Trübsal blasen, sondern Spaß haben“, munterte Lotye uns auf. Zusammen suchten wir den nächsten Laden auf, der Kaffee in großen Bechern verkaufte, gar nicht so einfach. Schließlich wurden wir vor dem Gebäude fündig.
      Der Geruch aus dem Becher war mäßig, kein Vergleich zu meinem herkömmlichen Getränk. Stattdessen roch dieser bitter und kratzig, aber am Ende machte es keinen Unterschied. Alicia suchte zur gleichen Zeit nach einem Fahrer, damit wir auf das Turniergelände kamen. Wir fanden heraus, dass es nicht weit von hier war, aber die sommerlichen Temperaturen und unser Gepäck erschwerten einen Spaziergang. Endlich fanden wir ein freies Fahrzeug, dass uns zu dem abgesperrten Gelände brachte. Es lag abseits von der Stadt, aber direkt am Strand.
      „Ist das etwa?“ Mir blieb der Mund offen stehen, als ich das abgezäunte Dressurviereck direkt am Strand sah, umgeben von einer langen Tribüne.
      „Oh! Ich möchte auch am Strand reiten“, schwärmte Alicia.
      „Keine Sorge, das Springen findet auch dort statt“, beruhigte Lotye sie. In ihren Augen sah ich die Erleichterung. Wäre es nicht so gewesen, hätte meine Freundin mir wohl noch Wochen in den Ohren gelegen.
      Am Tor setzte man uns ab und mit den Ausweisen durften wir die Schranke durchqueren. Zwischen zwei Hotels im typischen andalusischen Baustil waren Zeltboxen aufgebaut, während auf einem großen Parkplatz die Transporter ordentlich in einer Reihe standen.
      „Lasst uns erst mal die Sachen wegbringen und dann gehen wir zu den Pferden“, sagte unsere Trainerin, als Alicia und ich schon an den Zelten entlang tigerten und unsere Nummer suchten.
      „Na gut“, gab ich nach. Wir betraten eins der Hotels und checkten ein. Die Einganghalle war nicht groß, aber hell. Durch eine bodentiefe Fensterfront konnte man den Pool sehen, an bereits ein paar Leute entspannten in der Sonne. Ich meine sogar, mir bekannte Gesichter gesehen zu haben, aber ich könnte mich auch irren. Bevor ich sie genauer inspizieren konnte, zog mich Alicia mit zum Fahrstuhl. Unsere Zimmer lagen in der vierten Etage und verfügten über einen kleinen Balkon mit Meerblick. Meine Freundin ließ ihre Tasche neben der Tür stehen und rannte sofort raus. Um Haaresbreite verfehlte ich ihr Gepäck, konnte mich noch am Türrahmen halten.
      „Hallo? Bist du bescheuert?“, fluchte ich und setzte gezielt meine Beine daran vorbei. Aber Alicia hatte recht. Die Aussicht war ein Traum.
      „Schau mal“, zeigte sie nach links, wo man den Reitplatz teilweise erkennen konnte, während der Rest von den überdachten Tribünen überdacht war.
      „Ich bin froh, doch mitgefahren zu sein“, sprach ich mit einem unberührten Lächeln auf den Lippen.
      „Eindeutig!“, schloss sie sich an. „Und wir suchen für dich einen besseren Kerl als Vachel!“

      Bei den sommerlichen Temperaturen am Mittelmeer, die selbst im Herbst aktuell bei knapp zwanzig Grad Celsius lagen, konnte ich nicht in der langen Jogginghose bleiben. Mir vorher zu informieren, funktionierte nicht. Stattdessen bediente ich mich bei Alicia, die gefühlt ihren ganzen Kleiderschrank dabei hatte. Mit einer Hotpants bekleidet, einem Tank Top und einer leichten rosafarbenen Jacke darüber stiefelte ich zu Monet. Um meinen Hals trug ich die Karte, die mich für alle Bereiche berechtigte, außer den VIP, schließlich war ich nicht Raphael, die Alicia mit ihren Adleraugen bereits ausgespäht hatte und verschwand. Mir egal, schließlich wollte ich endlich meinen Hengst sehen! Er stand im mittleren Zelt, irgendwo weiter hinten, berichtete mir Lotye zuvor. Sie blieb in ihren Zimmern und war wirklich erschöpft von der Reise, was ich ihr nicht verübeln konnte. Tausenden Fragen über den Transport lagen auf meiner Zunge, lösten dabei ein ungestilltes Kribbeln aus, dass sie wie kleine Elektro-Schocks in Richtung meines Nackens ausbreitete.
      In der Gasse standen einige Menschen herum, die ich beim ersten Sichten noch nie gesehen hatte. Nur das Gesicht einer großen Blonden kam mir bekannt vor, vermutlich in einem Video. Aber mich interessierte im Augenblick nur mein Pony, das schon seinen Kopf aus der Box regte und sich mit der Zunge die Lippen leckte. Zwischen den ganzen Warmblütern wirkte er wie ein Baby, das hier nichts zu suchen hatte. Kurz fühlte auch ich mich so, die Gespräche um mich herum verstummten urplötzlich, als ich bei ihm anhielt. Liebevoll tätschelte ich seinen Hals und kramte aus der Jackentasche ein Leckerchen heraus. Gierig nahm er es von meiner Hand.
      „Die denkt doch nicht wirklich, dass sie was mit dem reißen kann“, hörte eine zu jemandem sagen. Diese lachte.
      „Wohl kaum. Vielleicht gehört sie zu dem Ponyreiten morgen“, feixte die andere.
      Ich drehte mich nicht mal zu ihnen um, zu sehr schmerzte es mich. Auch Monet schien die Worte verstanden zu haben und stupste mich voller Inbrunst an. Ein zartes Lächeln huschte über meine Lippen. Fürs Erste entschied ich, ihm das Halfter umzulegen und eine Runde über den Veranstaltungsort zu drehen. Nach dem Flug musste er sich sicher mal die Beine vertreten, vor allem, wenn er nun für mehrere Tage nur in der Box stehen würde. Sicher sehnte er sich schon nach seiner Weide.
      Die beiden Mädels verzogen sich aus dem Zelt und ich verließ es ebenfalls, nach dem ich den feinen Staub aus seinem Fell entfernt hatte. Folgsam lief er am Strick neben mir her. Wir folgten dem Weg. Überall standen Schilder, wo man mit einem Pferd hin durfte und wo nicht, dem kamen wir nach. Nach und nach trudelten mehr Transporter ein und am Horizont senkte sich die Sonne in Richtung mehr. Ein wunderschönes rötliches Licht spiegelte sich auf der malerischen Oberfläche, tauchte dabei hellen Häuser am Hafen in warme Töne. Ich musterte jede Fassette am Himmel, während Monet nur Augen für das Grün am Boden hatte. Es schmerzte inzwischen doch. Wieder kam Vachel in mein Gedächtnis, wie er ganz trocken sagte, verlobt zu sein. Unbegreiflich war das alles für mich, noch nie hatte ich von der Dame gehört, die Alicia zu kennen schien. Im Stall verhielt ich mich normal ihm gegenüber, nur er suchte Abstand, was ich verstand. Eigentlich hätte es offensichtlich sein müssen, was für Gefühle ich ihm gegenüber pflegte. Wir lagen oft am Abend auf der Couch, ich in seinen kräftigen Armen und er strich mir den Bauch. Es war zu schön, um wahr zu sein.
      Lange standen wir noch an der Uferpromenade. Ich hatte mich mittlerweile auf den Boden gesetzt und fröstelte. Wir bekamen Gesellschaft. Schritte näherten sich und sogar mein Pony hob den Kopf. Leise brummte er, wodurch auch in mir die Neugier Funken sprühte. Allerdings nur für den Hauch einer Sekunde. Ich verfluchte ihn, aber was wollte Vachel überhaupt hier? Sky hatte bis Februar erst einmal Pause und erst dann wollte er mit der Qualifikation für diese wirklich großen Dressurturniere bekommen, bei denen man Punkte bekam. Die ganzen Arten der Turniere durchblickte ich noch nicht, aber ich war ohnehin glücklich genug, dass Monet sich mit Warmblütern messen konnte.
      „Hey“, sagte ich mit zu Versagen drohender Stimme. Dabei versuchte ich ein Lächeln aufzusetzen, dass mir nur mäßig gelang. Er hingegen strahlte und löste damit ein Schlagzeugsolo in meiner Brust aus. Die Hände steckten locker in der leicht nach oben gekrempelten Anzughose, darüber, ein wirklich sehr enges Poloshirt. Ich schluckte.
      In meinem Kopf leuchtete ein Szenario auf, wie er sich zu mir runterbeugte, die Lippen trocken und die Augen glasig. Eine Strähne hatte sich hinter meinem Ohr gelöst, die er vorsichtig zurücklegte und die Hand am Kiefer behielt. Das Trommeln in meiner Brust wurde stärker, bis sich schließlich alles löste und unsere Münder aufeinanderlagen.
      Natürlich passierte das nicht, stattdessen blieb er auf Abstand bei mir stehen. Vachel drehte die Daumen und schien nicht so ganz entschlossen, was er bei mir wollte. Einen wirklichen Grund dafür verspürte ich nicht, nur die Enttäuschung, dass wir einander so fern waren.
      „Ich wollte nur sagen, dass ich hier bin. Damit“, Vachel hielt für einen Wimpernschlag inne, „es nicht seltsam ist, wenn du mich mit Giada siehst.“
      „Alles klar.“ Zustimmend nickte ich, als wäre ich dankbar über diese Geste, auch wenn es in mir ganz anders aussah. Schließlich wusste ich nicht einmal, wer sie war, doch offenbar ritt sie auch. Nach Alicias Reaktion hatte ich mir das bereits denken können, aber ich wollte mich damit ehrlich gesagt, nicht auseinandersetzen.
      Stumm stand er noch Minuten lang bei mir, wischte mit dem Fuß den Kies von einer Seite zur anderen, während Monet den Kopf wieder ins Grün gesteckt hatte.
      „Ich werde dann mal wieder gehen“, sagte Vachel.
      „Okay“, sprach ich abwesend. Mein Blick lag wieder auf dem Meer, das die Sonne verschluckt hatte.
      „Wir sehen uns noch“, verabschiedete er sich.
      „Bestimmt.“
      Lange saß ich noch neben der Palme und Monet graste weiter. Immer wieder tauchten andere Menschen mit ihren Pferde auf und ließen sie ebenfalls am Gras zupfen, aber nur kurz, als wäre es eine Süßigkeit, wovon das Tier zunahm. Grauenhaft. Ich hatte währenddessen mein Handy hervorgezogen und schrieb Eskil: „Wenn du das sehen könntest, warte“, dann machte ich ein Bild. Am Himmel leuchteten ein paar Wolken in ehrlichen Violetttönen und spiegelten sich auf der bewegenden Wasseroberfläche.
      „Erlkönig hätte sich sicher über etwas mehr Heimatgefühl gefreut“, antwortete er und erzählte mir mehr über seinen Hengst. Dieser stammte auf Portugal. Auch dort müssten aktuell dieselben Temperaturen herrschen, wie am Mittelmeer, überlegte ich. Dann suchte ich danach. Tatsächlich war etwas kühler, durch irgendwelche andere Wasserströme schätzte ich, aber Geografie war ein Rätsel für mich.
      Monet stand wieder in seiner Box und war wenig überzeugt von dem Heu, ändern konnte ich nichts. Für mich stand auch Essen auf dem Plan. Ich folgte dem steinigen Weg zurück ins Hotel, durch die Einganghalle und kam im Speisesaal an. Die Tischen waren zahlreich besetzt, überall aßen Leute, tranken und sprachen. Und obwohl ich nur wenige verstand, wirkten alle sehr fröhlich. Obwohl mich die Gesellschaft zwischen glücklichen Menschen stets in den Bann zog, verlor ich immer mehr den Hunger. Es drehte sich, kniff unsanft in der Magenregion und wanderte wie eine Schlange nach oben. Auch der Anblick der Weinflaschen ekelte mich.
      „Neele, hier“, winkte Alicia, nach dem ich schon den ganzen Raum abgesucht hatte. Unser Tisch war ebenso zahlreich besetzt, auch mit einem Typen, den bisher noch nie gesehen hatte. Freundlich hob ich die Hand als Begrüßung und setzte mich stumm zu Lotye.
      „Für mich ist es mehr Spaß an der Freude“, setzte der Unbekannte das Gespräch mit meiner Freundin fort. „Schließlich ist Karie alles andere als typisch.“
      Offenbar sprach er über sein Pferd.
      „Ach, sah doch super aus beim Training“, sagte Alicia mit funkelnden Augen. Mit dem Typen aus dem Nebenstall war es nur eine kleine Liebelei, wie sie mir vor einiger Zeit erzählt hatte. Es tat ihr aber nicht einmal leid, dass ich dementsprechend vernachlässigt wurde. Sie dachte nie weiter als ein Meter Feldweg, dennoch wünschte ich mir Rücksicht. Mich wunderte es aber nicht, dass sie wieder jemand anderes im Auge hatte. Währenddessen sortierte sie mit der Gabel die Lebensmittel um, ohne etwas davon zu essen. Das vertrieb mir noch mehr den Appetit.
      „Und, mit Monet ist alles gut?“, schmunzelte Lotye.
      „Ja, ich habe ihn grasen lassen“, erklärte ich kurz.
      „Sehr schön“, sie nickte, „morgen um neuen Uhr würde ich noch mal mit dir die Kür durchgehen, schließlich ist am Abend schon deine Prüfung.“
      Tatsächlich hatte ich diese Tatsche vollkommen verdrängt in meinem Gedankenzirkel. Schon morgen war die Prüfung. Obwohl es in Genf nur schlecht für uns lief, sah sie das Potenzial in uns beiden und auch das Training half und bei der Verbesserung, allerdings hatte ich da noch ein positives Bild im Kopf. Jetzt leuchtete nichts in mir, es war ein Ringen um Trauer und Enttäuschung. Lotye wusste das alles nicht. Bestmöglich überspielte ich das Grauen.
      Die anderen am Tisch aßen auf, während ich stumm dabei saß und weiter Nachrichten tippte, mit Eskil. Ich hatte mich gegen Essen entschieden, obwohl meine Trainerin versuchte, dass ich zumindest eine Kleinigkeit zu mir nahm. Das Buffet hatte einiges zu bieten, nur mir drehte noch immer der Magen.
      „Wir gehen noch zur Bar, kommst du mit?“, fragte Alicia. Lotye sah kritisch zu mir.
      „Nein, ich brauche Ruhe für morgen“, sagte ich und sie verschwand mit dem neuen Typen.

      Im Bett, es müsste tief in der Nacht gewesen sein, wachte ich kurz auf. Alicia stolperte ins Zimmer und brachte eine unbeschreibliche Wolke an Gerüchen mit – Schweiß, Alkohol, Zigarettenqualm und Deo, alles strömte durch den Raum. Es roch so widerlich, dass ich beim Wachwerden mich erinnerte. Ich stand also auf und öffnete als Erstes das Fenster, schon dafür auch die Vorhänge beiseite.
      „Wie spät ist es?“, fragte Alicia heiser und zog sich die Decke über den Kopf.
      „Sieben Uhr“, murmelte ich. Mir war schlecht. Ob es von der Luft im Raum kam oder dem fehlenden Abendessen, konnte ich nicht genau einordnen. Beides vermutlich. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Wir waren nicht zum Feiern hier, erst recht nicht, wenn noch keiner eine Prüfung geritten war. Auch unter der Dusche überlegte ich noch lange, was sie in der oben solchen Teufelskreis zog, aber mir fiel beim besten Willen kein Grund ein. Nach dem Zähne putzen, zog ich mir die blaue Reithose an, ein frisches Poloshirt und griff noch meine Jacke, bevor ich leise den Raum verließ zum Frühstücken. Lotye wartete am Eingang auf mich.
      “Guten Morgen”, lächelte sie freundlich und legte die Hand auf meine Schulter. “Ich hoffe, dass du Hunger mitgebracht hast.”
      “Guten Morgen. Nicht wirklich”, ich seufzte, “Alicia roch wie eine Kneipe und jetzt habe ich Kopfschmerzen.”
      “Was ist denn mit ihr los?”, fragte sie kritisch nach, als hätte ich Ahnung. Ich zuckte mit den Schultern. Sie nickte nur verständnislos und zusammen suchten wir einen Tisch.
      “Oh, bei Vachel sind noch zwei Plätze frei”, sprach meine Trainerin und lief schnellen Schrittes dazu. Natürlich wusste sie um unsere Situation nicht, was ich auch dabei belassen wollte. “Ist hier noch Platz?”
      “Ja, setzt euch”, sprach er freundlich und klopfte mit der Hand auf die Tischplatte. Meine Beine bewegten sich nicht, hielten mich wie ein Zweikomponenten-Kleber auf dem Boden. Die Finger zitterten, während es bis in meinen Hals klopfte. Wahrlich verschlug es mir den Atem und Hunger. Lotye sprach kurz mit ihm, aber suchte danach das Buffet auf. Eindringlich trafen mich ihre Blicke, als würde sie mich erinnern wollen, dass Essen wichtig war.
      “Wie lange möchtest du noch herumstehen?”, hakte Vachel nach, obwohl sein Gesichtsausdruck zufolge, er wusste schon, was das Problem war.
      “Ich weiß nicht”, sagte ich unentschlossen. Dann setzte ich mich ihm gegenüber. Wehmut überkam mich bei jedem Wort, das wir wechselten, obwohl ich mich versuchte von meinen Gefühlen zu entreißen. Der Kampf war aussichtslos, aber mit jedem Atemzug der meine Luft durchströmte, zog ich neue Kraft in meinen schlappen Körper. Selbst die wunderschöne Aussicht aufs Meer und die Palmen machte es nicht erträglich.
      “Das ist doch idiotisch.”
      “Wie bitte?”, fragte Vachel nach. Mist! Hatte ich das gerade laut gedacht? Schockiert hielt ich mir die Hände vor den Mund, als hätte ich sonst was gesagt, allerdings konnte ich auch nicht genau einschätzen, wie viel der Gespräche in meinem Inneren nach außen traten.
      “Ach nichts”, versuchte ich vom Thema abzulenken, als ich meinen Augen nicht trauen wollte. Eine blonde, langbeinige Dame kam näher an den Tisch heran, mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Sie musterte mich ebenfalls. Egal, was ich sagen würde, sie hatte mich bereits verurteilt. Ich hatte ihr nichts Böses getan, als ein Welsh Pony zu besitzen. Dass ich als Einzige in dem Jungen Reiter Grad Prix kein Warmblut unter dem Sattel hatte, sprach sich offenbar herum wie ein Buschfeuer.
      “Was macht der Ponyreiter hier?”, zischte sie und kam näher zu uns. Ihre Hände fasten auf seine Schultern, wanderten dann langsam über seine Brust. Sie küssten sich. In mir zog sich abermals alles zusammen. Wo blieb Lotye? Suchend wanderten meine Augen von links nach rechts, aber ich fand sie nicht.
      “Giada, das ist Neele”, erklärte er.
      “Ah”, sie schnappte verächtlich nach Luft. „Kommst du, mein Herz?“
      „Eigentlich nicht, wieso?“, fragte Vachel verwundert. Er verstand genauso wenig wie ich, wieso sie sich nicht einfach mit zu uns setzte.
      „Caro wartet schon auf uns, komm doch bitte“, setzte sie noch eine Schippe darauf. Sie sprach vermutlich von der Brünetten, die mit Zelt lungerte. Es dauerte nicht lange, dann verabschiedete Vachel sich. Ihm war die Diskussion ebenso unbequem wie mir.
      „Viel Erfolg“, sagte er noch beim Vorbeigehen und verschwand mit ihr. Verloren saß ich weiter am Tisch. Was tat ich hier eigentlich? Meine Hände stützten meinen Kopf.
      „Neele, du hast immer noch nichts gegessen“, mahnte Lotye.
      „Man. Ich habe keinen Hunger, mir ist schlecht!“, schimpfte ich jämmerlich.
      Ihre Stimmung wechselte im nächsten Augenblick. Sie legte das Besteck klappernd zur Seite und richtete ihre Augen zu mir. Die Ernsthaftigkeit löste sich in Luft auf.
      „Was ist los? Bist du so aufgeregt?“, fragte sie fürsorglich.
      „Ja, auch“, ich seufzte und erzählte ihr alles von Vachel, von hinten bis vorn und die Gesichtszüge entglitten immer wieder. Besonders sauer stieß ihr das Verhalten seiner Verlobten hier am Tisch auf.
      „Kann doch nicht wahr sein“, brummte sie kopfschüttelnd.
      „Leider schon, aber was soll‘s?“, sagte ich teils enttäuscht, teils erleichtert.
      „Lass den Kopf nicht hängen, nimm dir ein Brötchen und dann üben wir noch mal die Übergänge, dann machst du die platt!“, lachte Lotye. Sie war nur einige Jahre älter als ich, Ende zwanzig, und konnte entsprechend nachvollziehen, wie es mir ging. Für sie gab es nur die Pferde, auch wenn sie schon vereinzelt mal einen Kerl ans Land gezogen hatte. Wie sie sie sagte, es passte nie. In meinem Alter stand Lotye am Scheideweg, ob sie ihr Geld in ein teures Turnierpferd steckte oder in Trainerscheine, nach dem ihr Hengst urplötzlich einer Kolik erlag. Ich war froh über ihre Entscheidung, denn der begleitete mich schon einige Jahre und hatte sehr daran gefeilt, dass ich mit Monet so weit kam.
      Ihrem Rat mit dem Brötchen kam nach und aß sogar zwei, damit fühlte sich die Leere in meinem Magen bereits besser. Dann schnappte ich mir noch eine große Wasserflasche und verließ den Raum mit Lotye zusammen. Wir sprachen mittlerweile die Aufgabe durch, welche Abfolgen besonders schwierig für mein Pony und mich waren. Im Zelt wurde es zunehmend mehr Leute, doch der Gang war breit genug, dass man noch zu seinem Pferd durch kam.
      „Die?“, flüsterte Lotye in mein Ohr, als Giada auftauchte, mit ihrem Anhängsel. Ich nickte unauffällig.
      „Dann sehen wir mal“, sagte sie entschlossen und zog das Handy hervor. Natürlich startete sie auch bei den jungen Reitern und war nur drei Starts vor mir dran. Das Grummeln in meinem Magen begann wieder.
      „Vielleicht sollte ich zurückziehen“, rückte ich direkt mit meinen Bedenken raus, noch bevor ich überhaupt auf dem Pferd saß.
      „Schwachsinn“, schimpfte sie lächelnd. Monet spitzte seine Ohren und streckte sich in ihre Richtung, als würde es Leckerlis bedeuten. “Siehst du, selbst er ist überzeugt.”

      Wenig später war der Unmut über die ganze Situation wie verflogen. Jeder federnde Schritt durch den weichen Sand setzte Glückshormone frei, die mir ein Lächeln auf die Lippen legten. Fröhlich strich ich Monet immer wieder über den Hals und fummelte an den Strähnen herum, die später noch Zöpfe werden wollten.
      „Mehr zurücknehmen, damit er von hinten kommt“, sagte Lotye durch das Funkgerät in meinen Ohren. Mit einer halben Parade nahm ich seinen Rahmen deutlicher zusammen und trieb gleichmäßig am Bauch. Der Hengst richtete den Rumpf auf, trat dabei gezielter unter. Erneut lobte ich ihn. Wir setzten das Programm fort mit Verkürzungen im Trab und auch Galopp. Die Seitengänge legten wir hauptsächlich zum Lockern ein, denn in der Box bekam er nicht Auflauf den er sonst hatte und am langen Zügel trabte er locker in der Dehnungshaltung. So konzentriert mein Pony in allen Möglichkeiten der Reitkunst für die Prüfung vorzubereiten, bemerkte ich nicht, dass der Platz immer leerer wurde und sich am Zaun eine Traube gebildet hatte. Selbst im Schritt fiel es mir erst sehr spät auf, genauer gesagt, als ich die Bügel überschlug und abritt. Ich sah in überraschte und glückliche Gesichter, als hätte Monet Kapriolen geschlagen.
      „Was wollen die alle?“, fragte Lotye durchs Mikrofon.
      „Dich in der Prüfung gewinnen sehen“, ich sah zu ihr und sah ein strahlendes Grinsen über ihr ganzes Gesicht.
      „Aber man muss doch nicht immer gewinnen“, merkte ich beiläufig an. Wir hatten das Training gebraucht, vordergründig ich, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Obwohl ein Sieg etwas Schönes wäre, konnte ich mir nicht vorstellen, das wir uns zwischen den fünfundfünfzig Teilnehmern diesen ergattern konnten. Es war auch nicht mein Ziel. Ich wollte nur unter die ersten zwölf kommen und da sah ich uns. Monet hatte in dem tiefen und feinen Sand sehr zu kämpfen, dennoch war ich nach dem Training zuversichtlich.
      „Du willst nicht gewinnen?“, hakte Lotye nach, als wir im Stall Monet den Sattel abnahmen und im Anschluss zur Waschbox liefen.
      „Nein. Das Ziel wäre deutlich zu hoch gesteckt, wenn ich an die neunundvierzig Prozent in Genf denke“, erklärte ich ruhig.
      „Aber du würdest dich dennoch freuen?“, eine Augenbraue hob sich bei ihrer Frage.
      „Natürlich! Ich würde vermutlich heulen vor Freude, aber ich möchte mit einem guten Gefühl in das Programm gehen und wieder heraus. Dafür ist kein Sieg von Nöten.“
      „Sehr reflektiert“, stimmte sie mir zu.
      Vor der Waschbox hatte sich eine Schlange gebildet. Unruhig trampelten Pferde von Links nach Rechts und auch Monet wirkte von den Tieren sehr abgelenkt. Seine Ohren bewegten sich hektisch in alle Richtungen, der Kopf nach oben gestellt und der Strick bis zum zerbersten gespannt.
      „Gibt es noch eine andere?“, fragte ich meine Trainerin. Diese nickte und auffällig folgten wie ihr. Am anderen Ende des Platzes fanden wir diese tatsächlich, leer und einsam lag sie vor uns.
      „Faules Pack“, lachte ich.
      „Ja, die wollen sich doch heute alle nicht mehr bewegen. Ich habe sogar gesehen, dass einige schon Groomer haben.“ Sie meinte damit Leute, die die Pferde für den Reiter beschäftigten und betreuten.
      „Sowas werden wir nie brauchen“, dachte ich laut nach und Lotye lachte.
      „Du reitest auch nur ein Pferd, aber teilweise sind die Leute mit mehreren Tieren hier im Auftrag der Besitzer. Sie arbeiten.“ Gespannt lauschte ich ihrer Erklärung. Obwohl Turniere für mich kein Neuland waren, kannte ich besonders die Atmosphäre bei den wirklich großen Veranstaltungen nicht, Lotye hingegen begleitete viele Leute, deswegen musste sie auch gleich verschwinden. Sie hatte noch drei weitere Reiter vor Ort.
      „Danke dir!“, rief ich ihr noch nach und begann das Silber Shampoo aus seinem schneeweißen Fell zu waschen, das bis auf einiger Punkte, beinah rein war.
      Von Kopf bis Fuß tropfte das Wasser an und herunter, aber es fühlte sich erfrischend an. Was nicht vom Schweiß getränkt war, wurde durch Monet nass. Schon am Vormittag herrschten über fünfzehn Grad, was ich aus dem Gebirgsvorland im Herbst nicht kannte. Ich flocht ihm kleine Zöpfe und begann sie zu vernähen, als jemand dazu kam, mit einem Schecken. Das Pferd musterte meins, das interessierte brummte.
      „Lass das“, zischte ich Monet an. Der zuckte mit dem Kopf und das Metall klapperte aneinander.
      „Ach, ist doch alles gut“, sagte der Mann, der dazu kam. Dieser war riesig, gut aussehend, aber tätowiert, die Arme voll von oben bis unten. Ich meinte, ihn schon mal gesehen zu haben, aber nicht auf einem Turnier, sondern in einem Video, das Alicia mir gezeigt hatte. Regungslos sah ich ihn an, der Schlauch plätscherte fröhlich vor sich hin und mein Pony wusste auch nicht so genau, was ich tat. Der Herr grinste weiter und tätschelte dabei den weißen Teil des Halses vom Pferd.
      Erst als Monet sich schüttelte und abermals das Wasser an mir verteilte, erwachte ich aus der Starre. Größtenteils war meine Kleidung abgetropft, aber das wusste er, natürlich zu ändern.
      „E-Es tut mir leid“, stammelte ich verlegen. Ich spürte, wie die meine Haut glühte, obwohl die Knie zitterten vom kühlen Wasser und Luftzug, der an mir vorbeihuschte.
      „Was tut dir leid?“, musterte er mich und lachte dabei. Sein Lachen war herzlich und offen. Ich mochte sein Lachen, die gleichmäßigen tiefen Atemzüge, bei denen ein Ton auftrat, der nicht passender hätte sein können zu seiner Stimme und Äußerlichkeit. Wie ein Virus fühlte ich mich davon angesteckt und musste nun auch über meine dämliche, jugendliche Art Lachen.
      „Ich bin Neele“, beschloss ich mich vorzustellen, anstelle ihm zu erklären, dass es mir peinlich war, vollkommen durchnässt vor ihm zu stehen.
      „Juha, aber jeder sagt einfach Ju“, stellte er sich vor. Der Händedruck fühlte sich gut an, wie schon sein Lachen zuvor, rückten mehr Glückshormone in meinem Gehirn zur Arbeit aus. Sie setzten damit weitere Prozesse in Kraft und die blöden Gedanken vom Frühstück rückten immer weiter in den Hintergrund.
      „Nett, dich kennenzulernen“, strahlte ich.
      „Ebenfalls.“
      Wir tauschen die Plätze, aber verschwand nicht sofort mit Monet. Stattdessen unterhielten wir uns. Ich erfuhr, dass seine Stute nicht nur unheimlich gut aussah, sondern auch ein Sankt Pauli Pferd war, erstes Grades. Den Rapphengst kannte man Weltweit, vor allem, da er nur wenige Nachkommen hatte. Die Besitzerin wollte nicht, dass es wie bei Totilas enden sollte mit der Genverteilung. Stattdessen wählte sie die Stuten gezielt aus und schaffte damit einen kleinen Kult. Fasziniert lauschte ich seinen Erzählungen. Er kannte sich wirklich aus mit Pferden, aber wirkte auch, als würde er Eindruck schinden wollen. Später endete die Unterhaltung eruptiv. Alicia kam, noch ziemlich verschlafen, zu uns gelaufen, mit Dixie am Halfter. Die Stute trat mit bebenden Nüstern neben ihr her, reckte den Kopf nach oben.
      „Ach, was haben wir denn hier?“, schmunzelte sie. Auf ihren Lippen lag ein schmieriges Lächeln.
      „Ein geschecktes Pferd“, antwortete Ju schlagfertig.
      „Seh ich“, lachte sie, „aber ich meinte, euch beide.“ Ihre Augen wanderten hin und her, nur wir wussten nicht so recht, was sie uns damit sagen wollte.
      Ich half meiner besten Freundin, ihre Stute fertig zu machen. Im Gegensatz zu mir lag vor ihr ein entspannter Tag. Sie wollte gleich noch auf den Platz, den ein paar Sprünge wurden dort aufgebaut, für die Reiter der morgigen Prüfung. Auch Ju kam mit und immer mehr Reiter wurden es im fließenden Licht der Mittagssonne. Mich hatte man zum Stangen aufheben beauftragt, obwohl es noch genügend andere Menschen am Zaun gab. Einige bekannte Gesichter begrüßten mich, darunter auch Raphael mit seinem blauäugigen Hengst, der Amy, Jus Stute, die Show stahl. Mit Leichtigkeit sprang dieser über den niedrigen Sprung, der kaum höher als ein Meter war. Zur Gymnastizierung war dieser, wie Alicia mir erklärt hatte und wieder bei ihrer neuen Bekanntschaft landete. Damit stand ich allein da, hob immer wieder die Stange aus dem Sand. Wie konnte es eigentlich sein, dass die Pferde diese immer wieder rissen, aber auf dem Platz beinah das Doppelte an Höhe erwartete? Besonders Alicias Typ, der wohl Mateo hieß, hatte seine Fuchsstute nicht wirklich im Griff. Es waren Freudensprünge, wie man mir im Nachhinein erklärte. Er hatte Karie zuvor rasiert und damit kam auch unerwartete Energie aus dem schweren Warmblut, richtig. Sein Pferd passte genauso wenig in das Bild eines Startes hier vor Ort. Ich versuchte mehr Informationen zu bekommen über ihn, aber es wurde mir verwehrt.
      „Neele, komm, setz‘ dich mal auf Amy“, sagte Ju später zu mir. Ich gluckste verwirrt herum, aber schwang mich schließlich auf die Stute. Amy war bequem und nicht nur das, nein, das Pferd schwebte durch den Sand. Ju gab mir mehrere Anweisungen, die ich herzlich annahm und schließlich setzte ich sie sogar über den Sprung. Es war eine Leichtigkeit für das Tier. Sie lief Gehorsam an den Hilfen, reagierte schon auf den Gedanken.
      „Das war toll“, bedankte ich mich bei Ju und schlang sogar meine Arme um ihn. Für mich war springen nichts, aber dass mir ein beinah fremder junger Mann sein Pferd anbot, geschah auch nicht alle Tage.
      „Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich, als wir zurück ins Stallzelt liefen.
      „Aus Schweden, offensichtlich“, lachte er und zeigte auf die Flagge an seinem Ärmel. Wie blöd war ich eigentlich? Demonstrativ fasste ich mir an den Kopf, während Amy genüsslich auf ihrem Gebiss kaute.
      „Oh“, glitt es über meine Lippen. Obwohl ich mittlerweile jede Facette seines Körpers genau unter Lupe genommen hatte, entging mir dieses kleine Detail. So oberflächlich es auch klingt, er war wirklich heiß. Ein Grund mehr, wieso es im Inneren raste und Alicia mich ignorierte. „Offenbar zieht mich das Land magisch an.“
      „Sachen gibt's. Aber wie kommst du darauf?“, hackte er nach. Ich erzählte ihm alles, von Eskil in Genf und auch dem Umzug auf das riesige Gestüt. Nervös drückte Ju seine Lippen zusammen als würde er etwas sagen wollen, aber lauschte weiterhin meiner Erzählung bis ich zum Ende kam. Zur gleichen Zeit nahm er den Sattel vom Rücken und machte einen der Zöpfe neu.
      „Dann sehen wir uns wohl bald öfter“, grinste er verlegen und ich denke, dass die Röte auf seinen Wangen nicht durch die Temperaturen allein kamen.
      „Ach ja? Wieso denn das?“, fragte ich verwundert nach. Schweden war riesig und meine Zeit begrenzt. Außerdem konnte ich nicht ahnen, was mich dort erwarten würde. Auf den Karten lag das Gestüt mitten im Nirgendwo, umgeben von Wald und Wasser.
      „Wir stehen dort als Einsteller.“
      Mir rutschte das Herz in die Hose und ein flaues Gefühl legte sich auf meinen Magen, während Amy aus einer blauen Schüssel ihr Mittag genoss. Ich tätschelte sie am Hals, in der Hoffnung, wieder einen normalen Herzschlag zu bekommen. Ju war der Hammer: Offen, lustig und höflich. All diese Eigenschaften hatte Vachel auch, aber es gab einen Unterschied. Zumindest hoffte ich das.
      „Hast du eine Freundin?“, rutschte es mir ungeschickt über die Lippen. Selbst er zog eine Braue hoch.
      „Das kam unerwartet, aber nein. Schon länger nicht mehr“, erklärte Ju. „Interesse?“
      „Ähm“, stammelnd schnappte ich nach Luft, aber winkte ab.
      „Das war ein Scherz.“
      „Ich frage nur lieber vorher“, dann beugte ich mich näher an ihn heran, „meine letzte Bekanntschaft war urplötzlich verlobt und nannte alles einen Ausrutscher. Das ertrag ich nicht noch einmal. Ich bin so jemand nicht.“
      Die Wände könnten Ohren haben, deshalb drehte ich mich mehr als herum, um alles im Blick zu haben. Wir waren, bis auf einen Spanier, allein. Dieser fütterte sein Pferd und beachtete uns nicht.
      „Ich bin so jemand nicht“, wiederhole Ju nüchtern. „Das höre ich oft.“
      „Gut, die Wortwahl stimmte nicht ganz“, entschied ich, die Situation umgehend klarzustellen. „Ich meinte damit, dass ich in keine Beziehung funken möchte, deshalb habe ich mich umgehend von ihm angewendet.“
      „Okay.“ Ju schien weiterhin nicht mehr interessiert an einer fortlaufenden Unterhaltung. Stattdessen brachte er die Stute in die Box. Stillstand ich bei ihm und betrachtete jeden seiner Schritte, hatte ich was Falsches gesagt? Meine Hände fummelten das Shirt nach unten, aber gehen wollte ich auch nicht. Noch eine Weile stand ich da, bis Ju sich verabschiedete.
      „Eine Freundin wartet noch“, erklärte er und verschwand durch den Ausgang.
      Erst dann setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Bis zur Prüfung lagen noch Stunden vor mir und Monet nun auch nervös zu machen, sollte kein Plan sein. Also begutachtete ich das Gelände. Auf dem Prüfungsplatz ritt eine junge Dame auf einem Schecken in der Pony Dressur. Das Tier stand gut an den Hilfen, keine Höchstleistungen von den beiden, aber nett anzusehen. Also lief ich weiter und bemerkte den kleinen Markt, der nicht weit von Tribünen aufgebaut war. Schabracken lächelten mich an, allerdings lag mein Geld auf dem Zimmer.
      „Kann ich mir diese zurücklegen lassen?“, fragte ich den Verkäufer, dieser nickte und schrieb meinen Namen auf. Bis zum Abend hatte ich Zeit, gut.
      Auf dem Gelände gab es nicht viel zu sehen, dennoch drängten Menschenmassen durch die liebevoll eingerichtete Marktstraße. Auch einheimische Händler standen dort, boten Essen und Getränke an. Beinah verloren irrte ich umher, bis schließlich vor unserem Hotel stand. An der Seite warteten Reporter, blickten auf den kleinen Bildschirm der Kameras und schenkten mir nicht mal einen Hauch von Aufmerksamkeit. Man kontrollierte meinen Ausweis und ich kam in den kühlen Vorraum an der Rezeption. Nach einem kurzen Wortwechsel bekam ich die Schlüssel fürs Zimmer. Im Fahrstuhl schossen so viele Gedanken durch meinen Kopf, dass ich nicht mit in der richtigen Etage ausstieg und heimatlos durch die Flure irrte. Zu meinem Bedauern traf ich bekannte Gesichter.
      „Was willst du hier?“, zischte Giada, als wäre ich auf dem Weg zu Vachel.
      „Ich suche mein Zimmer“, jaulte ich förmlich und sah mich weiterhin eilig um. Die Zahlen stimmten nicht, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Nach der 1052 folgte eine 389, sehr willkürlich.
      „Hier ist es nicht“, sagte sie unverändert.
      „Schatz, jetzt lass doch mal in Ruhe“, mischte Vachel sich schließlich ein. Sie rollte die Augen, gab zu meiner Überraschung keine Widerworte. Da zog sich auch meinerseits eine Braue nach oben. Mir war nicht ganz wohl, also drückte ich wieder hektisch die Taste für den Fahrstuhl, der nicht kommen wollte.
      “Wo musst du denn hin?”, sagt er und begutachtete meinen Schlüssel. Mit seinem Finger malte er in der Luft herum, bis ein erleuchtendes Stöhnen seinen Mund verließ. Selbst dieses kleine Geräusch löste in mir das Feuerwerk aus, das eigentlich in Kisten verstaut war. Es brodelte und kochte, die kleinen Funken der Zündschnüre sprangen auf weitere über, sodass in wenigen Sekunden jede noch so kleine Zelle unter der Haut kribbelte.
      “Also weißt du, wo ich hin muss?”, zitterte meine Stimme bei der Frage.
      “Ja”, er nickte zustimmend und setzte den erste Fuß in den Fahrstuhl, “oder willst du auf einmal nicht mehr in dein Zimmer?”
      Flink folgte ich ihm und Giada stand kopfschüttelnd da. Aus ihren Augen sprühten Blitze in meine Richtung. Sie ertrug es nicht, dass er mit mir sprach oder ich sogar existiere. Ich spürte, dass es heute noch einen riesigen Streit geben würde, aber ich wollte doch nur in mein Zimmer.
      „Das hier.“ Vachel schmunzelte. Meine Orientierungslosigkeit bei hohem Stress kannte er schon.
      „Danke“, sagte ich und überspielte die aufgewühlte Stimmung im Inneren.
      Er legte seine Hand auf meinen Arm. Sofort brach das nächste Feuerwerk aus und ich schloss die Augen. Es könnte so einfach sein, aber nein. Ich landete im größten Drama, das man sich hätte vorstellen können. Um uns herum wurde es still, nur mein Herzschlag drückte unangenehm am Hals und irgendwo an der Decke hörte man das Flimmern eines Leuchtmittels.
      „Ist noch was?“, stammelte ich.
      „Ja.“ Vachel seufzte. „Aber können wir das … Drinnen besprechen?“
      Im Zimmer schloss ich die Tür und lief mit weichen Knien zum Tisch hinüber, an dem er sich gesetzt hatte. Er wirkte zerbrechlich und rastlos, ihm machte es vermutlich zu schaffen, dass es mit uns beiden wieder stiller wurde. So viel hatte er für mich getan, mich unterstützt, wieder aus dem Loch geholt und was die Pferde angeht mal ganz zu schweigen. Wir waren perfekt füreinander, aber das Kapitel endete schon vor Wochen. Alles, was noch blieb, war die Enttäuschung.
      „Ich liebe sie nicht“, brach es aus ihm heraus und er vergrub sein Gesicht in den Händen.
      „O-oh okay?“, tastet ich mich langsam heran, denn ich wollte nicht schweigen.
      „Es ist schwer zu erklären. Wir haben uns auf dem Turnier kennengelernt, ihre Eltern haben Geld und“, Vachel atmete durch, bevor das unaussprechliche folgte. Ich wusste, worauf er hinaus wollte, aber ich ließ ihn sprechen. „Sie sorgen dafür, dass Sky noch bei mir ist. Ich hatte große Probleme nach der Trennung von Alicia, nein, eigentlich schon in der Beziehung. Meine Ausbildung hat ein Haufen Geld gefressenen, dann das Auto, Skys Behandlung, weil er Druse hatte und die Scheidung meiner Eltern. Luise nervt auch immer mehr.“ Tränen drangen aus deinen Augen hervor. Mindestens die Hälfte davon wusste ich nicht und bezweifelte auch, dass er Marin davon erzählt hatte. Vielleicht öffnete Vachel sich Giada gegenüber, aber das Weib machte nicht den Eindruck, überhaupt Gefühle zu besitzen.
      „Ich geriet in finanzielle Schwierigkeiten, deswegen verkaufte ich Sky. Giada Eltern sind hohe Leute im Reitsport und haben mir das Angebot gemacht, dass ich einen geringen Teil von Sky zu behalten, ihn weiter reiten dürfte, aber sie trugen fortan die Kosten. Es war für sie unbegreiflich, wieso ich zu euch wollte“ beendete er seine Erzählung. Das Schluchzen wurde immer intensiver, bis ich es nicht mehr ertrug und meine Arme um seinen Hals schlag. Vachel erwiderte die Umarmung. Dann platze Alicia rein, sah uns schockiert an.
      „Was denn hier los?“, stammelte sie erbost. „Ich dachte, dass ihr beide klug genug seid und Abstand nimmt.“
      „Alicia, bitte. Halt die Klappe“, fauchte ich. Eigentlich war es nicht in meinem Sinne ihr so den Ernst der Situation zu vermitteln, doch ihr Gesicht lockerte sich umgehend, als Vachel sie mit roten Augen anblickte. Hinter ihr fiel die Tür zu. Niemand sagte mehr etwas, nur noch sein Schluchzen dröhnte dumpf durch das Hotelzimmer. Ich konnte ihn nicht aufmuntern, nur für ihn da sein, denn was sollte die Lösung dafür sein? Würde er nicht mehr mit Giada zusammen sein, wäre auch Sky für immer verloren. Weder er noch ich hatte das Geld. In dem Augenblick kam mir die Idee.
      „Was ist, wenn ich Papa nach Geld frage?“, schlug ich vor. Innerhalb von Sekunden erhob Vachel seinen Kopf.
      „Denkst du, dass er das macht?“
      „Worüber sprecht ihr?“, mischte sich auch Alicia wieder ein. Ruhig erklärte er ihr alles, worauf hin sie meine Idee befürwortete. Papa kannte meine Freunde mindestens genauso lange wie ich und war für gewöhnlich sehr hilfsbereit. Wie viel dieses Pferd für uns alle bedeutete, konnte man gar nicht in Zahlen zusammenfassen, dennoch war ich mir sicher, dass es im Rahmen der Möglichkeit stand. Lange schmiedeten wir noch Pläne und in Vachels Augen leuchtete wieder Hoffnung. Voller Tatendrang griff ich nach meinem Handy, als die Tür sich öffnete. Lotye blickte überrascht uns alle an.
      „Schön, dass ihr euch wieder vertragt, aber Neele, du solltest eigentlich Monet fertig machen“, mahnte sie. Die Augen huschten zur Uhr, Mist! In knapp dreißig Minuten war mein Start. Ich rannte ins Badezimmer, zog mich um und lief zusammen mit meiner Trainerin zum Zelt. Zu meiner Überraschung blickte mich Monet alpinweiss und gesattelt an, einzig seine Kandare hing am Haken vor der Box.
      „Ich hatte Hilfe“, funkelte Lotye und Ju trat von der Seite heran.
      „Wir wussten nicht, wo du bist, deshalb habe ich kurzerhand geholfen“, grinste er. Herzlich bedankte ich mich und sprang in die Box, um noch den Zaum zu befestigen. Lotye reichte mir meinen Helm. Noch einen tiefen Atemzug nahm ich, dann musste ich nur noch funktionieren. Wie von selbst trug mich mein Pony auf dem Abreiteplatz, auf dem sich viele Reiter tummelten. Zwischen all den riesigen dunklen Pferden war Monet der Hingucker. Es wurde gekichert. Ein Vater sagte am Zaun zu seiner Tochter: „Die traut sich aber was.“ Dann lachten sie. Aber für Prüfungsangst gab es keinen Platz in meinem Kopf, obwohl schon auf den ersten Blick jeder einen besseren Eindruck machte, als ich. Ich wollte Spaß haben und keinen Sieg, das sagte ich mir immer wieder, bis mein Name aufgerufen wurde von einer Dame am Zaun. Die Reiterin vor mir hatte den großen Platz betreten und damit musste ich mich als Nächstes für den Start vorbereiten. Ich war nur einige Runden locker getrabt und etwas galoppiert. Für mehr hatte ich keine Zeit, aber ich glaubte an Monet und mich.
      Lotye hakte den Strick am Gebissring an. Ju folgte uns.
      „Musst du nicht zu deinen Freunden?“, fragte ich mit zittriger Stimme nach.
      „Müssen tue ich nichts und offensichtlich brauchst du mich“, grinste er zuversichtlich. Obwohl meine Trainerin es bevorzugte ihre Schützlinge allein vor Prüfung zu haben, grinste auch sie. Offenbar war er ihr sympathisch und sie sah darüber hinweg, ihn wegzuschicken. Netterweise entfernte er die schwarzen Gamaschen von den Beinen und brüstet noch mal über. Dann waren wir so weit.
      Giada hatte hohe Maßstäbe gesetzt und lag momentan auf dem ersten Platz, wie hätte es auch anderes sein können. Allerdings blieb die Vermutung, dass Vachel wohl noch mit Alicia oben im Zimmer saß, denn keinen der beiden konnte ich, am Rand entdecken der Tribünen. Ein letzten hilfesuchenden Blick lenkte ich zu Ju, der seinen Daumen in die Luft streckte. Die Musik ertönte und auf der Vorbereitung neben dem Viereck galoppierte ich den Hengst an. Erst vor der Ecke, bevor ich Eintritt, versammelte ich ihn und hielt schließlich auf den Mittelpunkt an. Selbstverständlich platzierte er die Füße nebeneinander und kaute entspannt auf dem Gebiss, keine wippende Unterlippe, nur aktives Ohrenspiel. Mit einem leisen Schnalzen trieb ihn wieder in den Trab, setzte mich tiefer in den Sattel, um ihn zu versammeln. Dabei reichte der Gedanke. Meine Muskeln sendeten die richtigen Impulse und ich konnte immer mehr in dem Takt der Musik versinken. Aus der Versammlung kam eine Verstärkung, dann wieder zurückholen, auf die Mittellinie – Traversalverschiebungen. All diese Lektionen und Bahnfiguren ritt ich nacheinander ab, fühlte mich dabei wie auf Wolken im weichen Sand, der Meeresbrise in der Nase. Es war schöner als Urlaub, auch wenn ich unter dem Jackett ziemlich schwitzte, wünschte ich mich nirgendwo anders hin. Ich spürte, wie das Strahlen in meinem Gesicht auf die Zuschauer übertrug, die gespannt meiner Passage folgten, die das Pony perfektioniert hatte. Auch in der darauffolgenden Piaffe konnten sich die Warmblüter noch etwas anschauen. Gleichmäßig reagierte er auf meine Hilfen und setzte willig die Übergänge zur Passage um. Dabei war ein deutlicher Unterschied zu erkennen, nicht nur in Kadenz. Wie es noch heute in der Reitkunst praktiziert wird, tänzelte er auf der Stelle, ohne dabei langsam vorwärts zusetzen. Lotye legte großen Wert darauf. Nach dem Mitteltrab folgte die vorherige Abfolge der Lektion, nur auf der anderen Hand, bevor ich ihn sanft in den starken Schritt zurückholte. Monet trat fleißig voran, schnaubte einmal ab, hielt sich dabei wie von Selbst. Der Zügelkontakt hatte bei ihm nur ein äußerliches Erscheinungsbild. Hier und da erinnerte ich ihn durch leichtes zupfen, wie er das Genick stellen sollte, doch ansonsten achtete er auf die Gewichts- und Schenkelhilfen. Willig galoppierte er rechts an und zeigte sich von seiner besten Seite. Eine seiner Stärken lag im starken Galopp, der durch die ganze Bahn folgte. Obwohl wir uns auf einem zwanzig mal sechzig Viereck befanden, konnte Monet eine deutliche Rahmenerweiterung zeigen, die in den weiten Sprüngen gipfelte. Leider kam nun der schwierigste Teil für uns. Ich verpasste die erste Hilfe für den Wechsel und büßte dabei an Punkten ein, auch der Übergang zur Versammlung war nicht ganz sauber. So drückte ich ihn zu schnell zurück, dass er mit dem Kopf schlug und seine Ohren anlegte. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber davon ließen wir uns nicht einschüchtern.
      Wie in der Halle, sagte ich zu mir und erinnerte mich an das Training im strömenden Regen, als Papa mich abholte und erzählte, dass es nach Schweden gehen würde. Krampfhaft drückte sich mein Kiefer zusammen, aber die Galopptraversale nach links saß auf dem Punkt genau. Wohingegen die Pirouette noch deutlicher sein hätte können. Im Programm waren sechs bis acht Sprünge vorgesehen, wie mein Pony nicht schaffte, stattdessen wurden es zehn.
      „Du hast es gleich geschafft“, erinnerte ich Monet. Bei C angekommen bogen wir nach links ab und dabei spürte ich, dass die Kraft in den Hinterläufen abnahm. Meine Motivation galt gleichermaßen mir. Fröhlich sprang der Hengst auf der Mittellinie die gewünschten Serienwechsel. Einmal verpasste ich die Hilfe und so wurden es anstelle der zwei Sprünge drei. Und erst, als wir nach der erneuten Abfolge zu dem Sprung zu Sprung wechseln kam, verspürte ich, welche Herausforderungen wir uns zumuteten. Nur einmal waren wir alle Teile am Stück durchgeritten und das lag weit in der Vergangenheit. Ungefähr vor zwei Monaten müsste es gewesen sein, kurz nach dem Reit in Genf. Gleichwohl ritten wir noch die restlichen Aufgabenteile zu Ende und kamen nach der Passage von X zu G an, hielten an und grüßten. Das Publikum tobte, während mir vor Erleichterung Tränen die Wange herunterliefen. Wir hatten es wirklich geschafft. Beinah fehlerfrei schafften wir das Programm und ich konnte nichts mehr tun, außer meinem Pferd liebevoll den Hals zu tätscheln.
      „Na das kann sich doch sehen lassen“, grinste mich Ju beim Ausreiten vom Platz an und zeigte dabei auf die Leinwand. Wir hatten zwar nicht Giada eingeholt, aber dennoch mit 71,23 % eine persönliche Höchstleistung aufstellt und kletterten damit auf die dritte Platzierung.
      „Danke“, sagte ich erschöpft.
      „Am besten geht ihr beide jetzt zum Abreiteplatz“, gab Lotye ihren Senf dazu und tätschelte ebenfalls seinen verschwitzten Hals. „Ich habe jetzt zwei andere Leute zu betreuen, bis später.“
      Dann verschwand sie den Weg entlang zum Vorbereitungsplatz. Ju stand weiterhin neben mir, hielt den Strick und halte im Gebissring der Kandare ein.
      „Keine Sorge, ich lass dich nicht zurück“, sprach er und führte Monet. Erst jetzt bemerkte ich meine zitternden Hände, wie meine Knie sich am Sattel drückten und die Füße vor Aufregung im Bügel schlotterten. Das Pony folgte ihm. Kein einziger Impuls kam von mir, eher saß ich wie eine Dreijährige auf dem Rücken und sprach kein Wort. Auch nach einigen Runden im Schritt auf dem überfüllten Reitplatz, kam mein Selbstvertrauen nicht zurück. Was stimmte nur nicht?

      Missgünstig beobachtete ich Giada bei ihrer letzten Runde über den Reitplatz. Sie hatte den zweiten Platz belegt, denn der letzte Teilnehmer, ein Portugiese, überholte sie.
      „Die steht zum Verkauf“, funkelten Alicias Augen, als die hübsche Schimmelstute im lockeren Zügel einhändig galoppierte.
      „Und was willst du damit?“, antwortete ich nüchtern, ohne den Blick von Giadas Hengst zu nehmen, der nervös auf der Stelle tänzelte und die Schleife an seinem Zaum überhaupt nicht wohlgesonnen war. Immer wieder gab sie heftige Paraden, zog dabei auch am Kandarenzügel.
      “Was ist denn mit dir los? Der sechste Platz ist doch wunderbar”, jammerte Alicia weiter. Ich hatte ihr nicht mehr zugehört, hing in Gedanken nur an meiner Schwäche und Unfähigkeit fest, insbesondere, weil Vachel so ein Modepüppchen ertragen muss.
      “Nichts”, murmelte ich und erhob mich aus dem Sitz. “Es ist mir nur egal, ob das Pferd zum Verkauf steht oder nicht. Das kostet bestimmten Millionen und die habe ich nicht.”
      “Du redest gerade über Sky, habe ich recht?” Alicia hatte auf den Punkt getroffen, natürlich ging es um diesen Schimmel und nicht die hübsche Andalusier Stute, die noch immer sehr aufmerksam an den Hilfen ihres Reiters lief, der ebenfalls grob die Sporen in die Seite stemmte. Es gab überhaupt keinen Grund, aber soll jeder machen, ich konnte daran nicht viel ändern.
      “Ja”, antwortete ich. Dann seufzte ich abermals.
      “Das wird schon, aber wir können auch nicht so viel tun. Er hat sich das selbst eingebrockt”, erinnerte sie mich. Das Gespräch verstummte umgehend, denn von der Seite kam der blonde Typ wieder an.
      “Kommt ihr mit? Ich habe uns einen schönen Platz am Wasser gesucht”, fragte er.
      “Natürlich”, strahlte Alicia und sah zu mir.
      „Nein, ich bin müde“, antwortete ich.
      „Ju ist auch da“, versuchte er mich zu überzeugen, aber ich blieb dabei. Also verabschiedete sich beide, ich verblieb allein am Zaun. Da kamen mir wieder Alicias Worte entgegen. Eskil suchte doch eine Stute? Schnell machte ich noch ein paar Bilder und schickte sie ihm, bevor der Typ vom Platz verschwand, mit den anderen beiden Platzierten. Auf der Tribüne lichtete es sich, denn nun war Pause, ehe die Abendvorstellung um 21 Uhr begann.

      Am nächsten Morgen las ich erst Eskils Antwort. Die Stute sei nicht sein Beuteschema, aber er kenne jemanden. Um ihm zu helfen, setzte ich mir auf den Plan, den Herren zu finden und mehr Informationen zu bekommen, aber dafür musste ich erst einmal aufstehen. Langsam tastete ich das Bett ab, stellte fest, dass ich allein war.
      „Ach Alicia“, murmelte ich und setzte die Füße nacheinander auf den Holzboden. Leise knarrte die in Jahre gekommenen Dielen bei jedem Schritt, die mich direkt ins Bad führten.
      Ein nächster sinnloser Tag würde anstehen, auch wenn heute Vachel ritt. Mit gemischten Gefühlen stand ich unter Dusche.
      „What are you waiting for“, sang ich die Musik aus den Lautsprechern mit, wollte so gern mehr von meiner besten Freundin haben. Sie war offen, wusste, was sie wollte und nahm es sich. Ich schwieg stattdessen und verkroch mich, eigentlich sollte damit Schluss sein, aber Veränderungen stellten mich immer vor eine Herausforderung. Egal, ich hatte mein Laptop dabei und würde sicher, ein schönes Plätzchen finden, zum Videos schauen.
      Frisch geduscht, schlüpfte ich meine Reitsachen und lief aus dem Zimmer heraus. Heute ging es meinem Magen schon besser und ich entschied allein etwas zu frühstücken. Kurz nach Zehn saßen kaum noch Leute im Speisesaal, den die erste Prüfung hatte bereits begonnen. Ich suchte mir keinen Tisch, sondern direkt am Buffet einen Teller. Unentschlossen tigerte ich um die Auslage. Einige Brötchen lagen noch da, die aber größtenteils an ihrer knusprigen Oberseite eingedrückt waren und bei den Körnerbrötchen fehlten die meisten dieser. Also nahm ich mir einen leichten Salat und Ei, dazu noch einen Joghurt mit Erdbeeren. So gesund aß ich nicht einmal zu Hause! Dann trugen mich die Füße nach draußen. Am Himmel stand bereits die Sonne und zauberte ein warmes Licht auf das Meer, das sich in den Fenstern spiegelte. Im Gegensatz zu drinnen, waren hier fast alle Tische belegt und als meine Augen so wanderten, winkte mich jemand zu sich, Raphael saß mit einigen anderen an einem großen Tisch direkt an der Umrandung der Terrasse. Wie von selbst, mit einem Grinsen auf den Lippen, lief ich hinüber.
      “Guten Morgen”, grüßte ich alle und setzte mich neben eine junge Dame, die wohl seine Freundin sein musste, so verliebt wie sie ihn anstarrte und über den Witz kicherte. Wenn ich das Alicia erzähle, wird sie sicher traurig sein, aber sie hatte sich ohnehin verdünnisiert. Bestimmt verbrachte sie die Nacht bei dem Typen, der eigentlich ganz freundlich war.
      “Guten Morgen, ich glaube, wir haben uns noch nicht kennenlernen dürfen. Ich bin Quinn”, entgegnete sie direkt freundlich und stellte sich in dem Zuge auch direkt vor.
      “Nett dich kennenzulernen”, reichte ich mir die Hand, “man kennt mich als Neele”, grinste ich höflich.
      “Dann warst du das gestern mit dem kleinen weißen Pony in der Dressur, richtig? Ich finde es richtig cool, dass du die Konkurrenz mit den Großen aufnimmt”, entgegnete sie anerkennend.
      “Da muss ich Quinn zustimmen, es sollte mehr von deiner Sorte geben. In meinen Augen sahst du mit deinem Pony deutlich harmonischer aus als so manch anderer”, stimmte Raphael seiner Vorrednerin mit einem breiten Lächeln zu.
      “Auf YouTube habe ich schon einige Ponys in den hohen Klassen gesehen. Es ist nun mal blöd, dass es die schwierigen Lektionen nicht separat gibt. Wer will denn sein Leben lang im leichten Niveau reiten?”, untermalte ich den Standpunkt und schob einen Löffel voll mit Salat mir in den Mund.
      “Niemand, der Sinn und Verstand hat”, nickte Quinn zustimmend, bevor sie einen großen Schluck aus dem weißen Porzellan nahm. Noch eine Weile diskutiert wir darüber, wie sinnlos die Ausschreibungen der Weltorganisation waren, in der sich sogar vom Nebentisch ein Richter einmischte, der unsere Meinung teilte. Der Herr hatte sogar mich gestern benotet, wie ich im Nachhinein erfuhr.
      „Und, was steht bei euch heute auf dem Plan? Oder reitet ihr erst morgen bei den Großen mit?“, fragte ich später, schließlich wusste ich nicht wie Alicia über jeden Bescheid. So war Raphael in meinen Augen irgendwas zwischen Anfang oder Ende zwanzig, wohingegen seine Freundin auch minderjährig sein könnte, ohne jemandem etwas vorzuwerfen. Wenn sie das überhaupt war, doch an dem Gedanken hielt ich fest. Letztere blickte fragend zu ihrem Freund, der offenbar für die Tagesplanung verantwortlich war.
      “Heute Abend steht das drei Sterne Springen an und bis dahin heißt es Poseidon bei Laune halten. Ich denke, zu diesem Zweck werden wir später ans Wasser gehen und was hast du so vor?”, erläuterte der Dunkelhaarige den Tagesablauf.
      “Auf den Flug morgen warten”, ich seufzte und wollte eigentlich kein Mitleid erregen, allerdings drückte Jordan seine Unterlippe vor die Obere. Quinn drehte sich auch zu ihrem Freund, der die Augenbraue liftete. Aufklärungsbedarf. “Aber alles gut, Alicia spring nachher auch.”
      “Das klingt ja nicht gerade begeistert. Ist springen nicht so deins?”, hakte Raphael behutsam nach, ohne gleich zu aufdringlich zu sein zu wollen.
      “Ich möchte mich jetzt nicht unbeliebt bei euch machen, aber es sind in jedem Ritt dieselben Sprünge, die in der richtigen Reihenfolge überquert werden müssen, so schnell wie möglich. Spätestens nach dem vierten Reiter, weiß man schon, was kommt, erst wenn was passiert, wird es interessiert. Aber ich möchte nicht, dass jemanden etwas passiert”, erläuterte ich. Mir war bewusst, dass es sehr oberflächlich von mir war, schließlich ritten in den festen Dressurprüfungen das gleiche Programm.
      “Alle gut, ich denke, wir können nachvollziehen, was du meinst, schließlich wird der Nervenkitzel nicht an die Zuschauer transportiert”, schmunzelte Jordan amüsiert.
      “Genau”, nickte ich. „Solang seid ihr auch keine Konkurrenz, nur nette Menschen, die man mal trifft.“ Beinah rutschte mir ‚Freunde‘ heraus, was ich im letzten Moment noch verhinderte.
      “Nur nette Menschen, hast du das gehört. Da ist mal jemand, der nicht deinem Charme erliegt, Rapha”, feixte Jordan und schlug Teamkameraden spielerisch auf die Schulter. Angesprochener schüttelt nur schmunzelnd den Kopf: “Hör nicht auf den, der ist nur neidisch, dass er keinen Fanclub hat.”
      „Raphael, da muss ich dich leider enttäuschen. Ich musste mich nicht an dir satt sehen, denn Alicia kann gar nicht genug von dir bekommen“, platze es lachend aus mir heraus, „da trete ich lieber dem Jordan Fanclub bei. Kleine, aber feine Gemeinschaft.“ Demonstrativ zog ich den Kugelschreiber aus meiner Jackentasche heraus, den ich immer bei mir trug, und schrieb auf eine Serviette so etwas wie einen Mitgliedsausweis für mich.
      “So sieht’s aus, Qualität statt Quantität”, sprach der junge Mann und bedachte mich dabei mit einem schiefen grinsen.
      “Als würde ich etwas dafür könnte, wer mir alles nachrennt”, erklang ein warmes Lachen aus Raphaels Brust. Einzig Quinn schien nicht ganz zu wissen, wie sie reagieren sollte, überspielte es allerdings mit einem höflichen Lächeln.
      “Keine Sorge, ich renne dir nicht nach, auch wenn man einen anderen Eindruck im Augenblick haben könnte”, versuchte ich Quinn zu beruhigen, als Raphael ein gegenteiliges Bild zu zeigen.
      “Alle gut, mich stört das nicht, auch wenn es so wäre”, zuckte er mit den Schultern und schob den Stuhl nach hinten, um aufzustehen, “Ich hol mir noch nen Kaffee, soll ich sonst noch wem was mitbringen? Dir vielleicht?” Bei der letzten Frage blickte er spezifisch Quinn an, die ihm auch sofort ihre leere Tasse über den Tisch hinweg reichte.
      „Nein, alles gut“, winkte ich ab, blickte dabei auf den leeren Teller. Hunger hatte ich keinen mehr, aber als Beschäftigung während des Gesprächs, wäre es dennoch cool gewesen. Essen aus Langeweile stellte mich immer wieder vor Gewissenskonflikten.
      „Und du? Reitest du auch?“, fragte ich Quinn, als ihr Freund verschwunden war.
      “Grundsätzlich ja, aber hier bin ich nur zur Begleitung”, antwortete sie offen.
      “Ach, das ist aber schön. Da freut sich dein Freund sicher”, grinste ich und bemerkte, wie Jordan seine leuchtenden Augen aufriss und ein verschmitztes Lächeln aufsetzte.
      “Mein Freund?”, frage Quinn ein wenig irritiert, bis ihr einige Sekunden später ein Licht aufzugehen schien.
      “Oh, du denkst Raphael und ich … also nein, wir sind nicht zusammen”, korrigierte sie das Missverständnis, richtete leicht verlegen den Blick zur Tischplatte. Beinah hätte ich nach dem ‘Warum’ fragen wollen, aber da wurde mir klar, dass es mich weder etwas anging, noch passend wirkte.
      “Entschuldige meine forsche Art”, sagte ich, “manchmal trete ich in böse Fettnäpfchen.” Mit besten Gewissen versuchte ich die gedrückte Stimmung wieder aufzuheitern, aber dafür sorgte Raphaels Rückkehr wie von allein. Er reichte seiner Nicht-Freundin die Tasse, die sie umgehend umklammerte und versuchte daraus zu trinken, aber noch deutlich stieg der Dampf heraus auf. Etwas Missgunst kam nun doch in mir hoch, aber ich überspielte es mit einem freundlichen Lächeln.
      “Wie ist das eigentlich mit so einem hellen Pferd, ist das nicht anstrengend das sauber zuhalten? Gerade jetzt so auf Turnier?”, erkundigte sich Raphael und machte es sich wieder auf seinem Stuhl bequem.
      “Ach, ich wasche ihn und die meiste Zeit trägt er seinen Sleezy”, erklärte ich ganz selbstverständlich, als gäbe es nichts Einfacheres im Leben. Mit seinem Rappen kannte er die Probleme natürlich nicht.
      “Interessant, ich glaube, bei Jora würde so etwas nicht lange dran bleiben”, lachte Jordan, “Sie schafft es schon sich aus Decken herauszuwinden, wie so ein Wurm.”
      “Dann wäre das vermutlich eine unkomfortable Situation”, merkte ich an und er nickte zustimmend.
      “Deine Stute ist auch einfach besonders. Dass aus der mal ein vernünftiges Sportpferd wird, hätte auch keiner geglaubt, so Verhaltens-kreativ wie sie ist”, trug auch der Dunkelhaarige grinsend seinen Teil zu der Konversation bei.
      “Aber die reine Anwesenheit auf einem Turnier, macht es auch nicht zum vernünftigen Sportpferd”, scherzte ich in den Dunst hinein. Schließlich hatte ich Jora nur einmal gesehen und das war gestern auf dem Platz, auf dem die Stute von Alicias Typen sich deutlich kreativer vorwärtsbewegte.
      “Wenn du heute Abend zum Springen kommts, wirst du schon noch sehen, was sie so drauf hat. Auch wenn wir noch nicht ganz so gut sind wie Rapha mit seinem Gott”, entgegnete der junge Mann ganz von sich und seinem Pferd überzeugt.
      „Ich weiß nicht, ob ich so lange das Hüpfen von A nach B ertrage“, gab ich provokant zurück, mit dem Hintergedanken es mir in jedem Fall anzusehen, schließlich würde Alicia mich dazu zwingen.
      „Deine Entscheidung, ob du dir das Beste entgehen lässt“, zuckte Jordan mit den Schultern. Dennoch lag ein schelmische Glitzern in seinen Augen, „Aber eigentlich ist das Pflicht für Exklusiv-Mitglieder des Fanclubs.“ Um die letzten Worte zu unterstreichen, tippte er auf die bemalte Servierte vor mir.
      „Tendenziell hat er recht, allerdings möchte Amy bewundert werden und nicht der Bauerntrampel“, ertönte eine bekannte Stimme hinter uns und beinah synchron drehten wir uns um. Ju kam, zu uns gelaufen, mit einer hübschen, groß gewachsenen, blonden Dame, gegen die ich wohl keine Chance haben würde. Allerdings erhellten seine Worte meinem Kopf, dass er keine Freundin habe. Für den Augenblick stockte meine Atem, aber ich versuchte gelassen zu bleiben. All das Drama um irgendwelche Typen, stieg mit langsam zu Kopf, meine Gefühle waren unreflektiert und willkürlich. Konnte ich nicht einfach etwas gefasster sein und klarkommen wie jeder andere auch?
      „Leider muss ich zu Jordan halten und seinem Bauerntrampel, der mit hoher Wahrscheinlichkeit dich schlagen wird“, schmunzelte ich besagtem zu, bevor mein Blick wieder zu Ju fiel.
      „Ach, Jungs, sicherlich gibt es für euch alle genug Bewunderung, ihr seid ja nicht alle gleichzeitig auf dem Platz“, schaltete Quinn sich in das Gespräch. Sie schien sichtlich amüsiert von dem Wetteifern der Jungs und ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Aber genauso sicher war ich mir, dass sie ihren heimlichen Favoriten bereits hatte, denn auch jetzt huschten ihrer Augen immer wieder zu Raphael, obwohl die Brünette das Gespräch mit dem Blick verfolgte.
      „Abwarten“, zuckte Ju mit dem Schulter.
      „Also ich wäre auf jeden Fall da sein“, schmiegte sich die Blonde noch enger an seine Brust und klimperte vertraut mit den Augen. Damit strich ich in meiner gedanklichen Liste die nächste Person weg. Ein Gefühl der Einsamkeit und Leere überkam mich urplötzlich, aber ich musste durchhalten. Morgen Nachmittag ging der Flug zurück und dann würde ich schon fast bei Eskil sein.
      „Dann scheint meine Anwesenheit wohl nicht nötig“, wiederholte ich, nur dieses Mal mit mehr melancholischen Unterton. „Schließlich verstehe ich das nicht mal.“
      „Das erkläre ich dir“, setzte sich Ju ohne zu fragen neben mich und im Wechsel sprach jeder am Tisch über die Disziplin. Unregelmäßig schielte ich zu ihm hinüber. Ich spüre, wie sich die Leere füllte, mit einem Gemisch aus Freude und Sehnsucht. Es stach, es drückte und schnürte mich den Atem ab. Sehnsucht, ein Gefühl, das ich so oft verspürte, aber nur schwer einordnen konnte. Ich sehnte mich nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Mit all den elitären Reitern am Tisch zu sitzen fühlte sich echt an, aber es war nur eine Moment aufnahm. Ein Moment, der jederzeit verfliegen könnte, ohne wirklich dagewesen zu sein. Schwer ums Herz traf es auch ein prickelndes Stechen im Bauch, das sich intensivierte, wenn sich die Blicke von Ju und mir trafen. Er bot mir so viel mehr Vachel, allem voran: Ruhe, Geborgenheit – Dabei kannte ich ihn kaum. Es war die Art, wie ihr zu mir stand, Dinge erklärte und nicht davor zurückschreckte, wenn ich einen blöden Witz machte.
      “Malst du dann auch ein Schild?”, unterbrach Jordan meinen Gedanken. Irritiert wanderten meine Blicken zwischen den Parteien, die mich wie ein gespannter Bogen auf mich gerichtet waren.
      “Was für ein Schild?”, fragte ich vorsichtig. Alle lachten, nur Jordan schüttelte amüsiert den Kopf. “Wir brauchen klare Regeln im Fanclub.”
      “Am besten beginnen wir mit dem Transfer zu mir. Schließlich konnte Neele schon in den Genuss kommen, mein edles Ross zu besteigen”, gab Ju seinen Senf dazu. Das Gelächter platzte aus allen Nähten. Mittlerweile waren wir allein auf der Terrasse, dass keiner am Nebentisch sich gestört fühlen konnte. Mein Gesicht nahm einen leichten rosafarbenen Teint an und ich vergrub es hinter meinen Händen. Das Balzverhalten der jungen Männer überforderte meine Gefühlswelt.
      “Man gewöhnt sich daran”, legte Phina, wie sich die Blonde später vorgestellt hatte, ihre Hand auf meinen Arm.
      “Ich glaube nicht”, murmelte ich.
      “Wer gefällt dir denn besser? Ju oder Jordan?”, nahm sie kein Blatt vor den Mund, aber ich musste nach Luft schnappen, wie ein Fisch am Trocknen. Für einen Augenblick verstummte es am Tisch, alle starrten mich intensiv an, aber ich fühlte mich wie in der Schule, wenn man Vokabeln aufsagen sollte. Das quälende Gefühl der Unwissenheit jagte mein Blut durch die Adern. Aber ich rappelte mich auf.
      “Von welchem Standpunkt aus?”, hakte ich nach und musterte beide intensiv, als würde ich eine Checkliste erstellen. Ju lag vorn, ganz klar. Jordan war zwar sympathisch und deutlich attraktiver als sein charmanter Kollege, dennoch für meinen Geschmack, zu selbstbewusst. Vielleicht sogar selbstverliebt.
      “Das Gesamtpaket, wer von den beiden macht den besten Eindruck?”, lächelte Quinn freundlich und spezifizierte ihr Interesse.
      „Ihr setzt mich ziemlich unter Druck, wisst ihr das?“, schüttelte ich spielerisch enttäuscht mit dem Kopf. „Aber dann muss leider Schweden den Punkt bekommen, schließlich empfing er mich nach der Prüfung. Zudem wäre es blöd, wenn ich es mir damit vermassel, schließlich muss ihn bald öfter sehen.“
      Ein verklemmtes Grinsen legte sich auf seine Lippen und ich spürte, wie sich seine Hand auf meinen Oberschenkel legte. Ich schluckte, aber wollte es mir nicht anmerken lassen, wie meine Finger zitterten. Deswegen schloss ich sie ineinander und drückte die Unterarme leicht auf die Holzplatte.
      „Ju! Die kleine ist scharf auf dich“, feixte Phina beinah diabolisch.
      „So habe ich das gar nicht gesagt“, verteidigte ich mich mit zittriger Stimme. „Nur, dass er deutlich mehr effort zeigte als Jordan.“
      “Lasst Neele doch einfach in Frieden, ihr müsst doch nicht aus allem einen Wettbewerb machen”, rollte Raphael mit den Augen, dem die Diskussion langsam zu bunt zu werden schien.
      “Danke”, murmelte ich und wollte am liebsten im Boden versinken vor Pein. Tatsächlich schob sich mein Po etwas tiefer in den Sitz, aber Jus Hand hielt mich fest, damit ich nicht im Dreck landete.
      “Vielleicht sollten wir dann langsam auch zu den Pferden”, versuchte Phina die Situation zu entschärfen.
      “Richtig”, nickte Raphael und erhob sich von seinem Stuhl, “Kommst du Quinn? Poseidon wartet sicherlich schon.” Eifrig nickte seine Begleitung und leerte den Rest ihrer Tasse, bevor sie sich ebenfalls erhob.
      “Einen schönen Tag euch noch”, verabschiedete sie sich freundlich, bevor sie sich an Raphaels Seite heftete und die beiden in Richtung der Stallzelte verschwanden. Ohne etwas zu sagen, sprang auch Phina ihnen nach. Plötzlich saß ich allein mit Ju auf der Terrasse, mit dem Blick zum Meer und wenn man den Kopf etwas senkte, dann konnte man den aktuellen Reiter auf dem Platz sehen.
      „Vielleicht sollte ich auch langsam“, stammelte Ju unentschlossen, nach einigen Minuten der Stille.
      „Okay.“
      Er stand auf.
      Ich blieb sitzen, wie anklebt.
      „Na komm schon, Monet möchte sich sicher auch die Beine vertreten“, munterte er mich auf, als würde er spüren, dass in mir ein Roman geschrieben wurde.
      Nun war ich die, die seinen Arm um sich trug. Mich erfühlte es mit Stolz, als wir zu den Ställen lief, obwohl uns niemand Beachtung schenkte, nur Giada schaute nicht schlecht. Sie stand bei ihrem Hengst und Vachel hielt diesen fest, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Der Kleidung zur Folge hatte er ihr auch das Pferd sauber gemacht. Leise knurrte sie, was ich aber nicht genauer verstanden hatte.
      „Ich würde dann hinüber zu Amy gehen“, sagte Ju, aber ich hielt ihn sanft am Arm zurück.
      „Kannst du bitte bleiben, bis die weg sind?“, funkelte ich mit meinen Augen. Grinsend stimmte er zu und begrüßte Monet. Dieser stand in seinem hübschen rosafarbenen Ganzkörperanzug in der Box und mümmelte am Heu. Lotye hatte ihn wohl gefüttert, den so viel bekam er sonst nicht von mir. Davon könnte vermutlich tagelang fressen.
      Ich führte ihn aus der Box und entfernte erst einmal seinen Anzug. Mürrisch brummte Monet, als das Ding an den Ohren hängenblieb und er für länger als sonst nichts sehen konnte. Ju, der sich auf meine Putzkiste gesetzt hatte, kam dazu und half mir. Befreit, schüttelte Monet sich und die dicke, kurz geschnittene Mähne fiel wellig auf beide Seiten.
      „Die müsste mal wieder geschnitten werden“, stellte ich, flüsternd zum Pferd, fest.
      „Der Arme“, bemerkte Ju schmollend, „dabei sieht er so viel niedlicher aus.“
      „Du hast doch Amy auch die Mähne abgesäbelt.“
      „Leider muss ich dich enttäuschen, aber das war ich nicht, sondern die Tante vom Beritt“, bemerkte Ju ziemlich abfällig, aber ich konnte es nachvollziehen. Mich hätte es auch genervt, das eigene Pferd plötzlich verändert zu sehen.
      „Tut mir leid“, zog ich meine Aussage zurück. Aber er lächelte nur warm. Das Prickeln sprang wie in der Luft elektrisiert zu mir hinüber und unsere Blicke trafen sich wieder. Etwas sagte mir, dass zwischen ihm und mir noch so viel mehr gab, als den gleichen Pferdehof. Schon aus dem Grund musste ich meine jungen Pferde in der Brust zügeln.
      Endlich verzogen sich Giada und Vachel aus dem Stall, nach dem ich wieder mal Getuschel vernahm. Offenbar war ich das große Thema hier, ohne sonderlich einen Beitrag zu leisten.
      „War das besagter Typ mit Freundin?“, hackte Ju nach.
      „Ja, leider“, seufzte ich.
      „Ach, ist doch alles in Ordnung. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Aber jetzt, braucht mich mein Pferd.“

      Am Abend saß ich nervös auf der Tribüne, direkt neben dem Eingang. Gerade zeigte Raphael auf seinem Poseidon, wofür sie oft trainiert hatten. Mit Leichtigkeit peilten sie ein Sprung nach dem anderen an, ließen dabei nicht nur jede Stange an Ort und Stelle liegen, sondern setzten eine nur schwer zu schlagende Zeit an. Begeistert sprang ich auf, als seine Runde beendet war und er im Schritt vom Platz ritt. Seine Nicht-Freundin empfing ihn mit hochroten Kopf, als hätte sie auf dem Rappen gesessen. Die beiden wirkten so vertraut und glücklich miteinander, dass abermals Missgunst in mir aufkam. Es lag nicht daran, dass Raphael ein sympathischer und gut aussehender junger Mann war, der auch reiterlich neue Maßstäbe setzte, sondern er interessierte sich für jemanden, der selbiges zurückgab.
      Der nächste Starter sprang bereits, aber ich beachtete ihn nicht sonderlich. Jordan war demnächst an der Reihe, weshalb ich die Tribüne verließ und auf dem Vorbereitungsplatz nach ihm Ausschau hielt. Obwohl es mit dem Fanclub nicht mehr als blöder Scherz war, würde es ihn sicher freuen. Mein Eindruck trübte. Zwei Damen standen kichernd am Rand und unterhielten sich rege mit ihm, während seine Stute ungeduldig zur Seite tänzelte und dabei mit dem Schweif schlug. Ihre Ohren lagen im Genick und immer wieder schnappte sie nach anderen Pferden, wenn diese Vorbeiritten. Vermutlich ein Teil davon, was vorhin am Tisch berichtet wurde. Damit hatte sich meine Idee erledigt. Ich drehte mich gerade weg, als die hübsche gescheckte Trakehner Stute ihren ersten Huf neben uns setzte und ihr Reiter zu mir sagte: „Schön, dass du da bist.“
      Eiskalt lief es mir den Rücken herunter, aber sofort wandte ich mich ihm zu und strahlte über beide Ohren.
      „Natürlich, ich möchte doch wissen, was dein Papier kann“, scherzte ich. Er drückte seine Ferse in den Rumpf seiner Stute, die sich gehorsam vorwärtsbewegte. Aufmerksam folgten meine Augen den grazilen Schritten, auch im Trab und Galopp machten beide eine gute Figur. Nebeneffekt meines Besuchs am Vorbereitungsplatz war, dass ich Jordans Ritt verpasste, aber die Zeit sah im Nachhinein betrachtet, einwandfrei aus. Er rutschte damit auf den aktuellen vierten Platz.
      Endlich wurde Ju aufgerufen und ich lief mit ihm zusammen an den Einlass. Ein älterer Herr folgte uns unauffällig, der sich später als Herr Holm vorstellte und sein Trainer war.
      Im gleichmäßigen Galopp begann er den Parcours und das Rick überquerte Amy wie eine Elfe. Nach fünf weiten Sprüngen folgte ein Oxer. Ju holte sein Pferd zu früh zurück, wodurch sie deutlicher weiter springen musste, aber diesen Fehler ihres Reiters ausglich. Immer wieder kam es zu Wackelpatien, in denen die beiden eine Stange berührten mit den Hinterläufen. Diese blieb liegen bis auf einmal. Ju verschätzte sich abermals mit den Abständen, was zum Verhängnis in der Kombination wurde. Amy kam mit den Vorderbeinen gegen die obere Stange. Ein tiefes Raunen ging durchs Publikum, aber es jubelte trotzdem, als er durchs Ziel ritt. Die Zeit konnte sich sehen lassen, aber mit den vier Fehlerpunkten rutschte er auf den achten Platz. Am Ausgang empfing ich ihn freudig, doch er beachtete mich nicht. Stattdessen ritt Ju stillschweigend an mir vorbei und zog genervt am Zügel herum.
      „Denk nicht so viel nach, Juha kann speziell sein. Er braucht jetzt Ruhe und Zeit für sich“, erklärte mir Herr Holm. Zustimmend nickte ich und kletterte durch den Zaun vom Gang hinaus, lief zurück auf meinen Platz, der noch immer leer war.
      Die restlichen Teilnehmer sah ich mir noch an, auch wenn ich Alicia nicht entdecken konnte. Was auch immer es mit dem Typen auf sich hatte, offenbar gehörte ich nicht mit in die Rechnung. Hinter mir sprachen zwei Menschen über Jus Ritt, kritisierten ihn bis aufs Äußerste.
      „Vielleicht solltet ihr das erst einmal reiten, bevor ihr so das Maul aufreißt“, drehte ich mich verärgert um. Wie Autos blickten die beiden in meine Augen und verstummten.
      Bei der Siegerehrung musste sich Raphael mit dem dritten Platz zufriedengeben, denn ein Deutscher und ein Belgier hatten ihn vom Thron verdrängt. Ein Hauch von Wehmut schwang in mir, aber als ich sein Strahlen und das von Quinn erblickte, verschwand es. Laut jubelte ich, freute mich wirklich für ihn. Den Moment wollte ich so gern mit jemanden teilen, aber ich hatte niemanden. Lotye war außerhalb meiner Sichtweite, Alicia ging vermutlich ihrer Natur nach und Ju verschwand wie von Erdboden.
      Just in dem Moment fiel mir wieder der eigentliche Plan vom Morgen ein: Ich wollte für Eskil mehr Informationen über die Stute besorgen. So gut ich konnte, kämpfte ich mich durch die Ränge heraus und folgte dem Weg zu den Zelten. Es dauerte nicht lange, bis ich bei den Stuten das Schimmeltier entdeckte, das hektisch mich anblickte und weiter den Kopf ins Heu steckte. Ein Zettel hing davor mit oberflächlichen Informationen und einer Email sowie Webadresse. Mit einem Foto leitete ich all das an ihn weiter und schoss noch mehr vom Pferd. Die Stute war mir gegenüber sehr skeptisch, zuckte immer wieder zusammen, wenn sie gegen meine Hand kam und legte bei jeder meiner Bewegungen die Ohren an.
      „Gefällt sie dir?“, kam ein Mann freundlich zur Box gelaufen.
      „Schon, ja, aber ein Freund von mir ist interessiert, deswegen bin ich hier“, erklärte ich höflich und wie ein Wasserfall begann er über die Stute zu Sprechen. Sie hieß Small Lady und war, wie bisher angenommen, ein Andalusier. Ihre Abstammung sagte mir nichts, aber klang nach sehr talentierten Pferden. Lange lauschte ich seiner Erzählung, die immer weiter abdriftete und schließlich bei dem Gestüt endete, auf dem er lebte und seinen Eltern gehörte. Die Stute gehörte zu einem der wenigen Andalusiern dort, weshalb sie ein anderes Zuhause finden sollte.
      „Scheren vermutlich“, antwortete ich, als er fragte, wohin sie denn kommen sollte.
      „Ah, das ist cool. Mein Ex-Freund lebt dort jetzt“, quasselte er frohenmutes weiter, aber ich konnte nicht mehr genau zuhören. Immer wieder nickte ich, bis er endlich zum Ende kam. Dennoch bedankte ich mich für die ganzen Informationen, bevor ich so schnell wie möglich aufs Zimmer ging.
      Der nächste und letzte Tag kam viel zu schnell. Die halbe Nacht schaute ich eine Dokureihe über Tiere in Afrika, bis ich einschlief. Auch nach dem Schlafen setzte ich an der Stelle fort. Alicias Ritt verlor ich aus den Augen, denn sie hatte auch diese Nacht auswärts geschlafen. Auf meine Nachrichten gab es keine Antworten. Zum Frühstück ging ich nicht, genoß viel mehr das schöne Wetter auf dem Balkon.
      „Wo ist denn Alicia?“, fragte ich Lotye nervös, als ich mit einem Koffer vor der Rezeption stand und nicht so wirklich wusste, mit mir anzufangen. Sie seufzte.
      „Also, sie fliegt mit mir morgen, entschied sie gestern.“ Aufmunternd klopfte Lotye meine Schulter, aber das brauchte auch nichts. Abermals stand ich allein da, nur weil Alicias Interessen offenbar einen höheren Stellenwert hatten, als meine. So hätte ich auch schon früher nach Hause fliegen können. Im Stall verabschiedete ich mich von meinem Pony und stieg im nächsten Augenblick in das Taxi zum Flughafen. Auf einmal fühlte ich mich so unglaublich unwichtig, dass all die Glücksgefühle sich in Luft auflösten.

      © Mohikanerin // Neele Aucoin // 76.797 Zeichen
      zeitliche Einordnung {Ende Oktober 2020}
    • Wolfszeit
      Platzhalter
    • Wolfszeit
      Platzhalter
    • Wolfszeit
      Man wächst an seinen Aufgaben / Springen A zu L | 30. November 2022

      Schleudergang LDS / WHC’ Quatchi / Lady Moon / WHC’ Oceandis / Binominalsatz / Crystal Sky / Ready For Life / Liliada

      "Die schwedische Kälte hatte das Lindö Dalen Stuteri fest im Griff, als ich mich auf Ready For Life vorbereitete. Redo, wie ich meine Freibergerstute nannte, stand ruhig da, ein Rappe, fast unsichtbar in der morgendlichen Dunkelheit. Der Nebel schien ihre Gelassenheit zu spiegeln, als wir uns warmritten und auf das bevorstehende Training vorbereiteten.
      Mateo, mein Kollege und erfahrener Springreiter, hatte vorgeschlagen, heute im Parcours zu üben, um der Stute etwas Abwechslung zu bieten.
      Die Reithalle belebte sich mit dem Auftritt von Samantha, die auf der barocken Stute Schleudergang saß. Schlendrine oder von allen auch scherzhaft Ente genannt, war einen starken Kontrast zu Redo. Die braune Schabracktigerschecke hatte eine ungewöhnliche Erscheinung mit langen Beinen, die sie nicht immer richtig einzusetzen wusste.
      Mateo erklärte uns die heutige Aufgabe: einen Parcours, der von einfachen A-Sprüngen zu herausfordernden L-Hindernissen führte. Die Mischung aus klassischen und anspruchsvolleren Hindernissen würde nicht nur die Sprungkraft testen, sondern auch die Harmonie zwischen Pferd und Reiter. Für Sam war dies ein Witz. Wie ihr Bruder auch ritt sie bereits auf internationalem Niveau, doch für mich stellte es eine Herausforderung dar.
      Ich setzte Redo an den Parcours und spürte ihre Energie. Der erste Sprung, ein einfaches A-Hindernis, war ein Aufwärmen für das, was noch kommen sollte. Redo bewältigte es mit Leichtigkeit, ihre Nervenstärke zeigte sich in jedem Sprung, egal wie blöd ich diesen Anritt – Die Stute sprang. Wir fanden unseren Rhythmus, als wir uns den Herausforderungen des Parcours stellten.
      Schlendrine und Samantha verliehen dem Parcours eine ganz eigene Eleganz. Die barocken Bewegungen der Stute wirkten manchmal beinahe tänzerisch. Samantha meisterte die Hindernisse mit ruhiger Gelassenheit, und ich konnte die Vertrautheit zwischen den beiden spüren.
      Der Parcours führte uns durch Wendungen und Kombinationen, die unsere Kommunikation auf die Probe stellten. Redo lauschte meinen Hilfen zwar, doch entschied, des Öfteren zu unserem Vorteil etwas anderes zu tun.
      “Lina, du sollst reiten, nicht nur Beifahrer sein”, reif Mateo durch die Halle, um mich zu korrigieren.
      Ich nahm mir Mateos Worte zu Herzen und trieb Redo entschlossener voran und konzentrierte mich daruf, die Sprünge zu zählen. Ein, Zwei, Drei … und wieder entscheid mein Pferd, dass die Distanz zu weit war und quetschte einen weiteren Sprung dazwischen. “Mist, ich dachte dieses Mal wirklich richtig gezählt zu haben”, murmelte ich. Mateo lachte leise.
      “Lina komm mal her. Ich denke, wir müssen noch mal darüber reden, dass dein Pferd keine zwei Meter groß ist”, rief er mir zu, worauf hin ich meine Stute durch parierte. Im Folgenden erklärte er mir, dass die Galoppsprünge meiner Stute ungefähr drei Meter fünfzig bemaßen. Bei der vorhanden Distanz von zwanzig Metern musste ich dementsprechend vier oder sogar schon fünf Sprünge machen, damit Redo den Sprung überwinden konnte.
      “Damit du den Rhythmus erst mal ins Gefühl bekommst, lege ich die ein paar Galoppstangen hin, du wirst den Unterschied merken”, erklärte Mateo, während er einige zusätzliche Stangen in den Sand legte. Verstanden hatte ich, wo mein Fehler lag, doch ob ich das wirklich hinbekommen würde? Der Parcours wurde umgestaltet, und ich versuchte, Mateos Ratschläge umzusetzen. Die Galoppstangen schienen wie eine Choreografie auf dem Boden zu liegen. Ich setzte Redo wieder an und die Stute passte ihren Rhythmus an. Ein, Zwei, Drei, Vier ... und tatsächlich, Redo übersprang das Hindernis mit Leichtigkeit.
      “Hast du den Unterschied gespürt?”, fragte er, woraufhin ich nickte. Redo war nicht nur gleichmäßiger galoppiert, sondern auch fließender abgesprungen.
      “Gut, dann machst du das noch dreimal und dann darfst du für heute aufhören”. Lobte Mateo. Ich tat wie gesagt und begann im Anschluss Redo abzureiten. Sam kam mit der Ente neben mich geritten, mit einem strahlen auf dem Gesicht.
      “Du wirst immer besser, Lina”, sagte sie freudig und tätschelte ihrer Stute den Hals.
      “Ach, ich denke das meiste macht Redo”, lachte ich bescheiden und strich ihr über den verschwitzen Hals. Der Freiberger schnaubte und schüttelte den Kopf.
      “Du musst mehr an dich glauben”, grinste Sam freundlich. Die Reithalle leerte sich langsam, als die Pferde abgesattelt und zu ihren Boxen gebracht wurden. Redo bekam eine extra Portion Möhren, als Belohnung für ihre gute Arbeit. Ich genoss den Moment der Ruhe, während die Pferde zufrieden im Stroh knabberten.
      Später, als die Sonne über den Bäumen langsam unterging, saßen Sam, Mateo und ich am Rand der Reithalle. Wir tauschten Geschichten aus, lachten über die Eigenheiten unserer Pferde und genossen die Gemeinschaft, die der Reitsport mit sich brachte.
      "

      © Mohikanerin // 4790 Zeichen
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    Gastpferde
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    Wolfszeit
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    4 Jan. 2022
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  • Crystal Sky

    Rufname: Sky
    geboren 03. Mai 2011

    Aktueller Standort: [CH]
    Unterbringung: Paddockbox [9h], Weide [15h]


    __________ a b s t a m m u n g

    Aus: Unbekannt [Hannoveraner]
    MMM: Unbekannt _____ MM: Unbekannt _____ MMV: Unbekannt
    MVM: Unbekannt _____ MV: Unbekannt _____ MVV: Unbekannt


    Von: Unbekannt [Hannoveraner]
    VMM: Unbekannt _____ VM: Unbekannt _____ VMV: Unbekannt
    VVM: Unbekannt _____ VV: Unbekannt _____ VVV: Unbekannt


    __________i n f o r m a t i o n

    Rasse: Hannoveraner [HANN]
    100 % [HANN]

    Geschlecht: Hengst
    Stockmaß: 175 cm
    Farbe: Grey
    [Ee Aa nG]

    Charakter
    unkompliziert, einsatzfreudig, zuverlässig, entspannt

    Sky ist ein Performer. Die ganze Welt ist seine Bühne! Er liebt es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und für sein Publikum aufzutreten. Er kaut viel auf dem Gebiss! Er mag keine Konflikte und vermeidet diese. Crystal stecke viel Energie darein, dem Reiter zu gefallen. Er ist flexibel, locker und macht nicht viel Aufhebens um etwas.

    * genießt sein Heu gern im liegen


    __________a u s b i l d u n g

    [​IMG]

    Dressur M [M] – Springen E [L] – Military E [A] – Fahren E [A]

    Niveau: International

    Dezember 2015
    Training, Dressur E zu A

    Juni 2016
    Training, Dressur A zu L

    Februar 2022
    Training, Dressur L zu M

    Juli 2023
    3. Platz, 697. Dressurturnier
    2. Platz, 698. Dressurturnier

    Oktober 2023
    2. Platz, 701. Dressurturnier
    3. Platz, 705. Dressurturnier


    Februar 2024
    2. Platz, 712. Dressurturnier


    April 2024
    3. Platz, 715. Dressurturnier


    Juni 2024

    Gewinner, SW 568


    __________ Z u c h t i n f o r m a t i o n

    [​IMG]
    Stand: 01.01.2023


    xXx wurde im Monat 20xx durch HK XXX zur Zucht zugelassen.

    Zugelassen für: BRP, a.A.
    Bedingungen: Keine Inzucht
    Decktaxe: x Joellen, [Verleih auf Anfrage]

    Fohlenschau: -
    Materialprüfung: -

    Exterieurnote: -
    Gesamtnote: -

    __________N a c h k o m m e n


    xXx hat 0 Nachkommen.

    NAME a.d. STUTE [BRP] *20xx


    __________ G e s u n d h e i t


    Gesamteindruck: Gesund; gut in Training
    Krankheiten: -
    Beschlag: Barhuf


    __________ z u s ä t z l i c h e s


    Pfleger: -
    Reiter: Vachel
    Eigentümer: Vachel Frappier [100%]
    Züchter: k. A.
    Ersteller, VKR: Mohikanerin

    Sky steht aktuell nicht zu Verkauf.
    Wert: 718 Joellen

    Punkte: 10

    Abstammung [0] – Trainingsberichte [3] – Schleifen [7] – RS-Schleifen [0] – TA [0] – HS [0] – Zubehör [0]

    _____

    Spind – Exterieur – PNG
    Sky existiert seit dem 27. April 2015